Kritik an fragwürdigen „Zuverdienst“-Ausnahmen beim Mindestlohn. Gutachten warnt vor der Herausnahme von Rentnern und Studenten

Rentner und Studenten dürfen nicht außen vor bleiben, wenn die Regierung 8,50 Euro flächendeckend als Mindestlohn festlegt. Zu diesem Schluss kommt der wissenschaftliche Dienst des Bundestags – und wirft damit verfassungsrechtliche Fragen auf. Das Gutachten kommt der Union äußerst ungelegen. Das meldet heute die Süddeutsche Zeitung unter der Überschrift „Gutachter warnen vor Ausnahmen beim Mindestlohn„. Das Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags liegt der Süddeutschen Zeitung vor, berichtet Thomas Öchsner in seinem Artikel. Es wurden von der arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Grünen, Brigitte Pothmer, in Auftrag gegeben.
»Der allgemein verbindliche Mindestlohn sei eine Schutzvorschrift für Arbeitnehmer. Ausnahmen davon könnten „eine verfassungsrechtlich relevante Ungleichbehandlung darstellen, wenn die in Rede stehende Personengruppe zu den Arbeitnehmern zu zählen ist und sich von der allgemeinen Gruppe nicht so wesentlich unterscheidet, dass eine unterschiedliche Behandlung gerechtfertigt wäre“. Dies gelte prinzipiell auch für Saisonarbeiter, Rentner oder Studenten mit Arbeitsvertrag.«
Große Gruppen von den 8,50 Euro auszuschließen, berge die Gefahr, dass die Untergrenze „systematisch unterlaufen und ein neues Niedriglohnheer unterhalb des Mindestlohns gebildet wird“, so zitiert Öchsner weiter aus dem Gutachten.

Das Argument der Ausnahme-Befürworter, nicht nur der Bayern, auch die stellvertretende CDU-Bundesvorsitzende Julia Klöckner hat sich dem angeschlossen, stellt ab auf den (angeblichen) „Zuverdienst“-Charakter der Beschäftigung von Studierenden oder Rentner, die deshalb nicht auf den Verdienst angewiesen seien wir jemand, der seinen Lebensunterhalt aus der Tätigkeit bestreiten muss. Genau das aber »wird in dem Gutachten jedoch als besonders problematisch angesehen: Der soziale Status und die Tatsache, dass es womöglich um einen Zuverdienst gehe, könne noch keine Abweichung vom Gleichheitsgrundsatz begründen.« Und eine derart begründete Herausnahme wäre nicht nur ein rechtliches Problem, sondern hätte auch quantitativ erhebliche Auswirkungen und daraus abgeleitet massive Verzerrungseffekte.

Um welche Größenordnungen es dabei gehen würde, habe ich bereits im Dezember des vergangenen Jahres in einem Blog-Beitrag auf dieser Seite deutlich gemacht: „Der Mindestlohn und seine (potenziellen) Ausnahmen. Ab jetzt wird geredet und gefordert und verworfen“ vom 16.12.2013.
Wenn man nach der bayerischen „Zuverdienst“-Philosophie Schüler, Studierende und Rentner aus der Mindestlohnregelung herausnehmen würde, dann muss man sehen, »dass eine solche Regelung dazu führen würde, dass 42% aller ausschließlich geringfügig Beschäftigten („Minijobber“) keinen Mindestlohn bekommen müssten – das wären 2,1 Millionen Minijobber von insgesamt 5,154 Millionen«. Apropos „Zuverdienst-These“: Auf der Basis einer Studie des Statistischen Bundesamtes »konnte gezeigt werden, dass 33% der Schüler und Studierenden sowie 36% der Rentner unbedingt auf das Geld angewiesen sind, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten«.

Und ich habe bereits damals durch ein Gedankenspiel auf die möglichen (und wahrscheinlichen) Implikationen einer solchen Differenzierung hingewiesen:

»Kann es irgendeine Begründung geben für die Tatsache, dass in einem Supermarkt die eine Minijobberin, weil sie studiert, geringer bezahlt werden kann als eine Hausfrau, die neben ihren Familienverpflichtungen einer ausschließlich geringfügigen Beschäftigung nachgeht und Anspruch hat auf den Mindestlohn? Von der Logik fällt es schwer, hierfür eine Erklärung zu konstruieren. Und daran anschließend: Welche Anreize werden auf der Seite der Arbeitsnachfrage, also bei den Unternehmen oder einem Teil von ihnen, gesetzt? Natürlich könnte man auf den naheliegenden Gedanken kommen, dass ein Teil der Arbeitgeber die Belegschaften zu „verjüngen“ versuchen werden.« Und ergänzend mit Blick auf die Rentner: »angesichts der sinkenden Renten, auch aufgrund der Abschläge und des politisch gewollten Absenkend des Rentenniveaus, werden immer mehr „Ruheständler“ auf eine ergänzende Aufstockung ihrer kargen Bezüge durch eine Erwerbstätigkeit angewiesen sein.« Die bieten sich dann ebenfalls vorrangig an für eine Beschäftigung, da sie den Vorteil des Ausnahmefalls mit sich bringen.

Abschließend: Das heißt nicht, dass es keinerlei Ausnahmen geben darf oder sollte: »Rechtlich unproblematisch sind laut dem Bundestags-Gutachten Ausnahmen bei ehrenamtlich Tätigen, Auszubildenden oder Praktikanten in der Ausbildung, weil es sich hierbei nicht um Arbeitnehmer handelt.« In die gleiche Richtung auch mein Plädoyer in dem Beitrag aus dem Dezember 2013: Dort habe ich argumentiert, dass »man nicht umhinkommen (wird), über Ausnahmetatbestände vom Mindestlohn zu sprechen und diese auch in die Welt zu setzen. Beispielsweise sollte das gelten für den gesamten Bereich der Ausbildungsvergütungen im System der dualen Berufsausbildung. Hierbei handelt es sich um eine „Hybridform“ zwischen Arbeit und Lernen und die Ausbildungsvergütungen sind tarifvertraglich geregelt.« Das ist wohl mittlerweile auch in der Großen Koalition unstrittig.

Immer diese Studien. Jetzt werden die Akademiker durch die mediale Niedriglohndebatte gezogen. Dabei ist die Neuigkeit ein alter, trotzdem bemerkenswerter Anteil

Seit Jahren wird in der Arbeitsmarktdebatte immer wieder das Stichwort „Niedriglohnbeschäftigung“ aufgerufen. Naturgemäß gehen die Vorstellungen darüber, ab wann ein „Niedriglohn“ beginnt – oder eben nicht – sehr weit auseinander. Was für die einen viel ist, mag für die anderen sehr wenig sein. Offensichtlich handelt es sich um ein letztendlich nur durch Festlegung auflösbares Dilemma. Eine solche gibt es auf der EU-Ebene und die verwendet man auch in der Arbeitsmarktforschung: Die „Niedriglohnschwelle“ ist definiert als zwei Drittel des mittleren Stundenlohns (Median), wobei die Betonung auf Median und nicht dem arithmetischen Mittel liegt, das wir ansonsten oftmals bei der Durchschnittsbildung verwenden. Es handelt sich also – wie auch die Schwellenwerte in der Armutsforschung – um ein relatives Konzept. Die Armut im (relativ) reichen Deutschland ist eben eine andere als im (nicht nur relativ) armen Rumänien. Und so ist das auch mit dem Niedriglohn. Wer nun genauer wissen möchte, wie es um die Niedriglohnbeschäftigung bestellt ist in unserem Land, der kann und muss schon seit Jahren zu den jährlich wiederkehrenden Berechnungen des Instituts für Arbeit und Qualifikation (IAQ) greifen, die das routiniert haben. Deren Zahlen werden dann immer wieder zitiert, wenn es um das Thema Niedriglöhne geht. Und auch jetzt wieder bezieht man sich auf das IAQ und mit einem lauten Echo wird die Message durch die Medien getrieben: „Hunderttausende Akademiker arbeiten für Niedriglöhne„, meldet die Süddeutsche Zeitung, sekundiert von Spiegel Online „Neue Studie: Hunderttausende Akademiker arbeiten zu Niedriglöhnen“ und die Frankfurter Rundschau spricht gar von „Lohndumping nach der Universität„. Die Ursprungsmeldung wurde übrigens von der Online-Ausgabe der WELT in die Welt gesetzt. Was ist passiert? Ein Generalangriff auf die akademischen Schichten? Schauen wir genauer hin.

