Der nach langen Geburtswehen reformierte Unterhaltsvorschuss für Alleinerziehende – und die verwaltungstechnischen Niederungen der Umsetzung in der Wirklichkeit vor Ort

In den vielgestaltigen Welten der Sozialpolitik ist es regelmäßig so, dass Themenhopping betrieben wird. Heute die Rente, morgen die Pflege, dann die Wohnungspolitik, zwischendurch ein wenig Kinderarmut und hin und wieder auch mal Hartz IV. Und schnell weiter zur nächsten Baustelle.
Aber zuweilen wird auch gearbeitet auf den Baustellen und heraus kommt ein filigranes, nicht selten hyperkomplex ausdifferenziertes Gesetzgebungsgebäude, über dessen Entstehung und dann meist zuletzt bei der offiziellen Einweihungsparty berichtet wird. Problem als gelöst abgehakt und weiter zum nächsten Thema.

Da ist es immer gut, wenn man einmal innehält und zurückblickt, was denn aus einer Sache nun geworden ist, wenn die Mühen der Ebenen begonnen haben und die Versprechungen eines Gesetzes auch in der wirklichen Wirklichkeit ihren Niederschlag finden (oder eben nicht), vor allem, wenn es sich um verbesserte Leistungen handelt. Nehmen wir als ein Beispiel den Unterhaltsvorschuss, der nach längerem Gekrampfe im vergangenen Jahr tatsächlich im Sinne einer Leistungsausweitung reformiert worden ist.

Kurz ein Blick darauf, wie es war und wo man was geändert hat: Bis zur Reform 2017 war die Regelung beim Unterhaltsvorschuss so, dass diese Leistung, die Alleinerziehende vom Jugendamt erhalten, wenn der andere Elternteil nicht für die Kinder zahlt oder zahlen kann, auf das 12. Lebensjahr des Kindes als Obergrenze und auf eine maximale Bezugsdauer von 72 Monaten, also sechs Jahre. begrenzt war. Beides Regelungen, die mehr als willkürlich daherkommen, denn was ändert sich nach dem 12. Geburtstag und warum ist nach 72 Monaten Schluss, auch wenn sich dann nichts geändert hat? Finanziert wird diese Ausfallleistung des Staates bislang zu einem Drittel vom Bund, zwei Drittel entfallen auf die Bundesländer, die wiederum die Aufteilung auf Land und Kommune selbst regeln können. Bundesweit wurde von 440.000 Empfängerinnen dieser Leistung berichtet. Man muss zusätzlich wissen, dass der Staat, der die Leistung vergibt, die Möglichkeit hat, sich das Geld zurückzuholen von den eigentlich zahlungspflichtigen Elternteilen, die aber nicht oder zu wenig zahlen.

Zum 1. Juli 2017 wurden u.a geändert, dass die Begrenzung auf zwölf Jahre und die Befristung auf maximal sechs Jahre gestrichen wurde. Nun gilt als neue Altersgrenze das 18. Lebensjahr des Kindes. Bis dahin kann bei Vorliegen der Voraussetzungen die Leistung ohne eine zeitliche Einschränkung in Anspruch genommen werden. Die Zahlbeträge des Unterhaltsvorschusses wurden altersgestaffelt angehoben. Bei den Kosten hat sich der Bund verpflichtet, statt wie bislang ein Drittel nunmehr 40 Prozent der Ausgaben für diese Leistung zu finanzieren. Darüber wurde hier am 7. Juni 2017 in dem Beitrag Gut Ding will Weile haben? Der verbesserte Unterhaltsvorschuss für Alleinerziehende kommt zum 1. Juli 2017 berichtet. Die damalige Überschrift weist schon darauf hin, dass es offensichtlich etwas gedauert hat mit dieser Leistungsverbesserung für Alleinerziehende und ihre Kinder.

Die Genese des reformierten Unterhaltsvorschussgesetzes war mit wahrhaft langen Geburtswehen verbunden – die man auch in diesem Blog nachvollziehen kann: So beispielsweise in den Beiträgen Ein Beitrag zur Armutsvermeidung bei Alleinerziehenden und ihren Kindern: Der Unterhaltsvorschuss wird endlich weiterentwickelt. Dennoch bleiben Fragezeichen vom 13. November 2016, Von wegen sanfte Geburt. Der Unterhaltsvorschuss für Alleinerziehende steckt fest im föderalen Interessendickicht vom 8. Dezember 2016 oder am 25. Januar 2017 der Beitrag Unterhaltsvorschuss für Alleinerziehende: Die Reform kommt, sie kommt nicht, jetzt soll sie doch kommen. Im Sommer. Das zumindest wurde dann als Sommermärchen im vergangenen Jahr erfüllt.
Also alles gut jetzt? Wie immer lohnt der Blick auf die tatsächliche Umsetzung, denn Gesetze sind das eine, ihre Umsetzung das andere. Gerade in der Sozialpolitik. Und hier besonders wichtig: Man sollte immer genau prüfen, ob eine Verbesserung an der einen Stelle insgesamt vielleicht sogar zu einer Verschlechterung führen kann, weil das an anderer Stelle negativ zu Buche schlägt, beispielsweise weil bisherige Leistungen nun wegfallen. Wir sollten diesen Aspekt mit Blick auf die Auswirkungen des reformierten Unterhaltsvorschussgesetzes in Erinnerung behalten, denn das taucht gleich wieder auf.
Bereits im vergangenen Jahr wurde darauf hingewiesen, dass a) solche Leistungen bekanntlich nicht vom Himmel fallen, b) die Kommunen mit ihren Unterhaltsvorschuss-Stellen in den Jugendämtern dafür zuständig sind und c) diese angesichts des erwartbaren Ansturms an neuen, zusätzlichen Antragstellern und den Verrechnungsvorschriften mit den SGB II-Leistungen ganz erhebliche Probleme bekommen werden. So wurde aus dem Thomé Newsletter 21/2017 vom 04.06.2017 zitiert: »Dazu ist zu bedenken, dass es sich hier um mehrere 100.000 derzeit SGB II-Leistungen beziehende Kinder handeln wird, die UV Stellen arbeitstechnisch völlig an dieser Massenbeantragung absaufen werden und sich deren Leistungsauszahlung deshalb deutlich verzögern wird.« 
Dass die Ausweitung des Unterhaltsvorschusses zu höheren Belastungen in der ausführenden Verwaltung führt und führen muss, ist nicht wirklich überraschend und wird durch entsprechende Berichte auch bestätigt. Nur einige wenige Beispiele: »Obwohl das Personal aufgestockt worden sei, habe es bei der Bearbeitung der Anträge relativ lange Wartezeiten gegeben. Das liege daran, dass „die Antragszahlen drastisch angestiegen“ seien: 890 Anträge auf Unterhaltsvorschuss gab es 2016 – im Jahr 2017 waren es 2.700. Für dieses Jahr geht die Stadt davon aus, dass rund 5.000 Alleinerziehenden der Antrag bewilligt wird und sie den Unterhaltsvorschuss tatsächlich erhalten – bisher sind es 2.900«, so die Angaben von Ingo Nürnberger, dem Sozialdezernent der Stadt Bielefeld in dem Artikel Staatliche Ausgaben für Unterhaltsvorschuss steigen. Oder das Beispiel Mönchengladbach: Unterhaltsvorschuss: Stadt zahlt drauf: »Bei der Stadtverwaltung stapeln sich die Anträge auf Unterhaltsvorschuss. Denn seit dem 1. Juli sind die Fallzahlen in der Stadt um gut 20 Prozent auf nun 3.227 Leistungsempfänger gestiegen. Hinzu kommen noch etwa 1.800 Anträge von SGB-II-Empfängern, die noch nicht abschließend beschieden sind.«
Aus Hessen wird berichtet: Neue Regelung zum Unterhaltsvorschuss sorgt in Wiesbadener Stadtverwaltung für hohen Aufwand: »Auch in Wiesbaden, denn es ist ein immenser Verwaltungsaufwand notwendig, um die Bestimmungen umzusetzen. Allein hierfür hat die Stadtverwaltung mehr als sechs neue Stellen geschaffen … Und dies bei relativ bescheidenen Ergebnissen für die betroffenen Mütter oder besser gesagt für deren Kinder … Als die alte Form des Gesetzes noch gültig war, gab es in Wiesbaden 2.100 sogenannter „Zahlfälle“ jährlich. Die Sozialverwaltung hat hochgerechnet, dass es nun wegen der wegfallenden Beschränkungen wohl 3.880 sein werden, „ein Anstieg von 84 Prozent“.« Und dann kommt ein wichtiger Hinweis:

