Gewerkschaften: Zwischen Auslaufmodell und Renaissance. Ein Spaziergang zwischen tariflosen Welten, dem Hoffen auf staatliche Stützräder und den Insidern der guten alten Tarifvertragswelt

Jetzt laufen sie wieder, die Gewerkschaften. Und dann werden die mehr oder weniger üblichen Reden zum Tag der Arbeit gehalten, danach gibt es mehr oder weniger leckeres Essen und das obligatorische Kulturprogramm. Die meisten Werktätigen hingegen werden wie in den Jahren zuvor den Tag nutzen wie andere gesetzliche Feiertage auch, zum Ausschlafen, Motorradfahren, Kurzurlaub machen oder was auch immer man mit seiner freien Zeit so anfängt. Same procedure as every year und dennoch immer wieder Anlass, einen Blick auf die Lage der Gewerkschaften und der vielgestaltigen Entwicklungen dahinter zu werfen. Was natürlich nur exemplarisch geleistet werden kann. Bereits vor genau einem Jahr wurde ein vergleichbarer Aufschlag an dieser Stelle versucht – vgl. dazu den Beitrag Am Tag danach. Einige kritische Gedanken zum Tag der Arbeit und der (Nicht-)Zukunft der Gewerkschaften vom 2. Mai 2016.

Das, was heute an vielen Orten in Deutschland begangen wird, ist ein über lange Zeiträume gezähmter und in der Ausformung als gesetzlicher Feiertag (und häufig mit Reden staatstragender Politiker garnierter) gleichsam staatlich legitimierter (und damit geschrumpfter) „Kampftag der Arbeiterklasse“, wobei auch die „Arbeiterklasse“ eben nicht mehr das ist, was Teile von ihr waren, als man diese Veranstaltung in die Welt gesetzt hat. Wenn wir über den heutigen „Tag der Arbeit“ sprechen, dann handelt es sich um eine Angelegenheit mit einer sehr langen Tradition. Im Juli 1889 beschloss ein internationaler Arbeiterkongress in Paris, am 1. Mai 1890 Kundgebungen für die Durchsetzung seiner Forderungen abzuhalten – ein Jahr zuvor hatte bereits der amerikanische Arbeiterbund einen entsprechenden Beschluss gefasst. Der wiederum ging auf die Ereignisse rund um den 1. Mai 1886 in den USA zurück, als es einen mehrtägigen Streik für den Achtstundentag gab, mit dem Haymarket-Massaker im Mittelpunkt. Aber man muss noch weiter zurück gehen: Seinen eigentlichen Ursprung als »Tag der Arbeit« hat der 1. Mai in der britischen Kolonie Victoria, dem heutigen Australien. Dort hatten die Arbeiter mit einem eintägigen Streik im Jahr 1856 den Achtstundenarbeitstag erkämpft.

Dass der 1. Mai ein gesetzlicher Feiertag geworden ist, muss mit Blick auf Deutschland durchaus mit einer verstörenden historischen Verknüpfung gesehen werden. Während Anläufe in diese Richtung in der Weimarer Republik mit Ausnahme des 1. Mai 1919 erfolglos geblieben sind, änderte sich das mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten: Der 1. Mai wurde ab 1933 durch die Nationalsozialisten zum gesetzlichen Feiertag. Das aus nur zwei Paragrafen bestehende Reichsgesetz vom 10. April 1933 benannte ihn als „Tag der nationalen Arbeit“. Am 2. Mai 1933 wurden die Gewerkschaften in Deutschland gleichgeschaltet und die Gewerkschaftshäuser gestürmt. Im Jahr 1934 wurde der 1. Mai durch eine Gesetzesnovelle zu einem „Nationalen Feiertag des deutschen Volkes“ erklärt.

Seitdem ist eine Menge Wasser den Rhein runtergeflossen, aber die Maikundgebungen gibt es immer noch, auch wenn sich ihr Charakter naturgemäß stark verändert hat. So wie auch die Themen und Herausforderungen der Gewerkschaften. Während der „kleine Volksfest-Charakter“, den die Kundgebungen bei uns mittlerweile haben, von manchen Kritikern gerissen wird, gibt es in anderen Ländern sicher viele Menschen, die dich so einen Charakter gerne wünschen würden, sind sie doch bei den Versuchen, von ihrem Demonstrationsrecht Gebrauch zu machen, brutalen staatlichen Übergriffen ausgesetzt, man schaue sich nur an, was in diesem Jahr den aufrechten Gewerkschaftern passiert, die in der Türkei versuchen zu demonstrieren (vgl. beispielsweise Meldungen wie diese: Polizei geht gewaltsam gegen Demonstranten vor).

Aber springen wir auf eine grundsätzliche Ebene und rufen die Frage auf – haben die Gewerkschaften (mit oder ohne ihren Feiertag) überhaupt noch eine relevante Zukunft? Steht nicht ein Teil der Kritik an dem ritualisierten, für manche erstarrten Umgang mit diesem Tag für eine grundsätzliche Infragestellung der Gewerkschaften an sich?

Für die Kapitalseite ist das sowieso klar und die ihnen nahestehenden Schreiber in den Zeitungen entfalten das dann entsprechend. Das geht dann bei einigen um Anerkennung dieses Lagers heischenden Vertretern sogar so tief runter, dass beispielsweise Dietrich Creutzburg seinen Kommentar in der FAZ unter diese Überschrift stellt: Das Ende der Gewerkschaften. Es gibt bekanntlich Thesen und steile Thesen. Und die Sichtweise des Redakteurs ist eindeutig eine sehr steile These, denn er behauptet doch scheinbar (?) allen Ernstes, die Arbeiterbewegung »löst sie sich gerade selbst auf. Die Verwischung zwischen grundgesetzlich geschützter Tarifautonomie und profanem Lobbyismus wird ihr Untergang.« Solche „Diagnosen“ kann man nicht wirklich weiter verfolgen.

Hingegen einen anderen Beitrag des gleichen Verfassers schon, in dem er einen Blick wirft auf eine wichtige Kennzahl einer Mitglieder-Organisation: den Organisationsgrad, also der Anteil der Arbeitnehmer, die dann auch als Mitglied in einer Gewerkschaften mitmachen (oder zumindest Beiträge zahlen): Weniger als jeder Fünfte ist Gewerkschafter, so hat er den Artikel dazu überschrieben. Das legt natürlich schon den Finger auf eine offene Wunde der Gewerkschaftsbewegung.