Die absolute Kurzfassung lautet: „Mehr als 600.000 Akademiker bekamen 2012 Niedriglöhne gezahlt. Das ist das Ergebnis einer aktuellen Studie. Besonders Frauen seien betroffen“, so die Süddeutsche Zeitung. Fast jeder zehnte Akademiker habe 2012 weniger als 9,30 Euro in der Stunde bekommen – da haben wir sie also, die „Niedriglohnschwelle“. Wer darunter verdient ist ein Niedriglöhner. Und weiter erfahren wir: 8,6 Prozent der Arbeitnehmer mit Hochschulabschluss seien 2012 davon betroffen gewesen, in absoluten Zahlen waren das etwa 688.000 Menschen. Eine veritable Großstadt sozusagen. Und dann kommt eine wichtige Information:

„Es gibt seit Jahren eine konstante Gruppe von akademisch ausgebildeten Arbeitnehmern, die zu geringen Löhnen arbeiten“, wird die IAQ-Expertin Claudia Weinkopf in dem Spiegel Online-Artikel zitiert. Die Zahl schwanke seit Jahren grob zwischen sieben und fast zwölf Prozent. Da haben wir wieder das IAQ als Referenzpunkt – neben dem Hinweis, dass es sich hinsichtlich des Anteils eben nicht um eine Neuigkeit handelt, sondern um einen bereits seit Jahren beobachteten Anteilswert innerhalb der von Niedriglöhnen betroffenen Grundgesamtheit.

Datenquelle sind die Berechnungen des IAQ, die seit Jahren regelmäßig vom Institut als „IAQ-Report“ veröffentlicht werden. Der bislang letzte, im Netz verfügbare Bericht stammt aus dem Juni 2013 und bezieht sich hinsichtlich der dort ausgewiesenen Werte noch auf das Jahr 2011:

Thorsten Kalina und Claudia Weinkopf: Niedriglohnbeschäftigung 2011 (= IAQ-Report 2013-01), Duisburg 2013

Dort findet man – wie angemerkt bezogen auf das Jahr 2011 – in der Zusammenfassung die folgenden Informationen:

Im Jahr 2011 arbeiteten 23,9% aller abhängig Beschäftigten in Deutschland für einen Niedriglohn von unter 9,14 € (bundesweite Niedriglohnschwelle). Die Zahl der Niedriglohnbeschäftigten betrug im Jahr 2011 knapp 8,1 Millionen. Die durchschnittlichen Stundenlöhne im Niedriglohnsektor lagen auch im Jahr 2011 mit 6,46 € in West- und 6,21 € in Ostdeutschland weit unter der Niedriglohnschwelle. Nach Qualifikation differenziert ist das Niedriglohnrisiko zwischen 2001 und 2011 am stärksten für Beschäftigte mit abgeschlossener Berufsausbildung gestiegen und nach Arbeitszeitform für Vollzeitbeschäftigte. Mehr als jede/r fünfte Beschäftigte hätte bei Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns von 8,50 € pro Stunde Anspruch auf eine Lohnerhöhung.

Hinsichtlich der Datenbasis für diese Aussagen kann man den Berichten auch entnehmen, dass sich die Forscher des IAQ auf der Basis des sozio-ökonomischen Panels (SOEP) bewegen. Das Sozio-oekonomische Panel (SOEP) ist eine repräsentative Wiederholungsbefragung, die bereits seit 30 Jahren läuft. Im Auftrag des DIW Berlin werden jedes Jahr in Deutschland über 20.000 Personen aus rund 11.000 Haushalten von TNS Infratest Sozialforschung befragt. Die Daten geben Auskunft zu Fragen über Einkommen, Erwerbstätigkeit, Bildung oder Gesundheit.

Wie immer im statistischen Leben spielt die Abgrenzung der Grundgesamtheit eine Rolle. Im Bericht für das Jahr 2011 schreibt das IAQ: »In früheren Analysen hatten wir auch Schüler/innen, Studierende und Rentner/innen ausgeschlossen mit der Begründung, dass diese typischerweise nur einen Nebenjob ausüben.« Mit Blick auf die aktuelle Mindestlohndebatte hatte man die aber im 2013 erstellten Report wieder aufgenommen. Sie merken an: »Ohne diese Gruppen lag die Niedriglohnschwelle mit 9,23 € pro Stunde etwas höher und der Niedriglohnteil betrug 24,6%.«

Das IAQ macht regelmäßig auch Aussagen zur Niedriglohnbeschäftigung nach Qualifikationsstufen.
Das für die allgemeine Niedriglohndebatte in Deutschland interessanteste Ergebnis hinsichtlich der Qualifikationsebenen findet sich in diesem Zitat: »Insgesamt bleibt es bei dem Befund, dass Niedriglöhne in Deutschland keineswegs überwiegend gering Qualifizierte oder Jüngere betreffen. Vielmehr ist die große Mehrheit der Niedriglohnbeschäftigten formal qualifiziert und stammt aus den mittleren Altersgruppen. Im Niedriglohnsektor werden auch keineswegs ausschließlich „einfache“ Tätigkeiten geleistet. Die im SOEP gestellte Frage, ob für die Ausübung der eigenen Tätigkeit eine Berufsausbildung oder eine höherwertige Ausbildung erforderlich ist, bejahten im Jahr 2011 mit 48,5% knapp die Hälfte aller Niedriglohnbeschäftigten.«

Und – das zeigt die Abbildung mit den Anteilswerten – auch Menschen mit einem Hochschulabschluss sind unter den Niedriglohnbeschäftigten vertreten.

Das bedeutet aber nicht – wie man aus der Titelei beispielsweise der Frankfurter Rundschau ableiten könnte – Lohndumping nach der Universität, denn das wissen wir schlichtweg nicht. Das könnte man nur dann behaupten, wenn man wüsste, wo und wie die Arbeitnehmer/innen mit Hochschulabschluss eingesetzt werden. Wenn aber – zugespitzt formuliert – alle in den Daten ausgewiesenen Hochschulabsolventen als Döner-Verkäufer, Putzhilfen oder Taxifahrer arbeiten würden, dann wären diese Beschäftigungen eine Erklärung für ihren Niedriglohnstatus. Anders würde sich der Fall darstellen, wenn die Hochschulabsolventen tatsächlich ausbildungsadäquat eingesetzt werden und dennoch weniger als die 9,30 Euro in der Stunde bekommen würden.

Diese Unterscheidung ist generell von Bedeutung, denn die aktuellen Irritationen, die von den hier zitierten Zahlen zu den Akademikern und ihrer Betroffenheit von Niedriglohnbeschäftigung über die Medienberichterstattung ausgelöst werden, resultieren aus der nicht passungsfähigen Verknüpfung von Akademiker und Niedriglohn in der Wahrnehmung vieler Beobachter (was aber auch gar nicht gegeben sein muss, wenn man wüsste, um welche Beschäftigungsfelder es sich handelt). Die gleiche Problematik haben wir bei der immer wieder gerne zitierten Statistik, dass die Betroffenheit von Arbeitslosigkeit bei den Akademikern am niedrigsten sei.

