Eine „Studie“ vom „Renten-Professor“ sagt … und viele schreiben kommentarlos ab. Eine lohnende Investition für kostenloses Product Placement

Unternehmen geben viel Geld aus für mehr oder meistens weniger bis gar nicht wirksame Werbung für ihre Produkte. Sie schalten Anzeigen, malträtieren die Zuschauer vor allem im Privatfernsehen mit Werbebotschaften, die zur Zwangs-Pinkelpause führen oder lassen die Briefkästen der Bundesbürger mit so vielen Prospekten fluten, dass ganze Schülerjahrgänge ein zusätzliches Einkommen erwirtschaften können und zugleich (vielleicht der einzige nennenswerte positive Aspekt, der aber noch gar nicht erforscht wurde) viel an der frischen Luft und in Bewegung sind, wenn sie die Dinger austragen und verteilen müssen.

Dabei geht es auch ganz anders – man kann ein gleichsam kostenloses Product Placement in vielen Medien bekommen, für das man lediglich eine überschaubare, aber offensichtlich extrem effektive Kostenstelle für auf dem Markt vorhandene und abrufbare „Wissenschaftssöldner“ kalkulatorisch in Rechnung stellen muss. Und das alles für Produkte, die mittlerweile einen – nun ja – mehr als zweifelhaften Ruf haben, die sich zunehmend als Ladenhüter erweisen, weil die Käufer erkannt haben, dass hier nur eine Seite ein Geschäft macht. Also die Verkäufer, in diesem Fall die Banken, Versicherungen, der finanzindustrielle Komplex, der den Menschen Produkte andrehen will, die ihnen helfen sollen, im Alter finanziell über die Runden zu kommen. Da muss man, um den Absatz anzukurbeln, einen „Resonanzboden“ bei den Zurückhaltung übenden potenziellen Käufern schaffen – und bei den risikoaversen Deutschen bekommt man das am besten hin, wenn man die Angst-Karte spielt und ihnen zugleich die „Lösung“ des Problems „kostenlos“ mitliefert.

Das Skript ist schnell geschrieben – man bedient sich einer erstaunlicherweise, aber offensichtlich immer noch funktionierenden Masche: Man beauftragt einen „Wissenschaftler“ damit, eine „Studie“ zu erstellen, die besagt, dass es ganz schlimm werden wird beispielsweise mit der Renten-Lücke in der Zukunft, vor allem für die vielen, die heute noch voller Kraft und Saft sind und die volle Brieftaschen haben, aus denen sie unbedingt einige Scheine abzweigen sollten, um dem so sicher wie das Amen in der Kirche auf uns zukommende monetäre Desaster im Alter zu entkommen.

Gesagt, geschrieben und umgesetzt: Das Ergebnis lässt sich sehen: »Zu wenig Geld im Alter: Die gesetzliche Rente wird nicht reichen. Den heute Jungen werden nach dem Arbeitsleben viele Hundert Euro fehlen – jeden Monat. Wie viel, das hat ein Professor ausgerechnet.« Schreibt nicht irgendjemand, sondern das Handelsblatt unter dieser Überschrift: Generation Rentenlücke. Und wenn das ein leibhaftiger Professor ausgerechnet hat, muss das per definitionem ja auch stimmen. Um wen es sich dabei handelt? Das Handelsblatt bezeichnet die illustre Figur des Bernd Raffelhüschen als „Vorsorgeexperten“. Das hört sich für meisten gutgläubigen Bundesbürger an wie ein seriöser Urologe, der bei Männern über 50 nach dem Rechten schaut.

Und was der Herr Experte so berechnet haben soll, wird auch von anderen Medien sofort aufgegriffen und unter das nach Jahren der Desavouierung der umlagefinanzierten Rente entsprechend weichgekochtes Volk gebracht: Jungen droht Rentenlücke – private Versorgung unerlässlich, so beispielsweise mehr als kompakt die zentrale Botschaft der „Studie“ auf den Punkt bringende Allgemeine Zeitung aus Mainz. Die Rente der jungen Generation wird nicht reichen, so Focus Online, die an anderer Stelle das nachlegen: Renten-Professor mahnt: Generation unter 35 ist nicht abgesichert. Selbst die ehrenwerte Zeit Online sekundiert: Gesetzliche Rente reicht für junge Menschen laut Studie nicht aus. Und schiebt sicherheitshalber gleich nach, damit man nicht alle Hoffnungen fahren lässt und in Depressionen versinkt: »Wer heute jünger als 35 ist, sollte laut einer Studie auch privat fürs Alter vorsorgen.« Allerdings muss man diesem Medium zugute halten, dass sie schon das Geschmäckle, um das noch verniedlichend zu bezeichnen, erkennen, denn der nächste Satz geht so: »Der Auftraggeber der Studie bietet solche Vorsorgeprodukte selbst an.«

