„Mütterrente“: Wenn die scheinbaren Spendierhosen in der Realität zu heiß gewaschen werden, dann laufen sie ein

In den vergangenen Monaten ist heftig diskutiert und gestritten worden über das so genannte „Rentenpaket“ der Bundesregierung. Das besteht aus vier Bausteinen: Der „Rente mit 63“, der „Mütterrente“, Veränderungen bei der Erwerbsminderungsrente sowie ein höheres Reha-Budget. In der öffentlichen Diskussion gab es eine Schieflache dergestalt, dass fast ausschließlich über die „Rente mit 63“ gestritten wurde und dann noch über allgemeine Finanzierungsfragen, also die Finanzierung der Maßnahmen im Wesentlichen über die Beitragszahler und die Rentner selbst durch eine systembedingte Absenkung der anstehenden Rentenerhöhungen.

Eher selten waren Beiträge, die sich mit der so genannten „Mütterrente“ beschäftigen (ganz korrekt müsste man hier von einer Rente für Erziehungsleistungen sprechen, die ggfs. auch von Männern in Anspruch genommen werden kann, was aber den Ausnahmefall darstellt). Schon bei einem groben Blick auf die damit verbundenen finanziellen Auswirkungen irritiert die relative Nicht-Thematisierung der „Mütterrente“ im Kontext der zahlreichen Vorwürfe der finanziellen Überlastung der Rentenkasse, denn während sich die zusätzlichen Ausgaben für die heftig umstrittene „Rente mit 63“ auf „langfristig“ 3 Mrd. Euro im Jahr belaufen sollen, werden für die „Mütterrente“ seitens der Bundesregierung jährliche Kosten »von derzeit rund 6,7 Milliarden Euro« in Ansatz gebracht. Nicht nur das ist diskussionsbedürftig, auch die formale Begründung und die Realität der Umsetzung wirft zahlreiche Fragen auf, die im folgenden Beitrag aufgeschnürt werden sollen. Bevor wir hinabsteigen in die (Un-)Tiefen des Rentenrechts gleich eine prophylaktische Entschuldigung bzw. ein Warnhinweis: Der Verfasser kann nichts für die zu skizzierende Hyperkomplexität und die sich daraus ergebenden Frustrationseffekte bei dem einen oder der anderen. Dafür ist nicht der Überbringer der (schlechten) Nachrichten verantwortlich, sondern wenn schon, dann das „System“.

mehr

Die Rentendiskussion ist sicher: Die IG Metall will gegen die „Rente mit 63“ klagen und in der Union soll es eine flügelübergreifende Sehnsucht nach der „Flexi-Rente“ geben

Sicherlich hatte man in der Großen Koalition gehofft, dass man das Thema Rente vorerst an die Seite schieben und aus der öffentlichen Debatte bekommen kann, nachdem die „Rente mit 63“ und die „Mütterrente“ gleich am Anfang der Legislaturperiode abgearbeitet worden sind. Und eine der bekannten Einordnungen der Komponenten des „Rentenpakets“ der Bundesregierung lautet: Die „Rente mit 63“ (für einige wenige Jahrgänge und nur unter besonderen Voraussetzungen) sei das „Wahlgeschenk“ an die Gewerkschaften und die „Mütterrente“ das der Unionsparteien an die (vermeintliche) Wählergruppe der Älteren, vor allem der älteren Frauen mit Kindern, die vor 1992 geboren worden sind. Also müssten die doch alle zufrieden sein. Vor diesem Hintergrund scheint es dann überraschend, wenn man lesen muss: Gewerkschaften wollen Rente mit 63 vom Verfassungsgericht prüfen lassen oder Gewerkschaften bereiten Klage gegen Rente mit 63 vor, um bei der Komponente des Rentenpakets der Bundesregierung zu bleiben, das sich vor allem an die Industrie-Gewerkschaften richtet (vgl. hierzu beispielsweise Rente ab 63 ist eine Männerrente, denn aufgrund der Anspruchsvoraussetzungen, die erfüllt sein müssen, richtet sich diese Regelung vor allem an männliche Industrie-Arbeitnehmer oder auch Handwerker). Warum sind die jetzt unzufrieden mit „ihrem Geschenk“?

Um das zu verstehen, muss man sich in Erinnerung rufen, dass bei der gesetzgeberischen Konkretisierung immer und unvermeidbar Abgrenzungen vorgenommen werden müssen, die in bestimmten Fallkonstellationen als „Ungerechtigkeit“ wahrgenommen werden (können). Und genau um ein solche Unwucht bei der Operationalisierung der zu erfüllenden Zugangskriterien geht es jetzt: Die IG Metall sieht in einem Teil des Gesetzes eine willkürliche Ungleichbehandlung von Arbeitslosen und deshalb werden jetzt Musterverfahren gegen die Rente mit 63 vorbereitet. Es geht um Ausnahmeregelungen, die im letzten Moment in das Gesetz aufgenommen wurden, um die Union zu besänftigen, worauf Thomas Öchsner in seinem Artikel Rente mit 63 vor Gericht hinweist: »Bis Ende November wurden bereits 186 000 Anträge gestellt. 141 000 hat die Deutsche Rentenversicherung bereits abgearbeitet und in der Regel bewilligt.