Quelle: Weber, B. und Weber, E. (2013): Bildung ist der beste Schutz
vor Arbeitslosigkeit (= IAB-Kurzbericht 4/2013), Nürnberg, Abb. 1, S. 2

Die Abbildung aus der Veröffentlichung von Weber, B. und Weber, E. (2013): Bildung ist der beste Schutz vor Arbeitslosigkeit (= IAB-Kurzbericht 4/2013) verdeutlicht diese gerne rezipierte Sichtweise – und die Unterschiede sind ja auch gewaltig: Während bei denjenigen, die über keinen Berufsabschluss verfügen, die Arbeitslosenquote bei fast 20% lag, also jeder vierte aus dieser Gruppe von registrierter Arbeitslosigkeit betroffen war, belief sich für das hier ausgewiesene Jahr 2011 die Quote bei den Akademikern lediglich auf 2,4%. Ein Vielfaches weniger als bei den Geringqualifizierten. Aber eines beantwortet diese beeindruckende Zahl von nur 2,4% offizieller Arbeitslosenquote unter den Akademikern natürlich nicht: Was machen die statt der Arbeitslosigkeit? Also wenn sie arbeiten – wo und wie arbeiten sie? Ausbildungsadäquat? Oder in einem ganz anderem Bereich, der nichts mit ihrem Studium zu tun hat? Darüber können wir schlichtweg nichts sagen. Das wäre aber schon von Bedeutung – beispielsweise auch im Kontext der allgemeinen Akademisierungsdebatte.

Also bleiben wir bei dem, was wir wissen: Auch ein Studium kann vor einer Niedriglohnbetroffenheit nicht vollständig schützen. Desweiteren sehen wir auch hier ein Abbild der geschlechtsbezogenen Spaltung des Arbeitsmarktes, denn: Den IAQ-Zahlen zufolge ist unter Akademikerinnen das Risiko, zu Niedriglöhnen zu arbeiten, fast doppelt so hoch wie unter Männern: Während 11,4 Prozent der Frauen mit Hochschulabschluss auf dem Niedriglohnsektor arbeiten, sind es bei den Männern nur 6,1 Prozent.

Und abschließend ein zweiter Aspekt, der zum Nachdenken Anlass geben sollte:

»Die Zahl der arbeitslosen Akademiker erhöhte sich 2013 im Jahresdurchschnitt gegenüber dem Vorjahr um 21.400 auf 191.100 Menschen … Dies sei ein Anstieg um 13 Prozent. Grund sei unter anderem die deutlich gestiegene Absolventenzahl.«

Die (angeblich) mangelnde Ausbildungs- und Arbeitsfähigkeit der jungen Leute – und die der Betriebe, die allerdings irgendwie gerne „vergessen“ wird

Schon Sokrates soll das hier geklagt haben:

„Die Jugend liebt heute den Luxus. Sie hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität, hat keinen Respekt mehr vor älteren Leuten und diskutiert, wo sie arbeiten sollte. Die Jugend steht nicht mehr auf, wenn Ältere das Zimmer betreten. Sie widerspricht den Eltern und tyrannisiert die Lehrer.“

Es muss – um den wissenschaftlichen Zitationsansprüchen genügen zu können – an dieser Stelle aber darauf hingewiesen werden, dass es wohl keinen Beleg dafür gibt, dass Sokrates das wirklich so gesagt hat, eine Nachweis-Quelle in den Schriften von Platon, aber auch von Aristophanes oder Plutarch, die von Sokrates und seinen geistigen Ergüssen berichten, findet man nicht. Aber gesagt haben könnte der alte Grieche das schon – in Platons „Staat“ ist beispielsweise dieses Zitat von Sokrates überliefert: „Der Lehrer fürchtet und hätschelt seine Schüler, die Schüler fahren den Lehrern über die Nase und so auch ihren Erziehern“ (zitiert nach Christoph Schlösser: Stimmt’s? Verlotterte Jugend). Klingt wie der Beschwerdebrief einer heutigen Grundschullehrerin an die Eltern der ihr anvertrauten Kinder.

Neben der Schüler-Schelte kennen wir auch die Kritik an den Azubis, meistens fokussiert um den Terminus „mangelnde Ausbildungsfähigkeit“ der jungen Leute. Die es sicher gibt, man könnte mehrtägige Veranstaltungen füllen mit anekdotischer Evidenz über unmögliche Exemplare aus Sicht der Erwachsenen. Und nun wurde diese Stoßrichtung scheinbar erneut bedient mit den Ergebnissen einer Befragungsstudie, die von der Unternehmensberatung McKinsey durchgeführt wurde. Spiegel Online textete dazu unter einer sehr verkürzten Rubrik Studie zur Arbeitsmoral: „Jeder vierte Chef klagt über Berufsanfänger„. Schauen wir genauer hin.

»Junge Berufsanfänger sind lustlos und gehen Probleme nicht systematisch an: Laut einer Studie sind 26 Prozent der deutschen Arbeitgeber mit dem Nachwuchs unzufrieden … Mängel sehen die Befragten demnach vor allem bei der Arbeitsmoral oder den Fähigkeiten zur systematischen Problemlösung. Und sie ziehen daraus schwerwiegende Konsequenzen: Knapp ein Drittel (32 Prozent) der Arbeitgeber gibt an, Lehrstellen lieber unbesetzt zu lassen, als die jungen Leute einzustellen, die sich bei ihnen beworben haben. Und das, obwohl vor allem kleine und mittelständische Unternehmen Probleme haben, überhaupt Interessenten für ihre Ausbildungsplätze zu finden«, so die Zusammenfassung in dem Spiegel Online-Artikel. Grundlage dieser Ausführungen ist eine Studie der Unternehmensberatung McKinsey, in der neben Deutschland die Situation in sieben weiteren europäischen Ländern untersucht worden ist: Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Italien, Portugal, Schweden und Spanien:

Mona Mourshed, Jigar Patel, Katrin Suder: Education to Employment: Getting Europe’s Youth into Work, 2014

Mc Kinsey gibt aber nicht nur die Position der Arbeitgeber wieder: »Unzufriedenheit hat sich auch bei den Azubis breit gemacht: Nur jeder Dritte würde sich noch einmal für die von ihm gewählte Ausbildung entscheiden.«

Und die Positionierung der Studie findet man dann in diesen Zitaten: „Jugendarbeitslosigkeit ist nicht nur ein Nachfrageproblem oder konjunkturbedingt, sondern auch ein Angebotsproblem“. „Die Bildungssysteme in ganz Europa – auch das deutsche – bereiten jungen Menschen nicht ausreichend auf den Arbeitsmarkt vor“ (McKinsey-Studie benennt Schwächen im deutschen Ausbildungssystem).

Das Jugendarbeitslosigkeit nicht nur ein Nachfrageproblem ist, sondern auch eines der Angebotsseite, ist so trivial, dass es fast schon weh tut. Gerade der so genannte „Ausbildungsmarkt“ wird hinsichtlich der beobachtbaren Problemen von beiden Seiten stark beeinflusst – und so falsch wie die Behauptung mancher Arbeitgeberfunktionäre ist, es liegt nur an der mangelhaften „Ausbildungsreife“ der Jugendlichen, wenn die keinen Ausbildungsplatz finden, genau so falsch sind die beharrlich jede Verursachung von Ausbildungs- und Jugendarbeitslosigkeit durch in der Person liegende Faktoren auf der Angebotsseite negierenden (scheinbar) „linken“ Positionen, bei denen immer „das“ System schuld sein muss. Jeder, der mit Jugendlichen in dieser sensiblen Phase beim Übergang von der Schule und Beruf wie auch mit den Arbeitgebern hat Erfahrungen sammeln dürfen, der weiß, dass die Wahrheit in der Mitte liegt und wir mit zahlreichen und sehr heterogenen Passungsproblemen konfrontiert sind, die man breit aufgestellt angehen müsste, wenn man es denn eine Verbesserung erreichen will.

Kommen wir zu der zweiten Problemdiagnose der McKinsey-Leute, dass die jungen Leute nur schlecht vorbereitet werden auf den Arbeitsmarkt. In der Zusammenfassung erfahren wir:

„Unser aktuelles System der Berufsinformation und -beratung garantiert nicht, dass junge Menschen die Ausbildung wählen, die tatsächlich die beste für sie ist“, erläutert McKinsey-Beraterin Solveigh Hieronimus die Umfrageergebnisse für Deutschland. Zwei Drittel (64%) aller jungen Menschen gaben an, sich falsch oder nur unzureichend informiert zu fühlen, was ihre spätere Berufswahl betrifft.

