Ausgerechnet am Tag der Arbeit wurde man mit solchen Meldungen konfrontiert: Verdi besorgt: Tarifvertrag gilt für immer weniger Einzelhändler. Die Gewerkschaft Verdi warnt vor den Folgen der abnehmenden Tarifbindung im Einzelhandel. Nur noch etwa 14 Prozent der Unternehmen und 30 Prozent der 490.000 Beschäftigten im Einzelhandel in Baden-Württemberg unterliegen der Tarifbindung. Noch 2010 seien es 35 Prozent der Firmen und 41 Prozent der Branchen-Mitarbeiter gewesen. Bernhard Franke, Verhandlungsführer der Gewerkschaft in den Tarifgesprächen, die gerade in Baden-Württemberg laufen, wird dann mit den Worten zitiert: »Es wäre … sinnvoll, die bis 2000 gültige Allgemeinverbindlichkeit wieder einzuführen – damals galten die Vorgaben für alle Firmen der Branche.« Er legt damit den Finger auf eine klaffende Wunde. Gerade am Beispiel des Einzelhandels kann man studieren, was in Branchen passiert, in denen die Personalkosten oftmals der einzige relevante Kostenfaktor sind, an dem man noch schrauben kann in einem Umfeld stark ausgeprägten Wettbewerbs und keine allgemeine Tarifbindung (mehr) existiert. Die betriebswirtschaftlichen Vorteile, die man sich verschaffen kann, wenn man aus der Tarifbindung ausschert bzw. dieser gar nicht erst beitritt im Vergleich zu den weiterhin tarifgebundenen Unternehmen können erheblich sein und stellen einen enormen Anreiz dar, diesen Weg auch einzuschlagen. Vor allem, wenn die Gewerkschaft gleichzeitig auf der Ebene des Organisationsgrades nicht über eine entsprechende Stärke verfügt, die beispielsweise eine Streikdrohung für die Arbeitgeberseite realistisch erscheinen lässt.
Und gerade der als Beispiel aufgerufene Einzelhandel ermöglicht zugleich einen Einblick in das, was man als Tarifflucht eines Teils der Arbeitgeber bezeichnen muss. Dazu exemplarisch ein Blick zurück:
Hinsichtlich des Einzelhandels muss man von einer Welt „vor“ und einer „nach“ dem Jahr 2000 sprechen. Bis zum Jahr 2000 war die Welt hier insgesamt relativ wohlgeordnet, in der Arbeitsmarktforschung hat man von einer „stabilen Branche“ gesprochen. Und das hatte damit zu tun, dass bis zu diesem Jahr eine flächendeckende Tarifsystematik über alle Unternehmen vorhanden war, denn: Bis 1999 waren im Einzel- und im Großhandel nahezu alle Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt, die Lohn- und Gehaltsstruktur insgesamt, die Manteltarifverträge und die Tarifverträge zu vermögenswirksamen Leistungen usw. Bis zum Jahr 1999 gab es einen Konsens zwischen Arbeitgeberverbänden des Einzelhandels und den damaligen Gewerkschaften HBV und DAG, nach Unterzeichnung der Tarifverträge einen Antrag auf Allgemeinverbindlichkeitserklärung zu stellen.
Dieser Konsens wurde im Jahr 2000 von der Arbeitgeberseite aufgekündigt. Das stand in einem unmittelbaren Zusammenhang mit einer Spaltung der Arbeitgeberverbände, denn im Jahr 2000 erfolgte die Abspaltung der BAG (Bundesarbeitsgemeinschaft der Mittel- und Großbetriebe) als selbständiger Tarifträgerverband und dort wurde die OT-Mitgliedschaft zugelassen, also eine Mitgliedschaft im Verband ohne Tarifbindung. Peek und Cloppenburg war das erste große Handelsunternehmen, das in die OT-Mitgliedschaft wanderte. Unter Zugzwang gesetzt führte dann auch der HDE (Hauptverband des deutschen Einzelhandels) die OT-Mitgliedschaft ein. Übrigens: Diese Spaltung war nicht von Dauer: Ende 2009 war die BAG wirtschaftlich am Ende, denn Karstadt als Hauptfinanzier der BAG konnte diese nicht mehr finanzieren und der Mitgliederverlust war ein weiterer Sargnagel in die Existenz dieses Verbandes. Seit dieser Zeit existiert als Tarifträgerverband im Einzelhandel nur noch ein Arbeitgeberverband – der HDE Handelsverband Deutschland.
