Das wird aber teuer mit den Verbesserungen beispielsweise in der Pflege. Und was das mit dem Solidaritätszuschlag zu tun haben könnte. Die Rechnung bitte

Wer kennt das nicht aus dem großen weiten Feld der Sozialpolitik – da wird über fehlendes Personal und/oder deren zu schlechte Bezahlung diskutiert, über zu wenig Angebote und „Versorgungslücken“ gerade für die verletzlichsten Menschen in unserer Gesellschaft wie beispielsweise die pflegebedürftigen alten Menschen. Und die meisten nicken zustimmend und sind voll auf der Seite derjenigen, die hier „endlich“ Verbesserungen anmahnen. Da muss sich nun unbedingt was ändern und man habe das auf der To-Do-Liste.

Besonders beliebt ist das vor Wahlen, wo man a) eine generelle Betroffenheit und b) Problemlösungsabsichten signalisieren meint zu müssen. Das konnte bzw. musste man auch im Endspurt der letzten Bundestagswahl zur Kenntnis nehmen, also die Situation in der Alten- und Krankenhauspflege (wieder einmal) von der seit geraumer Zeit regierenden Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) wahrgenommen werden musste und auch ihre Herausforderer Martin Schulz von der SPD auf den Zug aufgesprungen ist und eine deutliche Verbesserung der Arbeitsbedingungen der Pflegekräfte aufs Tablett gehoben hat. Und zu diesen Arbeitsbedingungen gehören ganz zentral die Vergütungsfragen in der Pflege. Erneut wurde auf die Tränendrüse gedrückt, dass doch gerade in der so wichtigen Altenpflege die Gehälter viel zu niedrig seien und man da unbedingt was machen müsse.

Das wurde aufgegriffen in diesem Blog-Beitrag vom 20. September 2017, also wenige Tage vor dem Wahlsonntag: Jenseits der Schaumschlägereien: Die Entlohnung in „der“ Pflege. Die ist gerade nicht ein Thema für die letzten Wahlkampfmeter. Und in diesem Beitrag wurde hinsichtlich der möglichen und erforderlichen Verbesserungen Butte bei die Fische gegeben, also eine konkrete Maßnahme nicht nur in den Raum gestellt, sondern diese auch mit einem konkreten Euro-Betrag beziffert.

Und genau dann fängt die eingangs bereits aufgerufene frustrierende Erfahrungen vieler in der Sozialpolitik an, sich zu entfalten: Wenn man konkrete Geldbeträge einfordert, um das auch zu realisieren, dann kommt die ziemlich breite Phalanx an haushalterischen Bedenkenträgern – das sei leider nicht finanzierbar, man reduziert die notwendigen Ausgaben auf eine reine Kostendimension (also das altbekannte Brutto-Netto-Problem in der Sozialpolitik) und kommt zu dem zwangsläufigen Todesurteil für das eigentliche Anliegen: das Vorhaben ist leider nicht finanzierbar oder die „Mehrkosten seien nicht darstellbar“ und wie die Formulierungen auch immer heißen.

Machen wir das alles konkret an dem deutlich, was in dem bereits erwähnten Beitrag zur Entlohnung in „der“ Pflege hinsichtlich der prioritär anzugehenden Maßnahmen vorgeschlagen wurde:

Es gibt deutliche Ost-West-Differenzen in der Entlohnung der Beschäftigten in den Pflegeberufen, die  jeweiligen Entgelte in der Krankenpflege liegen deutlich über denen in der Altenpflege und Fachkräfte in der Altenpflege verdienen dabei nur geringfügig mehr als Helfer in der Krankenpflege. Wenn man nun  in einem ersten Schritt eine Angleichung der niedrigeren Gehälter in der Altenpflege an die der Krankenpflege ins Visier nehmen will, dann resultieren daraus Mehrausgaben. Die sind in dem Beitrag auch beziffert worden: Die Angleichung der Vergütung der Altenpflegekräfte an die in der Krankenhauspflege würde überschlägig einen Mehrbedarf von knapp 6 Mrd. Euro pro Jahr generieren.

Genau an der Stelle geht das Heulen und Zähneklappern los. Woher sollen diese zusätzlichen 6 Mrd. Euro kommen, um die mit einer solchen Angleichung verbundenen deutlichen Attraktivitätssteigerung der Altenpflege zu finanzieren?

Man könnte sich jetzt auf einer sehr abstrakten und nebulösen Ebene darauf zurückziehen, dass doch genug Geld da ist, wenn man denn wirklich wollten wollte. Oder dass die EZB doch auch jeden Monat an die Druckerpresse geht und 60 Mrd. Euro „neues Geld“ schafft und in die tradierten Kreisläufe pumpt. Aber damit macht man sich es genau so einfach die die Bedenkenträger, die dafür keinen Spielraum sehen in ihrer Welt der Haushaltsansätze.

An dieser Stelle passt es wie die Faust aufs Auge, dass wir im Kontext der immer noch sich sondierenden Sondierungsgespräche der potenziellen Jamaika-Koalitionäre erfahren durften, dass vor allem die FDP eine ersatzlose Streichung des „Solidaritätszuschlags“ fordert, um „die Bürger“ finanziell zu entlasten.

Vor diesem Hintergrund lohnt ein Blick auf dieses ganz eigene Gewächs im deutschen Steuer-Kosmos. Der Solidaritätszuschlag („Soli“) ist eine Ergänzungsabgabe zur Einkommensteuer, Kapitalertragsteuer und Körperschaftsteuer in Deutschland. Interessant ist die Geschichte dieser zusätzlichen Abgabe:

Deutschland hatte im Zweiten Golfkrieg (Januar bis März 1991) etwa 15–20 % der Kosten, 16,9 Milliarden DM, übernommen, die damalige Bundesregierung unter Helmut Kohl hatte sich wieder einmal mit Geld aus einer unmittelbaren Beteiligung an kriegerischen Handlungen freikaufen wollen. Aus dem ursprünglich auf ein Jahr (vom 1. Juli 1991 bis 30. Juni 1992) befristeten Solidaritätszuschlag sollten 22 Mrd. DM generiert werden. Anfangs lag er bei 7,5 Prozent. 1993 und 1994 wurde der Solidaritätszuschlag ausgesetzt und 1995 wieder eingeführt. Bei den Verlängerungen ab 1995 wurden die Kosten der deutschen Einheit zur Begründung in den Vordergrund gestellt. Von 1995 bis 1997 betrug der Zuschlag 7,5 Prozent, seit 1998 beträgt er 5,5 Prozent.

Aber wir leben im Jahr 2017 und vielen Menschen ist der „Soli“ nur als eine Steuer zur Finanzierung der deutschen Einheit im Kopf und die ist nun doch eigentlich insoweit geregelt, dass man keine generelle Unterstützungsleistung „für den Osten“ mehr legitimieren kann. Von dieser Perspektive macht es durchaus Sinn, den Soli abzuschaffen, denn die mit ihm verbundenen Aufgaben und Projekte sind doch nun schon abgearbeitet und damit schmilzt die Sinnhaftigkeit dieser Zusatzbelastung wie Butter in der Sonne. In diesem Kontext wird dann oftmals ergänzend argumentiert, dass es heute in Westdeutschland Regionen gibt, die weitaus förderbedürftiger sind als Teile von Ostdeutschland. Also wenn der eigentliche Zweck weggefallen ist, dann muss man die Steuer eben wieder abschaffen, sonst geht es uns irgendwann so wie mit der „Schaumweinsteuer“, von den unteren und mittleren Schichten auch als Sektsteuer bezeichnet. Die Schaumweinsteuer wurde 1902 vom Reichstag zur Finanzierung der kaiserlichen Kriegsflotte eingeführt. Die Flotte ist bekanntlich untergegangen, die Steuer aber bis heute als Verbrauchssteuer zur Freude des allgemeinen Staatshaushaltes geblieben.

Nun muss man an dieser Stelle auf den Charakter des Solidaritätszuschlags hinweisen: Der Solidaritätszuschlag wird als prozentualer Zuschlag von 5,5 % auf die Einkommen- und Körperschaftsteuer erhoben. Für 2018 wird das Gesamtvolumen auf 18,2 Mrd. Euro geschätzt, die bis zum Jahr 2021 auf knapp 21 Mrd. Euro aufwachsen sollen. Der entscheidende Punkt (und der große Unterschied zu irgendwelchen Verbrauchssteuern):

»Da der Solidaritätszuschlag auf die sehr progressive Einkommensteuer erhoben wird und auf Gewinneinkommen und Kapitalerträge, die vor allem den sehr hohen Einkommensklassen zufließen, stellt der Solidaritätszuschlag eine sehr progressive Steuer dar.« (Rietzler/Truger 2017: 15)

Daraus folgt logischerweise, dass eine ersatzlose Streichung des Solidaritätszuschlags vor allem bis ausschließlich die oberen Einkommensgruppen entlasten würde – eine Maßnahme, die sich durchaus einbetten läßt, was wir beispielsweise für die Jahre 1998 bis 2015 gesehen haben, wo es ausgehend von den damaligen rot-grünen Steuerreformen und nachfolgenden Maßnahmen zu einer eben nicht „klassischen“ Umverteilung von oben nach unten, sondern ganz im Gegenteil zu einem Mehr an steuerlicher Belastung unten und einem Weniger ganz oben gekommen ist. Die Abbildung verdeutlicht das.