»Im Durchschnitt aller Branchen und Tarifbereiche waren 18,9 Prozent der Beschäftigten im Jahr 2015 Mitglied einer Gewerkschaft«, zitiert er eine Auswertung des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), die sich – das muss man bedenken – auf Daten aus dem Sozio-oekonomischen Panel (SOEP) beziehen, also Umfrage- und nicht tatsächlichen Mitgliederdaten (vgl. dazu Adam Giza und Hagen Lesch (2017): Gewerkschaften: Verankerung ausbauen. IW-Kurzberichte 34/2017, Köln). »Insgesamt ist der gewerkschaftliche Organisationsgrad im Vergleich zum Jahr 2011 zwar leicht gestiegen. Doch gehen die Zuwächse vor allem auf das Konto des DBB Beamtenbundes, während der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) mit seinen acht Branchengewerkschaften Mitglieder verloren hat.«

»Wie die Auswertung zum Organisationsgrad weiter zeigt, gehören jüngere Beschäftigte deutlich seltener einer Arbeitnehmervertretung an als ältere. In der Altersgruppe bis 40 Jahre lag der Anteil unter 14 Prozent. Allein die „Generation 50plus“ zieht den Durchschnittswert nach oben: In der Altersgruppe von 51 Jahren bis zum Ruhestand waren 25,9 Prozent der Beschäftigten Mitglied einer Gewerkschaft. Zugleich sind Frauen und Teilzeitkräfte zu deutlich geringeren Anteilen gewerkschaftlich organisiert als Männer und Vollzeitbeschäftigte. Deren Organisationsgrade liegen knapp über 20 Prozent.«

Die Gewerkschaften sind angesichts dieser Herausforderungen nicht untätig. Das IW dazu: »Die im DGB zusammengeschlossenen acht Einzelgewerkschaften versuchen schon seit Jahren, diese strukturellen Probleme zu lösen. Die Strategien reichen vom Konzept der basisdemokratischen „Mitmachgewerkschaft“, wie es die IG Metall praktiziert, bis zum „Organisieren am Konflikt“, was die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di versucht. Ergänzt wird dies durch gezielte Investitionen in Kampagnen und aktive Mitgliederwerbung. Die verschiedenen Aktivitäten zahlen sich aus. Die IG Metall verzeichnet schon seit Jahren leichte Mitgliedergewinne und ver.di hat den Mitgliederrückgang immerhin bremsen können. Besser sieht es bei den durchsetzungsstarken Berufsgewerkschaften wie der Vereinigung Cockpit, der Ärztevertretung Marburger Bund oder der Lokführergewerkschaft GDL aus. Sie verzeichnen mit ihrer berufsgruppenspezifischen Tarifpolitik schon seit Jahren eine positive Mitgliederentwicklung.«

Adam/Lesch (20917) bilanzieren in ihrer Analyse: »Trotz dieser Erfolge ist die die Verankerung der Gewerkschaften in der deutschen Arbeitnehmerschaft insgesamt schwach.« Das habe Folgen und die beiden formulieren – gleichsam aus der Perspektive der „Gegnerbeobachtung“ – einige Empfehlungen:

»In vielen Dienstleistungsbranchen und im Handwerk wirkt sich dies auch auf die Durchsetzungskraft der Gewerkschaften aus – mit enormen Auswirkungen auf das Tarifsystem. Denn wo die Gewerkschaften nicht mehr präsent und durchsetzungsfähig sind, sind auch keine Arbeitgeberverbände mit Tarifbindung als „Gegenverbände“ … mehr notwendig. Es kommt zu einem Regelungsvakuum, das vom Gesetzgeber ausgefüllt wird, zum Beispiel durch den gesetzlichen Mindestlohn oder durch die Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen. Einige Gewerkschaften rufen immer lautstärker den Staat zu Hilfe, um Tarifverträgen zu mehr Durchsetzungskraft zu verhelfen. Solche Rufe sind nichts anderes als ein Eingeständnis der eigenen Ohnmacht. Denn durch die staatliche Erstreckung von Tarifverträgen lässt sich allenfalls deren Geltungsbereich ausweiten. Neue Mitglieder gewinnen die Gewerkschaften dadurch aber nicht. Ohne eine bessere Verankerung in der Arbeitnehmerschaft erodiert die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie. Dies zu verhindern, ist die eigentliche Kernaufgabe der deutschen Gewerkschaften.«

Die beiden Autoren aus dem arbeitgebernahen Institut sprechen eine durchaus gewichtige strategische Grundsatzfrage an: Sollen die Gewerkschaften noch stärker auf staatliche Schützenhilfe setzen? Auch wenn derzeit die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns seitens der Gewerkschaften als „großer Erfolg“ vor sich hergetragen wird – es gab mal Zeiten, die noch gar nicht so lange zurückreichen, als die Gewerkschaften eine gesetzliche Lohnuntergrenze vehement abgelehnt haben, da es sich um einen staatlichen Eingriff in die Lohnfindung und Tarifautonomie handelt. Dass man mittlerweile eine solche Intervention des Staates begrüßt und mit Blick auf das gesamte tarifliche Regelwerk ein deutliches Mehr an staatlichen Stützrädern fordert, kann man angesichts der in bestimmten Branchen und Regionen weit verbreiteten Tariflosigkeit nachvollziehen, man kann und muss das aber immer auch diskutieren als ein Eingeständnis der fundamentalen Organisationsschwäche.

Weit aus dem Fenster gelehnt hat sich Frank Bsirske: Verdi-Chef fordert stärkere Tarifbindung, berichtet beispielsweise das Handelsblatt:

„In den vergangenen Jahren haben wir immer wieder die Erfahrung gemacht, dass durch Neugründungen von Gesellschaften der Ausstieg aus der Tarifbindung komfortabel gelingt und Tarifflucht erleichtert wird“, sagte Bsirske. Er forderte: „Dem würde ein Riegel vorgeschoben, wenn Tarifverträge kollektiv nachwirken würden, bis sie durch einen neuen Tarifvertrag ersetzt sind.“ Zudem müsse es leichter werden, Tarifverträge bei niedriger Bindung für ganze Regionen oder Branchen für allgemeinverbindlich zu erklären.

Offensichtlich geht es hier um das Instrument der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen (vgl. dazu auch den Blog-Beitrag Von der besonderen Bedeutung der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen am Beispiel der Bauwirtschaft (und darüber hinaus) vom 8. Januar 2017). Wie immer im tarif- und darüber hinausgehenden politischen Leben hat eine Medaille zwei Seiten. Es gibt gute Argumente für eine Stärkung der Tarifbindung auch über die Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) von Tarifverträgen. Gerade hier wurde in zahlreichen Beiträgen über die Zustände im Einzelhandel immer wieder darauf hingewiesen, dass die Probleme begonnen und sich beschleunigt haben, als im Jahr 2000 der bis dahin allgemeinverbindliche Tarifvertrag im Einzelhandel, an den sich alle Unternehmen halten musste, auf Druck der Arbeitgeberseite von der damaligen rot-grünen Bundesregierung aufgehoben wurde. Vgl. zu diesem möglichen Ansatz ausführlicher den Beitrag Jenseits der Einzelfälle: Die sich selbst beschleunigende Verwüstungsmechanik von abnehmender Tarifbindung im Einzelhandel, gnadenlosem Verdrängungswettbewerb und dem Hamsterrad der Personalkostenreduzierung. Plädoyer für eine Wiederherstellung der Ordnungs- und Schutzfunktion des Tarifsystems gegen die „Rutschbahn nach unten“ durch Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge vom 5. August 2015.

Aber man muss auch die Kehrseite des Ansatzes sehen: Es handelt sich um ein „Geschäft zu Lasten Dritter“, es ist ein ziemlich harter Eingriff in Vertragsfreiheit und letztendlich kann es durchaus sein, dass man mit einem gut gemeinten Ansatz das Gegenteil erreicht, also man will die Tarifbindung stärken (was man tatsächlich schafft), zugleich aber höhlt man den einen Teil der Basis, also die gewerkschaftliche Organisation, weiter aus, weil ja das Regelwerk nicht mehr wie ansonsten selbst erkämpft werden muss, sondern „von oben“ allen Beschäftigten zugeführt wird.