Um es auf den Punkt zu bringen: Die Allgemeinverbindlichkeit im Einzelhandel wurde Anfang des neuen Jahrtausends von den Arbeitgebern zerstört, denn die OT-Mitgliedschaft stand im Widerspruch zur Allgemeinverbindlichkeit, da sich die betreffenden Unternehmen ja gerade aus der Tarifbindung verabschieden wollten. Außerdem wurde das Erfordernis des mindestens 50%-Anteils tarifgebundener Unternehmen für eine Allgemeinverbindlichkeit durch den Austritt von Unternehmen aus den Verbänden nicht mehr erreicht. Im Jahr 2000 wurde dann seitens der Arbeitgeber der Konsens aufgekündigt, beantragte Allgemeinverbindlichkeitserklärungen über die Arbeitgebervertreter im Tarifausschuss abgelehnt und das bis dato bewährte Ordnungssystem im Einzelhandel einem sich selbst beschleunigenden Zerstörungsmechanismus ausgeliefert.
Dabei lohnt es sich, noch einmal in die Zeit vor 2000 zurückzublicken, mit welchen Argumenten man die Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge gerechtfertigt hat – und zwar von beiden Seiten, also Gewerkschaften und Arbeitgeber. Man wird auf eine überaus moderne, weil heute hoch relevante Begründungslinie stoßen:
Danach ist der Einzelhandel eine Branche mit extrem hoher Wettbewerbsintensität. Personalkosten spielen eine strategisch wichtige Rolle. Die Allgemeinverbindlichkeitserklärung dient dazu, dass nicht durch Nichtbeachtung der Tarifverträge Personalkostenvorteile gegenüber tarifgebundenen Konkurrenten erzielt werden können. Außerdem wurde gesehen, dass darüber realisierte Personalkosteneinsparungen in eine Intensivierung des Verdrängungswettbewerbs fließen würden.
Genau so ist es dann ja auch in den Jahren nach 2000 passiert.
Diese Entwicklung hatte ganz handfeste Folgen für die Beschäftigten, überwiegend Frauen, was man diesem Zitat entnehmen kann:
»Die Bedeutung der Kollektivverträge im Handel hat sich in jüngster Zeit deutlich gewandelt: Seit 2000 hat sich der Anteil der Beschäftigungsverhältnisse, die einem Tarifvertrag unterliegen, von knapp drei Viertel auf weniger als die Hälfte verringert. Nur noch jeder dritte Betrieb verfügt über einen Kollektivvertrag. Tarifgebundene Betriebe sind größer und älter als ungebundene … und zahlen durchschnittlich 25 bis 32% höhere Löhne.« (Gabriel Felbermayr und Sybille Lehwald: Tarifbindung im Einzelhandel: Trends und Lohneffekte, in: ifo Schnelldienst, Heft 11/2015, S. 33-40)
Das sind nun wirklich erhebliche Lohnunterschiede – aber eben auch spiegelbildlich entsprechende Kostendifferenzen für die Arbeitgeberseite.
Was könnte man tun, um diese Situation – die ja nicht nur für den Einzelhandel beschreibbar ist – zu verändern? Bereits in dem Beitrag Jenseits der Einzelfälle: Die sich selbst beschleunigende Verwüstungsmechanik von abnehmender Tarifbindung im Einzelhandel, gnadenlosem Verdrängungswettbewerb und dem Hamsterrad der Personalkostenreduzierung. Plädoyer für eine Wiederherstellung der Ordnungs- und Schutzfunktion des Tarifsystems gegen die „Rutschbahn nach unten“ durch Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge vom 5. August 2015 wurden drei Szenarien in den Raum gestellt:
1.) Eine Rückkehr zu einer umfassenden Tarifbindung von Unternehmen und Beschäftigten, wie es sie mal gegeben hat – allerdings ist diese „beste“ Option unrealistisch, nicht nur aufgrund der massiven Tarifflucht der Arbeitgeber, sondern auch aufgrund des niedrigen gewerkschaftlichen Organisationsgrades der Beschäftigten in vielen Dienstleistungsbereichen.