Die verteilungspolitischen Konsequenzen einer ersatzlosen Streichung des „Soli“ werden ausführlich beschrieben in dieser Studie:

Katja Rietzler, Achim Truger (2017): Ein gerechterer Einkommenssteuertarif ohne Soli: Spielräume und Handlungsoptionen für eine Reform der Einkommensbesteuerung. IMK Policy Brief 24.10.2017, Düsseldorf: Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung, 2017

Man muss sich eigentlich nur diesen Befund verdeutlichen:

»Als besonders problematisch erweist sich die prominent vom FDP-Vorsitzenden Christian Lindner propagierte ersatzlose Streichung des Solidaritätszuschlags. Neben den hohen fiskalischen Kosten von mittelfristig über 20 Mrd. Euro jährlich wäre das Verteilungsprofil der Entlastung extrem ungünstig: Annähernd 80 % der Entlastung würden von den Haushalten im oberen Fünftel der Einkommensverteilung vereinnahmt; das reichste Hundertstel der Haushalte könnte 28 % der Gesamtentlastung oder fast 5 Mrd. Euro für sich verbuchen.« (Rietzler/Truger 2017: 2)

Die Verfasser beziehen sich an dieser Stelle auf Berechnungsergebnisse von Stefan Bach vom DIW. Rietzler und Truger haben ihre Argumentation in diesem Beitrag zusammengefasst: Warum der Soli auf keinen Fall ersatzlos gestrichen werden sollte: Eine schnelle Absenkung des Soli wäre fiskalisch hoch riskant. Sie würde den Bundeshaushalt stark belasten und dürfte selbst bei weiterhin guter Konjunktur zu Ausgabenkürzungen führen (müssen), vor allem, wenn man die umstrittene, aber derzeit gesetzte Ausrichtung an einer Politik der „schwarzen Null“ berücksichtigt und gleichzeitig den enormen Investitionsstau in Rechnung stellt, der mittlerweile aufgelaufen ist. Hinzu käme, wie bereits ausgeführt: »Eine ersatzlose Streichung des Soli hätte gravierende negative Verteilungswirkungen.«

Die beiden Autoren illustrieren die systematisch bedingte schiefe Verteilung der Entlastung an diesen Beispielen:

»Demnach würden Bäckereifachverkäufer/innen als Repräsentant/innen eines Berufszweigs mit unterdurchschnittlichem Jahreseinkommen (25.242 Euro) je nach Haushaltskontext gar nicht oder kaum von einer Abschaffung des Soli profitieren – selbst Finanzbuchhalter/innen (50.248 Euro) würden je nach Haushaltskontext gar nicht bis kaum spürbar entlastet werden. Erst für Besserverdienende wie Maschinenbauingenieur/innen (80.530 Euro), Expert/innen im technischer Forschung und Entwicklung (126.776 Euro) oder Pilot/innen (177.073 Euro) ergäben sich Entlastungen von teilweise mehreren tausend Euro.«

Fazit: Die ersatzlose Streichung des Soli entpuppt sich damit als massives Steuergeschenk für die reichsten Haushalte.

Aber Rietzler und Truger kritisieren nicht nur die verteilungspolitischen Effekte einer möglichen ersatzlosen Streichung, sondern sie diskutieren auch Alternativen: Neben einer Neubegründung des Soli etwa mit der Förderung strukturschwacher Regionen in Deutschland (deren Notwendigkeit von vielen angesichts der gerade dort gewachsenen und nicht gedeckten Investitionsbedarfe geteilt werden würde) diskutieren sie auch eine Variante, wie sich bei einem mittelfristig anvisierten Wegfall des Soli eine Integration in den Einkommenssteuertarif gestalten ließe, mit der man ungefähr dasselbe Aufkommen wie mit dem ursprünglichen Soli und eine ähnliche tarifliche Verteilungswirkung erzielen könnte.

Auch andere haben die „Potenziale“ des Soli erkannt, was das Steueraufkommen betrifft. »Die Abschaffung des Solidaritätszuschlags wäre wirtschaftlicher Unsinn. Das Geld sollte stattdessen in alle strukturschwachen Regionen fließen – egal ob in Ost oder West«, meint beispielsweise der DIW-Chef Marcel Fratzscher in seiner Kolumne auf „Zeit Online“ unter der aufmerksamkeitsheischenden Überschrift Entlastet die Armen!.

Der bereits zitierte Ökonom und Steuerexperte Stefan Bach hat sich zu diesem Thema auch zu Wort gemeldet. Er sieht durchaus den Bedarf, an den Soli ranzugehen, denn: »Damit kommt der Soli auch verfassungsrechtlich unter Druck. Denn als Ergänzungsabgabe soll er einen besonderen und vorübergehenden Finanzierungsbedarf des Bundes decken. Bisher war das Bundesverfassungsgericht hier generös und nahm Vorlagen gegen den Soli erst gar nicht an. Das kann sich aber schnell ändern.«
Und offensichtlich folgt er nicht dem Vorschlag von Fratzscher und anderen, den Soli einfach umzuwidmen: »Man könnte den Soli auf aktuelle Herausforderungen umwidmen, für die er auch schon reklamiert wurde: von der Gesundheit über die Infrastruktur und die Energiewende bis zu den Flüchtlingen. Finanzpolitisch ist das aber heikel. Denn das Erfinden von dringenden und vermeintlich vorübergehenden Finanzierungsbedarfen ist das Kerngeschäft der Lobbyisten. Den Steuerzahlern werden die Belastungen dann mit phantasievollen euphemistischen Titeln nahe gebracht – man denke etwa an das „Reichsnotopfer“, den „Lastenausgleich“ oder das „Notopfer Berlin“ … Hier haben die (Neo-)Liberalen nicht ganz Unrecht: Sie wollen solche Finanzinstrumente auf echte finanzpolitische Notlagen wie die Wiedervereinigung beschränken, und sie bestehen darauf, sie abzuschaffen, wenn die Krise vorbei und die Kassen wieder gut gefüllt sind«, meint Stefan Bach. Also den Soli abschaffen – zugleich aber nicht auf das Geld verzichten, so kann man seine Stoßrichtung zusammenfassen. Es geht immerhin, das nochmals zur Erinnerung, um ein Mittelaufkommen in Höhe von 18 Mrd. Euro.

Er präferiert offensichtlich einen Umbau des Steuersystems im Sinne einer Integration des Zuschlags in den „normalen“ Tarif – allerdings mit einer ganz eigenen Unwucht: Nur Gutverdiener sollten den Soli zahlen, so ist sein Beitrag überschrieben. Für ihn wäre es ein pragmatischer Einstieg in den Ausstieg, Einstieg in den Ausstieg, »wenn man den Soli nur für die Bezieher steuerpflichtiger Einkommen bis zu 30.000 Euro abschaffte. Das würde auch gut zu den allseits geforderten Entlastungen beim „Mittelstandsbauch“ der Einkommensteuer passen. Wer hingegen 30.000 Euro oder mehr verdient, sollte den Soli weiter zahlen … Längerfristig könnte man dann den verbliebenen Reichen-Soli in den Einkommensteuertarif einbauen, sprich: die Spitzensteuersätze entsprechend anheben.«

Für was man dann die damit verbundenen Steuereinnahmen verwendet, das ist eine politische Entscheidung. Man muss nicht, aber man könnte einen Teil der Milliarden, die hier eingezogen werden, selbstverständlich für einen nationalen Pflege-Plan verwenden, in dem die Anhebung der Vergütung der Altenpflegekräfte ein wichtiger und wie wir gesehen haben milliardenschwerer Baustein wäre. Wie gesagt, das kostet Geld, aber keiner möge behaupten, dass man das nicht finanzieren könnte, wenn man denn wollte.

Wenn natürlich die Absicht ist, denen, die schon viel haben, noch mehr zu geben (und das wäre – wie gezeigt – ein unvermeidlicher Effekt einer ersatzlosen Streichung des Soli), dann stören solche Überlegungen natürlich, aber man sollte offen benennen, um was es hier geht: um eine massive Umverteilung von unten nach oben. Das kann man wollen, dann sollte man es aber auch so sagen und nicht den Eindruck vermitteln, von einer Abschaffung des heutigen Soli würden irgendwie alle Steuerzahler, auch die unten und in der Mitte, profitieren und deshalb sitzen die doch mit den Reichen in einem Boot. Tun sie nicht. Quod erat demonstrandum.