»Die Grundidee des Gesetzes war es vor vielen Jahren einmal, Frauen aus der Sozialhilfe zu holen oder sie schon vorher vor deren Bezug zu bewahren. Diesen Anspruch habe es schon früher nicht eingelöst, jetzt schon gar nicht mehr, kritisiert die Wiesbadener Amtsleiterin. Und erklärt ihre Kritik: Der Vorschuss, der als sogenannte „vorrangige Sozialleistung“ gilt, wird mit anderen staatlichen Leistungen, die die Alleinerziehenden-Familie erhält, verrechnet … Am Ende haben die Familien oft so gut wie nichts vom Unterhaltsvorschuss, der zu vierzig Prozent vom Bund und zu jeweils 30 vom Land und der Kommune gezahlt wird. Die vielen neuen Anträge zu prüfen, ist aber allein Aufgabe der Kommunen … Viele Frauen, die von der Verrechnung mit anderen Leistungen nichts wüssten, seien enttäuscht, wenn sie erführen, dass das neue Gesetz ihnen und ihren Kindern kaum Verbesserungen bringe. „Und diese Enttäuschung kriegen unsere Mitarbeiter dann zu spüren.“«

Und diese Botschaft aus Berlin wird dann auch nicht überraschen, wenn man den desaströsen Zustand der Berliner Verwaltung insgesamt vor Augen hat: Jugendämter: Tausende Berliner warten auf Leistungen: »Noch immer warten Tausende von Berlinern auf Leistungen der Jugendämter. Denn nachdem durch eine Gesetzesänderung zum 1. Juli vergangenen Jahres der Anspruch auf sogenannten Unterhaltsvorschuss deutlich erweitert wurde, erstickten die Bezirke in einer Flut von Anträgen. Langsam zeigt sich jetzt Licht am Ende des Tunnels … Schuld am Stau war die zögerliche Zuweisung von zusätzlichem Personal durch den Finanzsenator Matthias Kollatz-Ahnen … So sei zunächst nur ein Teil der geforderten Stellen bewilligt worden und das angesichts der langwierigen Einstellungsverfahren auch viel zu spät … Zudem drohten die Jugendämter, durch eine Zusatzflut von Anträgen lahmgelegt zu werden, die ihnen von den Jobcentern zugeleitet wurden. Sie betreffen Personen, die den Unterhaltsvorschuss bereits zusammen mit anderen Leistungen vom Jobcenter erhalten, während dieser Betrag künftig vom Bezirk gezahlt werden muss.«
Und auch hier: »Seit einer Gesetzesänderung im Juli 2017 fließt mehr Geld an Alleinerziehende – zumindest in der Theorie. Die Praxis sieht aber oft anders aus.« Da klingen schon Zweifel an: Das lange Warten auf den Unterhaltsvorschuss. Eine Umfrage nach der Reform habe ergeben, „dass gerade Alleinerziehende mit kleinen Einkommen, die bisher Kinderzuschlag und Wohngeld erhalten haben, doch mit massiven Verschlechterungen zu kämpfen haben“, so wird Julia Preidel vom Verband alleinerziehender Mütter und Väter (VAMV) zitiert. Der Verband hat die beobachteten und kritisierten „Schnittstellenprobleme“ – von denen das Bundesfamilienministerium behauptet, das würde nur Einzelfälle betreffen, was der VAMV ganz anders sieht (vgl. dazu auch Julia Preidel: Reform des Unterhaltsvorschussgesetzes: Was haben Alleinerziehende (bisher) davon?, in: Informationen für Einelternfamilien, Heft 1/2018) – zwischenzeitlich an die derzeit immer noch im Entstehungsprozess befindliche neue Bundesregierung weitergereicht: Kinderarmut: Koalitionäre müssen Kinderzuschlag für Alleinerziehende reformieren, so der Verband am 22.01.2018:

»Damit der erweiterte Unterhaltsvorschuss gegen Kinderarmut in allen Einelternfamilien wirkt, muss die Schnittstelle zum Kinderzuschlag reformiert werden. Eine aktuelle Umfrage des Verbands alleinerziehender Mütter und Väter e.V. (VAMV) zeigt: Alleinerziehende mit kleinen Einkommen können durch den Ausbau des Unterhaltsvorschuss schlechter gestellt werden. Finanziell profitieren Einelternfamilien ohne Ansprüche auf andere Sozialleistungen.