Man muss die Forderungen bzw. die Suche nach Möglichkeiten einer (wieder) stärkeren Tarifbindung auch sehen vor dem Hintergrund tatsächlicher Ausformungen von Tarifflucht und sich ausbreitender Tariflosigkeit gerade in Bereichen der Wirtschaft, in denen die Beschäftigung wächst. Mit Beispielen aus dieser ruhen Teilwelt des Arbeitsmarktes kann man Bibliotheken füllen. Hier nur einige wenige Impressionen aus der aktuellen Frontberichterstattung:

Beispiel Flüchtlingsbetreuung: »Sie haben sich reingehängt, um geflüchteten Menschen in Deutschland einen guten Start zu ermöglichen. Doch gedankt wird es ihnen nicht: Alle 60 Beschäftigten, die für die Johanniter Unfall-Hilfe in der Zentralen Unterbringungseinrichtung in Oerlinghausen tätig waren, haben zum 31. Januar ihre Stelle verloren. Der neue Betreiber –  die tariflose DRK Betreuungsdienste Westfalen-Lippe gGMbH – weigerte sich, auch nur einen Beschäftigten zu übernehmen«, so der Artikel Für Flüchtlinge engagiert – und abserviert von Daniel Behruzi. Es ist ein in mehrfacher Hinsicht bezeichnendes Beispiel für die Wild-West-Methoden, mit denen es Gewerkschafter zu tun haben. Man muss sich klar machen, was hier passiert:

Die DRK Betreuungsdienste Westfalen-Lippe seien 2012 offensichtlich nur zu dem Zweck gegründet worden, bei solchen Ausschreibungen Dumpingangebote abzugeben. Der Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD) gilt dort nicht, stattdessen orientiert sich die Bezahlung am Tarifvertrag der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) für das Hotel- und Gaststättengewerbe. »Eine Flüchtlingseinrichtung ist aber kein Hotel und auch keine Gaststätte«, betont der NGG-Geschäftsführer in der Region Detmold-Paderborn, Armin Wiese. Offensichtlich missbrauche das Rote Kreuz den NGG-Tarif, »um sich immense Wettbewerbsvorteile gegenüber tarifgebundenen Wohlfahrtsverbänden und Trägern zu verschaffen«.

Das hat handfeste Folgen hinsichtlich der daraus resultierenden Lohnunterschiede: »So verdient beispielsweise ein Sozialarbeiter oder eine Sozialarbeiterin mit Berufserfahrung bei der DRK-Tochter monatlich über 500 Euro weniger als im TVöD, an dem sich die Bezahlung bei den Johannitern orientiert.«

Man könnte jetzt an dieser Stelle eine Menge anmerken zu den strukturellen Problemen, die sich in diesem hinsichtlich der Beschäftigungsentwicklung so wichtigen Bereich der Gesundheits- und Sozialdienstleistungen auftun. Da wäre dann auch die gerade in der Pflege und im Kita-Bereich so problematische Tatsache zu nennen, dass die kirchlich gebundenen Arbeitgeber ihre Beschäftigte (dort als „Dienstnehmer“ bezeichnet) vom Streikrecht ausschließen können und bislang auch dürfen, was den Gewerkschaften ihr letztes, aber notwendiges Schwert aus der Hand schlägt.

Beispiel Kulturkampf amerikanischer Konzerne gegen Gewerkschaften und Tarifverträge an sich: Der seit Jahren andauernde und mittlerweile irgendwie an eine Donquichotterie erinnernde Kampf von Verdi gegen Amazon hinsichtlich einer tarifvertraglichen Rahmung der Arbeit in den Verteilzentren des Konzerns ist sicher ein prominentes Beispiel für die Probleme, in Unternehmen, die einer US-amerikanischen Firmenkultur folgen müssen, deutsche Standards durchzusetzen. Bislang beißt sich Verdi hier die Zähne aus. Aber auch in anderen Bereichen haben es selbst an sich starke Industriegewerkschaften mit Tarifverweigerungspolitik zu tun. Man nehme als aktuelles Beispiel nur die IG Metall und das amerikanische Unternehmen Tesla.

„Teslas Mission ist die Beschleunigung des weltweiten Übergangs zu nachhaltiger Energie“ steht auf der Website des Unternehmens. Der Elektroautohersteller aus Kalifornien inszeniert sich gern als sauberer Ökokonzern, der an der Mobilität der Zukunft arbeitet. Mit Elon Musk verfügt Tesla auch noch über einen charismatischen Visionär als Chef, der dieses Image nach außen vertritt – so die Einleitung des Artikels In die Zukunft lieber ohne Tarif. Es geht um einen Tarifkonflikt bei der Ende 2016 erworbenen Konzerntochter Tesla Grohmann Automation. In dem Betrieb im rheinland-pfälzischen Prüm mit 680 Mitarbeitern wird ein Tarifvertrag gefordert. Das erworbene Unternehmen in Deutschland ist für Tesla von Bedeutung: »Grohmann baut automatisierte Maschinen für die Fahrzeugproduktion. Für Tesla sind die Anlagen unter anderem bei der Fertigung eines neuen Modells wichtig, die im Sommer anlaufen soll. Bisher baute Tesla nur Fahrzeuge im oberen Preissegment. Das „Model 3“ soll mit einem kolportierten Kaufpreis von etwa 30.000 Euro für eine breite Kundschaft erschwinglich sein und könnte dem wachsendenen Markt für Elektromobilität einen Schub geben.«

Die IG Metall  fordert eine Arbeitsplatzgarantie für alle Mitarbeiter und eine „gerechte Entlohnung.“ Derzeit liege das Lohnniveau um etwa 25 bis 30 Prozent unter dem Tarifgehalt. Tesla lehnt Tarifverhandlungen explizit ab. Man versucht offensichtlich, die Belegschaft mit einem Spaltpilz zu infizieren, wie man diesem Artikel entnehmen kann: Tesla fährt in Prümer Werk weiter auf hartem Kurs: Zunächst betont das Unternehmen, dass man die Bedingungen für die Beschäftigten in Prüm verbessern wolle, denn die bestehende Vergütung sei „nicht angemessen“.

»Betriebsbedingte Kündigungen bis Ende April 2022 habe man mit einer Ergänzung in den Arbeitsverträgen ausgeschlossen. Von der nächsten Abrechnung an sollen alle Mitarbeiter 150 Euro brutto mehr erhalten, hinzu komme eine Einmalzahlung von 1000 Euro netto mit der Abrechnung im April – plus Tesla-Aktien im Wert von 10 000 Euro.«

Eine Einbeziehung der Gewerkschaft wird kategorisch abgelehnt, man wolle das selbst mit den Mitarbeitern regeln. Das Ergebnis der Strategie des Unternehmens überrascht nicht: »Die Belegschaft ist gespalten: Einerseits sorgen sich viele, dass die Initiative der IG Metall dem Unternehmen schaden könne, auf der anderen Seite unterstützen etliche Mitarbeiter den Vorstoß.«