Um was geht es hier? Es geht um den Vorsorgeatlas Deutschland 2017, der vom „Forschungszentrum Generationenverträge“ an der Universität Freiburg unter Leitung des bereits angesprochenen Bernd Raffelhüschen erstellt und von der Union Investment herausgegeben wurde.

Die Union Investment ist die Investmentgesellschaft der DZ Bank und Teil der genossenschaftlichen FinanzGruppe. Der Vertrieb der Publikumsfonds geschieht zum einen über die Volks- und Raiffeisenbanken, zum anderen über den Außendienst der Bausparkasse Schwäbisch Hall. Die Union Investment Gruppe verwaltet 309,6 Milliarden Euro (Stand: 30.6.2017). Mit einem Anteil von 14,3 Prozent gehört Union Investment zu den größten Fondsgesellschaften in Deutschland.

Was sind jetzt die Hauptaussagen im „Vorsorgeatlas“? Dazu hören wir die Union Investment selbst in einer Pressemitteilung: Die gesetzliche Rente bleibt „auch in den nächsten Jahrzehnten ein sicherer und stabiler Grundpfeiler ihrer Altersvorsorge“. Behauptet man da. Und wird konkreter: Aus der gesetzlichen Rente »erhalten die Versicherten im Durchschnitt eine monatliche Rente von 1.070 Euro, was einer Ersatzquote von rund 48 Prozent ihres letzten Bruttoeinkommens entspricht. Zwar sind zur Sicherung des Lebensstandards im Alter mindestens 60 Prozent nötig. Wer jedoch zusätzlich vorsorgt – sowohl staatlich gefördert als auch privat – kann seinen Lebensstandard im Alter sichern und in Kombination mit der gesetzlichen Rente insgesamt rund 83 Prozent des letzten Einkommens erzielen.«

Und dann wird es noch konkreter – offensichtlich können Raffelhüschen & Co. bis weit über das Jahr 2030 hinaus die Rente ausrechnen: »Während die 50- bis 65-Jährigen mit einer Ersatzquote von 64,1 Prozent alleine mit der GRV ihren Lebensstandard sichern können, kommen die 20- bis 34-Jährigen auf lediglich 38,6 Prozent. Sie benötigen daher etwa 800 Euro zusätzlich pro Monat und müssen aktiv werden.«

Aber Union Investment sei Dank besteht ja das deutsche Alterssicherungssystem aus drei Schichten und die gesetzliche Rente ist nur eine davon. Ganz besonders herzliche Worte findet man mit Hilfe der beauftragten Wissenschaftler für die zweite Schicht, die vor allem aus Riester-Rentenverträgen besteht (nur der Pingeligkeit halber soll hier gleich darauf hingewiesen werden, dass die Union Investment da dicke im Geschäft ist): »Mit den aktuellen Sparraten erhalten sie im Rentenalter durchschnittlich 290 Euro im Monat. Damit können sie die GRV um 10,6 Prozent des Einkommens ergänzen. Die heute 20- bis 35-Jährigen kommen mit ihrem Riester-Vertrag sogar auf einen Wert von 14,1 Prozent. Im Schnitt sind dies monatlich 392 Euro.«

Der muss wirklich gut rechnen können, der „Renten-Professor“, dass er den heute 20-35-Järhigen sagen kann, was sie auf Euro und Cent aus ihren Riester-Verträgen bekommen werden.

Und so geht es weiter – über die betriebliche Altersversorgung (das jüngst von der Großen Koalition unter Federführung von Andrea Nahles (SPD) verabschiedete Betriebsrentenstärkungsgesetz wird vom Vorstandsvorsitzenden der Union Investment nicht wirklich überraschend in höchsten Tönen gelobt) und das privaten Sparen in der dritten Schicht könne man ohne Probleme die „Versorgungslücke“ durch die zu niedrige gesetzliche Rente schließen.