Dies scheint komplementär zu sein zu den Befunden, die vom Deutschen Industrie- und Handelskammertag (DIHK) über das Ausbildungssystem in Deutschland verbreitet wird. Jährlich veröffentlicht der DIHK hierzu Befragungsergebnisse, die aktuellste Fassung ist die hier:

DIHK: Ausbildung 2013. Ergebnisse einer DIHK-Online-Unternehmensbefragung, Berlin, April 2013

Nach den Angaben der befragten Unternehmen beklagen 44 Prozent der Ausbildungsunternehmen Rahmenbedingungen, die eine Ausbildung verhindern oder erschweren (was aber, um das hier auch mal zu betonen, auch bedeutet, dass weit über die Hälfte der befragten Unternehmen gar keine hinderlichen Rahmenbedingungen erkennen kann oder mag). Zu den beiden mit Abstand am häufigsten genannten Hemmnissen:

»Die mangelnde Ausbildungsreife vieler Schulabgänger ist für die meisten dieser Betriebe (75 Prozent) das Ausbildungshemmnis Nr. 1. Die Tendenz der vergangenen drei Jahre ist leicht rückläufig. Dagegen steigt die Unzufriedenheit mit der Berufsorientierung stetig. 53 Prozent der Unternehmen geben an, unklare Berufsvorstellungen vieler Schulabgänger wirkten sich als Ausbildungshemmnis aus. Dies ist seit 2011 ein Zuwachs um vier Prozentpunkte« (S. 26, Hervorhebung nicht im Original).

Quelle: DIHK: Ausbildung 2013, Berlin 2013, S. 27

Hinter dieser scheinbar eindeutigen Zuordnung der Passungsprobleme seitens der betroffenen Arbeitgeber verbergen sich neben absolut ernst zu nehmenden Problemen auf der Angebotsseite, beispielsweise erhebliche Verhaltensprobleme bei einigen jungen Menschen, die tatsächlich und auch bei gutem Willen eine Ausbildungsaufnahme oder -fortführung verunmöglichen, aber auch Annahmen über das, was als potenzieller Auszubildender „zugeliefert“ werden soll aus Schule und Elternhaus, die man vorsichtig formuliert als „ambitioniert“ bezeichnen muss. Nüchtern formuliert: Die relativ hohen Erwartungen, die sich zuweilen darin verdichten, dass man einen quasi „fertigen“ Azubi vor Beginn der Ausbildung erwartet, war und ist auch zu großen Teilen den Angebots-Nachfrage-Verhältnissen auf dem „Ausbildungsmarkt“ geschuldet, denn bis vor kurzem war es in Westdeutschland in den meisten Regionen so, dass es auf einen Ausbildungsplatz mehrere, zuweilen sehr viele Bewerbungen gab, aus denen man betriebswirtschaftlich absolut nachvollziehbar dann über den Weg der „Bestenauslese“ selektieren konnte, was aber die Erwartungshaltung sowohl hinsichtlich der kognitiven wie auch der sozialen Kompetenzen, die sich gleichsam zu Einstiegsvoraussetzungen in eine Ausbildung verfestigt haben, bewusst-unbewusst auf der Arbeitgeberseite nach oben geschraubt hat.

Neben der Tatsache, dass innerhalb der Berufsbildungsforschung der Begriff „Ausbildungsreife“ kritisch bis ablehnend diskutiert wird, soll an dieser Stelle herausgestellt werden, dass wenn man schon mit diesem Terminus argumentiert, dann sollte man eben nicht – wie leider in der öffentlichen Debatte gegeben – diese nur auf eine Seite der Medaille, also auf die jungen Menschen, reduzieren. Man müsste sich dann eben auch die andere Seite anschauen, also das Thema „Ausbildungsreife“ der Betriebe aufrufen.

Hierzu hat der DGB im vergangenen Jahr eine interessante Veröffentlichung vorgelegt:

Matthias Anbuhl und Thomas Gießler: Hohe Abbrecherquoten, geringe Vergütung, schlechte Prüfungsergebnisse – Viele Betriebe sind nicht ausbildungsreif. DGB-Expertise zu den Schwierigkeiten der Betriebe bei der Besetzung von Ausbildungsplätzen, Berlin, 07.05.2013

Quelle: Anbuhl/Gießler (2013: 2). 

Die Zahl der umbesetzen Ausbildungsplätze 
bezieht sich auf das Jahr 2012

Sie weisen erst einmal auf erhebliche Diskrepanzen zwischen einzelnen Branchen bzw. Berufen hin: Während einige Berufe sehr gefragt waren und die Betriebe in diesen Branchen nahezu keine Rekrutierungsprobleme hatten, gab und gibt es bei anderen Berufen erhebliche Besetzungsprobleme.
In der Expertise von Anbuhl/Gießler (2013) wurde versucht, die „Ausbildungsreife“ von Betrieben zu thematisieren. Um die Ausbildungsqualität und die Attraktivität in den Berufen mit hohen Besetzungsproblemen erfassen zu können, wurden die Unterschiede zwischen den Ausbildungsberufen mit einer hohen Zahl unbesetzter Plätze im Vergleich zum Durchschnitt aller Ausbildungsberufe dargestellt. Dazu wurden die folgenden Indikatoren herangezogen: die Quote der vorzeitigen Auflösungen von Ausbildungsverträgen, die Ausbildungsvergütungen, die Misserfolgsquote bei den Abschlussprüfungen sowie die Ausbildungsqualität aus Sicht der Auszubildenden. werfen wir einen Blick auf die Quoten der vorzeitigen Ausbildungsvertragslösungen:

Quelle: Anbuhl/Gießler (2013: 3)

Die Autoren weisen selbst darauf hin, dass es unterschiedliche Gründe geben kann für die Auflösung eines Ausbildungsverhältnisses, was nicht per se schlecht sein muss. Je nach Fallkonstellation kann es Sinn machen, ein Ausbildungsverhältnis aufzulösen. Auch kann beispielsweise eine Betriebsschließung zu einer Auflösung führen. Und ganz wichtig, weil die auch hier ausgewiesene Lösungsquote in vielen Medien immer gerne mit „Ausbildungsabbruch“ gleichgesetzt wird (z.B. mit Bezug auf den Durchschnittswert heißt es dann: „Jeder 4. Azubi bricht die Lehre ab“). Die Lösung eines Ausbildungsverhältnisses heißt eben nicht automatisch Abbruch der Ausbildung, sondern oft geht es um den Wechsel des Ausbildungsbetriebs oder des Ausbildungsberufs, nicht aber um einen Abbruch der Ausbildung per se. Für diejenigen, die sich für eine differenzierte Analyse interessieren, sei an dieser Stelle die folgende Veröffentlichung empfohlen:

Alexandra Uhly: Vorzeitige Lösung von Ausbildungsverträgen – einseitige Perspektive dominiert die öffentliche Diskussion, in: BWP, Heft 6/2013

Zurück zur Expertise von Anbuhl und Gießler. Sie schreiben: »Die Quote der vorzeitig gelösten Ausbildungsverträge in den untersuchten Ausbildungsberufen liegt seit Jahren konstant innerhalb eine Spanne von 33 bis 51 Prozent – und ist damit signifikant höher als der Durchschnitt. In einigen Berufen liegt sie sogar mehr als doppelt so hoch. Diese Daten deuten auf branchenspezifische Probleme hin« (S. 4). Und sie schlussfolgern: »In diesen Ausbildungsberufen müssen die Betriebe dringend an der Qualität und der Attraktivität arbeiten.« Genau hier zeigt sich erneut, dass die Nachfrage- und Angebotsseite miteinander verwoben sind, denn so richtig die Schlussfolgerung der beiden Autoren mit Blick auf die Betriebe ist, es gibt sicher auch die plausible Möglichkeit, dass auf der Angebotsseite keine „Lust“ mehr besteht, sich den nicht vermeidbaren schwierigen Arbeitsbedingungen in bestimmten Berufen (z.B. hinsichtlich der Arbeitszeiten) zu entziehen durch Verweigerung einer entsprechenden Ausbildungswahl.