Beispiel Kontraktlogistik – unter das große Dach des Flächentarifvertrags, ansonsten weiter mit dem „Häuserkampf“: Hier werden wir mit einem ganz spannenden Fallbeispiel aus der neuen Tarifwelt konfrontiert, das zudem eine an sich starke und organisatorisch gut aufgestellte Gewerkschaft betrifft und deren Probleme verdeutlichen kann. Ausgangspunkt ist die Tatsache, dass die IG Metall, die in den Unternehmen der Automobilindustrie und des Maschinenbaus für die dort Beschäftigten gute Tarife hat aushandeln können. Die Reaktion der Arbeitgeberseite – zuerst die Expansion der Leiharbeit und seit einigen Jahren verstärkt die Inanspruchnahme von Werkverträgen. Mit fatalen Folgen für die vergleichsweise gut abgesicherten Stammbelegschaften, denn die Werkvertragsunternehmen haben sich immer tiefer in die Kernprozesse der Unternehmen gefressen und dort einen Verdrängungsprozess ausgelöst (vgl. dazu ausführlicher die Studie von Tim Obermeier und Stefan Sell (2016): Werkverträge entlang der Wertschöpfungskette. Zwischen unproblematischer Normalität und problematischer Instrumentalisierung, Düsseldorf 2016). Von besonderer Bedeutung sind hierbei die Unternehmen der „Kontraktlogistik“ (die eigentlich „nur“ für den Transport zuständig sind bzw. waren, mittlerweile liefern sie Vorprodukte ans Fließband, stellen Bauteile für die Produktion zusammen oder mischen sogar in der Montage mit). Für die ist bzw. war eigentlich Verdi zuständig. Aber die IG Metall wollte diese Unternehmen unter ihr tarifvertragliches Dach holen – nach dem Motto, wenn die Arbeitgeber in Teilbereichen in die (günstigere) Kontraktlogistik flüchten, dann holen wir uns diese Unternehmen und die dort beschäftigten Arbeitnehmer eben wieder zurück. Das hat zu einer längeren Auseinandersetzung mit der eigentlich zuständigen Gewerkschaft verdi geführt (vgl. zu dieser Geschichte Werkverträge als echtes Problem für Betriebsräte und Gewerkschaft. Und eine „doppelte Tariffrage“ für die IG Metall vom 24. September 2015 sowie vom 14. Januar 2016 der Beitrag Wenn unterschiedlich starke Arme das Gleiche wollen, sich erst in die Haare kriegen und dann doch miteinander kooperieren. Eine Fortsetzungsgeschichte aus der Gewerkschaftswelt).

Die Antwort der IG Metall ist aus deren Sicht konsequent und hat auch für die Beschäftigten bei den Kontraktlogistikern, die man in einer ersten Phase seitens der IG Metall „erobert“ hat, ganz handfeste Verbesserungen ermöglicht, wie Frank Specht in seinem Artikel IG Metall setzt ihren „Häuserkampf“ fort berichtet:

»Tatsächlich hat die IG Metall bei großen Serviceunternehmen wie Imperial Automotive Logistics in Osnabrück, Rudolph Logistik in Wolfsburg, der Schenker AG in Hannover oder Schnellecke in Hannover Tarifverträge erkämpft. Anfang Dezember vergangenen Jahres war nach mehreren Warnstreiks eine Einigung mit dem Audi-Kontraktlogistiker Scherm in Ingolstadt gelungen. Dort steigen die Löhne nun um insgesamt vier Prozent, außerdem führt das Unternehmen ein transparentes Eingruppierungssystem analog zur Metall- und Elektroindustrie ein. Mit dem Haustarifvertrag beim Logistiker Schnellecke, der unter anderem bei Volkswagen unter Vertrag steht, hat die IG Metall nach eigenen Angaben eine Erhöhung der Stundenlöhne um 11,6 Prozent und eine Arbeitszeitverkürzung von 39 auf 37,5 Wochenstunden durchgesetzt.«

Trotz aller Erfolge auf der Ebene von einzelnen Unternehmen – das strategische Ziel der IG Metall war (und bleibt) die Einbindung der gesamten Kontraktlogistik in ein tarifliches Regelwerk. Dieser weiter gefasste Ansatz hat zwischenzeitlich einen Dämpfer erhalten: Die Gespräche mit dem Deutschen Speditions- und Logistikverband (DSLV) und dem Arbeitgeberverband Gesamtmetall sind nun nach vier Verhandlungsrunden gescheitert. Nun soll der „Häuserkampf“ bei den Logistikern fortgesetzt werden.

Auf der anderen Seite muss man eben auch die primär über betriebswirtschaftlichen Druck vorangetriebenen Spaltungslinien erkennen, die es zwischen den Stammbelegschaften (bzw. genauer: deren Vertreter und den Gewerkschaften) und den Outsidern geben kann und gibt. Ein aktuelles Beispiel hierfür ist die schnelle Reaktion der IG Metall auf den Wunsch der Arbeitgeber, die gesetzlich mögliche massive Verlängerung der an sich auf maximal 18 Monate begrenzten Leiharbeit tarifvertraglich umzusetzen (vgl. dazu den Beitrag Wenn die Leiharbeiter in der Leiharbeit per Tarifvertrag eingemauert werden und ein schlechtes Gesetz mit gewerkschaftlicher Hilfe noch schlechter wir vom 19. April 2017).

Fazit: Schon diese wenigen Beispiele können aufzeigen, wie heterogen die Herausforderungen sind, denen sich Gewerkschaften heute ausgesetzt sehen. Wenn man ins Detail geht, dann wird erkennbar, wie groß und schwierig die Anforderungen sind, mit denen gewerkschaftliche Arbeit heute konfrontiert ist. Da helfen wohlfeile Blicke von oben nur begrenzt, auch wenn es neben der Dauerinfragestellung von Gewerkschaften aus dem Arbeitgeberlager auch positiv stimmende bzw. unterstützende Wortmeldungen gibt (vgl. beispielsweise den Beitrag Aufstieg im Niedergang von Marcel van der Linden: »Die globale Gewerkschaftsbewegung ist geschwächt. Doch es gibt Anzeichen einer Erneuerung. Arbeitskämpfe und Proteste werden seit einigen Jahren weltweit wieder häufiger.« Oder Mathias Greffrath mit Die fragile Gegenmacht: Warum die Gewerkschaften politische Ziele brauchen).

Am Ende – da beißt die Maus keinen Faden ab – wird sich die Zukunft der Gewerkschaften entscheiden an der Bereitschaft der Arbeitnehmer, sich da einzubringen, sich zu organisieren und – wenn es denn sein muss – auch zu streiken. Die (möglichen) Ergebnisse gewerkschaftlichen Tuns wird man sich von keinem anderen einkaufen können, auch nicht von einem vielleicht wohlmeinenden Staat. Das bedeutet aber auch, dass man konstatieren muss, dass es neben allen berechtigten Erwartungen an eine Modernisierung der Gewerkschaften und ihrer Strukturen und Prozesse eben auch eine gewisse Bringschuld der Arbeitnehmer gibt, die nicht – und in Zukunft immer weniger als früher – davon ausgehen können, dass andere sich um ihre Bedingungen schon irgendwie kümmern werden.