Dennoch zeichnet sich schon jetzt neuer Ärger mit der neuen vorzeitigen Rente ab: Die in letzter Minute aufgenommenen Ausnahmen werden wohl bald die deutschen Sozialgerichte beschäftigen.«
Stefan Sauer bringt das Problem in seinem Artikel auf den Punkt:

»Versuche, mittels eines Gesetzes jede Eventualität präzise zu regulieren, gehen oft schief. Der Wunsch nach Einzelfall-Gerechtigkeit mündet nicht selten in komplizierten Durchführungsbestimmungen, neuen Ungerechtigkeiten  und juristischen Auseinandersetzungen. Dieses Schicksal droht nun der Rente mit 63, genauer: einzelnen Gesetzespassagen, mit denen der begünstigte Personenkreis möglichst genau eingrenzt werden soll.«

Schauen wir uns also in einem ersten Schritt den Sachverhalt genauer an, der diese Entwicklung ausgelöst hat: »Die Rente ab 63 ohne Abzüge vom Altersgeld erhält, wer 45 Beitragsjahre in der Rentenversicherung nachweisen kann. Dabei werden auch Zeiten anerkannt, in denen Arbeitslosengeld I (nicht Hartz IV) bezogen wurde. Es gibt aber eine Ausnahme, die den Wirtschaftsflügel der Union besänftigen sollte: Bei den letzten zwei Jahren vor dem jeweiligen Rentenbeginn werden Zeiten der Arbeitslosigkeit nicht angerechnet, um Frühverrentungen mit 61 zu vermeiden«, so Öchsner. Bei dieser Sonderregelung stand die Überlegung Pate, dass es ansonsten die „Gefahr“ geben könnte, dass sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer auf eine Entlassung zum 61. Lebensjahr verständigen und die Betroffenen die Zeit bis zur Inanspruchnahme der abschlagsfreien „Rente mit 63“ mit Arbeitslosengeld I und ergänzenden Leistungen des Arbeitgebers überbrücken. Dann wäre aus der „Rente mit 63“ eine „Rente mit 61“ geworden. Es soll hier nicht darauf eingegangen werden, dass das eine teilweise sehr konstruiert wirkende Gefahrenbeschreibung war. Durch die Ausnahmeregelung die letzten beiden Jahre vor Eintritt in die abschlagsfreie Rente bei der Anrechnungsmöglichkeit von Arbeitslosengeld I-Bezug schien man das „Problem“ beseitigt zu haben – und hatte gleichzeitig ein neues zum Leben erweckt, denn die Regelung mag das Ausgangsproblem einer bewusst herbeigeführten Frühverrentung blockieren, aber was ist mit den Fällen, in dem der betroffenen Arbeitnehmer gegen seinen Willen den Arbeitsplatz verloren hat, also unfreiwillig? Und dem beispielsweise gerade ein oder zwei Jahre fehlen, um die 45 Beitragsjahre erfüllen zu können, die ihm einen Zugang zum abschlagsfreien Bezug der Altersrente ermöglichen würde?

Natürlich wurde dieses Problem erkannt und man versuchte, dem mit einer neuen Sonderregelung innerhalb der Sonderregelung zu begegnen. Stefan Sauer dazu: Für die erste Ausnahmeregelung »wurde, auf Druck der SPD, aber eine zweite Ausnahme ins Gesetz geschrieben: Ist die Arbeitslosigkeit vor Rentenantritt durch die vollständige Geschäftsaufgabe des Arbeitgebers – etwa wegen einer Insolvenz -bedingt, so ist die Zeit der Arbeitslosigkeit bis zu zwei Jahre vor Rentenantritt doch anzurechnen. Damit sollte Arbeitnehmern Gerechtigkeit widerfahren, die ohne eigenes Verschulden ihren Job verlieren. So weit, so gut.«