Viele Alleinerziehende mit kleinem Gehalt erhielten bisher Kinderzuschlag, Wohngeld und Leistungen nach dem Bildungs- und Teilhabepaket. Dort wirkt der Unterhaltsvorschuss anspruchsmindernd. Betroffene rechneten uns vor, dass der Unterhaltsvorschuss die Kürzung oder gar den Verlust anderer Leistungen nicht ausgleichen kann.«

Und zuweilen wird über für Außenstehende nur kopfschüttelnd wahrgenommene, innerhalb der Verwaltungslogik aber durchaus „konsequente“ Blüten vor Orten berichtet: Große Aufregung: Münchner Jugendamt fragt Mutter nach Sexpartnern – die ist empört, so ist ein Artikel vom Anfang dieses Jahres überschrieben:

»Eigentlich wollte Ulrike H. nur einen Unterhaltsvorschuss für ihre 16-jährige Tochter beantragen. Doch die Fragen, mit der das Münchner Jugendamt sie konfrontierte, empfand sie als zutiefst beleidigend, sexistisch und diskriminierend … Ulrike H. hatte den Vorschuss … gleich Mitte vergangenen Jahres beantragt – der Vater ihrer Tochter ist unbekannt verzogen. Ende 2017 bekam Ulrike H. eine Einladung zum persönlichen Gespräch. Im Jugendamt legt ihr eine Mitarbeiterin die Fragen vor. Zuerst klingt alles einigermaßen harmlos: Es geht um die Identität eines „vermeintlichen Vaters“: Wie er aussah, wie alt er sei. Dann liest Ulrike H. (Name geändert) wortwörtlich: „Wo und wann fand der Geschlechtsverkehr statt (Empfängniszeit, Angabe Hotel, Pension, Zimmernummer)?“, „Wie oft fand der Geschlechtsverkehr statt?“, oder „Kommen in der gesetzlichen Empfängniszeit vom… bis… weitere Männer als Vater in Frage? Wenn ja wer?“.«

Nun wird sich der eine oder andere fragen – was hat das nun mit dem Thema Reform des Unterhaltsvorschussgesetzes zu tun? Nun, das „erklärt“ sich aus der Begrifflichkeit: Unterhaltsvorschuss. Denn dabei handelt es sich um eine staatliche Leistung, die gewährt wird, wenn der eigentlich Zahlungspflichtige nicht zahlen kann – oder sich der Zahlung verweigert, obgleich er zahlen könnte. Und für den letzteren Fall gibt es die Verpflichtung für die Behörden, die den Betroffenen gewährte Leistung von dem eigentlich Zahlungsverpflichteten wieder zurückzuholen. Um das aber bei Vorliegen der Voraussetzungen auch praktisch erreichen zu können, braucht man natürlich den Namen des Unterhaltsverpflichteten. So auch die Antwort des zuständigen Münchner Jugendamtes: »Um zu einer „gemeinsamen Lösung“ zu kommen, müsse die Antragstellerin auch „aktiv mitwirken“. Denn das Amt müsse entscheiden, ob ein Vorschuss, oder (falls der Vater nicht zu ermitteln ist) auch eine Ausfall-Leistung für den Kindesunterhalt gewährt wird. Dazu sei eine Befragung der Antragstellerin nun mal nötig – wozu es sogar eine eigene Vorschrift vom Bayerischen Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Integration gebe.«

Aber dahinter verbirgt sich ein weiteres und strukturell relevantes Problem: Die überaus ungleiche „Chancenverteilung“, von dieser Rückforderung auch erreicht zu werden. Darauf wurde bereits in dem Beitrag Gut Ding will Weile haben? Der verbesserte Unterhaltsvorschuss für Alleinerziehende kommt zum 1. Juli 2017 vom 7. Juni 2017 hingewiesen: 2016 »wurden 23 Prozent der vom Staat gezahlten Unterhaltsleistungen wieder eingetrieben, wobei die Unterschiede erheblich sind. Während Bayern 36 Prozent erreicht, schafft Bremen lediglich 14 Prozent. Lässt sich die Spreizung aus Länderebene vielleicht noch erklären mit Unterschieden in der Wirtschaftskraft, gibt es dafür auf kommunaler Ebene (zehn bis 50 Prozent) keine Gründe mehr. Väter in kleinen Kommunen sind vom Rückgriff weitgehend verschont, in Großstädten seltener«, so aus einem Artikel von Heinrich Alt, dem ehemaligen Vorstandsmitglied der Bundesagentur für Arbeit zitierend. Und Alt hat bereits im vergangenen Jahr solche Fragen aufgeworfen, die auch Anfang 2018 weiterhin weitgehend unbeantwortet bleiben müssen: »Wie viele Väter sind tatsächlich nicht leistungsfähig? Wie viele Forderungen verjähren, werden nicht rechtskonform bearbeitet oder wegen Auslandsbezug überhaupt nicht verfolgt? Wie hoch ist der Prozentsatz der unbekannten Väter? Wie viele Väter zahlen nicht, obwohl sie es könnten, weil die Mutter ihnen die Kinder entzieht?«

Das deutet nicht wirklich auf eine auch nur halbwegs einheitliche Rechtsanwendung hin, sondern die Frage der Rückholquote wird nicht nur durch die objektiv gegebene materielle (Nicht-)Leistungsfähigkeit des an sich Unterhaltsverpflichteten bestimmt, sondern offensichtlich auch, wo jemand wohnt, der einen Unterhaltsvorschussantrag gestellt hat.

Zum Abschluss ein Blick auf das, was die Große Koalition im Entstehungsprozess bereits vereinbart hat im Bereich der Familienpolitik: So wird dem in mehr oder weniger Spannung verharrenden Publikum vermeldet: Union und SPD wollen das Kindergeld um 25 Euro erhöhen. Damit jetzt nicht gleich die Sektkorken knallen, sollte man genauer hinschauen: »Im Laufe der kommenden Legislaturperiode soll die Zahlung pro Kind um insgesamt 25 Euro monatlich erhöht werden. Die erste Erhöhung ist im kommenden Jahr geplant.« Aber auf jede Form von Sekt sollten die Eltern und damit auch die vielen Alleinerziehenden verzichten, die sich im Hartz IV-Bezug befinden, denn erstens ist das nicht vorgesehen im Regelsatz und zweitens treffen sie sich an diesem Punkt mit der Vorrangigkeit des Unterhaltsvorschusses gegenüber den SGB II-Leistungen: Ein wie auch immer erhöhtes Kindergeld hat für die keine Relevanz – es wird vollständig angerechnet auf ihren Leistungsanspruch innerhalb des Grundsicherungssystems. Sprich: Keinen zusätzlichen Cent werden sie davon zu sehen bekommen. So sind die Vorschriften. Die „natürlich“ nicht geändert werden sollen.

Eine deutliche Erhöhung der Regelsätze in der Grundsicherung fordert das „Bündnis für ein menschenwürdiges Existenzminimum“

Natürlich melden sich in der aktuellen Phase der Sondierungsgespräche, nach dem gescheiterten Versuch hin zu einer Jamaika-, nun der Anlauf hin zu einer Wiederbelebung der eigentlich schon für Hirntod erklärten „Großen“ Koalition, zahlreiche Verbände und Organisationen mit ihren Themen zu Wort in der Hoffnung, dass ihre Positionen Eingang finden in das, was die mögliche zukünftige Bundesregierung vereinbaren wird.