Von der besonderen Bedeutung der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen am Beispiel der Bauwirtschaft (und darüber hinaus)

Wenn es sie nicht geben würde, man müsste sie erfinden und einführen – die Sozialkassen der Bauwirtschaft, die unter dem Kürzel SOKA-BAU firmieren. Sie arbeitet heute für rund 77.000 inländische und ausländische Betriebe mit etwa 740.000 Beschäftigten und 380.000 Arbeitnehmern im Ruhestand. Von dieser Einrichtung haben sicher die meisten noch nie was gehört. Zugleich steht sie gleichsam als Beispiel für die Traditionslinie einer Selbstorganisation der Tarifparteien in einer Branche, um praktische Probleme zu lösen. Nur einige wenige Anmerkungen zur Geschichte: »Schon kurz nach 1945 zeichnete sich ab, dass für typische Probleme der Bauwirtschaft wie kurze Beschäftigungszeiten oder regelmäßige Arbeitsausfälle in den Wintermonaten dringend eine Lösung gefunden werden musste. Die Tarifparteien waren sich einig, dass entsprechende Regelungen in Eigenregie – also ohne staatlich verordnete Maßnahmen – auf den Weg gebracht werden sollten. Die Verhandlungen zwischen den zuständigen Arbeitgeberverbänden und der Interessenvertretung der Arbeitnehmer führte zur Gründung der gemeinsamen Einrichtungen ULAK und ZVK.« Diese beiden Kürzel stehen für die Urlaubs- und Lohnausgleichskasse der Bauwirtschaft (ULAK) und die Zusatzversorgungskasse des Baugewerbes AG (ZVK). Beide sind Einrichtungen der Tarifvertragsparteien der Bauwirtschaft, die sich aus dem Hauptverband der Deutschen Bauindustrie, der Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU) und dem Zentralverband des Deutschen Baugewerbes zusammensetzen.

»Aufgaben der ULAK sind die Sicherung von Urlaubsansprüchen und die Finanzierung der Berufsausbildung. Die ZVK schafft mit der Rentenbeihilfe einen Ausgleich für strukturbedingte Nachteile bei der Altersversorgung.« So die Selbstbeschreibung der SOKA-BAU. Wichtige sozialpolitische Funktionen, die hier für alle Beschäftigten der Bauwirtschaft sichergestellt werden, in einer Branche, die sich durch eine kleinteilige, zersplitterte Unternehmensstruktur charakterisieren lässt, also mit vielen kleineren und Kleinstbetrieben, die ansonsten diese Leistungen für die Arbeitnehmer nicht erbringen würden oder könnten oder das auch nicht wollten.

Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit dieses Branchensystems ist natürlich zum einen, dass die Leistungen alle in der Branche erreichen und zugleich muss auch die Finanzierung über alle gesichert sein. Dafür braucht man die Allgemeinverbindlichkeit des entsprechenden tarifvertraglichen Regelwerks, denn darüber wird das erforderliche Kollektiv hergestellt, da sich ansonsten die nicht-tarifgebundenen Unternehmen, von denen es in der Bauwirtschaft viele gibt, den Regelungen, Leistungen und der Finanzierung entziehen könnten.

Das Bundesarbeitsministerium hat in den Jahren 2008, 2010 und 2014 drei Tarifverträge des Baugewerbes für allgemeinverbindlich erklärt. Eine solche Erklärung führt dazu, dass sich auch all jene Firmen an diese Tarifverträge halten müssen, die sie nicht unterschrieben haben. Die drei Tarifverträge regeln die Sozialkassen des Baugewerbes. Warum das so wichtig ist, erläutert Thomas Öchsner in seinem Artikel Tarifrecht im Baugewerbe – Nahles hilft und will es nicht gewesen sein anhand der Branchen-Besonderheiten auf dem Bau:

»So hat dort jeder zweite Beschäftigte innerhalb von zwölf Monaten mehrere Arbeitgeber. Würde man immer nur den Resturlaub nehmen können, den man jeweils noch hat – nie käme einer etwa auf drei zusammenhängende Wochen Urlaub. Die Sozialkasse (Soka) ermöglicht dies über eine Art Fonds. Eine weitere Besonderheit ist die äußerst geringe Umsatzrendite; sie liegt im Schnitt zwischen einem halben und einem Prozent. Viele Betriebe sparen deshalb, wo sie nur können; die wenigsten bilden aus. Würde die Soka Bau nicht die verbliebenen Ausbildungsbetriebe über ein Umlageverfahren bezuschussen – die Ausbildung in der Branche bräche zusammen.«

Vor diesem Hintergrund wird jedem verständlich, dass es bei den Sozialkassen der Bauwirtschaft um überaus sinnvolle Einrichtungen geht, die den staatlichen Eingriff in die Tarif- und letztendlich Vertragsfreiheit durch die Allgemeinverbindlicherklärung voll rechtfertigt. Und die Anforderungen an die Allgemeinverbindlicherklärung sind hoch, wie das BMAS selbst beschreibt:

Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales kann nach § 5 Tarifvertragsgesetz einen Tarifvertrag im Einvernehmen mit einem aus je drei Vertretern der Spitzenorganisationen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer bestehenden Ausschuss auf gemeinsamen Antrag der Tarifvertragsparteien unter bestimmten Voraussetzungen für allgemeinverbindlich erklären. Das Recht zur Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) kann vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales auf die oberste Arbeitsbehörde eines Landes übertragen werden. Die AVE kann nicht ohne einen zustimmenden Beschluss des Tarifausschusses erklärt werden.

Wo ist nun das Problem für die Bauwirtschaft (gewesen)?

Das wurde im vergangenen Jahr vom Bundesarbeitsgericht auf den Tisch gelegt: Unwirksamkeit der Allgemeinverbindlicherklärungen von Tarifverträgen – Sozialkassenverfahren des Baugewerbes (AVE VTV 2008 und 2010) – so war eine Pressemitteilung des Gerichts aus dem September 2016 überschrieben, die sich auf den Beschluss des 10. Senats vom 21.9.2016 – 10 ABR 33/15 bezieht. Die Entscheidung war ein schwerer Schlag für die Bauwirtschaft und deren Tarifpartner.

»Die Allgemeinverbindlicherklärungen des Tarifvertrags über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe vom 15. Mai 2008 und 25. Juni 2010 sind mangels Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen nach § 5 TVG aF unwirksam. Weder hat sich der zuständige Minister bzw. die zuständige Ministerin für Arbeit und Soziales mit der Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) befasst noch war die nach damaligem Rechtsstand erforderliche 50%-Quote erreicht.«

Zu dieser Entscheidung schreibt Öchsner in seinem Artikel:

»Die Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts vom September lösten daher Entsetzen aus, sowohl bei der IG Bau als auch bei den Arbeitgebern. Sie befürchteten das Ende der Soka Bau, wenn viele Firmen sich nun aus deren Finanzierung zurückziehen könnten – oder gar, noch schlimmer, die Rückzahlung längst gezahlter Beiträge verlangten. Wie kämen in einem solchen Fall künftig 700.000 Bauarbeiter zu bezahltem Urlaub, wie kämen 35.000 Azubis zu ihrer Ausbildung? Die Richter störten sich nicht an der Soka als solcher. Sie fanden jedoch, das Arbeitsministerium habe die Tarifverträge dazu am geltenden Recht vorbei für allgemeinverbindlich erklärt.«

Und was ist passiert? Ein kleines Lehrstück, wie Gesetzgebung auch gehen kann. Ende Oktober waren Gewerkschaften und Arbeitgeber bei der Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) mit dem Ziel, so schnell wie möglich ein neues Recht zu schaffen – was ihnen die Ministerin auch zugesagt hat. Mit einem „harten Schlag“, einer Lösung, die keinen „Schönheitspreis“ gewinnen werde.