Wie immer in der hyperkomplexen Sozialpolitik unserer Tage liegt der Teufel im Detail der semantischen Operationalisierung. Denn bei der Umsetzung des Willens des Gesetzgebers ergab sich eine Ausnahme Nummer drei, »die gestützt auf den Gesetzestext in den Arbeitsanweisungen der Rentenversicherung enthalten ist: Eine „vollständige Geschäftsaufgabe“ ist danach nur gegeben, wenn Unternehmen „ihre gesamte Betriebstätigkeit auf Dauer einstellen“, nicht aber, wenn lediglich einzelne Unternehmensteile stillgelegt werden«, so Sauer. Der Kern des aktuellen Problems liegt in dem scheinbar klaren Begriff der „vollständigen Geschäftsaufgabe“ des Unternehmens, denn daraus ergeben sich zwangsläufig nicht begründbare Ungleichbehandlungen, was Stefan Sauer in seinem Artikel an einem Beispiel illustriert:

»Beispiel: Opel-Mitarbeiter, die mit der Schließung des Werks in Bochum ihre Stellen verloren, würden bei der Beitragszeitanrechnung benachteiligt, weil zwar ihr Werk, aber nicht Opel als ganzes Unternehmen dicht gemacht wurde. Dabei ist unstrittig, dass die Bochumer Opelaner den Jobverlust gewiss nicht willentlich herbeiführen oder auch nur beeinflussen konnten. Sie sind ebenso schuldlos an ihrer Arbeitslosigkeit wie zum Beispiel Kollegen eines Zuliefererbetriebs, die aufgrund der Opel-Werksschließung ihren Job verlieren. Ginge ihr Betrieb pleite,  würde ihnen aber die Arbeitslosigkeit vor Rentenantritt angerechnet. Plausibel ist das nicht.«

Fakt ist: Arbeitnehmer, die ihren Job nicht freiwillig verlieren, werden höchst unterschiedlich behandelt, weil die Deutsche Rentenversicherung in ihren Arbeitsanweisungen den Willen des Gesetzgebers dergestalt konkretisiert, dass der Begriff der vollständigen Geschäftsaufgabe „eng auszulegen“ sei. Auch wieder „beispielhaft“ das Hin-und-Herschieben“ von Verantwortlichkeiten, wie man sie in der Sozialpolitik zur Genüge kennt: Die Rentenversicherung kennt das Problem. Man habe sich beim Formulieren der Arbeitsanweisungen „an den Gesetzeswortlaut gehalten“, sagt ein Sprecher. Das Arbeitsministerium teilt wiederum mit, die Auslegung der Rechtsvorschriften „obliegt den Trägern der gesetzlichen Rentenversicherung“, so Thomas Öchsner.

Man darf an dieser Stelle daran erinnern, dass das jetzt an die Oberfläche gespülte Problem bereits vor Monaten in Aussicht gestellt wurde – vom Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestags. Dazu der Artikel Rente mit 63 möglicherweise verfassungswidrig vom 9. Juli 2014: In dem damaligen Gutachten, das der rentenpolitische Sprecher der Grünen, Markus Kurth, beantragt hatte, ging es genau um die Ausnahme von der Ausnahme, die jetzt wieder aufgerufen wird. Die Nicht-Berücksichtigung von betriebsbedingten Kündigungen bei der Anrechnung auf die zu erfüllenden Beitragszeiten dürfte „wohl gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz aus Art. 3, Abs. 1 GG verstoßen“, heißt es in der juristischen Bewertung des Wissenschaftlichen Dienstes. Die Gutachter hatten bereits damals schwerwiegende Bedenken hinsichtlich der Angemessenheit der Ungleichbehandlung formuliert.  Nach ihrer Bewertung sei es problematisch, dass „Arbeitnehmer und Arbeitgeber gleichermaßen unter Generalverdacht gestellt“ werden, obwohl es bereits an Kenntnissen über den Umfang eines möglichen Missbrauchs fehle. Es sei mithin „nicht nachvollziehbar, dass diejenigen, die aufgrund einer betriebsbedingten Kündigung ausscheiden und infolgedessen tatsächlich unfreiwillig arbeitslos werden, weniger schutzwürdig sein sollen als diejenigen, die aufgrund einer Insolvenz oder vollständigen Geschäftsaufgabe des Arbeitgebers aus dem Arbeitsverhältnis ausscheiden“.

Wie ein Bumerang kommen diese Bedenken jetzt wieder zurück. Die IG Metall sammelt bereits Fälle für mögliche Klagen und will die „willkürliche Ungleichbehandlung“ vor dem Bundesverfassungsgericht klären lassen.

Und das ist nicht der einzige Punkt, der die aktuelle Rentendebatte prägt. Bereits in den vergangenen Tagen wurde über eine (freiwillige) „Rente mit 70“ berichtet. Und offensichtlich bewegt das Thema große Teile innerhalb der Union: Drei Flügel der CDU werben für Flexi-Rente, kann man beispielsweise lesen. Das hört sich irgendwie nett an – „Flexi-Rente“.