Nun kann man angesichts der Betroffenheit von Millionen Menschen sicher postulieren, dass die Frage der weiteren Ausgestaltung des Grundsicherungssystems (SGB II und SGB XII) ein ganz wichtiges Thema ist bzw. sein sollte. Zum Jahresanfang vor wenigen Tagen sind die Regelsätze in der Grundsicherung angehoben worden – die konkreten Beträge und deren Verteilung auf die einzelnen Regelbedarfsstufen kann man der Abbildung entnehmen. »Die Regelbedarfsstufen nach § 8 Absatz 1 des Regelbedarfs-Ermittlungsgesetzes werden zum 1. Januar 2018 um 1,63 Prozent erhöht«, so lautet die offizielle Formulierung im § 1 der Regelbedarfsstufen-Fortschreibungsverordnung 2018 (RBSFV 2018).

Nun mag sich der eine oder andere fragen, wie man auf solche prozentualen Veränderungen des Kernbereichs der Grundsicherung kommt, bekanntlich werden hier ja keine Tarifverhandlungen geführt. In der Abbildung findet man die Erklärung für den konkreten Rechenweg:

Die Fortschreibung der Regelbedarfsstufen erfolgt auf Basis eines Mischindexes

  • aus regelbedarfsrelevanten Preisen (70 Prozent) 
  • und der Nettolohn- und Gehaltsentwicklung je Arbeitnehmer (30 Prozent).

Die Entwicklung der regelbedarfsrelevanten Preise beträgt (angeblich) +1,3 Prozent, die entsprechende Entwicklung der Nettolöhne wurde mit +2,4 Prozent angesetzt. Wenn man das jetzt gewichtet ((0,7*1,3%)+(0,3*2,4%)), dann kommt man auf die +1,63 Prozent Erhöhung.

Nun gab und gibt es erhebliche Kritik nicht nur an der überschaubaren Erhöhung, sondern auch an der Höhe der Regelbedarfe ans sich. Schon vor einiger Zeit hat sich das Bündnis für ein menschenwürdiges Existenzminimum gebildet. Das Bündnis setzt sich für eine existenzsichernde Mindestsicherung ein und ist ein Zusammenschluss aus Erwerbsloseninitiativen, Gewerkschaften, Wohlfahrts- und Sozialverbänden. Im Bündnis für ein menschenwürdiges Existenzminimum arbeiten u.a. mit: Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg, Deutscher Gewerkschaftsbund, Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband, Diakonie Deutschland, Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen, Sozialverband Deutschland, Sozialverband VdK Deutschland, Ver.di Erwerbslosenbundesausschuss.

Dieses Bündnis hat sich nun im Kontext der laufenden Sondierungsgespräche zu Wort gemeldet: Deutliche Erhöhung der Regelsätze in der Grundsicherung gefordert. Sie verweisen auf die große Zahl an Menschen, die von dieser Frage betroffen sind: »In Deutschland sind knapp acht Millionen Menschen, darunter viele Alleinerziehende, Erwerbstätige mit Niedriglöhnen, Erwerbsminderungsrentner und in Altersarmut lebende Menschen auf Grundsicherungsleistungen angewiesen. Das ist mehr als ein Zehntel der Bevölkerung.«

Hartz IV und Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung zählen zu den Mindestsicherungsleistungen. „Die dort geltenden Regelsätze reichen aber nicht zum Leben, denn sie sind künstlich kleingerechnet“, so wird die Präsidentin des Sozialverbands VdK, Ulrike Mascher zitiert. Vgl. dazu auch den Beitrag Hartz IV-Empfänger bekommen 1,63% mehr Geld. Von der Angemessenheit, ungedeckten Stromkosten und Mieten mit Selbstbeteiligung vom 22. September 2017.
So wird vom Bündnis darauf hingewiesen, »dass einem alleinstehenden Grundsicherungs-Empfänger nur 4,69 Euro pro Tag für Essen und Trinken zur Verfügung stehen. Einem zehnjährigen Kind aus einem Haushalt im Hartz IV-Bezug werden im Monat rechnerisch nur 2,71 Euro für Bücher zugestanden.«

Das Bündnis fordert eine grundsätzliche Neuberechnung und deutliche Erhöhung der Regelsätze. Hinzu kommt, dass für die Anschaffung langlebiger Gebrauchsgegenstände wie Waschmaschinen, Kühlschränke und Brillen wieder zusätzliche Einmalleistungen gezahlt werden. Es sei unmöglich, solche Gegenstände aus dem Regelsatz zu finanzieren.

„Unverzüglich verbessern muss sich die Situation der knapp zwei Millionen Kinder und Jugendlichen, die meist dauerhaft im Hartz-IV-Bezug leben“, fordert die VdK-Präsidentin Mascher. Sie erneuert die Forderungen des „Bündnisses“ nach einer Erhöhung des Schulbedarfspaketes (vgl. dazu auch weiterführend den Beitrag Hartz IV-Empfänger und ihre Kinder zwischen Pfennigfuchserei und den wahren Kosten der Schulbücher. Aber nicht nur die vom 14. Dezember 2017) und der Streichung des Eigenanteils bei der Mittagsverpflegung. Diese Forderungen hatten schon Eingang bei den Sondierungsgesprächen von Union, FDP und Grünen gefunden. Dahinter dürfen zukünftige Verhandlungen nicht zurückfallen.

Konkrete Geldbeträge werden in der Mitteilung des Bündnisses nicht genannt. Einzelne Mitglieder haben sich hierzu in der Vergangenheit positioniert: Hartz IV: Paritätischer fordert Regelsatz von 529 Euro, so ist beispielsweise eine Pressemitteilung des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes vom 6. September 2017 überschrieben:

»In einer Studie hatte der Verband der Bundesregierung zuletzt manipulative Eingriffe in die statistischen Berechnungen nachgewiesen, die aktuell zu einer massiven Unterdeckung der Regelsätze in Hartz IV führen. Ohne jegliche Korrektur würden die viel zu niedrigen Regelsätze nun schlicht entsprechend der Preis- und Lohnentwicklung fortgeschrieben. Nach den Berechnungen des Paritätischen müsste der Regelsatz für Erwachsene bei sachgerechter Herleitung von derzeit 409 um mindestens 120 Euro auf dann 529 Euro angehoben werden.«

Bei der angesprochenen Studie handelt es sich um diese Veröffentlichung: Rudolf Martens et al. (2016): Regelsätze 2017. Kritische Anmerkungen zur Neuberechnung der Hartz IV-Regelsätze durch das Bundesministerium Arbeit und Soziales und Alternativberechnungen der Paritätischen Forschungsstelle, Berlin, September 2016.