Selbst eine angeblich so seriöse Tageszeitung wie die FAZ gibt sich dafür her, eins zu eins die angeblichen Gewissheiten in einem redaktionellen Artikel einfach nur abzuschreiben: Wie wappne ich mich fürs Alter?, so fragt Martin Hock sicher stellvertretend für viele Leser in der Online-Ausgabe der FAZ. Und bedient sich hemmungslos an dem Waschzettel der Auftraggeber der „Studie“. Man vergleiche einfach den Artikel einfach mit der bereits zitierten Pressemitteilung der Union Investment zum „Vorsorgeatlas“. Aber für eine angeblich seriöse Tageszeitung skandalös ist der Tatbestand, dass es zum einen keine kritische bzw. wenigstens informierende Aufklärung darüber gibt, wer hier der Auftraggeber ist und vor allem, dass der natürlich profitieren würde, wenn nun alle, vor allem jüngere Jahrgänge, die noch viele Jahre einzahlen müssten, begeistert in die Produkte der kapitalgedeckten Altersvorsorge investieren. Und zum anderen gibt es – wie in vielen anderen Artikeln auch – keinerlei kritisch-aufklärerischen Hintergrundinformationen zu der überaus schillernden Person des „Renten-Professors“ Raffelhüschen.

Norbert Häring hat sich gerade über den Umgang der FAZ mit dieser „Studie“ offensichtlich richtig aufgeregt und diesen Blog-Beitrag veröffentlicht: Was ist nur in die FAZ gefahren? Eine völlig berechtigte Frage, denn »die altehrwürdige FAZ diesmal daraus machte, ist so weit unterhalb jeglichen journalistischen Standards und des gesunden Menschenverstands«, dass er zur Tatstur greifen musste. Dabei bezieht er sich auf diesen in der Print-Ausgabe am 11.10.2017 veröffentlichten Artikel: „Zusammenspiel aus Gesetzlich und Privat funktioniert“ (S. 23, auf der Titelseite des Finanzteils der Zeitung). Schon die Überschrift verdeutlicht, wohin die Reise geht. Das Zusammenspiel funktioniert. Und der Autor schiebt gleich ein weiteres Diktum hinterher:

»In der Rentendiskussion wollen manche Akteure der Öffentlichkeit weismachen, das bestehende System führe direkt in die Altersarmut. Ein nüchterner Blick auf die Zahlen zeigt hingegen: Für die jüngeren Menschen sinkt das Rentenniveau zwar deutlich, aber durch ihre Ansprüche aus betrieblicher und privater Altersvorsorge können sie das kompensieren.«

Geht doch, so die Botschaft. Norbert Häring ist außer sich, denn über dem Artikel auf der Titelseite des Finanzteils stand nirgendwo „Anzeige“ oder „sponsored by Union Investment“:

»Welcher Journalist, der etwas auf sich hält, macht sich in einem Nachrichtenstück derart offen parteiisch mit der Sache eines gewinnorientierten Marktteilnehmers gemein, übernimmt die Analyse eines Dritten unkritisch und behauptet dann auch noch wider besseres Wissen ausdrücklich, die genannten Zahlen und ihre interessengeleitete Interpretation stellten Tatsachen dar und seien einem „nüchternen“, mithin objektiven Blick entsprungen.«

Und Häring findet mehr in dem Artikel:

„In Kooperation mit Union Investment“ habe Raffelhüschen den Atlas erstellt, lässt die FAZ wissen. Warum dieser vernebelnde Euphemismus für „im Auftrag und bezahlt von …“?