Dem folgenden Zitat von Öchsner merkt man die distanzierte Bewunderung für die gewählte Vorgehensweise förmlich an:

»Der „harte Schlag“ ist nun ein Gesetz, das aus 18 Seiten plus 694 Seiten Anhang besteht. Es kopiert quasi alle Tarifverträge, die je zur Soka Bau geschlossen worden waren, in das Gesetz hinein. Es legt sogar fest, dass alle Bestimmungen dieser Tarifverträge „unabhängig davon“ gelten, ob sie einst „wirksam abgeschlossen wurden“. Anders gesagt: Diesem Gesetz ist es völlig egal, ob an den Tarifverträgen womöglich rechtlich etwas auszusetzen wäre. Ihr Inhalt soll jetzt einfach gelten, basta.«

Konkret geht es um das „Gesetz zur Sicherung der Sozialkassenverfahren im Baugewerbe (Sozialkassenverfahrensicherungsgesetz – SokaSiG)“, das man in der Bundestags-Drucksache 18/10631 vom 16.12.2016. In der Kurzfassung heißt es da: »Durch das Gesetz sollen die Regelungen aller seit 2006 gültigen Sozialkassentarifverträge für verbindlich erklärt werden. Es wird damit die Rechtslage abgebildet, wie sie durch die Tarifvertragsparteien bereits vereinbart und durch das Bundesarbeitsministerium für allgemeinverbindlich erklärt worden ist.«

Das BMAS hat das Gesetz geschrieben – ins Parlament wurde es jedoch nicht von ihr, sondern von der SPD- und der CDU/CSU-Fraktion eingebracht. Durch dieses Vorgehen müsse sich nicht zunächst das Kabinett damit befassen, es müsse auch keine Stellungnahme des Bundesrats eingeholt werden – so spare man bis zu acht Wochen Zeit.

Fazit: Es gibt kaum einen vergleichbaren Fall aus der jüngeren Vergangenheit, in dem ein oberstes Gericht so schnell und so brutal ausgehebelt worden ist hinsichtlich der höchstrichterlichen Rechtsprechung. Wohlgemerkt – für einen sozialpolitisch absolut guten Zweck. Aber das erklärt auch, warum selbst die Ministerin mit diesem Erfolg in der Öffentlichkeit nicht hausieren gegangen ist.
Ende Januar soll der Bundestag das Gesetz beschließen, im Februar könnte es in Kraft sein.

Wenn auch die wirklich sinnvolle Einrichtung der Bauwirtschaft damit gesichert wird, bleibt am Ende notwendigerweise der Blick auf das Instrument der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen. Denn es gibt zwei zentrale Hürden, die das Instrument nehmen muss, bevor man es überhaupt einsetzen kann: Zum einen kann die AVE nur im Einvernehmen mit dem Tarifausschuss vollzogen werden – dort aber sitzen die Arbeitgeber, die eine solche Entscheidung blockieren können – und zwar oft auch Arbeitgeberverteter, die nichts mit den Arbeitgebern der Branche zu tun haben müssen, aus der heraus ein Antrag auf AVE gestellt wird und deshalb oft nach anderen Kriterien entscheiden (und blockieren). Und zum anderen die bereits angesprochene 50 Prozent-Quote der tarifgebundenen Arbeitnehmer.

Übrigens – im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD vom Dezember 2013 heißt es dazu unter der Überschrift „Allgemeinverbindlicherklärungen nach dem Tarifvertragsgesetz anpassen und erleichtern“ (S. 48):

»Das wichtige Instrument der Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) nach dem Tarifvertragsgesetz bedarf einer zeitgemäßen Anpassung an die heutigen Gegebenheiten. In Zukunft soll es für eine AVE nicht mehr erforderlich sein, dass die tarifgebundenen Arbeitgeber mindestens 50 Prozent der unter den Geltungsbereich des Tarifvertrages fallenden Arbeitnehmer beschäftigen. Ausreichend ist das Vorliegen eines besonderen öffentlichen Interesses. Das ist insbesondere dann gegeben, wenn alternativ:
• die Funktionsfähigkeit von Gemeinsamen Einrichtungen der Tarifvertragsparteien (Sozialkassen) gesichert werden soll,
• die AVE die Effektivität der tarifvertraglichen Normsetzung gegen die Folgen wirtschaftlicher Fehlentwicklungen sichert, oder
• die Tarifvertragsparteien eine Tarifbindung von mindestens 50 Prozent glaubhaft darlegen.
Wir wollen, dass die, den Antrag auf AVE stellenden Tarifvertragsparteien, an den Beratungen und Entscheidungen des Tarifausschusses beteiligt werden können und werden prüfen, wie dies umgesetzt werden kann.«

Schaut man sich die Zahlen zu den neu allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträgen an, wie sie in der zweiten Abbildung dargestellt sind, dann wird der Sinkflug der vergangenen Jahre erkennbar und auch der scheinbare leichte Anstieg am aktuellen Rand erklärt sich aus den Mindestlöhnen, deren Geltung über die Allgemeinverbindlichkeit bei den Branchen-Mindestlöhnen gewährleistet werden muss.

Dabei wäre die AVE ein ganz zentrales Instrument, um (wieder) mehr Ordnung auf dem Arbeitsmarkt zu schaffen.

Habemus Tarifabschluss. Für die Leiharbeit. Das gefällt nicht jedem

Am 25. November 2016 hat der Bundesrat die vom Bundestag bereits beschlossenen Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes gebilligt. Damit hat die heftig umstrittene Neuregelung der Leiharbeit (vgl. dazu den Beitrag Ein „kleingehäckseltes“ koalitionsvertragsinduziertes Abarbeitungsgesetz zu Leiharbeit und Werkverträgen vom 21. Oktober 2016) seinen parlamentarischen Weg beendet. Und nur wenige Tage später werden wir mit dieser Nachricht aus der Leiharbeitswelt konfrontiert:
„Wir haben seit Dienstag mehr als 24 Stunden Non-Stop verhandelt und eine deutliche Erhöhung der Entgelte erreicht. Der Kompromiss enthält viel von dem, was wir gefordert hatten. Die Gewerkschaften haben die vollständige Ost-West-Angleichung ab 2021 sowie eine überproportionale Anhebung der unteren Entgeltgruppen durchgesetzt.“ Mit diesen Worten wird Stefan Körzell, DGB-Vorstandsmitglied  und Verhandlungsführer für die DGB-Tarifgemeinschaft Leiharbeit zitiert: Verhandlungsergebnis für die Beschäftigten der Leiharbeit erreicht. Und weiter erfahren wir über das Verhandlungsergebnis: Die Entgelte in der Leiharbeit steigen im Westen jährlich zwischen 2,5 und 3,2 Prozent pro Stunde. Im Osten steigen sie jährlich bis zu 4,82 Prozent pro Stunde. Die vollständige Ost-West-Angleichung in allen neun Entgeltgruppen erfolgt zum 01.04.2021. Die Entgelttabelle Ost entfällt zu diesem Zeitpunkt. Die dann gültige Tabelle West wird dann im gesamten Bundesgebiet angewendet. Und auch das sollte erwähnt werden: Der Tarifvertrag hat eine Laufzeit von 36 Monaten und endet zum 31.12.2019. 

mehr

Tarifflucht bei einem privaten Reha-Konzern sowie neben dem Kreuz. Und Kommunen mit (schein)selbständigen Musikschullehrern sollten aufpassen

Wieder einmal wächst die Sammlung zum Thema Tarifflucht. Beginnen wir mit einem Beispiel aus der Welt der privaten, auf Gewinn gerichteten Gesundheitskonzerne, denen man das irgendwie auch zutraut und werfen wir dann den kritischen Blick in das große Lager der unter der Flagge kirchlicher Trägerschaft segelnden Einrichtungen.