„Der jetzige Regelsatz ist Ausdruck von kleinlicher Missgunst und armutspolitischer Ignoranz. Diese Bundesregierung hat für arme Menschen ganz offensichtlich und im wahrsten Sinne des Wortes nicht viel übrig. Im Koalitionsvertrag der nächsten Bundesregierung muss zwingend eine Reform der Regelsatzberechnung sowie die Schaffung einer bedarfsgerechten Mindestsicherung verankert sein“, so wird Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes, zitiert.

Wir werden abwarten müssen, ob und welchem Umfang das Thema bei den Koalitionsverhandlungen überhaupt eine Rolle spielen wird.

Hartz IV-Empfänger und ihre Kinder zwischen Pfennigfuchserei und den wahren Kosten der Schulbücher. Aber nicht nur die

Es ist mehr als aufschlussreich für eine Bewertung der Verfasstheit des deutschen Grundsicherungssystems, wenn man sich die Fälle und die Entscheidungen der Sozialgerichte in diesem Land anschaut. Dann wird man regelmäßig Zeuge, um welche – scheinbaren – Kleinigkeiten dort teilweise erbittert gestritten wird. Dahin der stecken aber nicht selten fundamentale Probleme, die weit über einen konkreten Geldbetrag hinausreichen. Und zur fundamentalen Kritik am bestehenden Hartz IV-System gehört die seit langem vorgetragene Klage, dass gerade den Kindern und Jugendlichen keine ausreichende Leistungen gewährt werden. Das betrifft vor allem die Regelleistungen, die von denen der Erwachsenen abgeleitet werden sowie die zwischenzeitlich entstandene Landschaft an begrenzten Sonderleistungen. Dazu gehört das höchst fragwürdige „Bildungs- und Teilhabepaket“, aus dem dann beispielsweise Zuschüsse für Sportvereine oder den Musikunterricht gezahlt werden können (die berühmten 10 Euro pro Monat), wenn auch in sehr überschaubarer Größenordnung und verbunden mit einem abenteuerlichen Verwaltungsaufwand. Und ein Teil der „Bedarfe für Bildung und Teilhabe“ nach § 28 SGB II ist die sogenannte Schulbedarfspauschale (§ 28 Abs. 3 SGB II).

Schaut man sich den entsprechenden Gesetzestext an, dann stößt man auf diese Formulierung:

»Für die Ausstattung mit persönlichem Schulbedarf werden bei Schülerinnen und Schülern 70 Euro zum 1. August und 30 Euro zum 1. Februar eines jeden Jahres berücksichtigt. Abweichend von Satz 1 werden bei Schülerinnen und Schülern, die im jeweiligen Schuljahr nach den in Satz 1 genannten Stichtagen erstmalig oder aufgrund einer Unterbrechung ihres Schulbesuches erneut in eine Schule aufgenommen werden, für den Monat, in dem der erste Schultag liegt, 70 Euro berücksichtigt, wenn dieser Tag in den Zeitraum von August bis Januar des Schuljahres fällt, oder 100 Euro berücksichtigt, wenn dieser Tag in den Zeitraum von Februar bis Juli des Schuljahres fällt.«

Es geht also um 100 Euro pro Schuljahr. Das Deutsche Institut für Jugendhilfe und Familienrecht (DIJuF) hatte dazu 2013 in der Stellungnahme Bildung und Teilhabe für Kinder und Jugendliche nach SGB II: eine Strukturkritik ausgeführt:

»Ebenfalls keine neue Leistung ist die Ausstattung mit persönlichem Schulbedarf nach Abs. 3 dieser Vorschrift. Sie wurde als Einmalleistung bereits im Jahr 2008 eingeführt (§ 24a SGB II aF). Hierzu werden für die Schüler/innen 70 EUR zum 1. August und 30 EUR zum 1. Februar eines jeden Jahres finanziell berücksichtigt. Die Pauschale für Kosten für den persönlichen Schulbedarf wird zusammen mit dem Regelsatz an die Berechtigten überwiesen (§ 29 Abs. 1 S. 2 SGB II). Das Verfahren ist im Verhältnis zu den anderen Leistungen des § 28 SGB II als unbürokratisch zu loben; Überschneidungen mit anderen Systemen bestehen nicht. Kritisiert wird allerdings, dass die Höhe des Betrags nicht empirisch ermittelt ist und dass diese Pauschale in ihrer Höhe nicht an steigende Lebenshaltungskosten angepasst wird.«

Beide Kritikpunkte sind zutreffend. So ist die Leistung heute, am Ende des Jahres 2017, immer noch auf die zitierten Beträge begrenzt und die 100 Euro erscheinen nicht nur willkürlich, sie sind es auch. Diese Pauschale steht neben anderen Leistungen nach § 28 SGB II, wie die Erstattung der tatsächlichen Kosten für Schulausflüge und Klassenfahrten, die Schülerbeförderung, Leistungen zur „angemessenen“ Lernförderung sowie die Mittagsverpflegung.

Nun hat das niedersächsische Landessozialgericht in Celle eine wichtige Entscheidung getroffen: Schulmaterial-Kosten: Teilerfolg für Kläger, so ist ein Bericht des NDR dazu überschrieben:

»Jobcenter müssen für Familien, die Hartz IV beziehen, die Kosten für Schulbücher übernehmen. Das hat das Landessozialgericht in Celle am Montag entschieden. Es sei eine Pionierentscheidung, so ein Gerichtssprecher. Das Gericht habe festgestellt, dass die Kosten für Schulbücher nicht durch die sogenannte Schulbedarfs-Pauschale erfasst seien. Betroffene müssten jahrelang sparen, um sich die Schulbücher für ein Schuljahr leisten zu können. Sie seien daher als separate Leistung von Jobcenter zu tragen. Damit haben drei Oberstufen-Schülerinnen und ihre Eltern aus den Landkreisen Lüneburg, Nienburg und Hildesheim einen Teilerfolg erzielt.«

Warum Teilerfolg? »Die Schülerinnen hatten außerdem geklagt, weil die Jobcenter die Kosten für grafiktaugliche Taschenrechner nicht tragen. In diesen Fällen urteilte das Landessozialgericht aber anders: Die Taschenrechner müssten nicht jedes Jahr neu gekauft werden. Die Ausgaben dafür decke die Pauschale deshalb ab.«

Hintergrund der Klage war, dass die Schülerinnen für Materialien insgesamt bis zu 330 Euro hatten ausgeben müssen. Aus dem Schulbedarfspaket stehen Familien aber lediglich 100 Euro pro Schuljahr und Kind zu.