Und zur Weißglut treiben kann einen mit Häring dieses Zitat aus dem Artikel, wo Hans Joachim Reinke, Vorstandsvorsitzender der Union Asset Management Holding, mit den Worten erwähnt wird:

»Wer einen vollständigen Systemwechsel fordere, verkenne die wissenschaftlichen Fakten. Mit Ansprüchen aus der ersten und zweiten Schicht gelinge es nahezu jedem Bundesbürger, den Lebensstandard zu sichern.«

Spätestens hier hätte dem Schreiberling auffallen müssen, dass das nicht einmal die Auftragsstudie selbst behauptet, denn nach den „Berechnungen“ von Raffelhüschen & Co. kann damit »nur jenes  privilegierte Viertel der erwerbstätigen Bevölkerung (rechnen), das neben Ansprüchen aus der gesetzlichen Rente auch noch solche aus Riester Renten und/oder (das wird nicht ganz klar) betrieblicher Altersvorsorge erworben und darüber hinaus noch nennenswert Geld- und Immobilienvermögen angespart haben wird«, so Häring in seiner zutreffenden Kommentierung.

Selbst auf einschlägigen Finanzseiten macht man sich wenigstens lustig über den pseudowissenschaftlichen Kram, der uns da in der FAZ als Wahrheit verkauft wird, so beispielsweise Manfred Gburek in seinem Artikel Das Märchen von der Eier legenden Geld-Wollmilchsau: Es schreibt vom „umtriebigen“ Freiburger Professor Bernd Raffelhüschen, der vom Deutschen Derivate Verband jüngst zum „Popstar“ seines Fachs erklärt worden ist.

»Union Investment, ein Unternehmen der Genossenschaftsinstitute, beauftragt einen Professor, die kommende Rentenlücke in Zahlen zu fassen – und schon ergibt sich bis hinter dem Komma, dass die 20- bis 34-Jährigen im Rentenalter nur über 38,6 Prozent ihres vorherigen Einkommens verfügen werden. Bei so viel Schein-Präzision mag man schmunzeln.«

Man kann das auch gelinde gesagt für Humbug halten, was man den folgenden Aufzählungen entnehmen kann:

»Die Lebenszeit ist längst nicht die einzige Vorsorge-Unbekannte; Versicherungsmathematiker mit ihren Sterbetafeln wissen ein Lied davon zu singen. Hinzu kommen zum Beispiel noch die folgenden eher persönlichen Faktoren: unterschiedliche finanzielle Ausgangsbasis, also Vermögen sowie laufende Einnahmen und Ausgaben, Familienstand und seine Entwicklung im Lauf mehrerer Jahrzehnte, Gesundheit und Krankheiten, Risiken aller Art, speziell Klumpenrisiken mit Immobilien und Kursrisiken mit Aktien oder Anleihen, Gehalt, alternativ Gewinneinkünfte, Steuern, Spar- und Konsumverhalten, Emotionen, Spekulation und nicht zuletzt das Aufschieben von Entscheidungen in Sachen Geld bis zur Ignoranz des Themas Vorsorge.

Zu diesen persönlichen Faktoren gesellen sich externe, wie etwa: Konjunktur, Zinsen, Geldwertschwund, staatliche Misswirtschaft und Verschuldung, Unternehmenspleiten, unzureichender Anlegerschutz, Auf und Ab an den Börsen, unnütze Finanzprodukte und falsche Beratung.

In der Schule haben wir gelernt, dass Gleichungen mit mehreren Unbekannten nur bedingt bis gar nicht lösbar sind. Und ausgerechnet bei den hier aufgeführten, sich im Zeitverlauf immer wieder ändernden Variablen soll das möglich sein? Natürlich ist es nicht möglich.«
Schon damit wäre alles gesagt. Wieder einmal eine Variante der „junk science“, mit der man an vielen Stellen konfrontiert wird.«

Abschließend sei jedem verantwortungsvollen Journalisten empfohlen, beispielsweise nur einen Blick in den Wikipedia-Eintrag den „Renten-Professor“ betreffend zu werfen: Die Nebentätigkeiten Raffelhüschens in der Versicherungswirtschaft haben wiederholt zu Kritik geführt, da er als Wissenschaftler die kapitalgedeckte private Altersvorsorge propagiert. So ist Raffelhüschen Mitglied im Aufsichtsrat der ERGO Versicherungsgruppe sowie der Volksbank Freiburg. Des Weiteren ist er als wissenschaftlicher Berater für die Victoria Versicherung AG in Düsseldorf tätig. Er ist außerdem Mitglied des Vorstands der Stiftung Marktwirtschaft, wo er seit 2006 regelmäßig die Generationenbilanz herausbringt. Darüber hinaus ist er als Botschafter der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft tätig. Raffelhüschen ist Beiratsmitglied der Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen. Raffelhüschen betätigt sich auch als Vortragsreisender für die private Versicherungswirtschaft … Seit August 2007 ist Raffelhüschen Mitglied des Kuratoriums der Augustinum Gruppe, welche dem Diakonischen Werk der Evangelischen Kirche angehört.«

Bereits im Jahr 2011 wurde auf den NachDenkSeiten dieser Bericht veröffentlicht: Ein Abend mit Bernd Raffelhüschen, Versicherungsvertreter mit Professorentitel – leibhaftig und in voller Länge. Alles seit langem bekannt.