Sie nimmt zu, sie nimmt nicht zu. Die Ungleichheit. Und einige machen Vorschläge, was man tun könnte, wenn man wollte

Wenn es eine Begrifflichkeit gibt, die den Blutdruck vieler Diskussionsteilnehmer nach oben treibt, dann die Ungleichheit. Für die einen ist die zunehmende Ungleichheit ein zentrales gesellschaftliches Problem, gerade in Deutschland – die anderen verweisen darauf, dass es das gar nich geben würde. Für die letztere Position vgl. beispielsweise  Judith Niehues vom arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW) mit ihrem Beitrag Die Mittelschicht ist stabiler als ihr Ruf. Das lässt das andere Lager nicht ruhen und als Antwort veröffentlichte Marcel Fratzscher vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) eine Replik mit dem fast schon trotzig daherkommenden Titel Und die Ungleichheit hat doch zugenommen. Man ahnt schon, dass der eben nich eindeutige Begriff der Ungleichheit mit vielen Fallstricken verbunden ist, wenn man ihre Entwicklung in Zahlen auszudrücken versucht. Dann muss man genau hinschauen. Reden wir über die Ungleichheit beim Haushaltseinkommen, das sich aus mehren Quellen speist? Oder schauen wir uns die Entwicklung der Löhne an, mit denen die Arbeitnehmer nach Hause kommen? Oder geht es gar nicht nur um die (laufenden) Einkommen, sondern um die Verteilung des vorhandenen Vermögens?

Verengt man beispielsweise den Blick auf die Entwicklung am Arbeitsmarkt und speziell der dort erzielten Löhne, dann muss man sehr wohl eine auseinanderlaufende Entwicklung zur Kenntnis nehmen, obgleich man immer wieder die Behauptung zu hören bekommt, die Lohnungleichheit in Deutschland hätte in den vergangenen Jahren nicht zugenommen, ganz im Gegenteil, gerade die unteren Lohngruppen hätten doch profitiert beispielsweise von dem gesetzlichen Mindestlohn.

Marcel Fratzscher kommt zu einem anderen Befund: Seit 1995 ist die Lohnungleichheit stark angestiegen: »Die unteren 40 Prozent erzielen heute sogar geringere Reallöhne, also Löhne nach Bereinigung der Inflation, als noch 1995. Die oberen 40 Prozent dagegen erlebten einen zum Teil sehr starken Anstieg ihrer Reallöhne. Es ist richtig, dass seit 2010 auch die Löhne am unteren Ende steigen, zum Teil durch die Einführung des Mindestlohns und zum Teil durch die verbesserte Lage am Arbeitsmarkt. Aber im selben Zeitraum sind die Reallöhne für das obere Drittel stärker gestiegen als die in der Mitte und am unteren Rand der Einkommensverteilung.«

Am Ende seines Beitrags verweist Fratzscher auf einen wichtigen Punkt in der aktuellen Ungleichheitsdebatte (und die jetzt wieder auf der höheren Ebene der Einkommen der haushalte angesiedelt): Nicht wenige Ökonomen verweisen darauf, die Einkommensungleichheit sei seit 2005 in Deutschland nicht systematisch weiter gestiegen. Dazu seine Bewertung: »Selbst wenn man das Krisenjahr 2005 als Vergleichsjahr akzeptiert: Soll dies wirklich als Erfolg gefeiert werden? Ist es nicht eher ein Scheitern, wenn trotz Wirtschaftsbooms, Halbierung der Arbeitslosenquote und guten Wirtschaftswachstums die Einkommensungleichheit auf ihren historischen Höhepunkt von 2005 verharrt?«

Auch das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung gehört zu denen, die eine zunehmende Ungleichheit als Problem diagnostizieren. Und die IMK-Ökonomen bleiben nicht bei der Diagnose – über die man sich streiten kann – stehen, sondern sie haben auch Vorschläge vorgelegt, wie man die Ungleichheit bekämpfen könne – worüber man sich noch mehr streiten kann, vor allem, wenn jemand konkrete politische Maßnahmen zur Diskussion stellt. Dazu diese Veröffentlichung:

Gustav A. Horn et al. (2017): Was tun gegen Ungleichheit? Wirtschaftspolitische Vorschläge für eine reduzierte Ungleichheit. IMK Report 129, Düsseldorf: Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK), September 2017

Ein zusammenfassender Bericht über die Vorschläge des IMK wurde unter die Überschrift Ein Drei-Säulen-Konzept gegen Ungleichheit und Armut gestellt. Eine Übersicht über die wichtigsten Vorschläge findet man auch in der Abbildung am Anfang dieses Beitrags.

Eine der drei Säulen steht unter der Überschrift „Die Starken mehr beteiligen“. Und die IMK-Ökonomen wagen sich auf ein Terrain, das in Deutschland besonders vermint ist – die Steuerpolitik. Ihre zentralen Forderungen: »Um Gutverdiener stärker an der Finanzierung des Gemeinwesens zu beteiligen, seien Änderungen des Steuersystems unumgänglich, so die Experten. Sie schlagen unter anderem vor, Unternehmensgewinne durch das Schließen von Schlupflöchern effektiver zu besteuern, private Steuerflucht konsequent zu verfolgen, den Spitzensteuersatz anzuheben, die überzogene Privilegierung von Unternehmenserben bei der Erbschaftsteuer abzuschaffen und die Vermögensteuer zu reaktivieren. Um auszuschließen, dass höhere Steuern Unternehmen in Schwierigkeiten bringen, halten es die Wissenschaftler für sinnvoll, dass der Staat in solchen Fällen mit den geschuldeten Summen als stiller Teilhaber einsteigen kann. Die entsprechenden Anteile würde ein Staatsfonds verwalten.«

Und dann gibt es da noch einen weiteren höchst sensiblen steuerpolitischen Reformvorschlag, der zugleich relevant ist für eine der drängendsten sozialpolitischen Fragen – die Wohnungsfrage und der Anstieg der Mieten in vielen Gegenden unseres Landes, vor allem in den Städten:
»Ein wichtiger Schritt wäre darüber hinaus die Umwandlung der Grundsteuer in eine Bodenwertsteuer, so das IMK. Eine Reform der Grundsteuer, die mit 13 Milliarden Euro für einen erklecklichen Teil der kommunalen Einnahmen verantwortlich ist, sei wegen eines anhängigen Verfahrens beim Bundesverfassungsgericht ohnehin fällig. Der Übergang zu einer reinen Bodenwertsteuer hätte den Vorteil, dass die Belastung je Wohneinheit umso geringer ausfällt, je intensiver ein Grundstück genutzt wird. Das heißt: Die Bewohner von Ein- oder Zweifamilienhäusern, die oft auch die Eigentümer und vergleichsweise wohlhabend sind, werden stärker belastet. Die Bewohner von mehrgeschossigen Gebäuden – typischerweise Mieter – werden entlastet. Der größere Anreiz für die effiziente Nutzung von Grundbesitz dürfte zudem dazu beitragen, die Wohnungsknappheit in Ballungsgebieten zu lindern.«

Ebenfalls fehlt nicht der Hinweis auf die unmittelbar nach der Finanzkrise im Schockzustand der Politik versprochene, mittlerweile auf die lange Bank geschobene Finanztransaktionssteuer. Das IMK plädiert für einen neuen Anlauf zur Einführung dieser Besteuerung: »Da die betroffenen Akteure an den Finanzmärkten in der Regel gut betucht sind, könnte eine solche Steuer nach Einschätzung der IMK-Forscher einen nennenswerten Beitrag zum Abbau der Ungleichheit leisten. Einen konkreten Vorschlag der EU-Kommission, der Steuersätze von 0,1 Prozent auf Wertpapiertransaktionen und 0,01 Prozent auf den Handel mit Derivaten vorsieht, gibt es bereits. Das Sitzlandprinzip soll dabei verhindern, dass sich Handelspartner der Besteuerung durch Verlagerung der Geschäfte entziehen.«

Und die vielbeschworene „Mitte“? Dazu findet man Vorschläge in der Kategorie „Die Mitte stärken“. Das IMK fordert hier mehr Kindergeld statt Ehegattensplitting und die Entlastung finanzschwacher Kommunen als Beitrag zu einer besseren öffentlichen Infrastruktur. Und für gewerkschaftsnahe Ökonomen nicht überraschend ist die Forderung an die Politik, das Tarifsystem zu stärken. Denn von Tarifverträgen profitiere insbesondere der mittlere und untere Bereich der Lohnverteilung, so die Wirtschaftswissenschaftler. Nur ist die Tarifbindung bekanntlich seit Jahren auf dem Sinkflug (vgl. hierzu beispielsweise den Beitrag Zur Entwicklung der Tarifbindung und der betrieblichen Mitbestimmung. Die Kernzone mit Flächentarifverträgen und Betriebsräten ist weiter unter Druck vom 5. Juni 2017).

Was aber soll und kann die Politik hier machen? »Als einfachen, aber wirkungsvollen Schritt empfehlen sie, Allgemeinverbindlicherklärungen zu erleichtern. Bislang ist vorgesehen, dass beide Tarifpartner einen gemeinsamen Antrag einreichen, dem ein paritätisch besetzter Tarifausschuss zustimmen muss. Zudem muss die Allgemeinverbindlichkeit „im öffentlichen Interesse geboten“ sein. Die Folge: Von 73.000 derzeitig gültigen Tarifverträgen sind nur 443 allgemeinverbindlich. Die Autoren der Studie sprechen sich dafür aus, dass Anträge vom Tarifausschuss nicht mehr mit Mehrheit bestätigt werden müssen, sondern nur noch mit Mehrheit abgelehnt werden können. So hätten die Arbeitgeber kein Vetorecht mehr. Zudem sollte der Begriff des „öffentlichen Interesses“ präzisiert werden.« Vgl. zu diesem wichtigen Punkt auch den Beitrag Tarifbindung mit Schwindsucht und die Allgemeinverbindlichkeit als möglicher Rettungsanker, der aber in der Luft hängt vom 9. Mai 2017.