2.) Dann bliebe als „ große mittlere Variante“ die Allgemeinverbindlichkeitserklärung gesamter Branchentarifverträge bzw. als „kleine mittlere Variante“ die Allgemeinverbindlichkeit eines Branchen-Mindestlohns als unterste Haltelinie, wobei die kleinere Variante der AVE das Grundproblem hat, dass eben nur ein branchenspezifischer Mindestlohn für alle gilt, nicht aber die gesamte Tarifvertragssystematik.
3.) Auf der untersten Ebene steht dann das, was wie gerade erlebt haben, der Substitutionsversuch durch die Einführung eines allgemeinen gesetzlichen Mindestlohnes. Das mag hier und da ein wichtige und gute Verbesserung sein, birgt aber auch die übrigens derzeit schon beobachtbare Gefahr, dass die Vergütungen abgesenkt werden auf den Referenzpunkt des Mindestlohns.
Und hatte nicht die Große Koalition in ihrem Koalitionsvertrag aus dem Dezember 2013 eine entsprechende Bewegung in Richtung auf Stärkung der Allgemeinverbindlichkeit angekündigt? Doch, dort findet man sogar die Überschrift „Allgemeinverbindlicherklärungen nach dem Tarifvertragsgesetz anpassen und erleichtern“. Da wird dann ausgeführt: »In Zukunft soll es für eine AVE nicht mehr erforderlich sein, dass die tarifgebundenen Arbeitgeber mindestens 50 Prozent der unter den Geltungsbereich des Tarifvertrages fallenden Arbeitnehmer beschäftigen. Ausreichend ist das Vorliegen eines besonderen öffentlichen Interesses.« Und dann kommt noch ein weiterer Hinweis: »Wir wollen, dass die, den Antrag auf AVE stellenden Tarifvertragsparteien, an den Beratungen und Entscheidungen des Tarifausschusses beteiligt werden können und werden prüfen, wie dies umgesetzt werden kann.«
Zumindest die Absenkung der 50-Prozent-Schwelle wurde zwischenzeitlich von der Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) auch umgesetzt. Nun aber werden wir mit dieser Bilanzierung konfrontiert: »Das Gesetz von Arbeitsministerin Nahles, mit dem sie die Tarifflucht von Unternehmen beenden wollte, hat sich als wirkungslos erwiesen. Die Grünen machen jetzt einen neuen Vorstoß, um die Flucht zu stoppen«, so Thomas Öchsner in seinem Artikel Ausgehöhlt.
Seit 2015 gibt es nicht nur einen gesetzlichen Mindestlohn. Mit dem Gesetz zur Stärkung der Tarifautonomie senkte die große Koalition auch die Hürden dafür, wann sich nicht tarifgebundene Betriebe Tariflöhne vorschreiben lassen müssen. Doch nun zeigt sich: Geholfen hat dies bislang nicht.
Die Hürde, dass ein Tarifvertrag nur dann allgemeinverbindlich erklärt werden kann, wenn mindestens 50 Prozent der Beschäftigten einer Branche schon unter Tarifverträge fallen, wurde abgeschafft, wie im Koalitionsvertrag vereinbart. Arbeitgeberverbände sahen die Gefahr, dass sich mit dieser Klausel grenzenlos Tarifverträge für nicht tarifgebundene Unternehmen vorschreiben lassen.
»Neue Zahlen der Bundesregierung belegen nun, dass das Gegenteil eingetreten ist: Danach gab es zum 1. Januar 2014, kurz vor Inkrafttreten des Gesetzes im August 2014, noch 496 für allgemein verbindlich erklärte Tarifverträge. Anfang 2016 waren es nur noch 444 Verträge, also gut zehn Prozent weniger.«
Also nicht mehr, sondern weniger – die Erosion der Flächentarifvertragslandschaft schreitet weiter voran. Aber woran liegt das – trotz der gesetzlichen Erleichterung, eine Allgemeinverbindlichkeit zu erklären?