»Es geht um bessere Bedingungen für Menschen, die auch im Rentenalter noch arbeiten möchten – oder müssen«, so beginnt der Artikel und zeigt damit zugleich auch schon, dass es möglicherweise nicht nur um die Ermöglichung eines lustvollen Weiterarbeitens im Alter geht. Die Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung, die Senioren-Union und die Junge Union haben nun ein gemeinsames Positionspapier veröffentlicht. „Wir müssen jetzt endlich Nägel mit Köpfen machen“, so heißt es darin und gemeint ist: es solle einen „Flexi-Bonus“ für beschäftigte Rentner geben. Hört sich auch erst einmal nett an. Konkret geht es um folgendes:

»Der Rentenversicherungsbeitrag, den Arbeitgeber auch für Mitarbeiter im Rentenalter zahlen müssen, solle die Rente des Betroffenen künftig erhöhen – anders als bisher. „Konkret soll dieser Beitrag jährlich auf die laufende Rentenzahlung als Zuschlag aufgestockt werden.“ Die Mittelstandsvereinigung hatte diesen Vorschlag bereits im Herbst gemacht. Zudem fordern die drei CDU-Flügel nun eine Abschaffung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung für Ältere und einen deutlich flexibleren Übergang auch in die Beamten-Pension.«

Mehr Geld also für arbeitende Rentner. Will man dagegen sein? Bereits in dem Blog-Beitrag Was für ein Jahresanfangsdurcheinander: Die Rente mit 70 (plus?), ein Nicht-Problem und die Realität des (Nicht-)Möglichen am 3. Januar 2015 im Kontext der Vorschläge einer (- noch – freiwilligen) „Rente mit 70“ wurde versucht zu zeigen, dass hier im Grunde ein Nicht-Problem adressiert wird.

In entsprechender Deutlichkeit kann man das auch in einem Beitrag aus dem arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW Köln) nachlesen und nachvollziehen: Finanzielle Förderung unsinnig und unnötig, so die zutreffende Überschrift.

»Arbeitnehmer (können) schon heute freiwillig länger arbeiten. Und: Wer sich mit seinem Arbeitgeber einigt und erst später als vorgesehen Rente beantragt, der erhöht seinen Rentenanspruch nicht nur entsprechend der zusätzlichen Beitragszahlung – obendrauf gibt es einen Zuschlag von 0,5 Prozent pro Monat. Ein westdeutscher Durchschnittsverdiener, der ein Jahr dranhängt, erhöht so seinen Rentenanspruch um 30,33 statt nur um 28,61 Euro pro Monat (27,97 statt 26,39 Euro in den neuen Bundesländern).«

Nun kann man an dieser Stelle einwenden, dass es um diese Fälle bei der „Flexi-Rente“ nicht geht, sondern um die, die bereits in Rente sind und dann weiterarbeiten (wollen/sollen/müssen), denen will man ja den „Flexi-Bonus“ gewähren, also einen Zuschlag auf ihre neben dem Arbeitseinkommen ausgezahlte Rente. Hierzu das IW, die zugleich erklären, warum in diesen Fällen der Arbeitgeber seinen Beitragsanteil an die Rentenversicherung (und auch an die Arbeitslosenversicherung) weiter zahlen muss, obgleich sich die Rente des betroffenen Arbeitnehmers dadurch nicht erhöht und aufgrund des Rentner-Status auch keine Ansprüche gegenüber der Arbeitslosenversicherung bestehen:

»Aber auch, wer seine Rente mit 65 bezieht, kann weiter sozialversicherungspflichtig arbeiten. Er bekommt dann das Nettogehalt zusätzlich zur gesetzlichen Rente. Während die Arbeitnehmerbeiträge zur Renten- und Arbeitslosenversicherung wegfallen, muss der Arbeitgeber seinen Beitragsanteil weiter zahlen. Damit wird der Rentenanspruch allerdings nicht weiter erhöht. Die Beitragspflicht für Unternehmen soll lediglich verhindern, dass Rentner aufgrund niedrigerer Lohnnebenkosten junge Arbeitnehmer aus dem Betrieb verdrängen.«

Das ist der Punkt. Das Positionspapier aus der CDU führt also – würde man das umsetzen – dazu, dass der Rentenversicherungsbeitragsanteil der Arbeitgeber nicht mehr an die Rentenversicherung fließen würde, sondern als „Stimulus“ für die Rentner fungieren soll, (wieder) arbeiten zu gehen, weil sie dann neben dem Arbeitseinkommen auch noch einen Zuschlag auf ihre normale Rente bekommen. Bezahlt werden muss das aus der Sozialkasse. Und gleichzeitig würde der Arbeitgeber noch entlastet, weil seine Zahlung an die Arbeitslosenversicherung gestrichen werden soll, so dass der ältere Arbeitnehmer tatsächlich günstiger werden würde.