Die Diskussion über ein „bedingungsloses Grundeinkommen“ kennen viele. Die IMK-Ökonomen präsentieren einen Vorschlag, der eine semantische Nähe dazu hat, aber einem ganz anderen Ansatz folgt: Sie schlagen ein „bedingungsloses Kapitaleinkommen“ vor. Was muss man sich darunter vorstellen?

»Kapitaleinkünfte seien bei der Oberschicht konzentriert, weil die Angehörigen der unteren und mittleren Einkommensklassen kaum Ressourcen zum Investieren übrig haben. Abhilfe schaffen könnte ein Staatsfonds, der in Wertpapiere investiert und die Rendite jährlich zu gleichen Teilen an alle Bürger ausschüttet. Der Aufbau eines solchen Fonds könnte aus Haushaltsüberschüssen geleistet werden sowie aus stillen Beteiligungen an Unternehmen, die sich aus Verpflichtungen im Zusammenhang mit der Erbschafts- und der Vermögenssteuer ergeben, schreiben die Ökonomen.«

Nach dem Oben und der Mitte fehlt nun noch das Unten – die Vorschläge hierzu finden sich in der Rubrik „Die Armut reduzieren“. Auch hier eine klare und sicher diskussionsauslösende Ansage: »Geeignete Mittel gegen Armut wären der Analyse zufolge die Eindämmung prekärer Beschäftigung und eine Stärkung der gesetzlichen Rente.

Zusätzlich sollte der Mindestlohn schneller steigen.« Der Mindestlohn solle »stärker steigen als der Medianlohn. Das heißt: Die Kommission, die für die Anpassung zuständig ist, sollte sich nicht wie bisher allein an der Reallohnentwicklung orientieren, sondern einen Aufschlag einkalkulieren.«

Auch eine angemessene Höhe des Hartz-IV-Regelsatzes ist hier Thema: »Der derzeitige Anpassungsmodus enthalte einen „Automatismus zu mehr Ungleichheit“. Denn als Maßstab diene die Entwicklung der Konsumausgaben beim ärmsten Fünftel der Haushalte. Das führe dazu, dass Hartz-IV-Empfänger in Zeiten gesamtwirtschaftlich steigender Reallöhne in der Einkommensverteilung immer weiter zurückfallen. Das könnte verhindert werden, indem die Anpassung an die Entwicklung des Mindestlohns gekoppelt wird. Der Abstand zum niedrigsten Lohn bliebe so unverändert, gleichzeitig würden die Arbeitslosen am steigenden Wohlstand beteiligt.«

Fazit: Das IMK hat hier konkrete und zugleich die Strukturen verändernde Vorschläge gemacht, über die man sich hoffentlich streiten wird. Aber keiner soll sagen, es gibt keine Alternativen zu dem angeblich „alternativlosen“ bisherigen Gang der Dinge.

Ein „Gedenktag“ für den gebeutelten Steuerzahler? An sich unsinnig und dann auch noch kalendarisch aufgeblasen

»Steuern sind eine Last oder gar existenziell bedrohlich, sie bestrafen den Bürger, er wird gemolken oder gejagt, und wenn er kein Schlupfloch findet, all dem im eigenen Land zu entkommen, so muss er fliehen, in eine Oase oder ins Asyl – so oder ähnlich denken wir über Steuern. Zumindest spiegelt das unser Sprachgebrauch wider. Der Frame von Steuern als bedrohliche Einschränkung der individuellen Freiheit wird durch eine ganze Heerschar von Metaphern erweckt. Einige muten zunächst vielleicht unverfänglich an oder so überzogen, dass sie nicht ernst gemeint sein können. Und doch spiegeln alle eine Denkweise über Steuern wider, die uns zumindest nachdenklich werden lassen sollte.« So Elisabeth Wehling in ihrem Beitrag Von viel Leid und wenig Freud. Reden über Steuern. Zu diesen Erzählungen, dessen Wirkkraft man nicht unterschätzen sollte, zählt der „Steuerzahlergedenktag“, der schon von der Begrifflichkeit ein echtes Trauerspiel verspricht. So platzierte der Bund der Steuerzahler (BdSt) diese Meldung: Von 1 Euro bleiben nur 45,4 Cent: »Der Steuerzahlergedenktag 2017 ist am Mittwoch, den 19. Juli. Nach Berechnungen des Bundes der Steuerzahler (BdSt) arbeiten die Bürger und Betriebe ab 03:27 Uhr wieder für ihr eigenes Portemonnaie. Das gesamte Einkommen, das die Steuer- und Beitragszahler vor diesem Datum erwirtschaftet haben, wurde rein rechnerisch an den Staat abgeführt. Damit liegt die Volkswirtschaftliche Einkommensbelastungsquote im Jahr 2017 bei voraussichtlich 54,6 Prozent – diese Quote ist so hoch wie noch nie! Von jedem verdienten Euro bleiben also nur 45,4 Cent zur freien Verfügung übrig.« Viele Medien haben das aufgegriffen und übernommen. Der gierige Staat nimmt den rechtschaffenen Bürgern das hart erarbeitete Geld weg und verschwendet es, so die naheliegenden Assoziationen, die vielen durch den Kopf gehen. Wenn es denn stimmen würde.

Aber Gott sei es gedankt gibt es Wissenschaftler, die noch rechnen können. Und die mal nachgerechnet haben, ob das eigentlich stimmt mit diesem „Steuerzahlerdenktag“. Zu dieser Kategorie gehört Stefan Bach vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin. Sein Urteil in der kompakten Variante: »Wie jedes Jahr ruft der Bund der Steuerzahler auch jetzt seinen Gedenktag aus. Die Berechnung allerdings ist falsch und nichts anderes als vulgärökonomischer Populismus.« Das begründet er in seinem Beitrag Die Tea Party lässt grüßen.

Das Konzept des Steuerzahlergedenktags ist verkorkst und geht in weiten Teilen von falschen Annahmen aus, meint Stefan Bach. Der Gang seiner Argumentation:

»Um seinen Gedenktag zu ermitteln, berechnet der Bund der Steuerzahler eine sogenannte Einkommensbelastungsquote. Dazu werden die gesamten Steuern und Abgaben ins Verhältnis zum Volkseinkommen gesetzt – also die Summe aller Löhne, Gewinne und Vermögenseinkommen. Diese Belastungsquote liegt für das Jahr 2017 bei 54,6 Prozent – „die höchste Quote, die wir in der Bundesrepublik je gehabt haben“, sagt der Präsident des Bundes der Steuerzahler, Reiner Holznagel.«

Auf dieser Grundlage ist man auf den heutigen 19. Juli gekommen. Aber, so der erste Einwand:

»Das Volkseinkommen ist die falsche Bezugsgröße. Denn bei der Berechnung dieser Größe sind die indirekten Steuern schon abgezogen – also die Mehrwertsteuer, die Verbrauchsteuern und die Grundsteuern. In den vergangenen Jahrzehnten wurden die Mehrwertsteuer und die Ökosteuern beträchtlich erhöht und im Gegenzug die Einkommensteuer und die Sozialbeiträge gesenkt. Auch wenn sich insoweit die gesamten Staatseinnahmen gar nicht erhöht haben, bedeutet das für die Berechnung des Steuerzahlerbundes: Das Volkseinkommen ist gesunken und die Belastungsquote somit gestiegen.«

Und nun geht es den Kalender rückwärts. Hätte der Steuerzahlerbund stattdessen das Nettonationaleinkommen genommen – da sind die indirekten Steuern noch nicht abgezogen -, dann »läge die Belastungsquote für das laufende Jahr nur noch bei 48,3 Prozent und der Steuerzahlergedenktag wäre schon am 25. Juni gewesen.« Aber dabei bleibt Bach nicht hängen:

»Zweiter dicker Rechenfehler: Sozialabgaben sind keine Steuern. Zu großen Teilen sind sie Versicherungsbeiträge, die private Vorsorge ersetzen. Den Beiträgen heute stehen Leistungen in der Zukunft gegenüber, denn wer beispielsweise mehr in die Rentenkasse einzahlt, bekommt im Alter eine höhere Rente. Allerdings wird in den Sozialkassen auch viel umverteilt, siehe Mütterrente oder Rente mit 65, und bei der Kranken- und Pflegekasse zahlt man auf sein Bruttoeinkommen, obwohl jeder die gleichen Leistungen bekommt.