Trotz aller Einschränkungen ist es das Verdienst der Expertise von Anbuhl und Gießler, auf die „Ausbildungsreife von Unternehmen“ überhaupt hinzuweisen und gewisse Zusammenhänge aufzuzeigen. Sie kommen mit Blick auf die Berufe mit überdurchschnittlich hohen Vertragslösungsquoten zu dem Befund: »In nahezu allen Punkten gibt es bei diesen Ausbildungsberufen erhebliche Mängel, die Fragen nach der „Ausbildungsreife der Betriebe“ in diesen Branchen aufwerfen. Dies gilt gerade für die Hotel- und Gaststättenbranche.«

Abschließend der durchaus erhellende Ausflug in die Praxis eines Unternehmens bzw. eines Unternehmers, der kein Problem hat mit „seinen“ Azubis und der der Klagewelle seitens der Arbeitgeber seine Sicht entgegenhält. Unter der Überschrift „Lehrlinge mit Familienanschluss“ gibt es ein Interview mit dem bekannten Trigema-Chef Wolfgang Grupp: „Wolfgang Grupp … hält auf seine Azubis große Stücke, besetzt mit ihnen später Führungsjobs – und stellt Akademiker gar nicht erst ein in seinem Textilbetrieb Trigema“, so die Überschrift. Das Interview wurde geführt im Kontext der Berichterstattung über die McKinsey-Studie – und zugleich ist es ein Lehrstück über die Haltung eines patriarchalen Familienunternehmers:

Er kann nur von positiven Erfahrungen mit seinen Azubis berichten. »Das liegt aber daran, dass wir uns bestens um unsere Auszubildenden kümmern. Das Unternehmen ist ihre zweite Familie – ich nenne das die Arbeitsfamilie. Jeder Azubi weiß, wenn er Leistung bringt, kriegt er eine Chance und kann weiterkommen.« Und weiter: »Wir besetzen später die leitenden Positionen mit ihnen. Bei Trigema gibt es unter 1200 Mitarbeitern nur mich, der studiert hat. Alle anderen Führungskräfte kommen aus der betrieblichen Ausbildung, mit Ausnahme des technischen Leiters, der aber auch schon 22 Jahre bei uns ist.«

Grupp hat – wie so oft – kalte Vorstellungen: »Wenn ich qualifizierte Fachkräfte haben möchte, dann muss ich sie ausbilden. Ich kann nicht erwarten, dass mein Wettbewerber für mich ausbildet – und mir später seine besten Leute schickt und die schlechten für sich behält.«

Und auch die aus der gewerkschaftlichen Ecke kommende Forderung nach mehr „Ausbildungsreife“ bei manchen Unternehmen im Sinne von mehr Attraktivität findet eine unternehmerische Entsprechung: »Wenn Sie in Burladingen auf der Schwäbischen Alb sitzen, ist es in der Tat so, dass sicherlich keine Leute aus London oder Paris zu uns kommen wollen. Ich muss wissen, dass ich hier nicht ein attraktives Lebensumfeld bieten kann, also muss ich dafür umso mehr attraktive Arbeitsplätze bieten. Die kann ich dann auch problemlos mit Bewerbern aus unserer Region besetzen.«

Wenn die Kraft der Zahlen die Rumänen und Bulgaren trifft, nicht aber die Polen. Und auch nicht die vielen anderen. Also die Deutschen. Und was übrig bleibt, wenn man genauer hinschaut

Zahlen in der sozialpolitischen Diskussion sind wichtig und haben ihre Bedeutung. Und immer wieder kann es erhellend sein, die Herkunft eines Wortes nachzuvollziehen. „Bedeutung“ hat ihre Quelle im mittelhochdeutschen „bediutunge“ = Auslegung. Man muss die Zahlen immer auch auslegen (können respektive wollen). Illustrieren lässt sich das gleichsam lehrbuchhaft an der aktuellen Debatte über die (angebliche) Zuwanderungswelle von Rumänen und Bulgaren in die deutschen Sozialsysteme. Seit dem denkwürdigen Spruch „Wer betrügt, der fliegt“ aus den bayerischen Landen gibt es in den Medien eine massive Gegenbewegung, mit der semantisch (durch die Etikettierung des Begriffs „Sozialtourismus“ als Unwort des Jahres 2013) wie auch mit ausdrücklichen Bezug auf die Datenlage versucht wird, den Apologeten eines Katastrophenszenarios Einhalt zu gebieten. Darunter sind nicht nur Vertreter, die überhaupt kein Problem sehen, sondern auch diejenigen einer differenzierten Position, die sehr wohl die lokalen Überforderungen anerkennen, die gesamtstaatliche Dimension aber nicht aus dem Auge verlieren bis hin zu denjenigen, die auf das grundsätzliche Dilemma aufgrund des enormen Wohlstandsgefälles innerhalb der EU und den daraus resultierenden (möglichen) Wanderungsmotiven hinweisen.

Und erneut werden wir Zeuge einer Indienstnahme der für viele Menschen immer noch sehr beeindruckenden Argumentation mit Hilfe von Zahlen, um das Augenmerk auf ein „Problem“ zu lenken oder dieses darüber zu konstruieren. So platzierte beispielsweise die FAZ vor wenigen Tagen diesen Artikel: „Hartz IV: Mehr Geld für selbständige Rumänen und Bulgaren“ und kurz darauf diesen hier: „Hartz IV: Rumänen und Bulgaren stocken häufig auf„.

Sven Astheimer berichtet in seinem Artikel „Mehr Geld für selbständige Rumänen und Bulgaren“ im ersten Absatz mit einem gut verpackten besorgten Unterton: »Die Zahl der selbstständigen Rumänen und Bulgaren, die ergänzend Hartz IV empfangen, hat sich binnen zwei Jahren verdoppelt. Doch die Bundesagentur für Arbeit sieht kaum Anzeichen für eine Armutszuwanderung.« Viele eilige Leser werden möglicherweise an der Überschrift und der ersten kompakten Aussage hängen geblieben und dann weitergezogen sein. Im Ohr ist das mit der Verdoppelung der Hartz IV-empfangenden Rumänen und Bulgaren. Wenn das kein Beleg ist für … ja, für was eigentlich? Welche „Bedeutung“ hat diese Information? Aber diese entscheidende Frage muss noch gar nicht aufgerufen und bearbeitet werden, schauen wir zuerst einmal auf die „nackten“ Zahlen, die uns in dem Artikel präsentiert werden:

»Die Zahl der Rumänen und Bulgaren, die hierzulande als Selbständige so wenig verdienen, dass sie ergänzend Arbeitslosengeld II (Hartz IV) beziehen, hat sich innerhalb von zwei Jahren mehr als verdoppelt. Gab es im Juni 2011 noch 861 Selbständige aus diesen beiden Ländern, die ihren Lebensunterhalt nicht aus eigener Kraft bestreiten konnten, waren es im Sommer 2013 schon 2.037.«

Also quantitativ können wir den Angaben, die aus einer Sonderauswertung der Bundesagentur für Arbeit (BA) stammen, entnehmen: Innerhalb von zwei Jahren ist die Zahl von 861 auf „schon“ 2.037 angestiegen. Wahnsinn. Vor allem wenn man berücksichtigt, dass wir über 40 Millionen erwerbstätige Menschen haben und auch die Gruppe der Selbständigen im engeren Sinne (vgl. hierzu z.B. den Beitrag von Kritsch/Kritikos/Rusakova: Selbständigkeit in Deutschland: Der Trend zeigt seit langem nach oben, in: DIW Wochenbericht Nr. 4/2012) wesentlich umfangreicher daherkommt: So hat sich die »Zahl der Selbständigen zwischen dem Jahr 1991 und dem Jahr 2009 um 40 Prozent, von etwas über 3 Millionen auf gut 4,2 Millionen, erhöht.«

Also auch eine verdoppelte Zahl an Rumänen und Bulgaren, die deutsche Sozialleistungen in Form des aufstockenden Hartz IV“-Bezugs bekommen, ist mit 2.037 Personen im Ozean der Selbständigen insgesamt in Deutschland noch nicht einmal als embryonal zu kennzeichnen. Aber da wird jetzt ein Riesen-Heckmeck gemacht.