Die Median Kliniken GmbH ist der größte private Betreiber von Reha-Einrichtungen in Deutschland. Das Berliner Unternehmen mit rund 13.000 Beschäftigten und 78 Standorten deutschlandweit soll nun Tarifflucht in richtigem großen Stil praktizieren, so der Vorwurf der Gewerkschaft ver.di: Größter privater Reha-Konzern Median begeht Tarifflucht im großen Stil – Fast alle Tarifverträge gekündigt – Betriebsräte erteilen Verhandlungsabsage.

Der Konzern will keine Tarifverträge mehr für die Beschäftigten abschließen. Seit Dezember 2014 ist das Unternehmen in Besitz des niederländischen Investmentfonds Waterland.

Median hat inzwischen für fast alle Kliniken die Manteltarifverträge gekündigt, die unter anderem Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen regeln. Mit der Begründung, so ein „marktorientiertes Handeln“ zu ermöglichen, will das Unternehmen Entgelte und Arbeitsbedingungen künftig mit Betriebsräten und einzelnen Beschäftigten aushandeln.

Die Gewerkschaft wirft dem Reha-Unternehmen vor, Betriebsräte an den einzelnen Standorten massiv unter Druck zu setzen, um so schnell wie möglich Betriebsvereinbarungen abzuschließen. Die Betriebsräte erteilten dem Ansinnen der Konzernspitze jedoch eine Absage. Für Verhandlungen auf betrieblicher Ebene »stehen wir nicht zur Verfügung«, heißt es in einer von zahlreichen Betriebsräten unterzeichneten Resolution.

„Das ist ein Schlag ins Gesicht der Beschäftigten, die jeden Tag und rund um die Uhr einen engagierten und wichtigen Job machen“, wird ver.di-Bundesvorstandsmitglied Sylvia Bühler zitiert. Ohne Tarifverträge seien die Beschäftigten der Willkür des Arbeitgebers ausgeliefert.

Die Gewerkschaft hat versucht, auch mit Arbeitsniederlegungen auf die Herausforderung zu reagieren, darüber wurde im Juni berichtet, beispielsweise in diesem Artikel: Streiksaboteur des Tages: Median Kliniken GmbH.  So waren Beschäftigte der Rehaklinik Berlin-Kladow zum Streik aufgerufen.

»Streik? Ohne mich!« konterte das Unternehmen in einem Flugblatt … Median wolle »nicht zurück in die kapitalistische Steinzeit«, beteuert der Konzern in dem Propagandafoyer … Nur Tarifverträge soll es nicht mehr geben. Statt dessen will man »faire flexible Lohnmodelle« mit den Betriebsräten und einzelnen Beschäftigten aushandeln.«

Nun hatte die Gewerkschaft ver.di ja darauf hingewiesen, dass die Betriebsräte angekündigt haben, dass sie nicht für Einzelverhandlungen zur Verfügung stehen. Das war wohl auch so, am Anfang, wie das Beispiel der Fontana-Klinik in Bad Liebenwerda zeigt. Über die Situation dort wurde noch am 16. Juni 2016 berichtet: »In einer Resolution beharren Betriebsräte unterschiedlicher Median-Standorte demnach auf Verhandlungen mit der Gewerkschaft. Das bestätigt Gewerkschaftssekretär Ralf Franke für den Standort Bad Liebenwerda. Der dortige Betriebsrat habe diese Resolution ebenfalls unterzeichnet, wolle sich aber dennoch die Vorschläge der Geschäftsführung anhören.«
Das hat mittlerweile stattgefunden und offensichtlich mehr, denn am 27. Juni 2016 meldet der Konzern in einer Mitteilung: MEDIAN Fontana-Klinik: Gemeinsam flexibles Lohnmodell für alle Beschäftigen beschlossen:

»Geschäftsleitung und Betriebsrat der MEDIAN Fontana-Klinik in Bad Liebenwerda haben am Donnerstag einen Durchbruch erzielt und sich … bei gemeinsamen Gesprächen auf höhere Bezüge für die Beschäftigten geeinigt. Damit hat man es an der Klinik trotz heftigem Gegenwind durch die Gewerkschaft ver.di geschafft, hausintern eine schnelle und von beiden Seiten getragene Lösung zu finden. Bereits zum 1. Juli werden sich danach Löhne und Gehälter an der Fontana-Klinik in erster Stufe flexibel und berufsgruppenspezifisch erhöhen. Gleichzeitig wurden die Eckpunkte einer Arbeits- und Sozialordnung definiert.«

Und in einem anderen Artikel wird Dieter Stocker, Geschäftsbereichsleiter Ost bei MEDIAN, mit diesen Worten zitiert: „Wir gehen aber nicht mit der Gießkanne vor, wie bei der klassischen gewerkschaftlichen Tariferhöhung, sondern schauen genau, gemeinsam mit dem Betriebsrat, was in den einzelnen Berufsgruppen möglich ist. Dieses Modell könnte auch für andere Standorte von MEDIAN Schule machen.“

Man erkennt, dass es dem Konzern hier darum geht, die Gewerkschaft rauszudrängen bzw. zu verhindern, dass sie noch irgendwas mitzureden hat hinsichtlich der Arbeitsbeziehungen und man das vor Ort mit den Betroffenen selbst „regeln“ will. Dabei wird man auch am Anfang den Betriebsräten einige Zugeständnisse machen, um sie rüberzuziehen. Offensichtlich ist das an dem Standort bereits gelungen.

Und dass die Gewerkschaft, also ver.di, Schwierigkeiten hat, in den Einrichtungen des Sozial- und Gesundheitswesens überhaupt Fuß fassen zu können, was ja Voraussetzung ist, um was für die Beschäftigten überhaupt tun zu können, liegt nicht nur in dem niedrigen Organisationsgrad begründet, sondern kann auch mit der Trägerschaft der Einrichtung zu tun haben, also wenn die unter dem Dach konfessioneller Trägerschaft operiert und damit die Sonderregelungen des kirchlichen Arbeitsrechts für sich beanspruchen kann.

Und auch aus diesem Lager gibt es wieder ein Beispiel für Tarifflucht, gleichsam in fortgeschrittenem Stadium, zu berichten. Konkret geht es um das katholische Dominikus Krankenhaus in Berlin, ein konfessionelles Krankenhaus in der Trägerschaft der Dominikus-Krankenhaus Berlin-Hermsdorf GmbH, die wiederum bei der Caritas Mitglied ist.
Und dieses Unternehmen macht auch gerade Schlagzeilen: „Vorne beten, hinten treten“ – ver.di kritisiert Kündigung von  über 80 Beschäftigten bei der Dominikus Service GmbH. So hat die Gewerkschaft ver.di Berlin-Brandenburg eine Pressemitteilung überschrieben. Der kann man entnehmen:

»Das katholische Dominikus Krankenhaus (Caritas) in Berlin löst seine Tochterfirma die Dominikus Service GmbH (DSG) auf und entlässt über 80 Beschäftige zum Ende des Jahres. Ein entsprechendes Kündigungsschreiben haben die Beschäftigten der DSG erhalten. In der DSG sind die Bereiche Küche/Cafeteria, Logistik, Reinigung, Hauswirtschaft und Bettenaufbereitung ausgelagert. Die Tätigkeiten sollen zukünftig von der Firma Klüh erbracht werden. Die Geschäftsführung begründet ihre Maßnahme, mit Einsparpotentialen durch die Vergabe an Klüh.«