»Das Ministerium kann Tarifverträge nur für alle in der jeweiligen Branche verbindlich machen, wenn der sogenannte Tarifausschuss sich ebenfalls dafür ausspricht. Darin sitzen je drei Vertreter der Spitzenorganisationen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Die Arbeitgeber können also jederzeit ein Veto einlegen.«
Und die dort vertretenen Arbeitgeber haben bislang jeden Vorstoß in Richtung Allgemeinverbindlichkeit – das kann man durchaus unterstellen – aus ideologischen Gründen und mit Blick auf die „Gefahr“ einer Ausbreitung des Ansatzes abgeblockt, selbst wenn die Arbeitgeber der betroffenen Branche den Antrag auf Allgemeinverbindlichkeit unterstützen. Ein Beispiel hierfür war das Ansinnen, die Tarifverträge der unteren drei Entgeltgruppen im Hotel- und Gastgewerbe im Saarland allgemeinverbindlich erklären zu lassen – was dann am saarländischen Arbeitgeberverband gescheitert ist.
Der eine oder andere wird sich an dieser Stelle erinnern an den Passus aus dem Koalitionsvertrag: »Wir wollen, dass die, den Antrag auf AVE stellenden Tarifvertragsparteien, an den Beratungen und Entscheidungen des Tarifausschusses beteiligt werden können und werden prüfen, wie dies umgesetzt werden kann.« Wollen ist das eine, machen das andere. Genau diesen Punkt hat man nicht verändert, weshalb auch weiterhin „Einvernehmen“ mit dem Tarifausschuss hergestellt werden muss und wenn da die Arbeitgeber blockieren, dann geht eben nichts.
Beate Müller-Gemmeke, die Sprecherin für Arbeitnehmerrechte in der Bundestagsfraktion der Grünen, auf deren Anfrage die neuen Zahlen zurückgehen, fordert dann auch konsequent, »die Veto-Option der Spitzenverbände im Tarifausschuss abzuschaffen. Stattdessen sollten die Tarifparteien aus den Branchen, die den Antrag eingereicht haben und darauf pochen, ihren Tarifvertrag für allgemein verbindlich zu erklären, „stimmberechtigt in die Beratungen einbezogen werden“, sagt die Grünen-Politikerin.«
Ja, genau. Leider muss im Mai 2017 an dieser Stelle mein Fazit aus dem Beitrag vom 5. August 2015 erneut und abschließend wieder aufgerufene werden:
»Fazit: Wenn die Bundesregierung dabei bleibt, nur das 50%-Quorum abzuschaffen, nicht aber die überaus harte und hohe Hürde des Einvernehmens im Tarifausschuss auch zu schleifen für die Fälle, in denen aus übergeordneten Erwägungen eine AVE im gesellschaftspolitischen, volkswirtschaftlichen, letztendlich aber mit Blick auf die Verwüstungen in der Branche sogar betriebswirtschaftlich sinnvoll ist, dann wird es weiter keine Bewegung geben (können). Die Politik könnte entscheiden, wenn sie denn wollte. Um endlich wieder mehr Ordnung auf dem Arbeitsmarkt zu schaffen. Es steht aber zu befürchten, dass aufgrund der scheinbar bereits eingesetzten Handlungsstarre vor der nächsten Bundestagswahl 2017 (!) alle Akteure in der Großen Koalition in eine Art Dauerwinterschlaf verfallen sind und keine erkennbaren Bestrebungen zu beobachten sind, dieses Problem wenigstens mal anzugehen, geschweige denn zu lösen. Machbar aber wäre das. Wenn der Wille da wäre.«
Zumindest bis zur Bundestagswahl im September 2017 wird nun ganz gewiss nichts mehr geschehen. Und die Erosion des Flächentarifvertragssystems wird weiter fortschreiten.