Nimmt man deshalb vereinfachend an, dass die Sozialbeiträge nur zur einen Hälfte Steuern sind und zur anderen Hälfte Versicherungsbeiträge, dann liegt die gesamtwirtschaftliche Belastungsquote bezogen auf das Nettonationaleinkommen nur noch bei 38,9 Prozent – der Steuerzahlergedenktag wäre schon am 22. Mai gewesen.«

Aber auch hier ist noch nicht Schluss: »Der Staat zahlt auch Steuern an sich selbst – Mehrwertsteuer auf seine Einkäufe und Investitionen, Ökosteuer auf seinen Energieverbrauch, Kfz-Steuer für seine Fahrzeuge, Grundsteuer für seine Immobilien oder Unternehmen- und Einkommensteuern auf seine Kapitalerträge. Hier kommen schätzungsweise 50 Milliarden Euro im Jahr zusammen. Zieht man die vom Steueraufkommen ab, liegt die Steuerbelastungsquote nur noch bei 37,1 Prozent – der Steuerzahlergedenktag wäre schon am 15. Mai gewesen.«

Wie heißt es so schön im Volksmund – einer geht noch. Und einen weiteren Punkt hat Bach noch vorzutragen – er argumentiert volkswirtschaftlich, denn die Zahlung von Abgaben ist ja keine Einbahnstraße (was aber die Skandalisierungsversuche des Steuerzahlerbundes suggerieren – weggenommen und versenkt): »Steuern und Sozialbeiträge sind das Geld der Gesellschaft. Damit finanziert der Staat die öffentlichen Güter und Leistungen, die für das Funktionieren einer modernen Volkswirtschaft und den sozialen Ausgleich unabdingbar sind. Insoweit bekommen Bürger und Unternehmen das Geld wieder zurück.«

Stefan Bach verkennt nicht die unbestreitbare Tatsache, dass es viele Reibungsverluste und Ineffizienzen des staatlichen Handelns gibt (wie übrigens in der profitorientierten Privatwirtschaft auch). Vor diesem Hintergrund kalkuliert Bach so:

»Diese staatlichen Effizienzreserven zu messen ist methodisch schwierig – aber mehr als zehn Prozent der gesamtwirtschaftlichen Einkommen machen sie sicher nicht aus.«

Wenn man so rechnet, dann läßt sich mit Bach das folgende Fazit ziehen: »Der wirkliche Steuerzahlergedenktag liegt also spätestens Anfang Februar. Das ist noch vor Karneval und Fasching. Helau und alaaf!«

Und noch eine Anmerkung zum skandalisierenden und effektheischende Getöse, dass die Belastungsquote „so hoch wie noch nie“ sei. Ein Blick auf die Abgabenquoten seit 1960 relativiert das doch ganz erheblich. Was aber auch diese Gesamtdarstellung verwischt sind die erheblichen Streuungen, die wir auf der Ebene der einzelnen Haushalte und deren Belastungsprofile haben. Und da wäre ein genauerer Blick auf die Verschiebungen zwischen einzelnen Belastungsarten im komplexen System der Steuern und Sozialabgaben und deren Verteilungswirkungen relevant und übrigens weitaus aufschlussreicher als die Konstruktion eines imaginären deutschen Abgabenbelasteten, den es so gar nicht geben kann. Wenn man da genauer hinschaut, dann zeigen sich erhebliche Verwerfungen, die auch sozialpolitisch brisant sind. Dazu genauer beispielsweise mein Beitrag Der Mythos vom (stark) progressiven deutschen Steuersystem. Darin findet man diese Argumentation:

Die starken Schultern müssen eine höhere Last tragen als die ökonomisch schwachen Haushalte. Zu diesem Zweck gibt es die Progression in den Steuertarifen – und außerdem werden die unteren Einkommen entweder vollständig oder zumindest anteilig von der Besteuerung ausgenommen.
Auf den ersten Blick scheint dieses Prinzip in der deutschen Steuerpolitik auch tatsächlich zu greifen. Die Einkommens- und Unternehmenssteuern sind hierzulande stark progressiv: Geringverdiener müssen aufgrund von Freibeträgen nichts zahlen, in der Mitte der Verteilung beträgt die Belastung nur rund 5%, beim obersten Zehntel steigt sie auf 25% und beim Top-Prozent auf 35% der Bruttohaushaltseinkommen. Deshalb und wegen der großen Einkommensunterschiede kommt die ärmere Hälfte der Haushalte lediglich für knapp 4% der Einnahmen aus der Einkommensteuer auf, während auf das reichste Zehntel 59% und auf das reichste Hundertstel 26% entfallen. So weit, so gut.

Nur eine Anmerkung zu der ja immer wieder vorgetragenen Argumentation, dass die Reichen ganz besonders durch die Progression im System der direkten Steuern belastet werden: Dabei sollte nicht außer Acht gelassen werden, „dass die vorliegenden Daten die Steuerprogression bei sehr Reichen überzeichnen“, wie es in der Studie weiter heißt. So würden viele größere Familienunternehmer oder Superreiche einen Großteil ihrer Jahreseinkommen in den Unternehmen stehen lassen oder in Holdinggesellschaften, Stiftungen oder „familiy offices“ thesaurieren. „Würde man diese einbehaltenen Gewinne berücksichtigen, auf die nur Unternehmenssteuern gezahlt werden, läge die effektive Einkommensteuerbelastung des reichsten Prozents der Steuerpflichtigen wohl deutlich niedriger“ (vgl. dazu die Studie Wer trägt die Steuerlast in Deutschland? Steuerbelastung nur schwach progressiv von Stefan Bach, Martin Beznoska und Viktor Steiner).

Bei genauerer Betrachtung ist das deutsche Steuersystem allerdings bei weitem nicht so progressiv, wie es zunächst scheint. Denn um die tatsächliche Belastung der Haushalte zu messen, darf man nicht nur die direkten Steuern wie etwa die Einkommenssteuer betrachten, sondern muss zusätzlich auch die sogenannten indirekten Steuern berücksichtigen, zu denen beispielsweise die Mehrwert-, die Kfz- oder die Tabaksteuer gehören. Diese indirekten Steuern machen knapp die Hälfte des gesamten Steueraufkommens in Deutschland aus.

Und es gibt noch einen weiteren Faktor, der bei der Ermittlung der Gesamtbelastung berücksichtigt werden muss: die Sozialbeiträge.

Man kann zeigen, dass in den unteren Einkommensschichten die Verteilungswirkung von direkten und indirekten Steuern sogar regressiv ist.

Dass das deutsche Steuersystem überhaupt etwas Progressives hat, ist den Sozialbeiträgen geschuldet: Die Abgaben für die Gesundheitsversorgung, Rentenbeiträge etc. fallen in den mittleren Einkommensschichten proportional höher aus als in den unteren und oberen Schichten der Einkommenspyramide.

Und die Studie von Bach/Beznoska/Steiner (2016) liefert einen interessanten Hinweis auf die realen Umverteilungen der zurückliegenden Jahre – und zwar von unten nach oben: So ist das ärmste Zehntel zwischen 1998 und 2015 um 5,4% des Bruttoeinkommens mehrbelastet worden, wogegen das reichste Zehntel um 2,3% entlastet wurde, das reichste Hundertstel sogar um 4,8%.
Fazit: In den letzten zwei Jahrzehnten haben Besserverdiener also von den Reformen bei der Einkommenssteuer profitiert, während weniger gut betuchte Haushalte von den Anhebungen der Mehrwertsteuer und der Energiesteuern eindeutig negativ betroffen waren. Die viel zitierten „starken Schultern“ durften sich also über eine politische Lockerungsmassage freuen – aus verteilungspolitischer Sicht ist das allerdings ein ernüchternder Befund.

So was allerdings will der Bund der Steuerzahler am konstruierten „Steuergedenktag“ 2017 dann lieber nicht hören.

Bei den einen wird gekürzt, für die anderen ist angeblich nichts da, den Beitragszahlern greift man in die Tasche und noch anderen lässt man eine Menge. Reden wir über Geld

In der gegenwärtigen Medienberichterstattung wird viel darüber geschrieben, geredet und hyperventiliert, dass die Demnächst-Großen-Koalitionäre in ihrer Berliner Findungsphase zahlreiche Geschenke übers Land verteilen wollen, die gewaltige Milliardensummen verschlingen werden. Abgesehen davon, dass das am Ende weitgehend wieder eingefangen werden wird – es bleibt ein fahler Beigeschmack, wenn es um die finanzielle Seite geht. Denn – zumindest in dem hier relevanten sozialpolitischen Bereich, aber auch darüber hinaus beispielsweise bei der „harten“ Infrastruktur wie Straßen, Brücken, öffentliche Gebäude  – kann man an mehreren Stellen mit guten Gründen einen teilweise erheblichen Investitionsbedarf konstatieren, dessen Realisierung Geld kosten würde.

Damit nicht genug – gleichzeitig erleben wir, dass immer wieder im Sozial- und Bildungsbereich von Kürzungen berichtet wird, die man nur noch kopfschüttelnd zur Kenntnis nehmen kann. Über ein aktuelles Fallbeispiel wurde auf der Facebook-Seite von „Aktuelle Sozialpolitik“ berichtet: Die Mittel für niederschwellige Integrationskurse für Migratinnen sollen um 60% gekürzt werden. Das bedeutet das Aus für viele der bundesweit rund 2.000 Frauenkurse, mit denen etwa 20.000 Migrantinnen erreicht werden. Und richtig perfide ist die Gleichzeitigkeit der Aufforderung an die Träger dieser Kurse, mehr Angebote für Armutsflüchtlinge aus Bulgarien und Rumänien zu machen. Da wird unten gegen ganz unten ausgespielt.