Interessant ist die folgende Formulierung von Sven Astheimer in seinem Artikel:

»Hintergrund der Missbrauchsdebatte ist, dass Rumänen und Bulgaren seit dem 1. Januar die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit in der Europäischen Union genießen. Einen Anspruch auf Arbeitslosengeld haben sie aber frühestens, nachdem sie schon einmal eine Arbeit in Deutschland ausgeübt haben. Eine Ausnahme gilt jedoch für Selbständige, die vom ersten Tag an Anspruch auf aufstockende Leistungen haben. Dazu reicht der Besitz eines Gewerbescheins. Laut Bundesagentur für Arbeit muss der Antragsteller lediglich seine Bedürftigkeit anzeigen. Eine inhaltliche Prüfung findet nicht mehr statt.«

Es geht jetzt keinesfalls um eine seminaristisch angelegte Textkritik, aber eingeleitet wird der Textabschnitt mit dem Hinweis auf eine „Missbrauchsdebatte“, beschrieben wird dann aber eine mögliche Folgeproblematik der deutschen Regelungslage, die eben den aufstockenden Bezug von Grundsicherungsleistungen zulässt, wenn das selbständige Einkommen unter dem Regelbedarf liegt. Das kann  man so machen, aber man ist keineswegs – um das hier in aller Deutlichkeit sagen – verpflichtet, die derzeit bestehende sehr weitreichende Regelung zu wählen. Natürlich könnte man bei der Prüfung der Voraussetzungen des Leistungsbezugs auch restriktivere Regelungen einbauen. Insofern könnte man an dieser Stelle wenn überhaupt von einem „Bürokratieversagen“ sprechen.

Aus dem diese Tage der Öffentlichkeit vorgestellten „Migrationsbericht 2012“ kann man entnehmen, dass beispielsweise im Jahr 2012 die größte Gruppe an Zuwanderern aus Polen stammt. Nur spricht jemand über diese Zuwanderer? Ist das beschriebene Verhalten – also bei selbständiger Tätigkeit aufstockende Leistungen in Anspruch zu nehmen – bei einem polnischen Fliesenleger ein geringeres Problem als bei einem rumänischen?

Wenn man von einem „Problem“ sprechen will, dann ist es ein Problem der Ausgestaltung der deutschen Regelungen im Grundsicherungssystem. Letztendlich wird das Opfer zum Täter gemacht: Die hierher kommenden Menschen aus Rumänien oder Bulgarien (oder einem anderen Land) haben (zumindest für eine gewisse Zeit) keinen Zugang zum Grundsicherungssystem, außer sie sind im Arbeitsmarkt „integriert“ beispielsweise durch eine selbständige Tätigkeit. Man könnte das, wenn man will, als ein „Schlupfloch“ bezeichnen, wohlgemerkt ein legales. Wenn dann die Menschen dieses Schlupfloch nutzen, dann wirft man ihnen „Missbrauch“ vor. Das folgt offensichtlich einer eigenen Logik.

Allerdings muss man klar sagen: Auch wenn man jetzt an der Regelungen im SGB II herumfummeln würde, um das restriktiver auszugestalten, dann kann man das natürlich nicht nur für Rumänen oder Bulgaren machen, für die anderen – also die Mehrzahl der Empfänger – aber nicht. Eine solche nach Nationalität oder gar Ethnien selektierende Sozialpolitik hat definitiv keinen Platz in unserer Gesellschaft und das ist auch gut so.

Fazit: Nachdem anfangs die „Hartz IV-Karte“ gegenüber den angeblich massenhaft wegen dieser Leistung einwandernden Rumänen und Bulgaren gespielt wurde, um Bedrohungs- und Futterneidängste in der einheimischen Bevölkerung zu wecken, mussten die Apologeten dieses Kurses feststellen, dass die allen zugänglichen Daten eben keine überdurchschnittliche Inanspruchnahme von Hartz IV bei den Zuwanderern aus den beiden genannten Ländern aufzeigen können und wollen. Also weicht man aus auf die „Aufstocker“-Thematik bei den Selbständigen, wohl wissend, dass das bis zum 1. Januar 2014 die einzige legale Möglichkeit war, die geforderte „Arbeitsmarkt-Integration“ nachzuweisen. Und dann diskutiert man über einen Anstieg auf 2.037 Fälle. Im Deutschland der Millionen. Es ist immer wieder gut, sich die Relation von Zahlen klar zu machen. Und ihre Bedeutung.

32-Stunden-Woche für Vater und Mutter mit Kita neben dem Feldlazarett irgendwo im Teilzeit-Auslandseinsatz? Skurriles und Sinnvolles, das obligatorische Fragezeichen und die eigentliche Systemfrage

Ursula von der Leyen (CDU) will die Bundeswehr zum familienfreundlichen Arbeitgeber umbauen. Das Thema liegt ihr, so Christian Tretbar in seinem Artikel „Dienen zwischen Kita und Kaserne„. Auf alle Fälle hat sie wieder einmal die mediale Aufmerksamkeit erregen können. Sie hat das mit der ihr eigenen Verve vorgetragen, so dass man zu dem Eindruck getrieben werden konnte, Deutschlands Freiheit wird in der Marine-Kita verteidigt. Und das sie die Bundeswehr zu „einem der attraktivsten Arbeitgeber in Deutschland“ machen will, ist irgendwie konsequent, darunter macht sie es offenbar nicht. Um die Vereinbarkeit von Dienst und Familie zu verbessern, sollten Teilzeitmöglichkeiten wie eine Drei- oder Viertagewoche sowie Lebensarbeitszeitkonten eingeführt werden, so die Vision der neuen obersten Soldatenfrau. Außerdem sollen Tagesmütter in Kasernen stärker zum Einsatz kommen. Wenn es nur das wäre. Aber sie agiert nicht allein, was neue „familienpolitische“ Vorschläge angeht. Die Bühne betritt die neue Bundesfamilienministerin. Und die darf gleich gehörig Lehrgeld bezahlen. Die Luft in Berlin ist eben sehr bleihaltig, wie mancher aus der (hier durchaus positiv gemeint) Provinz stammende Politiker bereits schmerzhaft zu spüren bekommen hat.

Während Ursula von der Leyen sich erneut zumindest in den Medien typgerecht platzieren konnte, lief zeitgleich ein ganz anderer Film ab: Das Zurechtstutzen eines Kabinettsfrischlings namens Manuela Schwesig (SPD), die als neue Bundesfamilienministerin in die Fußstapfen der Vor-Vorgängering von der Leyen zu treten versucht – ebenfalls mit einem modern daherkommenden Vorschlag, der aber – anders als die Visionen der neuen Soldatenministerin – sofort zerrissen wurde und die nach kürzester Zeit vom Bannstrahl der Kanzlerin getroffen wurde, die über ihren Regierungssprecher Steffen Seibert ausrichten ließ: „Ministerin Schwesig hat da einen persönlichen Debattenbeitrag gemacht. Sie selber spricht ja von ihrer Vision“. Wenn man bedenkt, dass Helmut Schmidt im Kollektivgedächtnis der Deutschen nicht nur als qualmende Dauerprovokation der Medizin verankert ist, sondern auch als derjenige, der diejenigen, die Visionen haben, den Gang zum Arzt, respektive zum Psychiater nahegelegt hat, dann wird die Bloßstellung deutlich. Aber was läuft hier eigentlich gerade wirklich ab? Die eine wird gefeiert für – übrigens seit langem vorgetragene – Forderungen nach einer Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der „Mitarbeiter“ einer Armee, die seit längerem im Modus des Durcheinanderseins funktionieren muss/soll, die andere greift neuere Vorschläge aus der Fachdiskussion auf und wird dafür fast skalpiert, zumindest aber als reichlich naiv etikettiert, was in der Politik (und in weiten Teilen der Medien) von der Wirkungsseite vergleichbar ist.