Abschließend: Die ganze Diskussion über eine „Flexi-Rente“ wird jetzt entwickelt und vorangetrieben mit dem Hinweis, man wolle doch nur vereinfachen, anreizen und alles sei freiwillig. Wie so oft im Leben sollte man aber mögliche mittel- und langfristige Auswirkungen nicht aus den Augen verlieren. Denn „Sinn“ macht eine solche Aufweichung vor allem mit Blick auf die stetig zunehmende Altersarmut durch die vergangenen Eingriffe in das Sicherungsniveau der gesetzlichen Rentenversicherung. Wenn es immer mehr Rentner geben wird, die mit ihrer kargen Rente nicht über die Runden kommen (können), dann kann man sie verweisen auf die Möglichkeiten, sich etwas dazu zu verdienen und zugleich bekommen sie noch eine etwas höhere Rente. Und alles ganz „freiwillig“ natürlich.

Was für ein Jahresanfangsdurcheinander: Die Rente mit 70 (plus?), ein Nicht-Problem und die Realität des (Nicht-)Möglichen

Neben den Themen Flüchtlingspolitik und den Auswirkungen des allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns nach seiner Einführung zum 1. Januar 2015 wird – das ist sicher – in dem nun neuen Jahr das Thema Alterssicherung und damit die Rentenfrage ganz oben auf der sozialpolitischen Agenda stehen. Und kaum war das Silvester-Feuerwerk verklungen, hat der Chef der Bundesagentur für Arbeit scheinbar eine neue Rakete in der rentenpolitischen Debatte gezündet: Arbeitsagentur fordert freiwillige Rente mit 70, so ist der Bericht dazu überschrieben worden. Unabhängig von dem durch die Überschrift suggerierten Eindruck, dass offensichtlich die Bundesagentur für Arbeit jetzt persönliches Eigentum des Herrn Weise geworden ist, was meines Wissens noch nicht der Fall ist – sein Vorschlag löste eine einerseits erwartbare, zugleich aber auch etwas überraschende Reaktionsmechanik aus. Freiheit statt Zwangsverrentung, jubelt beispielsweise Hennig Krumrey in der WirtschaftsWoche und moniert zugleich: »Nur die politische Unterstützung für diese gute Idee fehlt noch.« Auch nicht überraschend die Reaktionen auf der anderen Seite: „Abenteuerlich und völlig verfehlt“, poltert der Parteichef der Linken, Bernd Riesiger, und die zweite Vorsitzende Katja Kipping wird mit den Worten zitiert, die Vorschläge „gehen in die völlig falsche Richtung“. Annelie Buntenbach vom DGB-Bundesvorstand wird ebenfalls kritisierend zitiert mit den Worten: „In den Ohren derjenigen, die es nicht bis zum gesetzlichen Renteneintrittsalter schafften, müsse es „wie Hohn klingen, wenn wieder einmal über die Freiheit des längeren Arbeitens philosophiert wird“. Etwas irritierend ist dann vielleicht schon so ein Ausreißer aus der gewohnten Lager-Bildung: Laut Ramelow sei Rente mit 70 „kein Quatsch“: »Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) hat sich offen für die Idee einer Rente mit 70 auf freiwilliger Basis gezeigt – und stellt sich damit gegen die Bundesparteispitze.« Was ist hier los?

Schauen wir uns in einem ersten Schritt erst einmal an, was denn der Herr Weise von der Bundesagentur für Arbeit eigentlich genau gesagt hat:

»Angesichts des Fachkräftebedarfs in Deutschland plädiert der Vorstandschef der Bundesagentur für Arbeit (BA), Frank-Jürgen Weise, für zusätzliche Anreize, um Ältere bis zum Alter von 70 Jahren im Berufsleben zu halten. „Flexible Ausstiege aus dem Erwerbsleben in Rente sind grundsätzlich ein gutes Modell“ …  „Man sollte nun auch Anreize dafür setzen, dass Arbeitnehmer, die fit sind, freiwillig bis 70 arbeiten können“, forderte Weise. Für den Arbeitsmarkt wäre das gut, betonte der BA-Vorstand.«

Man achte auf die Formulierung: Es geht um zusätzliche Anreize, die gewährt werden sollen, wenn Arbeitnehmern jenseits des gesetzlichen Renteneintrittsalters weiterarbeiten. Einerseits entschärft das auf den ersten Blick die Debatte, denn es geht offensichtlich (noch) nicht darum, die beschlossene und derzeit ablaufende schrittweisen Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters auf 67, das für die Jahrgang 1964 erreicht sein wird, auf 70 anzuheben. Auch die derzeit unter bestimmten Bedingungen mögliche „Rente mit 63“, die ja nur für wenige Jahrgänge möglich ist und die parallel zur Einführung der Rente mit 67 auf 65 Jahre angehoben wird, ändert nichts an der grundsätzlichen Erhöhung des Renteneintrittsalters, von der vor allem die geburtenstarken Jahrgänge betroffen sein werden. »Die „Rente  mit 70“ steht also für die Möglichkeit freiwillig länger zu arbeiten – und zwar unter günstigeren Bedingungen als bisher«, darauf weist auch Stefan Sauer in seinem Beitrag Ein Vorstoß ohne Zwang hin.