Bei anderen hingegen, für die mehr Gelder aufgewendet werden müsste, sind diese angeblich nicht da. Um nur eines von vielen hier zitierbaren Beispielen anzuführen: Angesichts der Verpflichtung, die UN-Behindertenrechtskonvention umzusetzen, wird unter dem Oberbegriff „Inklusion“ derzeit vielerorts versucht, behinderte Kinder und Jugendliche in die Regelschulen zu „inkludieren“, wobei die Anführungszeichen darauf hindeuten sollen, dass das nach Vorstellung mancher Bundesländer „aufkommensneutral“ realisiert werden könne. Da muss man wirklich keine Studie machen, um zu erkennen, dass dies nur in einer deutlichen Verschlechterung enden kann.

Und wieder anderen will man, weil es nicht mehr anders geht, irgendwie was zukommen lassen, beispielsweise den Pflegebedürftigen. Dort geht es drunter und drüber – bei den Betroffenen selbst, aber auch bei den Pflegekräften. Und auf eine Beitragserhöhung in der Sozialen Pflegeversicherung konnten sich die Demnächst-Großen-Koalitionäre ganz schnell verständigen, um das zu finanzieren, was jetzt ausgehandelt wird. Aber warum eigentlich „nur“ eine Beitragserhöhung in der Pflegeversicherung? Und damit letztendlich nur für die Arbeitnehmer? Müsste nicht ein gewichtiger Teil der anstehenden Investitionen in die Pflegeinfrastruktur, gerade in die kommunale Altenhilfe, nicht aus Steuermittel finanziert werden, handelt es sich doch ganz offensichtlich um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe? Und was ist eigentlich mit denen, die in der privaten Pflegeversicherung sind? Fragen über Fragen – die Antwort hier liegt allerdings nahe: Der Griff in die Beitragskassen ist eben für die Politiker leichter als eine Mittelmobilisierung über Steuergelder, möglicherweise dann auch noch verbunden mit einer – ja, jetzt muss es fallen, das Unwort: über eine Steuererhöhung. Das nun geht gar nicht, denn auf eine solche haben die Sozialdemokraten bereits im vorwegnehmenden Gehorsam gegenüber der Union zügig verzichtet.

Diesen großkoalitionären Konsens wird man schwer durchbrechen können, auch wenn viele, die sich vor der Bundestagswahl für eine andere Steuerpolitik engagiert haben – man denke hier beispielsweise an die Initiative „umFAIRteilen“ – bitter enttäuscht sind von der frühzeitigen Kapitulation der SPD in dieser Frage.

Aber vielleicht ist es gar nicht notwendig, sofort an irgendwelche Steuererhöhungen zu denken. Man könnte ja auch auf den Gedanken kommen, dass schon viel gewonnen wäre, wenn die alle, die müssten, auch ihre Steuern zahlen. Auf die damit verbundenen – theoretischen – Einnahmepotenziale haben Veronica Frenzel und Ulrich Zawatka-Gerlach in einem lesenswerten Beitrag für den Tagesspiegel hingewiesen: „Nicht zum Angeben„, so ist ihr Artikel überschrieben. Daraus nur zwei Zahlen, die für sich sprechen:

»Die Deutsche Steuergewerkschaft schätzt, dass Bund, Ländern und Gemeinden (durch Steuerhinterziehung) bis zu 50 Milliarden Euro jährlich verloren gehen. Internationale Konzerne, die steuerrechtliche Lücken ausnutzen, so dass der Staat, auch das ist nur eine grobe Schätzung, an weitere 160 Milliarden Euro nicht herankommt. Jedes Jahr. Damit verstoßen sie nicht einmal gegen Gesetze.«

Beschränken wir uns mal auf die bis zu 50 Mrd. Euro. Solche Beträge müssen heutzutage ja immer in Relation gesetzt werden. Nur als ein möglicher Vergleich: Für alle Kindertageseinrichtungen und für die Kindertagespflege in Deutschland, die Millionen Kinder tagtäglich betreuen, bilden und erziehen sowie hunderttausende Menschen beschäftigen, werden jährlich gut 17 Mrd. Euro an öffentlichen Mitteln aufgebracht.

In dem Artikel werden allerdings auch die Ursachen angesprochen, dass dem Staat diese Einnahmen durch die Lappen gehen:

»Den Finanzämtern fehlt an allen Ecken Personal. Nimmt man die amtliche Personalbedarfsrechnung ernst, müssten bundesweit 11.000 Stellen, davon 3.000 Betriebsprüfer und 600 Fahnder, neu geschaffen werden. Möglicherweise ist dieser Mangel politisch gewollt. Anders ist es kaum zu erklären, dass die bundeseinheitlichen Stellenvorgaben von fast allen Ländern seit Jahren deutlich unterschritten werden. Allen voran Bayern und Baden-Württemberg …«

„Vor allem in den reichen Ländern ist die restriktive Personalpolitik zulasten der Finanzämter ein Mittel der Wirtschaftsförderung“, so wird ein Steuerbeamter zitiert. „Und die Bayern sagen intern, dass sie als Geberland im Finanzausgleich nicht die Steuern für arme Länder eintreiben wollen.“
Als Beispiel wird Berlin angeführt: Die dortigen 23 Finanzämter sind, gemessen an der Bedarfsrechnung, seit der Ära des Finanzsenators Thilo Sarrazin um zehn Prozent unterbesetzt. Daran hat sich seither nichts geändert. Es fehlen etwa 700 Stellen. » Zum fehlenden Personal kommt ein Krankenstand von zehn Prozent. Außerdem bleiben viele Stellen unbesetzt, im laufenden Jahr 143, so viele Beamte hat das gesamte Finanzamt Wedding.«

Nur zur Ergänzung sei hier – eigentlich dann auch nicht mehr überraschend – angeführt, wie man unser Land auch bezeichnen kann: „Steueroase Deutschland„, so ein Artikel von Claus Hulverscheidt in der Süddeutschen Zeitung: »Das internationale „Netzwerk Steuergerechtigkeit“ hat die wichtigsten Finanzzentren der Schattenwirtschaft untersucht. Dabei steht ein Staat weit oben auf der schwarzen Liste, der sonst gerne den Saubermann gibt: die Bundesrepublik.« Hintergrund des Artikels ist der alle zwei Jahre erscheinende Bericht über die „Schattenfinanzzentren“ der Welt. Auf dieser schwarzen Liste liegt Deutschland auf Rang acht – und damit teils weit vor klassischen Steuerparadiesen wie Jersey, den Marshall-Inseln oder den Bahamas. Hauptübeltäter ist die Schweiz, gefolgt von Luxemburg, Hongkong und den Kaimaninseln, so Hulverscheidt in seinem Artikel. »Nach groben Schätzungen staatlicher wie nichtstaatlicher Organisationen werden allein in der Bundesrepublik Jahr für Jahr zwischen 29 und 57 Milliarden Euro „gewaschen“, die aus kriminellen Geschäften sowie aus Steuerbetrug und -hinterziehung stammen.«

Diese Zusammenhänge sollten und müssen wir berücksichtigen, wenn es immer wieder heißt: Dafür ist aber leider kein Geld da.

Das Kreuz mit den Steuern: Parteipolitische Sirenenklänge und Ausschließeritis versus einer bedarfsorientierten Diskussion. Das Steuerthema vom Kopf auf die Füße stellen

Da waren so einige überrascht, als der amtierende Bundesfinanzminister Schäuble (CDU) kurz nach der Wahl einen wohlpräparierten Pfeil in das noch die eigenen Wahlwunden leckende und desorientierte Lager der Sozialdemokratie abgefeuert hat: Er könne sich Steuererhöhungen vorstellen, wenn sie denn der Preis für eine große Koalition sein sollten, so wurde und wird es in den Medien kolportiert. Flankenschutz bekam er vom Generalsekretär der CDU, Hermann Gröhe, der den kritischen Wirtschaftsflügel seiner Partei einem Bericht zufolge auf einen höheren Spitzensteuersatz eingestellt habe, bis zu 49 Prozent seien denkbar. Auch das Bundesfinanzministerium prüfe die Anhebung des Spitzensteuersatzes – bezeichnenderweise ist der Artikel überschrieben mit „Schäuble will SPD mit höherer Reichensteuer ködern„. Auch wenn es hierbei primär um ein durchschaubares Manöver vor dem Hintergrund der anstehenden Koalitionsverhandlungen geht, so ist doch diese überraschend frühzeitig in Aussicht gestellte Kompromissbereitschaft innerhalb der Union mit großen Risiken behaftet, denn vor der Wahl hatte die Union höhere Steuern ausgeschlossen. Entsprechend sind die aktuellen Reaktionen: Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen lehnt höhere Steuern strikt ab. Und noch weiter positioniert sich der CSU-Chef Seehofer, der sogar sein Wort gibt: Steuererhöhungen werde es nicht geben: Horst Seehofer sagte der „Bild am Sonntag“, Steuererhöhungen kämen für seine Partei „nicht in Frage … Die Bürger haben darauf mein Wort“ (vgl. hierzu das Interview in der Bild am Sonntag: „Hier gibt Seehofer sein Steuer-Ehrenwort„).

