Auf der Rutschbahn in die Todeszone: Das allmähliche Verschwinden des Garantiezinses für Lebensversicherungen und der beklagenswerte Zustand der deutschen Altersvorsorge

Schon seit geraumer Zeit gibt es in einem Teil der Medien
eine (zunehmend) kritische Berichterstattung über die Tiefen und Untiefen der
privaten Altersvorsorge vor allem im Umfeld der Diskussion über die
„Riester-Rente“. Gerade die Lebensversicherung steht seit längerem und immer
öfter unter Berichterstattungs-Beschuss. Die Kapital-Lebensversicherung ist –
bzw. war – eine der wichtigsten Säulen, gerade bei denen, die gar keine
Alternative haben zu einer privaten Absicherung, weil sie beispielsweise als
Selbständige gar nicht eingebunden sind in die soziale Absicherung durch die
umlagefinanzierte Rentenversicherung. Und das Finanzprodukt (Kapital-)Lebensversicherung
ist erneut in die Schlagzeilen geraten. Vor einiger Zeit schon verunsicherten
Meldungen, das immer mehr Versicherungen eine Abkehr von
Lebensversicherungspolicen mit Garantiezins ankündigen – nach Generali und
Talanx folgte im September auch der Branchenriese Ergo. Und da ist er schon,
der „Garantiezins“. Denn der soll nun endgültig fallen mit Beginn des neuen
Jahres. Um nur einige der Schlagzeilen zu zitieren: Warum
der Garantiezins ausgedient hat
, Trumpfkarte
verloren
Eine Hiobsbotschaft für die Altersvorsorge oder auch Ist
die Lebensversicherung jetzt am Ende?
: »Die Bundesregierung will bei neuen
Lebensversicherungen keinen Garantiezins mehr vorgeben. Weil der als
Hauptargument für die Policen galt, steht der Altersvorsorgeklassiker vor dem
Aus.« Auch der Bund der Versicherten (BdV) stößt in dieses Horn: Bundesregierung
will klassische Lebensversicherung beenden
, so hat man dort eine
Pressemitteilung überschrieben. Der Vorstandssprecher des BdV, Axel Kleinlein,
wird mit diesen markigen Worten zitiert: „Die Bundesregierung spielt mit dem
Vertrauen der Bürger in Lebensversicherungen, private Renten, Riester-Renten,
Rürup-Renten und betriebliche Altersvorsorge.“ Alle diese Wege der
Altersvorsorge sind bisher stark geprägt von den klassischen Verträgen mit
Garantiezins.


Es geht hier nicht um irgendeine Kleinigkeit. Ein Großteil
der mehr als 90 Millionen laufenden Lebensversicherungsverträge basiert auf dem
Modell einer Kapital-Lebensversicherung mit Garantiezins. Der eigentlich Höchstrechnungszins
heißt, was den einen oder anderen jetzt irritieren mag, denn aus Sicht der
meisten Kunden ist der Garantiezins ein Mindestzins in dem Sinne, dass man
diesen Zins mindestens bekommt, wobei viele nicht wissen, dass die
Mindestzinsen nur für den sogenannten Sparanteil eines Vertrages gelten. Daher
sind klassische Verträge nur dann rentabel, wenn die zusätzlich gegebene
Überschussbeteiligung ein zusätzliches Plus bringt.

»Der Höchstrechnungszins ist bei der klassischen Lebens- und
Rentenversicherung der Zinssatz, den Versicherungsunternehmen ihren Kunden
maximal für das angesparte Geld versprechen dürfen. Für Versicherer ist der
Zins also eine gesetzlich vorgegebene Obergrenze, die den Wettbewerb um allzu
kühne Zinsversprechen unterbinden sollte«, während aus Sicht der Kunden dieser
Zinssatz eine andere Bedeutung hat, da er sie informiert, »wie viel der
Versicherer ihm mindestens für das Ersparte zusichern, also garantieren, muss.
Die Garantie ist also die Untergrenze«, kann man diesen Erläuterungen
entnehmen. Die garantierte Rendite – wohlgemerkt nur auf den Sparanteil der
Beiträge innerhalb der Lebensversicherung (also die 80 bis 90 Prozent, die nach
Abzug der Vertriebs- und Verwaltungskosten übrig bleiben; unter
Berücksichtigung dieser Randbedingungen kommt man dann bei ausgewiesenen 1,25
Prozent „Garantiezinsen“ auf eine faktische Rendite in Höhe von noch
mickrigeren 0,5 Prozent) – ist angesichts der Niedrigzinsen am Kapitalmarkt von
einst 4 Prozent auf mittlerweile 1,25 Prozent gesunken. Und nun soll er ganz
fallen, für Neuverträge ab dem 1. Januar 2016.
Zu den Hintergründen verweist das Bundesfinanzministerium
auf die schärferen Eigenkapitalvorschriften Solvency
II
, die ab dem kommenden Jahr gelten, mit denen die Versicherungsbranche
krisenfester gemacht werden soll. Danach müssen Versicherer für langfristige
Versprechen an Kunden wie den Garantiezins mehr Eigenmittel zurücklegen.