Nun wird der eine oder die andere an dieser Stelle berechtigterweise die Frage stellen: Wo ist eigentlich das Problem? Ist das nicht heute schon möglich?

Ja, so muss die einfache Antwort in einem ersten Schritt lauten. Beschäftigte können – im Prinzip – den Renteneintritt auf einen späteren Zeitpunkt verschieben und erhalten dafür eine höhere Rente. Das heißt aber eben auch, dass es sich bereits heute lohnen kann, länger zu arbeiten, wenn man denn will und kann und – das wird allerdings in den meisten Artikeln gerne unterschlagen, wenn der Arbeitgeber auch mitmacht, denn es gibt nicht wenige Unternehmen, die aus welchen Gründen auch immer gar kein Interesse haben an der Weiterbeschäftigung älterer Arbeitnehmer und dann gerne auf das gesetzliche Renteneintrittsalter als Austrittsgrund verweisen, um den Mitarbeiter loswerden zu können.

Was bedeutet es vor dem Hintergrund der bestehenden Rentenformel konkret, wenn ein älterer Arbeitnehmer länger an Bord bleibt? Dazu Stefan Sauer in seinem Artikel:

»Für jeden Monat, um den sie den Rentenbezug hinauszögern, erhalten sie einen Zuschlag von 0,5 Prozent. Sofern sie unterdessen sozialversicherungspflichtig beschäftigt ist, sammeln sie zusätzliche Rentenpunkte an, die ihre Anwartschaften zusätzlich erhöhen. Beispiel: Wer den Renteneintritt um ein Jahr aufschiebt, erhält lebenslang eine um 12 mal 0,5 Prozent – also sechs Prozent – erhöhte Monatsrente. Zahlt er in dieser Zeit durchschnittliche Rentenbeiträge ein, erhält er zusätzlich einen Rentenpunkt, der derzeit knapp 30 Euro pro Monat wert ist. Beide Faktoren gemeinsam lassen eine Monatsrente von 1.300 Euro auf mehr als 1.400 ansteigen. Bei noch späterem Rentenbezug erhöht sich die Rente entsprechend.«

Man muss sich in aller Deutlichkeit klar machen, dass es bereits heute im bestehenden System aufgrund der Entgeltpunkt- und Zuschlagssystematik der Rentenformel durchaus „lohnend“ ist, weiterzuarbeiten und man keineswegs „bestraft“ wird, wenn man sich dafür entscheidet. Wer mit dem Erreichen des Renteneintrittsalters seine Rente in Anspruch nimmt, kann weiterhin arbeiten gehen und ganz wichtig: Dabei entfallen die Zuverdienst-Grenzen von 6.300 Euro pro Jahr, die für Frührentner gelten. Jenseits der Regelaltersgrenze können Rentner also so viel dazu verdienen wie sie wollen beziehungsweise können, ohne dass dies Einfluss auf die Höhe der Rente hätte. Aber damit noch nicht genug: »Zugleich sind die arbeitenden Rentner von Beitragszahlungen an die Arbeitslosen- und Rentenversicherung befreit. Die Arbeitgeber müssen allerdings weiterhin ihren Rentenbeitragsanteil abführen«, so Sauer.

Und ganz wichtig ist auch der Hinweis, dass die immer wieder geforderten vereinfachten Rahmenbedingungen zugunsten der Unternehmen für eine Weiterbeschäftigung älterer Arbeitnehmer von der Großen Koalition im Windschatten der Rente mit 63 und der Mütterrente bereits hergestellt worden sind: In der Vergangenheit waren unbefristete Arbeitsverhältnisse bei einer Weiterbeschäftigung nach Erreichen des Renteneintrittsalters automatisch als unbefristet fortgeführt worden, was den Arbeitgebern ein Dorn im Auge war, denn solche Arbeitsverhältnisse sind seitens vieler Unternehmens kaum kündbar, ihre Beendigung ist oft mit Abfindungszahlungen verbunden. Das empfanden die Arbeitgeber als ein besonderes Risiko und ihre Forderung war es denn auch, so gestellt zu werden, dass sie die möglichen Vorteile einer Weiterbeschäftigung älterer Arbeitnehmer in Anspruch nehmen können und gleichzeitig aber diese schnell loswerden können, wenn „ihre Zeit gekommen“ ist. Und da ist ihnen die Bundesregierung ganz erheblich entgegengekommen: Die von den Arbeitgebern geforderten vereinfachten Rahmenbedingungen hat die Regierungskoalition »bereits im Juli 2014 gleichzeitig mit der Mütterrente und der Rente mit 63 in Kraft gesetzt: Seither können Arbeitnehmer und Arbeitgeber eine befristete Weiterbeschäftigung nach Erreichen des Renteneintrittsalters vereinbaren und solche Befristungen auch mehrfach verlängern.« Dass manchen Arbeitgeber die Befristungsregelung „natürlich“ immer noch nicht reicht und sie sich am liebsten jederzeit und ohne Widerspruchsmöglichkeiten von den älteren Arbeitnehmern trennen möchten, wenn die nicht mehr so funktionieren sollten, wie man das erwartet, sei an dieser Stelle nur nachrichtlich erwähnt.