Marco Carini hat seinen Artikel zu dieser neuen Entscheidung so überschrieben: Hartz IV auf dem Prüfstand: Gericht muss tricksen. Denn das Urteil, das die Jobcenter dazu verpflichtet, die Kosten für Schulbücher zu übernehmen, steht auf tönernen Füßen. Es gäbe eine „Rechtslücke“, möglicherweise seien die entsprechenden Passagen des Sozialgesetzbuches (SGB) II, die die Ansprüche von Hartz-IV-Empfängern regeln, nicht verfassungskonform. Das LSG in Celle spricht von einer „offenkundigen Unterdeckung“ der Hartz-IV- und Schulpaketleistungen. „Schulbücher sind aus dem Regelsatz nicht zu bestreiten“, bringt es Gerichtssprecher Carsten Kreschel auf den Punkt. Die Teile des SGB II, die diesen Missstand zementieren, sind nach Auffassung der Celler Richter nicht verfassungsgemäß.

»Um eine verfassungsgemäße Auslegung möglicherweise verfassungswidriger Gesetzesvorschriften zu erreichen, musste das Gericht tricksen, die Schulbücher als „Mehrbedarf“ anerkennen, obwohl der Mehrbedarfs-Paragraf des SGB II juristisch auf den zu entscheidenden Fall nicht passt. Diese „Gesetzeslücke“ veranlasste die Richter dazu, den Beklagten dringend zu empfehlen, Revision vor dem Bundessozialgericht in Kassel einzulegen, um eine Grundsatzentscheidung herbeizuführen – ein Urteil, das dann möglicherweise Gesetzesänderungen nach sich zieht. Eventuell sei sogar eine Vorlage vor dem Bundesverfassungsgericht notwendig.«

Bei den angesprochenen Mehrbedarfs-Paragraf handelt es sich um den § 21 SGB II. Es wird spannend sein zu verfolgen, ob das bis ganz nach oben getrieben wird, wie sich das die Richter offensichtlich wünschen.

Hinsichtlich der festgestellten Unterdeckung durch die Schulbedarfspauschale können sich die Richter auf eine Studie aus dem Sozialwissenschaftlichen Institut der Evangelischen Kirche Deutschlands (SI) berufen (vgl. dazu Andreas Mayert: Schulbedarfskosten in Niedersachsen. Eine Studie des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD, Hannover 2016). Dort wurde bilanziert:

»Schlussfolgerung der Berechnungen ist …, dass die Leistung zur Ausstattung mit persönlichem Schulbedarf von 100 € in Niedersachsen nicht annähernd bedarfsdeckend ist. Die durchschnittliche Deckungslücke des Schulbedarfspakets beträgt pro Schuljahr unter Einbezug aller Schulformen 53 €. In Schuljahren mit besonderen Belastungen (Einschulung, Jahrgangsstufe 5) übersteigt sie 150 €.«

Man könnte jetzt auf die im System naheliegende Schlussfolgerung kommen, dass die Pauschalbeträge angepasst werden müssen – zur Not über den Zwang höchstrichterlicher Rechtsprechung. Die Diakonie Niedersachsen plant eine Musterklage gegen die bisherige Pauschale. Vier Familien hätten schon ihre Bereitschaft signalisiert.

Sofort aber stellen sich Folgefragen: Was ist denn mit den Eltern, die mit ihrem Einkommen knapp oberhalb der Hartz IV-Schwelle liegen? Warum müssen die alleine sehen, wie sie klar kommen? In diese Richtung wird dann auch der Landeseltenrat Niedersachsen zitiert, denn »nicht nur für Familien, die Sozialleistungen beziehen, wird es finanziell oft eng, wenn es darum geht, Schulmaterialien zu beschaffen. Auch Normal- und Geringverdiener könnten bei den mittlerweile anfallenden Kosten überfordert werden, warnt der Landeselternrat. Er geht davon aus, dass Eltern in manchen Schuljahren inzwischen mehr als 700 Euro etwa für Klassenfahrten, Taschenrechner und Theaterbesuche zahlen.«
Schulbildung ist eben doch nur relativ kostenlos.

Kafka in Dortmund? Wenn’s nur das wäre. Aus den bürokratischen Eingeweiden des Hartz IV-Systems

Zuweilen muss man selbst als professioneller Beobachter sozialpolitischer Irrungen und Wirrungen schlucken. Beispielsweise bei so einer Meldung: »Weil eine Mitarbeiterin des Jobcenters einen Hartz-IV-Empfänger beim Betteln beobachtet hatte, wurde dem Mann ein großer Teil seiner Bezüge gestrichen. Das Betteln ist laut Jobcenter als Beruf oder Selbstständigkeit zu bewerten.« Das kann man diesem Artikel entnehmen: Jobcenter kürzt bettelndem Mann Hartz IV. Da kommt man schon ins Grübeln: Betteln als Beruf oder Selbständigkeit? Gibt es da auch Ausbildungsgänge? Kann man eine geförderte Umschulung machen? Kann man – natürlich nach Vorlage eines Businessplans – eine Existenzgründungsförderung beantragen? Nun mag der eine oder andere an dieser Stelle einwerfen – bitte nicht übertreiben. Dieser Blog soll doch kein Ableger des kafkaesken Schreibens werden. Nun denn, schauen wir uns den Fall einmal genauer an.

»Weil sein Arbeitslosengeld nur knapp zum Leben reicht, bettelt ein 50-jähriger Dortmunder regelmäßig in der Innenstadt. Doch dass er für kleine Spenden stundenlang in den Einkaufsstraßen ausharrt, kommt dem Mann nun teuer zu stehen.« Konkret geht es um den Fall von Michael Hansen, wie zuerst in diesem Artikel von Tobias Großekemper dargestellt: Keine milde Gabe vom Jobcenter: Dortmunder Bettler wurde Hartz IV gekürzt. Und erneut werden wir Zeugen einer diesen vielen Lebensläufe, die dann im Hartz IV-System aufschlagen und für die das Grundsicherungssystem dann leider nicht selten auch die Endstation darstellt.

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Das Bundesverfassungsgericht und die Angemessenheit der Kosten für Unterkunft und Heizung im Grundsicherungssystem

Man kann sicher lange darüber streiten, was denn ein „Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben“ (so die Formulierung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2010,  BVerfG, Urteil vom 09. Februar 2010 – 1 BvL 1/09) umfassen muss – aber unmittelbar einleuchtend ist für die meisten Menschen, dass die Wohnung – im wahrsten Sinne des Wortes „ein Dach über dem Kopf“ – zu den zentralen Bestandteilen eines „menschenwürdigen Existenzminimums“ gehört.