Zuerst einige Worte zum Beitrag der Bundesverteidigungsministerin. Sie greift ein grundsätzliches und seit längerem diskutiertes Problem auf, das Christian Tretbar in seinem Artikel so beschreibt: »Die Auslandseinsätze, die häufigen Ortswechsel und die Betreuungssituation machen die Bundeswehr so unattraktiv für Familien. Wer in der Bundeswehr Karriere machen will, muss damit leben, häufig zu wechseln: die Position aber auch den Ort. Und das ist für Familien eine Belastung, da Kinder die Schule und die Ehefrau oder der Ehemann auch die Arbeit wechseln müssten.«  Immer wieder hat der Bundeswehrverband und auch der Wehrbeauftragte des Bundestages auf die Probleme hingewiesen – man vertiefe sich bei Bedarf nur in den aktuellen „Jahresbericht 2012“ des Wehrbeauftragten. Dessen Ausführungen zum Themenfeld „Vereinbarkeit von Familie und Dienst“ tragen ab der Seite 23 ein eigenes Kapitel zum Jahresbericht bei, noch vor den Folgethemen „Frauen in den Streitkräften“ und „Sexuelle Übergriffe“. „Es kann nicht hingenommen werden, wenn ein Soldat mit zwei einzuschulenden Kindern Ende Juli noch nicht weiß, wohin er zum 1. Oktober versetzt wird“, schreibt der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages. Das Thema Schulwechsel spiele eine große Rolle, da vor allem das föderale Schulsystem nicht passend sei für die von Bundeswehrangehörigen eingeforderte hohe Mobilität. Insofern stehen die mit Kindern beladenen Beschäftigten der Bundeswehr stellvertretend für die Probleme vieler Arbeitnehmer, aufgrund der Besonderheiten beim Militär ist allerdings diese Belastung sicher überdurchschnittlich.

Man muss diese nun in den Vordergrund geschobene Debatte über einen Aspekt der Arbeitsbedingungen in der Bundeswehr sehen vor dem Hintergrund des tiefgreifenden Umbaus dieser Institution, vor allem seit dem Wegfall der Wehrpflicht, denn seitdem muss sich die Bundeswehr auf dem „normalen“ Arbeits- und Ausbildungsmarkt ausschließlich um Freiwillige bemühen – während aber ihr bisheriges Geschäftsmodell weitgehend in sich zusammengebrochen ist. Weite Teile der tradierten Ausbildungsstrukturen basierten auf dem Zwangscharakter einer Wehrpflichtigenarmee, die nunmehr, des zwangsläufigen Nachschubs beraubt, neue, normale Wege der Rekrutierung und „Personalentwicklung“ gehen muss. Insofern handelt es sich einerseits aus der Perspektive der Gesamtwirtschaft um eine Art „nachholende Modernisierung“ (und es wäre für die konkreten Lebensbedingungen der Soldatinnen und Soldaten schon viel gewonnen, wenn man da ein paar Schritte weiter kommt, was einen aber keineswegs absehbar zu „Deutschlands attraktivsten Arbeitgeber“ machen wird und das auch nicht leisten kann), anderseits aber kann man die ausgeprägten Besonderheiten des Arbeitgebers Militär doch nicht einfach negieren und mit den „normalen“ Unternehmen eine falsche Referenzgröße wählen. Anders ausgedrückt: Wenn die Soldaten sich im Auslandseinsatz befinden, dann werden gut gemeinte Konzepte einer Drei- oder Viertagewoche schlichtweg hinfällig. Und wenn die personelle Kontraktion der Bundeswehr weiter fortgeschrieben wird, dann müssen sich die Auslandseinsätze gerade der Spezialisten immer weiter ausdehnen. Und schlussendlich: Ankündigen kann man viel, aber die von der Ministerin aufgekochten Maßnahmen sind nicht billig und noch ist meines Wissens der Verteidigungshaushalt nicht mit den erforderlichen Mitteln bestückt. Man wird abwarten müssen, ob die neue Ministerin da was erreichen kann und den Worten Taten folgen lassen wird.

Deshalb richten wir jetzt den Blick auf den Ansatz der neuen Bundesfamilienministerin Schwesig. Eine Zusammenfassung des Vorschlags und der ersten Reaktionen darauf liefert uns beispielsweise der Artikel „Was die „Vision“ der Ministerin für Familien bedeuten würde„. Acht Stunden mehr Zeit sollen Eltern für den Nachwuchs haben – zumindest in den ersten drei Lebensjahren der Kinder. Um das zu erreichen, hat Manuela Schwesig den Vorschlag einer verkürzten Wochenarbeitszeit für Eltern in die Arena geworfen. Bei berufstätigen Paaren sollen beide Elternteile statt einer 40-Stunden-Woche eine kürzere „Familienarbeitszeit“ von zum Beispiel 32 Stunden als Regelarbeitszeit vereinbaren können. Die Besonderheit liegt auf dem Wort „beide Elternteile“, also angestrebt wird hier ein gemeinsames und hinsichtlich der regulären Arbeitszeit synchronisiertes und gleichverteiltes Arbeitszeitarrangement von Mutter und Vater. Bei solchen Forderungen nach einer Arbeitszeitreduktion kommt natürlich und verständlicherweise zum einen die Frage, wie denn dann die Einkommenseinbußen durch die niedrigere Vergütung kompensiert werden können bzw. ob man diese als Haushalt wegstecken kann. Die finanziellen Einbußen, so die Zielsetzung der Ministerin, sollen verkraftbar sein bzw. sie sollen ausgeglichen werden. »Schwesig spricht von einem Partnerschaftsbonus und davon, dass „ein Teil des Lohnausfalls“ aus Steuermitteln erstattet werden könnte. Das heißt, der Staat soll einspringen.«

Nun hat Frau Schleswig hier kein eigenes Konzept in die Welt gesetzt, sondern sie bedient sich hier aus den Vorschlägen einer Studie, die das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) Berlin im Auftrag der SPD- und gewerkschaftsnahen Friedrich-Ebert-Stiftung und der Hans-Böckler-Stiftung angefertigt hat. Hier erst einmal das Original-Material:

Kai-Uwe Müller, Michael Neumann und Katharina Wrohlich (2013a): Familienarbeitszeit – Wirkungen und Kosten einer Lohnersatzleistung bei reduzierter Vollzeitbeschäftigung, Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung, 2013

sowie

Kai-Uwe Müller, Michael Neumann und Katharina Wrohlich (2013b): Bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf durch eine neue Lohnersatzleistung bei Familienarbeitszeit, in: DIW Wochenbericht, Nr. 46/2013

Quelle:  Müller/Neumann/Wrohlich (2013b), Tabelle 2, S.9

Wie wird hier argumentiert? Ein Großteil der Eltern wünscht sich eine gleichmäßigere Aufteilung von Familien- und Erwerbsarbeit (zumindest auf der Ebene der Befragungen). Finanzielle Gründe sprechen aber häufig für ein klassisches Ein- oder Eineinhalb-Verdiener-Modell. Aus diesem bekannten Dilemma will man ausbrechen mit dem Modell einer neuen familienpolitischen Lohnersatzleistung bei Familienarbeitszeit.

Derzeit wählen nur rund 1 % aller Paare mit Kindern im Alter von ein bis drei Jahren eine Arbeitszeitkombination, in der beide Elternteile 80 Prozent einer Vollzeit-Tätigkeit nachgehen. Viel häufiger vertreten sind das Alleinverdiener-Modell (39 %) und das 1,5­-Verdiener­-Modell (35 %). Bei Alleinerziehenden liegt der Anteil der Mütter, die 80 Prozent einer Vollzeit-Tätigkeit nachgehen, bei rund 10 %.