Bleibt also an dieser Stelle die Frage, was den nun neu oder weiterführend sein soll an den aktuellen Vorschlägen. Es wurde bereits erwähnt, dass die Arbeitgeber ihren Teil des Rentenversicherungsbeitrags für die jenseits des Renteneintrittsalters beschäftigten Arbeitnehmer weiter zahlen müssen. Und hier setzt ein seit längerem in die Debatte geworfener Vorschlag der Arbeitgeber an: Unter dem sympathisch daherkommenden Begriff der „Flexi-Rente“ sollen diese Arbeitgeberbeiträge an die Arbeitnehmer ausgeschüttet werden, um einen zusätzlichen Anreiz zu setzen. Ein Schelm, wer böses denkt und rechnen kann, denn die Arbeitgeber wollen den Arbeitnehmer beglücken mit mehr Geld, das sie nicht etwa zusätzlich aufbringen müssten – das wäre ja auch eine Möglichkeit, wenn das Wissen und die Arbeitskraft der älteren Arbeitnehmer wirklich so dringend erforderlich sind, wie man uns in der Diskussion über einen Fachkräftemangel unterschieben möchte -, sondern das man der Sozialversicherung entwendet, um es dem Einzelnen dann auszuzahlen. Das nun ist aus Arbeitgebersicht verständlich und attraktiv, aber aus Sicht der Sozialversicherung fragwürdig, denn wie wir gesehen haben, profitieren die länger arbeitenden Menschen ja auch aufgrund der Mechanik der Rentenformel von ihrem längeren Arbeiten durch eine höhere Rente.

In diese Richtung argumentiert auch Carsten Linnemann, seit 2013 Vorsitzender der Mittelstandsvereinigung der CDU, der zum einen erkennt, dass man – wenn schon – an der richtigen Stelle bei den Sozialversicherungsabgaben ansetzen muss, ansonsten unterstützt er den Vorstoße der Arbeitgeberseite. Er argumentiert in seinem Anfang Dezember 2014 erschienenen Artikel Länger arbeiten muss sich lohnen so:

»Im Kern muss es also um mehr Flexibilität im Rentenalter gehen. Um die zu erreichen, müssen die bestehenden „Strafabgaben“ für Beschäftigte im Rentenalter beseitigt werden. Denn es ergibt keinen Sinn, dass Arbeitgeber für Arbeitnehmer, die eine Altersrente beziehen, aber weiter arbeiten, Arbeitslosen- und Rentenversicherungsbeiträge zahlen, obwohl die Betroffenen überhaupt nicht mehr arbeitslos werden können und damit auch kein Arbeitslosengeld mehr beanspruchen können. Kurzum: Die Arbeitgeberbeiträge zur Arbeitslosenversicherung gehören schlicht abgeschafft … In der Rentenversicherung sollte es für diejenigen, die über das Rentenalter hinaus arbeiten, einen Flexi-Bonus in Gestalt eines Rentenzuschlags geben.«

Trotz der etwas differenzierteren Herleitung – auch Linnemann schiebt den schwarzen Peter der Finanzierung der „Anreize“ für die älteren Arbeitnehmer an die Sozialversicherung. Es ist schon beeindruckend bzw. es spricht für sich, dass keiner auf die erste marktwirtschaftlich naheliegende Lösung kommt: Wenn den Arbeitgebern das Humankapital der älteren Fachkräfte angeblich so wichtig ist, dann müsste das in die Lohnbildung internalisiert werden, bevor man wieder Geschäfte zu Lasten Dritter macht.