Aber hier liegt dann konkret eine Menge Zündstoff im gegebenen Hartz IV-Regelwerk – denn die einschlägige Formulierung im § 22 SGB II beginnt im Absatz 1 mit diesem Satz:

»Bedarfe für Unterkunft und Heizung werden in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen anerkannt, soweit diese angemessen sind.«

Hört sich verständlicher an, als es ist – denn hier wird mit „angemessen“ ein „unbestimmter Rechtsbegriff“ verwendet, der in der Praxis dann konkretisiert und rechtlich überprüfbar bestimmt werden muss. In Form von konkreten Wohnungsgrößen und Mietkostenhöhen, die „noch“ oder eben „nicht mehr“ als angemessen definiert werden.

Die damit verbundenen Konflikte wurden hier öfter beschrieben, so beispielsweise in dem Beitrag Hartz IV: Wenn das Einfamilienhaus nicht nur rechnerisch geschrumpft wird. Von 144 über 130 auf 110 Quadratmeter. Oder: Kinder weg – Haus weg vom 12. Oktober 2016 oder Wohnen mit Hartz IV? Dann reicht es immer öfter nicht für die Kosten der Unterkunft. Beispielsweise in Berlin vom 8. Juli 2016.

Und nun hat sich auch das Bundesverfassungsgericht – nicht – mit diesem Thema befasst. Dazu findet man diese Mitteilung des hohen Gerichts: Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen Begrenzung auf Übernahme der angemessenen Kosten der Unterkunft und Heizung. Und gleich am Anfang wird allen, die gehofft haben, aus Karlsruhe würde etwas zu den umstrittenen Fragen der Wohnkosten kommen, der Zahn gezogen:

»Vor den Sozialgerichten wird immer wieder darum gestritten, ob im Rahmen des Bezugs von Arbeitslosengeld II die Kosten für die Wohnung nicht nur in „angemessener“, sondern in tatsächlicher Höhe übernommen werden. Das Sozialgesetzbuch beschränkt die Erstattung auf „angemessene“ Aufwendungen. Die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat in einem heute veröffentlichten Beschluss entschieden, dass diese Begrenzung mit dem Grundgesetz zu vereinbaren ist. Der Gesetzgeber muss keinen Anspruch auf unbegrenzte Übernahme der Wohnungskosten vorsehen. Die Regelung ist auch ausreichend klar und verständlich. Damit hat der Gesetzgeber seiner aus der Verfassung herzuleitenden Pflicht genügt, einen konkreten gesetzlichen Anspruch zur Erfüllung des Grundrechts auf ein menschenwürdiges Existenzminimum zu schaffen.«

Das Bundesverfassungsgericht hat eine Beschwerde zu diesem Thema nicht zur Entscheidung angenommen. Vgl. dazu auch die ausführliche Begründung BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 10. Oktober 2017 – 1 BvR 617/14 – Rn. (1-21). Zum Sachverhalt kann man der Pressemitteilung entnehmen:

»Die Beschwerdeführerin bezieht Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Sie bewohnt alleine eine 77 qm große Wohnung, für die das Jobcenter die Miet- und Heizkosten zunächst vollständig und seit 2008 nur teilweise übernahm. Ihre Klage auf vollständige Kostenübernahme wies das Sozialgericht ab; Berufung und Revision blieben erfolglos. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde trägt sie vor, in ihrem Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum verletzt zu sein. Daneben hat das Sozialgericht Mainz dem Bundesverfassungsgericht zwei Verfahren vorgelegt, weil es die Regelung in § 22 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch (SGB) II zu den Kosten der Unterkunft und Heizung für verfassungswidrig hält.«

Eine ausführliche Beschreibung des Falls der Beschwerdeführerin aus Freiburg findet man in dem Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats, Rn. 3-9. Und warum hält sie die Regelung in § 22 SGB II für verfassungswidrig? »Die Beschwerdeführerin macht mit ihrer Verfassungsbeschwerde geltend, in ihrem Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG verletzt worden zu sein. Es sei bislang nicht geklärt, ob § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II den vom Bundesverfassungsgericht seit 2010 entwickelten Vorgaben an die Ausgestaltung des Anspruchs auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums genüge. Dies sei zu verneinen. Die gesetzliche Regelung einer Beschränkung der Übernahme der Kosten der Unterkunft, „soweit diese angemessen sind“, sei nicht ausreichend bestimmt. Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts könne das nicht kompensieren, denn die Ausgestaltung des grundrechtlichen Leistungsanspruchs obliege dem Gesetzgeber«, so die Darstellung des Bundesverfassungsgerichts.

Auch das Sozialgericht (SG) Mainz hatte Zweifel an der gesetzlichen Grundlage für die Kostendeckung und legte dem BVerfG diese Frage vor. Die Regelung in § 22 Abs. 1 Satz 1 des Zweiten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB II), wonach Kosten für Unterkunft und Heizung anerkannt werden, soweit diese angemessen sind, hielt man auch dort für verfassungswidrig.

Das Bundesverfassungsgericht kann eine Verfassungswidrigkeit aber nicht erkennen. Die Akte wird mit dieser Formulierung geschlossen: »Die Regelung genügt der Pflicht des Gesetzgebers, einen konkreten gesetzlichen Anspruch zur Erfüllung des Grundrechts auf ein menschenwürdiges Existenzminimum zu schaffen.«

»Der Gesetzgeber durfte den unbestimmten Rechtsbegriff der Angemessenheit verwenden, um die Kostenübernahme für Unterkunft und Heizung zu begrenzen. Was hier als „angemessen“ zu verstehen ist, lässt sich durch Auslegung … ausreichend bestimmen. Danach ist der konkrete Bedarf der Leistungsberechtigten einzelfallbezogen zu ermitteln. Dabei gehen die Fachgerichte davon aus, dass anhand der im unteren Preissegment für vergleichbare Wohnungen am Wohnort der Leistungsberechtigten marktüblichen Wohnungsmieten ermittelt werden kann, welche Kosten konkret angemessen sind und übernommen werden müssen.«

In dem Beschluss zur Nicht-Annahme der Beschwerde führt das Gericht abschließend (und sich entlastend) aus: »Zwar handelt es sich bei den Kosten für Unterkunft und Heizung um eine der grundrechtsintensivsten Bedarfspositionen, denn sie betreffen die grundlegende Wohn- und Lebenssituation eines Menschen … Doch ergibt sich daraus keine Verpflichtung, jedwede Unterkunft im Falle einer Bedürftigkeit staatlich zu finanzieren und insoweit Mietkosten unbegrenzt zu erstatten. Die grundrechtliche Gewährleistung bezieht sich nur auf das Existenzminimum.«

Nur der Vollständigkeit halber: Erst vor kurzem hatte sich das höchste Gericht schon mal mit den Kosten der Unterkunft im Hartz IV-System beschäftigen müssen und da hatte es eine Entscheidung getroffen, vgl. dazu den Beitrag Das Bundesverfassungsgericht, die Kosten der Unterkunft und Heizung für Hartz IV-Empfänger und wegweisende Aspekte einer neuen Entscheidung vom 23. August 2017. In dem Fall war eine Verfassungsbeschwerde erfolgreich gewesen: Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen die Versagung vorläufiger Leistungen für Kosten der Unterkunft und Heizung, so ist die Pressemitteilung des BVerfG überschrieben. Die bezieht sich auf BVerfG, Beschluss vom 01. August 2017 – 1 BvR 1910/12. Es ging dabei um einen Streitfall aus dem Jahr 2012, der nunmehr abschließend entschieden worden ist.