Und nicht wirklich überraschend, man könnte auch sagen gut getimt ist die Tatsache, dass der neue SPIEGEL mit dem Steuerthema aufmacht – wobei man die Gestaltung des Titelblatts durchaus als das wahrnehmen kann, was es ist: Propaganda, die an die tiefergelegten emotionalen Schichten vieler Deutschen appelliert, bei denen Worte wie Steuern oder noch schlimmer Finanzamt nicht nur allergische Hautreaktionen auslösen, sondern zu schlimmeren Reaktionen führen. Unter der Überschrift „Die Wahrheit nach der Wahl“ behauptet der SPIEGEL: »Versprochen, gebrochen: Noch vor kurzem hat Kanzlerin Merkel höhere Steuern ausgeschlossen. Nun werden sie geplant, um die SPD in die Koalition zu zwingen. Für höhere Renten und bessere Pflege könnten bald auch die Sozialabgaben steigen.« Womit wir schon mittendrin wären in den Tiefen und Untiefen der Sozialpolitik.

Es muss an dieser Stelle ausschließlich aus Gründen einer quellenkritischen Bewertung dieser Diskussion darauf hingewiesen werden, dass die Aussage, der Bundesfinanzminister Schäuble könne sich Steuererhöhungen vorstellen, eine sehr „flexible“ Interpretation seiner Aussagen aus einem Interview der ZEIT darstellt: Auf die Frage, ob er Steuererhöhungen (in einer neuen Koalition) grundsätzlich ausschließe, sagte Schäuble: „Nochmals: Wir sollten jetzt schauen, wie die Gespräche laufen. Wir werden Koalitionsverhandlungen nicht über die Öffentlichkeit führen. Ich persönlich bin der Meinung, dass der Staat keine zusätzlichen Einnahmequellen benötigt“, so die Darstellung in einem Artikel der FAZ. Insofern ist es dann auch konsequent, dass der Minister sich über das Regierungsorgan „Bild-Zeitung“ an die Öffentlichkeit gewandt hat: ”„Der Staat hat kein Einnahmeproblem. Es gibt keinen Grund, die Steuern zu erhöhen. Darum gilt weiterhin das, was wir vor der Wahl gesagt haben: keine Steuererhöhungen«, so wird er in dem FAZ-Artikel zitiert.

Aber die tagespolitischen Aktivitäten sollen hier nicht weiter verfolgt werden, sondern eine grundsätzliche Frage gehört in den Raum geworfen: Was würde eine systematische Steuerpolitik ausmachen? Neben der Berücksichtigung der komplexen Wirkungen und vor allem der Nebenwirkungen der unterschiedlichen Steuerarten sollte es nach der hier vertretenen Auffassung vor allem um eine Systematik gehen, die von der Instrumentalfunktion der Einnahmenseite ausgeht, was aber bedeuten würde, dass man in einem ersten Schritt die Bedarfe bestimmt und quantifiziert, für deren Deckung dann entsprechende Finanzmittel erforderlich wären, wenn man denn die Bedarfe decken muss bzw. will – oder das eben auch nicht, was dann aber wieder eine politische Frage ist. Das ist gemeint, wenn hier dafür plädiert wird, das Steuerthema vom Kopf auf die Füße zu stellen:

Also 1. die Bedarfe diskutieren und definieren und 2. die dafür notwendigen Mittel quantifizieren und 3. dann über die Art und Weise der konkreten Finanzierung (also direkte oder indirekte Steuern, Sozialversicherungsbeiträge usw.) diskutieren.

Zur Illustration des dringend notwendigen rationalen Diskurses über die Ausgestaltung der Einnahmenseite in ihrer Abhängigkeit von den gesellschaftlichen Bedarfen soll im Folgenden als aktuelles Beispiel die massive Unterfinanzierung der Verkehrsinfrastruktur dargestellt werden, denn dieses Beispiel steht – nur stellvertretend und leider keineswegs solitär – für eine Tatsache, die sich jetzt und in den vor uns liegenden Jahren bitter rächen wird: Ganz offensichtlich wurde in der deutschen Volkswirtschaft in den vergangenen Jahren in einem erheblichen Umfang eine Verhaltensweise an den Tag gelegt, die man bezeichnen muss als „von der Substanz leben“. Man kann das auch wesentlich nüchterner ausdrücken: Die Tatsache, dass beispielsweise die Bruttoinvestitionen der kommunalen Ebene in den vergangenen Jahren unter den Abschreibungen lag, verdeutlich dem Ökonomen, dass wir tatsächlich von der Substanz gelegt haben, denn offensichtlich ist noch nicht einmal der Werteverzehr kompensiert worden, geschweige denn sind gesamtwirtschaftlich gesehen echte Neuinvestitionen im Sinne zusätzlicher Investitionen vorgenommen worden. Nun muss man sich die vermiedenen Ersatzinvestitionen vorstellen wie ein Haus, in das man aus Geldmangelgründen jahrelang nichts investiert, Reparaturen aufschiebt usw. – irgendwann aber wird eine dicke Rechnung kommen, der man dann nicht mehr wird ausweichen können, es sei denn, man gibt die Funktionsfähigkeit des Hauses insgesamt auf. Und seien wir ehrlich – in vielen Städten, natürlich vor allem in den westdeutschen Kommunen, sind wir mit einem massiven Investititionsstau konfrontiert, bei einer Infrastruktur, die oftmals in den 1960er und vor allem in den 1970er Jahren geschaffen wurde und von der große Teile jetzt das Endstadium ihrer technischen Lebensdauer erreicht haben.

Wer das konkreter haben möchte, der möge ein Blick werfen auf diesen Tatbestand: „Jede zweite Brücke der Kommunen ist marode„, so meldet es Spiegel Online: Viele Verkehrswege in Deutschland sind in die Jahre gekommen, besonders schlecht steht es um die Brücken. Laut einem neuen Gutachten ist jedes zweite von 66.714 Bauwerken marode, für deren Erhalt die Kommunen zuständig sind – und wir reden hier noch gar nicht von den ganzen Autobahnbrücken, bei denen ebenfalls vergleichbare Werte gemessen wurden und die in die Zuständigkeit des Bundes fallen.
Straßen, Brücken, Bahnhöfe, Wasserstraßen, Schienen – zusammengerechnet ist Deutschlands Verkehrsinfrastruktur 778 Milliarden Euro wert. Allerdings beklagen Experten „eine substantielle Vernachlässigung der Investitionen in die Erhaltung und Qualitätssicherung der Verkehrsinfrastruktur“. Dies lässt sich einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) entnehmen: Uwe Kunert und Heike Link: Verkehrsinfrastruktur: Substanzerhaltung erfordert deutlich höhere Investitionen, in: DIW Wochenbericht Nr. 26/2013, S. 36 ff. Die Wissenschaftler liefern deutliche Zahlen: »Die Analyse zeigt, dass in der Vergangenheit jährlich knapp vier Milliarden Euro zu wenig für die Substanzerhaltung der Verkehrsinfrastruktur aufgewendet wurden. Geht man von mindestens dieser Investitionslücke für die Substanzerhaltung der Verkehrsinfrastruktur auch in den kommenden Jahren aus und berücksichtigt man darüber hinaus den aufgrund der jahrelangen Vernachlässigung aufgelaufenen Nachholbedarf, so dürfte der zusätzliche jährliche Investitionsbedarf bei mindestens 6,5 Milliarden Euro liegen.«

Zurück zu den Brücken in kommunaler Zuständigkeit. Mehr als 30.000 sind marode und ein guter Teil nicht mehr reparierbar, so auch die Berichterstattung in der Online-Ausgabe der Welt. Beide Artikel beziehen sich auf eine neue Studie des Deutschen Instituts für Urbanistik (DIfU). Konkret hatten sich die Forscher die Brücken in kommunaler Hand angesehen. Das sind genau 66.714 Bauwerke. Für eine Stichprobe wurden mehr als 2.000 Brücken in 456 Städten, Gemeinden und Landkreisen ausgewählt. Ein zentrales Ergebnis lautet, »dass bei rund 15 Prozent „Ersatzneubaubedarf“ bestehe: Der Zustand sei so schlecht, dass nur Abriss und Neubau in Frage komme. Betroffen seien häufig kleine Kommunen unter 20.000 Einwohnern, wo aber fast 70 Prozent der Brücken stünden, sowie Städte und Gemeinden im Osten. Dort wurden nach der Wende vor allem große Verkehrswege saniert und neu gebaut, kleinere wurden nicht beachtet.«

Das wird natürlich alles Geld kosten, viel Geld. Konkrete Diskussionen zur Mittelbeschaffung laufen bereits. Zur Sanierung des bundesweiten Verkehrsnetzes wollen die Bundesländer den Weg für einen Milliardenfonds ebnen. Im Gespräch sei ein Volumen von fast 40 Milliarden Euro bis 2028. Pro Jahr sollen – unabhängig von der aktuellen Haushaltslage bei Bund und Ländern – zwischen 2,7 und 3 Milliarden Euro in Projekte fließen. Der Sanierungsbedarf sei immens und Folge einer jahrzehntelange Vernachlässigung von Straßen, Brücken, Schienen und Wasserwegen. Entsprechende Vorschläge wurden von einer Expertenkommission unter Leitung des ehemaligen Verkehrsministers Kurt Bodewig (SPD) für die Verkehrsministerkonferenz erarbeitet. Zur Gegenfinanzierung plädiert die Kommission auch für eine intensive Nutzung der „Instrumente der Nutzerfinanzierung“, die Lkw-Maut ist hier das prominenteste Beispiel.