Auch und gerade, weil es vor dem Hintergrund des Blog-Beitrags sehr weh tun mag: Hier werden gerne Wetten angenommen, wer Mitglied einer von der Bundeskanzlerin im Wahlprogramm der Union – vor dem Hintergrund der Behauptung, bis 2030 sei mit dem Rentensystem in Deutschland alles in Ordnung – in Aussicht gestellten „Rentenreformkommission“, die sich Gedanken machen soll über die Zeit danach, werden wird. Also Wetten darauf, dass der Name Bernd Raffelhüschen auf der Liste stehen wird, wenn es zu der Kommission kommen sollte. Erfahrungen mit solchen Kommissionen hat er: Von 2002 bis 2003 war er Mitglied der „Rürup-Kommission“ zur Zukunft der sozialen Sicherungssysteme.

Solche und andere Rentner. Zur partikularen Privilegierung der kapitalgedeckten Altersvorsorge in der Grundsicherung und den damit verbundenen offenen Fragen

Nein, es soll hier gar nicht um das in den letzten parlamentarischen Zügen der großen Koalition verabschiedete Betriebsrentenstärkungsgesetz insgesamt gehen – vgl. dazu bereits den Beitrag Die halbierte Betriebsrentenreform, eine „kommunikative Herausforderung“ gegenüber den Arbeitnehmern und das von vielen totgesagte Pferd Riester wird erneut gedopt vom 3. Juni 2017. Und es soll also hier auch gar nicht erneut hervorgehoben werden, dass diese „Reform“ wieder einmal eine ist, die vor allem den Versicherungsunternehmen und den Betrieben hilft, weiterhin „Betriebsrenten“ zu verkaufen, die gar keine sind, weil sie auf dem Weg der Entgeltumwandlung von den Arbeitnehmern selbst finanziert werden (müssen).

Nein, in diesem Beitrag soll es um einen scheinbaren Nebenaspekt der gesetzgeberischen Änderungen gehen, der allerdings bei genauerem Hinschauen einige systematische Grundsatzfragen aufwirft. Denn im Kontext des Betriebsrentenstärkungsgesetzes wurde auch das SGB XII hinsichtlich der Grundsicherung für Ältere geändert. Dazu schreibt Johannes Steffen in seiner Übersicht über das neuen Gesetz: »Bei der Hilfe zum Lebensunterhalt sowie der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung ist ein Betrag von 100 Euro monatlich aus einer zusätzlichen Altersvorsorge zuzüglich 30 vom Hundert des diesen Betrag übersteigenden Einkommens aus einer zusätzlichen Altersvorsorge abzusetzen, höchstens jedoch 50 Prozent der Regelbedarfsstufe 1 (2017: 204,50 Euro). Zur zusätzlichen Altersvorsorge rechnen bis zum Lebensende und ohne Kapitalwahlrecht monatlich zu zahlende bAV-, private Riester- oder Rürup-Renten unabhängig von einer etwaigen staatlichen Förderung sowie Rentenbeträge, die aus Zeiten einer freiwilligen Versicherung oder einer Versicherungspflicht auf Antrag in der GRV resultieren.« Alles klar?

Man hat also einen neuen Einkommensfreibetrag in das SGB XII eingeführt. Und der ist wahrlich nicht unproblematisch. Der Grundgedanke ist simpel: Wer über eine betriebliche Altersvorsorge oder privat beispielsweise über eine Riester-Rente vorgesorgt hat, der soll im Alter, wenn die gesetzliche Rente unter dem Grundsicherungsbedarf liegt und bei Inanspruchnahme der Leistungen aus dem SGB XII alle anderen Einkommen angerechnet werden (müssen), dahingehend besser gestellt werden, dass 100 bis derzeit 204,50 Euro aus dieser Quelle nicht angerechnet werden.