»Der Beschwerdeführer bezieht Grundsicherungsleistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II). Das Jobcenter ging davon aus, er lebe mit einer weiteren Person in einer Bedarfsgemeinschaft und bewilligte daher nur reduzierte Leistungen. Im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtete das Sozialgericht das Jobcenter, dem Beschwerdeführer vorläufig die höheren Leistungen für einen Alleinstehenden einschließlich von Kosten der Unterkunft und Heizung zu gewähren. Die dagegen erhobene Beschwerde des Jobcenters war vor dem Landessozialgericht erfolgreich. Solange noch keine Räumungsklage erhoben sei, drohe keine Wohnungs- oder Obdachlosigkeit. Daher fehle die notwendige Eilbedürftigkeit einer Gewährung höherer Kosten der Unterkunft und Heizung. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer vornehmlich die Verletzung seines Rechts auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG).«

Dem Betroffenen sind damals Leistungen vorenthalten worden, weil das Jobcenter einen Verdacht hatte, keinen Beweis.

Das nun wollte auch das BVerfG nicht akzeptieren: »Die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit haben in einstweiligen Rechtsschutzverfahren anhand der Umstände des Einzelfalls zu prüfen, ob tatsächlich die notwendige Eilbedürftigkeit für eine vorläufige Leistungsgewährung vorliegt. Sie können die Eilbedürftigkeit von vorläufigen Leistungen für Kosten der Unterkunft und Heizung deshalb nicht nur pauschal darauf beziehen, ob schon eine Räumungsklage erhoben worden ist.« Hier hatte der Beschwerdeführer als Recht bekommen, primär, weil es sich um eine Frage nach dem Rechtsschutz für den Betroffenen handelte. Der hat jetzt eine Entscheidung. Damit soll aber auch gut gewesen sein, so kann man die neue Nicht-Entscheidung zur grundsätzlichen Frage nach der „Angemessenheit“ verstehen.

Was bleibt? Das – immer größer werdende – Problem. Es ist eine empirische Tatsache, dass die zugestandenen „angemessenen Kosten der Unterkunft und Heizung“ immer mehr Hartz IV-Empfänger dergestalt unter Druck setzen, als dass sie nicht Schritt halten mit der Preisverschärfung in Verbindung mit einem eklatanten Angebotsmangel in vielen Regionen für bezahlbaren Wohnraum. Das führt dazu, dass zahlreiche Grundsicherungsempfänger gezwungen sind, die nicht vom Jobcenter akzeptierten Mietanteile aus den Regelleistungen selbst zu tragen – schaut man sich die Differenz zwischen den bewilligten und den tatsächlichen Kosten der Unterkunft für Deutschland insgesamt an, dann kann man berechnen, dass die Hartz IV-Empfänger in diesem Jahr auf 594 Mio. Euro Wohnkosten sitzenbleiben. Bei vielen bedeutet das, dass sie aus ihrem Regelbedarf von (noch) 409 Euro pro Monat, der ja dafür nicht vorgesehen und schon für die laufenden Lebenshaltungskosten mehr als knapp kalkuliert ist, den Differenzbetrag decken müssen.

Und das sind eben nicht nur ein paar Fälle, wie auch schon die genannte Summe von fast 600 Mio. Euro anzeigt. Viele Menschen, die von Hartz IV leben, leiden unter den immer stärker steigenden Mietpreisen, die der Immobilienboom ausgelöst hat. Die Obergrenze, bis zu der die Wohnungskosten vom Sozialstaat übernommen werden und die jede Kommune selbst festlegt, reicht immer häufiger nicht aus. So lagen laut der Bundesagentur für Arbeit in den vergangenen Jahren rund ein Fünftel der Bedarfsgemeinschaften über der Grenze – im April 2017 zum Beispiel rund 590.000 der ungefähr 3,1 Millionen Haushalte. Vgl. dazu auch den Artikel Verdrängt vom Immobilienboom von Stefan Schulz.

Gleichzeitig sehen wir aktuell, wie die Fallzahlen im Grundsicherungssystem steigen – nicht nur, aber auch, weil immer mehr Flüchtlinge von den Jobcentern als SGB II-„Kunden“ betreut werden müssen (vgl. hierzu am Beispiel des kommunalen Jobcenters Hamm den Artikel Flüchtlinge: Starker Anstieg der Fallzahlen im Jobcenter). Im August 2017 wurden bereits über 800.000 Hartz IV-Empfänger aus den sogenannten nichteuropäischen Asylherkunftsländern von der BA ausgewiesen, das sind über 14 Prozent aller Hartz IV-Empfänger. Und man muss davon ausgehen, dass die meisten dieser Menschen, darunter sind viele Frauen und Kinder, auf längere Sicht im Grundsicherungssystem verbleiben werden.

Wozu das führen kann bzw. wird? Das wird das Druck auf das SGB II-System erhöhen und zugleich ein schwer zu durchbrechende Spirale auslösen: Die „Kostenträger“ werden versuchen, über eine restriktive Definition der „Angemessenheit“ der zu finanzierenden Unterkunftskosten die Ausgabenbelastung im Zaum zu halten, gleichzeitig stoßen immer mehr Hilfebedürftige auf ein völlig überfordertes Segment an billigen oder zumindest halbwegs bezahlbarem Wohnraum, wo wir es mit einem eklatanten Nachfrageüberschuss zu tun haben. Das wird dazu führen, dass ein Teil der Hartz IV-Empfänger in zunehmenden Maße eine Art Selbstbeteiligung aus dem (dafür nicht vorgesehenen) Topf für den Regelbedarf abzweigen müssen, da die Lücke zwischen den bewilligten und den tatsächlichen Mietkosten irgendwie gegenfinanziert werden muss. Andere werden aus welchen Gründen auch immer aus dem Wohnungssystem rausfliegen (oder gar keinen Zugang finden), so dass das sowieso schon drängende Problem der Wohnungslosigkeit an Dramatik gewinnen wird.

Aber damit müssen sich nun andere herumschlagen, das Bundesverfassungsgericht hat wie gesagt die Akte für sich selbst geschlossen – was die Grundsatzfrage der „Angemessenheit“ angeht.