Nun muss man wissen, dass mit der DSG bereits Tarifflucht begangen wurde, denn  jetzt wird in diesem Bereich des Krankenhauses nicht nach den Arbeitsvertragsrichtlinien der Caritas (AVR Caritas) bezahlt, sondern nur nach den branchenüblichen Löhnen. Das war das Ziel der damaligen Ausgliederung. So auch die Überschrift »Caritas hat schon Tarifflucht begangen« zu einem Interview mit Kalle Kunkel, Gewerkschaftssekretär bei ver.di. Offensichtlich gibt es eine gewisse Irritation über die Motive des nun anstehenden Abstoßens der DSG:

»Warum das Management von Dominikus diese Entscheidung getroffen hat, wissen wir nicht. Denn der größte Teil der bei der Servicegesellschaft Beschäftigten arbeitet im Reinigungsbereich. Auch in der Logistik, sowohl im Patienten- wie im Gütertransport, sind einige tätig. Ebenfalls in der Service GmbH angesiedelt sind die Stationsassistenz und die Küche. Für die meisten dieser Bereiche wird das Entgelt durch Mindestlohnregelungen oder allgemeinverbindliche Tarifverträge bestimmt. Im Reinigungsbereich liegt der Mindestlohn bei etwas unter zehn Euro. Das muss auch bei der neuen Firma gezahlt werden.«

Die erste Stufe der Tarifflucht war also die Auslagerung der Beschäftigten in die DSG und deren Abkoppelung von der katholischen AVR-Vergütung. Der zweite Schritt ist nun zum einen die weitere Verschärfung der Situation, indem die langjährigen Beschäftigten vor die Tür gesetzt werden. Denn es handelt sich nicht um einen Betriebsübergang, die betroffenen Arbeitnehmer müssen also nicht weiterbeschäftigt werden. Sie können sich dann bei dem neuen Unternehmen bewerben, aber haben keinen Anspruch auf Übernahme und vor allem nicht zu den alten Konditionen. Und zum anderen – so eine plausible These -, erhofft man sich weitere Einsparungen schlichtweg dadurch, dass der neue Dienstleister mit (noch) weniger Personal versuchen wird, die Bereiche abzudecken.

Anders formuliert: Der Träger entsorgt die bereits ausgelagerten Beschäftigten. Und er wird auf keinen Widerstand stoßen, selbst der Gewerkschaftsfunktionär merkt frustriert an:

Die Beschäftigten sehen für sich keine Perspektive, noch etwas zu erreichen. Deren Stimmung ist nicht so, dass sie sagen: »Morgen gehen wir in den Arbeitskampf.«

Sein Fazit: »Da zeigt sich mal wieder, dass die kirchlichen Unternehmer betriebswirtschaftlich kalkulierende Arbeitgeber wie alle anderen auch sind. Das christliche Aushängeschild, dass sie sich dranhängen, hat wenig Aussagekraft. Zumindest nicht in Bezug auf den Umgang mit den Beschäftigten, insbesondere, wenn es um die unteren Lohngruppen geht.«

Gibt es denn für Arbeitnehmer nicht wenigstens irgendwelche positiv daherkommenden Botschaften? Bei denen sie mal nicht das Nachsehen haben?

Wie wäre es vielleicht mit diesem Fall, der sicher zahlreichen Kommunen einige Schweißperlen auf die Stirn treiben wird: Sozialversicherungspflicht für „selbständigen“ Musikschullehrer, so ist der Bericht über ein Urteil des Landessozialgerichts (LSG) Nordrhein-Westfalen in Essen überschrieben (Az.: L 8 R 761/14). „Selbstständige“, auf Honorarbasis bezahlte Lehrer an Musikschulen sind bei einer regelmäßigen umfassenden Tätigkeit gar nicht selbstständig. Sind zudem Arbeitsort, Zeit und auch die Lehrpläne vorgegeben, spricht dies für eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung, so die Quintessenz.

Zum Sachverhalt, der vielen anderen Kommunen sehr bekannt vorkommen wird:

»Der Musiklehrer war zwischen 2005 bis 2007 noch in der Musikschule angestellt. Aus Kostengründen beschloss 2008 der Rat der Stadt, die Musiklehrer nur noch als Honorarkräfte einzusetzen.
Zwischen 2011 und 2014 war der Gitarrenlehrer daraufhin nur noch eine Honorarkraft. Die Musikschule vereinbarte mit ihm ausdrücklich eine „selbstständige Tätigkeit als freier Mitarbeiter“.
Doch so „selbstständig“ war der Musiklehrer gar nicht, urteilte das LSG. Er war vielmehr mit seinem Unterricht an das Lehrplanwerk des Verbandes deutscher Musikschulen vertraglich gebunden. Weder hinsichtlich Arbeitszeit noch Arbeitsort oder gar bei der Auswahl der Schüler sei er frei gewesen. Auch habe er kein Unternehmerrisiko getragen, dem gleichwertige unternehmerische Chancen gegenübergestanden hätten.«

Diese Entscheidung des LSG NRW wird so einige Kommunen ins Grübeln bringen (müssen). Denn wie schreibt das LSG NRW in seiner Pressemitteilung zu dieser Entscheidung: »Der Senat hat die hergebrachten Rechtsgrundsätze zur Abgrenzung zwischen abhängiger Beschäftigung und selbständiger Tätigkeit angewen­det und deshalb die Revision nicht zugelassen. Das Urteil hat dennoch grund­sätzliche Bedeutung für den Status von Lehrern an Musikschulen.«

Das ist Real. Ein weiteres Trauerspiel der tarifvertraglichen Entleerung im Einzelhandel oder am Ende ein trojanisches Pferd?

Erneut muss hier berichtet werden von einer der großen nicht nur tarifpolitischen Baustellen des Landes – dem Einzelhandel, insbesondere dem Lebensmitteleinzelhandel. Hier arbeiten hunderttausende Beschäftigte, überwiegend Frauen. Und die vergangenen Jahre waren geprägt durch eine ständige Wiederholungsschleife der Klage über sich verschlechternde Arbeitsbedingungen für die dort arbeitenden Menschen, über Tarifflucht der Arbeitgeber, garniert mit Berichten über – an eine ausgemachte Donquichotterie erinnernde – Bemühungen der Gewerkschaft ver.di, Widerstand zu organisieren und die Zerbröselung einer vor dem Jahr 2000 mal wohl geordneten Branche mit einem bis dahin allgemeinverbindlichen Tarifvertrag aufzuhalten und umzukehren.

Und die Warenhauskette Real (Eigenschreibweise: real), eine Tochter des Metro-Konzerns, taucht neben anderen Unternehmen immer wieder auf, wenn es um die Beschreibung der angesprochenen Entwicklungslinie im Sinne einer Verschlechterung der Arbeitsbedingungen geht. Auch in diesem Blog, beispielsweise am 1. Oktober 2015 unter der Überschrift Tarifflucht des Arbeitgebers und Zwangsteilzeit für die Beschäftigten. Das ist Real. Wieder einmal über eine Branche auf der Rutschbahn nach unten und dann wieder am 18. Dezember 2015 in dem Beitrag Tarifbindung erreicht – Tarifbindung verloren. Das tarifpolitische Hin und Her im Einzelhandel am Beispiel von Primark und Real. Es geht um ein Unternehmen mit mehr als 36.000 Beschäftigten und (noch) 293 Märkten in Deutschland, wo ein Umsatz von 7,7 Mrd. Euro erwirtschaftet wurde.

mehr