Astrid Wallrabenstein hat eine Professur für Öffentliches Recht mit Schwerpunkt Sozialrecht an der Universität Frankfurt am Main und ist Geschäftsführende Direktorin des Instituts für europäische Gesundheitspolitik und Sozialrecht (ineges). Sie hat sich in der Fachzeitschrift „Soziale Sicherheit“ im Heft 4/2017 mit diesem Beitrag zu Wort gemeldet: „Freibeträge für Betriebs- und Riester-Renten bei der Grundsicherung: Ungewollter Einstieg in steuerfinanzierte Grundrente?“
Sie hat bereits im Vorfeld der gesetzgeberischen Absenkung dieser Neuregelung deutlich kritische Worte gefunden:

»Interessant und problematisch ist dabei die Privilegierung bestimmter zusätzlicher Altersvorsorge gegenüber der gesetzlichen Rente. Der Gesetzentwurf erklärt dies damit, dass sich freiwillige Altersvorsorge »in jedem Fall« lohnen soll. Da man zur Altersvorsorge im Rahmen der gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) ohnehin verpflichtet sei, bedürfe es bei ihr keines solchen Anreizes. Anders ausgedrückt: Die Vorsorge in der GRV lohnt sich für bestimmte Personen zwar nicht, aber da sie dazu gezwungen sind, ändert die Einsicht in die (subjektive) Sinnlosigkeit nichts und es besteht kein politischer Handlungsbedarf.«

Ihr Hauptargument gegen die Neuregelung entwickelt sie an einem Fallbeispiel:

»Einer folgt der aktuellen gesetzlichen Intention und akzeptiert GRV-Versicherungspflicht. Er verzichtet auf die Möglichkeit, sich gegen die gesetzliche Rente zu entscheiden, und zahlt aus seinem geringen Arbeitslohn seinen Beitrag. Der andere optiert gegen die gesetzliche Rente, behält dadurch etwas mehr vom Lohn und nutzt diesen Spielraum für eine private Riesterrente.

Im Rentenalter steht der zweite Minijobber besser da. Seine private Rente gilt als freiwillig und bleibt daher bei der Grundsicherung (weitgehend) anrechnungsfrei, während der erste angeblich ohnehin sparen musste und daher im Alter nicht mehr als die Grundsicherung verdient … Für beide setzt der Gesetzgeber unterschiedliche Nudges – »Stupser«, die sie nicht zwingen, aber leiten und ihr Verhalten steuern sollen. Der Stupser für die gesetzliche Rente kostet den Staat praktisch nichts, weder in der Ansparphase noch bei der Auszahlung … Die Stupser für die private bzw. über den Betrieb abgewickelte kapitalgedeckte Vorsorge kostet den Staat jahrzehntelange Zuschüsse in der Ansparphase und zusätzlich jahrzehntelange Subventionen in der Auszahlungsphase.«
Darin erkennt Wallrabenstein eine systematisches Problem, das noch eine Menge Ärger bereiten kann – und zwar als verfassungsrechtliches Problem:

»Die Privilegierung des geringfügig Beschäftigten mit Riesterrente gegenüber dem mit gesetzlicher Rente ist eine Ungleichbehandlung, die nach Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz ohne sachlichen Grund verboten ist.«

Und was folgt daraus? »Entweder müssten auch Minijobber mit gesetzlichen Renten Freibeträge in der Grundsicherung erhalten, was weitere Gleichbehandlungsbegehren anderer gesetzlicher Rentner nach sich ziehen würde. Oder das Bundesverfassungsgericht müsste die Privilegierung für verfassungswidrig erklären und dem Gesetzgeber eine gleichheitsgerechte Neuregelung aufgeben. Konsequenterweise müsste der Gesetzgeber deshalb entweder die Privilegierung der Betriebs- und Riesterrenten wieder abschaffen.«

Der Gesetzgeber könnte natürlich auch hingehen und die gesetzliche Rente der Betriebs- und Riesterrente gleichstellen. »Das bedeutet aber nichts anderes als eine (kleine) steuerfinanzierte Grundrente für den ganz überwiegenden Teil der Bevölkerung. Die aktuell geplante Änderung muss daher – gewollt oder nicht – als Einstieg in einen grundlegenden Systemwechsel der Grundsicherung gesehen werden«, so Wallrabenstein in ihrem Artikel.