Und was schlägt Bodo Ramelow von den Linken, der für viele überraschende Sympathisant einer freiwilligen „Rente mit 70″, vor? Man darf jetzt doch etwas überrascht sein, aber vielleicht liegt es einfach nur daran, dass er auch in die Medien wollte und deshalb schnell sprechen musste: „Arbeitnehmern, die das Rentenalter erreicht haben, aber weiter arbeiten wollen, kann beispielsweise die Einkommensteuer erlassen werden“, so wird der neue Ministerpräsident zitiert. Das wäre dann einer Art Arbeitgeber-Forderung 2.0. Ob er jetzt auch eingeladen wird zum Arbeitgeber-Tag?

Fazit: Bereits heute gibt es die grundsätzliche Möglichkeit, dass die, die wollen und können, über das Renteneintrittsalter hinaus arbeiten gehen. Hierfür hat die Große Koalition bereits seit Juli 2014 die arbeitsrechtlichen Voraussetzungen im Interesse der Arbeitgeber flexibilisiert. Vielleicht sollte man einmal genauer hinschauen, warum es so vielen Arbeitgebern offensichtlich schwer fällt, von den bestehenden Möglichkeiten Gebrauch zu machen. Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit waren Mitte 2014 in der Altersgruppe von 65 bis 69 lediglich 130.000 Menschen sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Möglicherweise ist ein großer Teil der Arbeitgeber das Nadelöhr, das den Zugang zu mehr Beschäftigung für Menschen oberhalb des gesetzlichen Renteneintrittsalters verengt.Hinzu kommt natürlich, dass auch wenn es nicht mehr Anreize geben würde, länger zu arbeiten: Für viele Arbeitnehmer kann das gar kein Thema sein oder werden. Dazu Stefan Sauer in seinem Artikel:

»Das Institut für Arbeit und Qualifikation der Uni Duisburg Essen stellte Anfang 2014 in einer Studie fest, dass Beschäftigte im Hoch- und Tiefbau im Schnitt bereits mit 57,6 Jahren ihren Beruf aufgeben müssen. Starken Belastungen, die zu einem frühzeitigen Aus ihrer Berufsausübung führen, sind der Untersuchung zufolge unter anderem Arbeitnehmer in Holz und Kunststoffverarbeitung, in der Logistik und in Ernährungsberufen sowie branchenübergreifend Hilfsarbeiter ausgesetzt. Auch im Dienstleistungsbereich, etwa in der Altenpflege, gibt es körperlich und psychisch stark beanspruchende Tätigkeiten. Für Millionen Beschäftigte ist die Rente mit 70 also kein Thema.«

Die angesprochene Studie des IAQ ist als „Altersübergangsreport 2014-01“ erschienen: Martin Brussig und Mirko Ribbat: Entwicklung des Erwerbsaustrittsalters: Anstieg und Differenzierung. Hier bekommt man ein sehr differenziertes Bild der Entwicklung beim Ausstieg aus dem Erwerbsleben. Nur zwei Beispiele: »Hinsichtlich des mittleren beruflichen Austrittsalters gibt es große Unterschiede zwischen Berufen. Die Altersspanne zwischen Berufen mit einem sehr hohen und einem sehr niedrigen mittleren beruflichen Austrittsalter liegt bei über fünf Jahren.« Hinzu kommt: »Berufe mit einem hohen mittleren beruflichen Austrittsalter erlauben nicht notwendigerweise lange Erwerbsphasen, sondern können auch durch Personen geprägt sein, die erst am Ende ihres Erwerbslebens vorübergehend in einen Beruf hineinströmen, nachdem sie ihren langjährig ausgeübten Beruf aufgegeben haben.« Die Wirklichkeit ist eben immer schwieriger, als es oftmals erscheint.

Im Jahr 2013 waren – nach einem kontinuierlichen Anstieg des Anteils in den vergangenen Jahren – von den 60- bis 64-Jährigen 32,4% sozialversicherungspflichtig beschäftigt, also gerade einmal jeder Dritte in dieser Altersgruppe (immer wieder wird von interessierter Seite die wesentlich höhere Erwerbstätigenquote genannt, die 2013 bei 49,9% lag, zu denen gehören aber alle, die irgendwie und sei es nur ein wenig arbeiten, egal ob als Arbeitnehmer. Minijobber oder Selbständiger).
Es gibt also noch eine Menge zu tun bei denen, die unter 65 sind. Vielleicht sollte man vernünftigerweise darauf die Prioritäten legen und ansonsten die Arbeitgeber motivieren, von den bestehenden Regelungen für eine freiwillige Weiterarbeit a) Gebrauch zu machen und b) wenn ihnen das so wichtig ist, mit dem marktwirtschaftlichen Instrument der Verbesserung der Arbeitsbedingungen, zu denen auch die Löhne gehören, zu reagieren, bevor man nach Dritten ruft, die einem das bezahlen, so wie früher die Frühverrentungen auf die Sozialversicherungen externalisiert worden sind.