Die neue Lohnersatzleistung sollen Eltern von Kindern im Alter zwischen ein und drei Jahren im Anschluss an das Elterngeld erhalten können, wenn beide Partner sich für eine sogenannte reduzierte Vollzeit-Erwerbstätigkeit entscheiden. Damit ist eine Arbeitszeit in Höhe von etwa 80 Prozent einer Vollzeit-Stelle gemeint, was einer Wochenarbeitszeit von 32 Stunden entspricht. Der finanzielle Zuschuss soll sich dabei am Nettoeinkommen der Eltern orientieren und für kleinere Einkommen prozentual größer ausfallen als für höhere, so Müller, Neumann und Wrohlich (2013a und b) in ihrer Modellbeschreibung. 

Um es an dieser Stelle zuzuspitzen: Mit diesem Modell adressieren die Wissenschaftler ein Kardinalproblem hinsichtlich des gegebenen Geschlechterarrangements auf dem Arbeitsmarkt, das sich dergestalt ausprägt, dass der Rückzug auf Teilzeitarbeit fast ausschließlich ein Tatbestand ist, der bei den Frauen/Müttern zu verbuchen ist. Die Ursachen sind vielfältig, die drei wichtigsten: Das Ehegattensplit­ting, die beitragsfreie Mitversicherung für Ehepartner in der gesetzlichen Krankenversicherung und die Minijobs. Sie bieten vor allem den Frauen einen finanziellen Anreiz dafür, zumindest zeitweise aus dem Job auszusteigen oder aber ihre Arbeitszeit dauerhaft zu reduzieren, was letztendlich das Einverdiener- bzw. Zuverdienst-Modell stabilisiert, so auch Katja Tichomirowa in ihrem Beitrag „Was für Schwesigs Vorschlag spricht„. Damit aber wird das „Risiko“ Teilzeitarbeit aus der Sicht einiger (und nicht weniger) Arbeitgeber verknüpft mit dem „Risikoträger“ Frauen, denn fast ausschließlich bei diesen muss man mit der Realisierung eines Teilzeitwunsches rechnen.

  • Dazu passen die neuen Befunde einer Befragungsstudie von Vätern, die das Forsa-Institut im Auftrag der Zeitschrift „Eltern“ durchgeführt hat: Die Studie im Original kann man hier abrufen: Forsa (2013): Meinungen und Einstellungen der Väter in Deutschland, Berlin sowie eine Zusammenfassung der Ergebnisse hier auf der Website der Zeitschrift „Eltern“: Zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Väter 2014: »Sie wollen nicht mehr außen vor sein, sondern mitten drin im Familienalltag. Sie haben klare Vorstellungen davon, was einen guten Vater ausmacht. Sie wickeln, schmusen, helfen im Haushalt – und bleiben doch die Vollzeit-Ernährer.« Die Studienautoren sprechen von einer „großen Widersprüchlichkeit“: Männer schwanken zwischen Ernährer- und Vaterrolle: Sie wollen Zeit mit ihrem Kind verbringen, scheuen aber Teilzeitarbeit: Väter sind einer Studie zufolge innerlich gespalten. »Zwar hätten 43 Prozent der berufstätigen Väter gern mehr Zeit für die Familie, ergab die Umfrage. Zugleich sei aber die Mehrheit von ihnen nicht bereit, in Teilzeit zu arbeiten: Neun von zehn Vätern (89 Prozent) sind demnach in Vollzeit tätig und zwei Drittel der abhängig Beschäftigten wollen das auch so. Nur vier Prozent der Befragten arbeiteten in Teilzeit und nur ein Drittel würde gern in Teilzeit arbeiten.«

Insofern – man muss es so deutlich formulieren – wird hier quasi die Systemfrage aufgerufen: Erst wenn es für die Arbeitgeber kein besonderes „Risiko“ der Frauen ist, dass diese bei der Arbeitszeit reduzieren, wenn Kinder das Licht der Welt erblicken, sondern wenn dieses „Risiko“ gleichverteilt ist zwischen den Geschlechtern, erst dann würden die Unternehmen das Thema nicht mehr zu einem Frauenthema reduzieren (können). Allein dieser Aspekt verdient es, dass man das Modell offen und unaufgeregt diskutieren sollte.

Aber gerade wenn man das Modell mit der neuen Leistung umsetzen wollte, ergeben sich zahlreiche Fragezeichen, die man an diesen Vorschlag kleben muss, hier nur drei zur Auswahl:

  • Schauen wir beispielsweise nur in die Bilanzierung der Studienverfasser, was die vermuteten Auswirkungen der neuen teilkompensatorischen Geldleistung angeht – und die ist mehr als ernüchternd: »Die Studie zeigt, dass sich der Anteil der Familien, in denen beide Elternteile einer solchen reduzierten Vollzeit-Beschäftigung nachgehen, ausgehend von derzeit einem Prozent nahezu verdoppeln könnte« (Müller/Neumann/Wrohlich 2013: 3). Nur zur Einordnung dieser Aussage: Derzeit wählen nur rund 1 % aller Paare mit Kindern im Alter von ein bis drei Jahren eine Arbeitszeitkombination, in der beide Elternteile 80 Prozent einer Vollzeit-Tätigkeit nachgehen. Die Wissenschaftler schätzen mithin bei der Umsetzung ihres Ansatzes eine Verdoppelung – auf 2%!
  • Viele Arbeitnehmer sind ja nicht blöd: Sie wissen aus ihrer Anschauung und Erleben der Arbeitswelt, dass eine formale Reduktion der Arbeitszeit (die einhergehen würde mit einer Einkommensreduzierung, die selbst von der vorgeschlagenen Teil-Kompensation auf der Ausfallseite nur anteilig ausgeglichen wird) nicht zwingend auch eine tatsächliche Verringerung der Arbeitsbelastung im gleichen Umfang bedeutet. Denn auf der anderen Seite der Bilanz steht eine betriebliche Realität für immer mehr Arbeitnehmer, die auf eine stundengenaue Abgrenzung der Arbeitszeit keine Rücksicht nimmt und zuweilen auch nicht nehmen kann, sondern da werden die Beschäftigten konfrontiert mit einer Erwartungshaltung des Arbeitgebers bzw. der Aufträge, so dass man unbezahlte Mehrarbeit macht. Das ist auch ein bekanntes Ergebnis der Teilzeitarbeitsforschung.
  • Schlussendlich muss man natürlich als Sozialpolitiker darauf hinweisen, dass eine solche Reduktion der Arbeitszeit immer zu Komplikationen führen kann und wird bei der späteren Rente, denn deren Ausgestaltung hat immer noch das „male-breadwinner-Modell“ als Referenzpunkt, also eine 45 jährige Vollzeit-Tätigkeit, die immer mit dem durchschnittlichen Arbeitsentgelt vergütet wurde, was derzeit eine Brutto-Monatsrente von 1.266,30 Euro zur Folge hätte. Wenn man die damit verbundenen Konsequenzen bei Teilzeitarbeit oder Einkommensreduktion aus der derzeitigen Rentenformel verstanden hat, dann wird sich einem die Anmerkung erschließen, dass ein sicher gut gemeinter Ansatz der Erwerbsarbeitszeitreduktion konfligiert mit einer bislang nicht vorgenommenen Systemveränderung in der Rentenmechanik, die Teilzeitarbeit bislang lediglich als Ergänzung abgeleiteter Ansprüche in den klassischen Familienmodellen abzubilden in der Lage ist.

Kurzum: Eigentlich trifft das Modell einer Lohnersatzleistung, wenn beide die gleiche „kleine Vollzeit“ machen, den Nerv der notwendigen Debatte angesichts der krassen gegebenen und ziemlich beharrlichen Geschlechterarrangements, was die bezahlte Arbeit angeht. Aber ob es wirklich sinnvoll ist, mit einer neuen Geldleistung auf den Markt zu kommen, darüber ließe sich auch engagiert streiten. Wenn man den wirklich wollte.