An dieser Stelle kann und muss dann wieder die Bewertung des Rentenexperten Johannes Steffen herangezogen werden, der schon vor längerem ausgeführt hat:

»Bei der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung handelt es sich um ein subsidiäres Sicherungssystem (Fürsorge), das unabhängig von den Ursachen (Kausalität) einer Notsituation sowie ohne das Erfordernis irgendwelcher Vorleistungen (wie etwa Beitragszahlungen in der Sozialversicherung) Hilfebedürftigkeit im Einzelfall beseitigen will (Finalprinzip). Bevor die Grundsicherung (aufstockende) Leistungen erbringt, kann und muss sie daher im Gegenzug verlangen, dass Hilfesuchende zunächst ihre eigenen Kräfte und Mittel einsetzen, um Hilfebedürftigkeit zu vermeiden, zu vermindern oder zu beseitigen. Dies betrifft bei Älteren und voll Erwerbsgeminderten vor allem den Einsatz grundsätzlich sämtlicher Einkünfte und zumutbar verwertbarer Vermögensteile (Anrechnung). Der voraussetzungslosen Bedarfsdeckung auf der einen Seite entspricht also die Bedürftigkeitsprüfung auf der anderen Seite …

Einkommensfreibeträge in der Fürsorge führen allerdings c. p. zu einem (evtl. deutlichen) Anstieg des leistungsberechtigten Personenkreises, damit zu steigenden öffentlichen Ausgaben und statistisch schließlich auch noch zu einem höheren Ausweis der Grundsicherungsquote …

Davon abgesehen ginge mit einer Privilegierung von Alterseinkommen aus betrieblicher bzw. privater Vorsorge ein tragender Grundsatz der Fürsorge über Bord: Die ausnahmslos final orientierte und von Vorleistungen unabhängige Leistungsbemessung. Ergebnis wäre eine »vorleistungsabhängige Fürsorge«. Mit der Privilegierung ausgewählter, vorleistungsbasierter Einkommen (-steile) in der Grundsicherung käme es wieder – wie in den historischen Anfängen der (staatlichen) Fürsorge – zu einer (sozial- / gesellschaftspolitischen) Unterscheidung zwischen bzw. Separierung in »würdige« und »unwürdige« (Alters-) Arme.«

Die halbierte Betriebsrentenreform, eine „kommunikative Herausforderung“ gegenüber den Arbeitnehmern und das von vielen totgesagte Pferd Riester wird erneut gedopt

Fangen wir mal ganz simpel an: Wenn man die Menschen fragen würde, was denn eine Betriebsrente ist, wie wird wohl die Antwort in den meisten Fällen ausfallen? Na klar, es handelt sich um eine zusätzliche Rente, die der Arbeitnehmer von seinem Betrieb bekommt. Als eine Leistung, die an die Arbeit in dem Unternehmen gebunden ist. Und die vom Arbeitgeber kommt. Der zahlt mir eine Betriebsrente. Soweit die Theorie oder der naive Glaube an die einfachen Zusammenhänge – wobei das durchaus mal so war, früher, wo wahrlich nicht alles besser, manches hingegen einfacher und korrekter war. Die »Betriebsrente hat ein entscheidendes Merkmal: Der Arbeitgeber sagt seinem Arbeitnehmer eine Rente zu und steht dafür gerade, dass sie später fließt.« Das kann man diesem Artikel entnehmen – also doch. Oder? Man muss weiterlesen: »Das heißt aber nicht, dass der Arbeitgeber die Rente auch bezahlt. Neben der arbeitgeberfinanzierten Betriebsrente gibt es arbeitnehmerfinanzierte Spielarten. Durch sogenannte Entgeltumwandlung wird dann ein Teil des Bruttolohns direkt als Beitrag zur Betriebsrente abgezweigt«, steht da. Moment, wird der eine oder andere an dieser Stelle einwenden, das würde ja bedeuten, dass der Arbeitnehmer seine Betriebsrente selbst finanziert, aus seinem eigenen Lohn? Ja, so ist das. 

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