Dem aufmerksamen Leser wird nicht entgangen sein, dass das Beispiel über die marode, unterfinanzierte Verkehrsinfrastruktur nur ein Beispiel aus dem Reigen der Handlungsfelder darstellt, in denen es große Investitionsbedarfe gibt – man denke hier nur an die Finanzierung der Energiewende. Dass es allein schon in diesen „harten“ Infrastrukturbereichen derart enorme Investitionsbedarfe gibt, muss den Sozialpolitiker skeptisch stimmen, denn natürlich gibt es bei der Frage, wo und wofür das immer knappe Geld eingesetzt werden soll, eine Konkurrenz zwischen den einzelnen Handlungsfeldern des Staates und damit seiner Ausgaben. Sollen die Steuermilliarden für neue Verkehrswege oder für eine bessere Vergütung der Pflegekräfte und der Erzieherinnen ausgegeben werden? Genau so wird natürlich diskutiert. Und vor diesem Hintergrund muss man dann eben auch deutlich machen, aber wenigstens zur Kenntnis nehmen, dass es das Problem einer ausgeprägten Unterfinanzierung auch in vielen sozialen Arbeitsfeldern gibt, man denke hier an Pflege oder Bildungseinrichtungen, schon mit Blick auf das Leben von der Substanz – und wir reden dann immer noch nicht von den erheblichen zusätzlichen Ausgaben, die mobilisiert werden müssten, wenn man neue Aufgabenstellungen umsetzen will. Als Stichwort mag hier der Hinweis auf die Umsetzung der Inklusion (nicht nur) im Schulsystem genügen.

Der Paritätische Wohlfahrtsverband hatte kurz vor der Bundestagswahl mit Blick auf die steuerpolitische Debatte versucht, mit einer medienwirksamen Inszenierung den Investitionsbedarf im Sozialbereich aus Sicht eines Wohlfahrtsverbandes in eine Zahl zu pressen: In der Pressemitteilung „Paritätischer fordert Steuererhöhungen für Bildung und Soziales: Expertise belegt Milliardenbedarf bei sozialen Leistungen“ kommt man zu dem Ergebnis, dass »jährlich mindestens rund 35 Milliarden Euro zusätzliche Investitionen notwendig (seien), um drängende soziale Projekte umzusetzen«. Man hat versucht, mit einer Expertise den »Mindestinvestitionsbedarf für insgesamt acht sozialpolitische Handlungsfelder von der Bildung bis zur Pflege« zu ermitteln. »Die drei größten Ausgabenblöcke stellen die Bereiche Armutsbekämpfung, Pflege und Teilhabe von Menschen mit Behinderung dar. Mit zusammen über 20 Mrd. Euro pro Jahr machen sie allein 58 Prozent der ermittelten Gesamtsumme von 35 Milliarden Euro jährlich aus. Für die gesamte nächste Legislaturperiode ergibt sich ein zusätzlicher Finanzbedarf von insgesamt 142 Mrd. Euro. Wichtige unbestrittene Herausforderungen wie der Ausbau der Kindertagesbetreuung oder die Förderung der Mobilität sind dabei auf Grund der unzureichenden Datenlage noch gar nicht berücksichtigt.« Politik kann sich nicht mehr vor der Verteilungsfrage drücken – so die zentrale Quintessenz des Wohlfahrtsverbandes, der eine stärkere Besteuerung von Einkommen und Vermögen fordert.

Fazit: Mit der Behauptung, der Staat habe kein Einnahmenproblem (sondern ein Ausgabenproblem, obgleich das dann nie an konkreten Beispielen belegt wird, wo man denn überall mehrere Milliarden Euro einsparen könne), aber auch nicht mit einer Forderung nach ordentlich mehr Steuergeld, weil so viel zu tun sei, wird man der Komplexität des Themas gerecht werden können. Und natürlich muss man bei der Frage Steuererhöhung ja oder nein (und dann vor allem auch welche) immer berücksichtigen müssen, dass aufgrund der selbst gesetzten Schuldenbremsen auf Bundes- und Landesebene die Flucht in eine zusätzliche Verschuldung immer schwieriger wenn nicht ganz unmöglich wird. Insofern wäre zu fordern, dass wir systematisch, also ausgehend von einer echten Analyse der Bedarfe, den notwendigen Finanzbedarf abzuschätzen und dann zur Diskussion zu stellen versuchen.

Dass das nicht sofort Steuererhöhungen bedeuten muss, sondern dass man zuweilen auch innerhalb des bestehenden Systems erhebliche Steuereinnahmeverbesserungen erreichen kann, zeigen abschließend diese beiden aktuell diskutierten Beispiele:

Der neue SPIEGEL thematisiert auch die entgangenen Steuereinnahmen in unserem gegebenen System: „Steueroase Deutschland“: »Weil in den Finanzämtern Fahnder und Prüfer fehlen, entgehen dem Staat Milliarden. Viele Länder wollen lieber die Wirtschaft fördern, als ihre Steuerbehörden
in Ordnung zu bringen. Die Steuer-Kleinstaaterei kommt das Land teuer zu stehen.« Es wird darauf hingewiesen, dass im »vergangenen Jahr ist die Zahl der Einsätze deutscher Steuerfahnder drastisch gesunken (ist). 2012 rückten die Fahnder nach Recherchen des SPIEGEL knapp 24.000 Mal aus, um Steuerhinterziehern auf die Schliche zu kommen. Das sind rund 14 Prozent weniger Einsätze als noch im Jahr zuvor … In Baden-Württemberg etwa fielen die Besuche der Fahnder bei Steuersündern um ein Viertel, Hessen verzeichnete gar ein Minus von einem Drittel. In Nordrhein-Westfalen reduzierten die Fahnder ihre Einsätze um rund 17 Prozent.« Kurzum, Deutschland hat Züge einer Steueroase und in diesem Kontext ist das zweite Beispiel dann nur konsequent:

Die Bundesregierung blockiert eine Reform in Europa, die die Geldwäsche mittels Briefkastenfirmen erschweren soll – so die Botschaft in dem Artikel „Schonzeit für das Paradies„. Das Problem ist, dass »bei den derzeit laufenden Verhandlungen über die Neufassung des EU-Geldwäschegesetzes im Brüsseler Ministerrat stellen sich ausgerechnet die Vertreter der Bundesregierung gegen den nach Meinung von Fachleuten wichtigsten Reformvorschlag: Die europaweite Einrichtung von Unternehmensregistern einschließlich der Pflicht, darin die im Finanzjargon so genannten „beneficial owners“, also die „wirtschaftlich Berechtigten“ zu nennen, denen die Gewinne aus den jeweiligen Firmen zufließen.«

Man muss sich klar machen, was das bedeutet. »Weil es diese Verpflichtung bisher nicht gibt, können Steuerhinterzieher und Geldwäscher ungehindert mit Briefkastenfirmen operieren, deren tatsächlicher Eigentümer verborgen bleibt. Das gilt auch in Deutschland. Zur Eintragung eines Unternehmens im hiesigen Handelsregister reichen die Angaben über das Eigentum an den Gesellschaftsanteilen, auch wenn diese bei einer ausländischen Firma liegen, deren Eigentümer nicht genannt sind. Vor allem wegen dieser Lücke nimmt Deutschland einen der vorderen Plätze auf dem „Schattenfinanzindex“ der Organisation Tax Justice Network (TJN) ein …« Mit seinem Verhalten »stellt sich die Bundesregierung pikanterweise auf die Seite der als Steuerfluchtzentren bekannten Länder Luxemburg, Malta und Niederlande, die sich ebenfalls gemeinsam mit fünf weiteren der 28 EU-Staaten gegen die Registerpflicht aussprachen« und durch das Gewicht Deutschlands fehlt den Befürwortern die notwendige qualifizierte Mehrheit. Schade, dass darüber kaum bzw. nur partiell berichtet wird.

Auf alle Fälle sollte deutlich geworden sein – man muss nicht reflexhaft sofort nach Steuererhöhungen rufen, wenn es noch so viel Spielraum im bestehenden System gibt.
Unbestritten aber bleibt die Aufgabe, jetzt endlich eine ordentliche Bilanzierung der Investitionsbedarfe vorzulegen – und zwar der Investitionsbedarfe in Beton wie auch in Menschen. Erst dann ließe sich eine vernünftige steuerpolitische Diskussion führen, die dann auch eine Chance hätte, die Akzeptanz höherer Belastungen in der breiten Bevölkerung herzustellen. Denn wenn die bislang unterfinanzierten Bedarfe in vielen sozialpolitischen Handlungsfeldern so sind, wie von vielen Seiten immer wieder behauptet wird, dann werden die dafür notwendigen Mittel nicht nur durch eine Besteuerung von einigen wenigen Millionären aufzubringen sein. Denn für deren Belastung bekommt man schnell 80 bis 90 Prozent Zustimmung. Es wird dann die Brieftasche der bereiten Masse treffen und da ist die Zustimmung dann besonders herstellungsbedürftig.