Interessant an dieser Stelle die zum Vorstoß der
Bundesregierung abweichende
Positionierung des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV)
:
„Zur Gewährleistung langlaufender Lebensversicherungsprodukte mit
Zinsgarantien, die nicht gegen Zinsänderungsrisiken abgesichert sind, ist auch
in Zukunft eine Vorgabe für den höchstzulässigen Rechnungszins nötig“, so Peter
Schwark, Mitglied der Hauptgeschäftsführung des GDV. Die Aussage überrascht,
denn sie steht dem Trend der Branche entgegen, stärker garantielose Policen
anzubieten. Auch die Versicherungsmathematiker der einflussreichen Deutschen Aktuarvereinigung machen sich für
eine Beibehaltung
der Vorgabe
bei klassischen Lebensversicherungsprodukten stark – allerdings
mit einem Veränderungsvorschlag zum heutigen System:

»In den ersten 15 Jahren soll der Höchstrechnungszins ein
fester Zinssatz sein, der sich am Kapitalmarkt orientiert; in der Zeit danach
ein vorsichtigerer Wert, der der langfristigen volkswirtschaftlichen Erwartung
mit einem Sicherheitsabschlag folgt und ebenfalls bereits anfänglich festgelegt
wird. So können auch weiterhin fest garantierte Zinsen in marktangemessener
Höhe die Basis für eine erfolgreiche Altersversorgung und eine ergänzende
Überschussbeteiligung sein.«

Über die Motive vor allem der GDV, für den einen oder
anderen überraschend gegen die geplante Streichung des Garantiezinssatzes zu
argumentieren, kann man natürlich nur spekulieren. Den meisten, gerade in
Deutschland extrem risikoaversen und sicherheitsorientierten Kunden sind
Garantiezusagen wichtig – und die Berücksichtigung dieses psychologischen
Moments wird wahrscheinlich hinter der Positionierung stehen, denn bei den
(potenziellen) Kunden kommt jetzt vor allem die für die Verkaufe der Produkte
unangenehme Botschaft an, da gibt es „nichts“ mehr zu holen.
Grundsätzlich wird es Versicherern auch künftig möglich
sein, Lebensversicherungen mit einer garantierten Verzinsung anzubieten, worauf
der GDV beispielsweise hinweist. Allerdings müssen sie dann zusehen, dass sie die
Eigenkapitalvorschriften, die sich aus Solvency II ergeben, erfüllen – und die
sind teuer. Nicht nur deshalb verabschieden sich immer mehr Versicherer schon
seit längerem – wie bereits angedeutet – von dem Produkt Lebensversicherung mit
Garantiezins. Stefan Kaiser hat seinen Artikel zu dieser Entwicklung so
überschrieben: Gut
für die Versicherer, schlecht für die Kunden
: »Die deutschen
Lebensversicherer bieten immer häufiger Policen ohne Garantiezins an. Das soll
die Renditechancen der Anleger erhöhen – nutzt aber vor allem den Anbietern.«
Die Allianz beispielsweise ist von sich selbst begeistert bzw. genauer von der neuen
garantiezinsfreien Police „Perspektive„.
Mittlerweile hat das Unternehmen noch vier weitere Produkte ohne garantierte
Verzinsung aufgelegt, die teilweise auch an die Entwicklung von Aktienindizes
geknüpft sind. Insgesamt machen solche Policen mittlerweile 63 Prozent des Neugeschäfts
mit Privatkunden aus, berichtet Stefan Kaiser in seinem Artikel. Zu kritisieren
ist vor allem die für den Kunden die Intransparenz der neuen Produkte, die noch
schlimmer ist als bereits bislang. Er wird mit heutigen Renditeversprechen
geködert und muss sich verlassen, dass das Unternehmen das auch realisieren
kann über einen jahrzehntelangen Zeitraum. Da muss man schon sehr viel
Gottvertrauen in Ergo & Co. haben. Stefan Kaiser dazu: »Tatsächlich haben
die neuen Produkte für die Versicherer den Vorteil, dass diese die genaue
Verzinsung für die Kunden erst am Ende festlegen müssen. Sie entscheiden dann
je nach Marktlage. Garantiert ist dem Kunden zum Beginn des Ruhestandes in der
Regel nur das eingezahlte Kapital – ohne jegliche Rendite.«
Strategisch gesehen geht es den Versicherungsunternehmen vor
allem um einen vollständigen Risikotransfer auf die Versicherten. Also für die
ist das natürlich ein schlechtes Geschäft, vor dem man sich vor allem mit Blick
auf die Nutzung für die Altersvorsorge hüten sollte.

Das ist eine Melodie, die von den beiden Journalisten Holger
Balodis und Dagmar Hühne seit langem immer wieder gespielt wird. Sie betreiben
eine eigene Website unter www.vorsorgeluege.de
und haben vor einigen Jahren das Buch Die
Vorsorgelüge. Wie Politik und private Rentenversicherungen uns in die
Altersarmut treiben
veröffentlicht und nun im September 2015 nachgelegt mit
einem neuen Buch unter dem derben Titel Garantiert
beschissen! Der legale Betrug mit den Lebensversicherungen
. Sie verweisen
auf drei Systemfehler, aus denen die Tatsache entspringt, dass für die meisten
Versicherten die ganze Angelegenheit ein Verlustgeschäft ist: a) Kostenklau, b)
Stornoklau, c) Lebenserwartungsklau. Damit legen sie tatsächlich den Finger auf
systematisch offene Wunden in diesem Bereich.
Nun könnte der eine oder andere einwenden mit Blick auf die
Lebensversicherungen und den Niedergang sowie die nun anstehende Beerdigung des
Garantiezinssatzes, dass das alles schlimm ist, aber „nur“ die Neufälle
tangieren wird und diejenigen, die schon vor Jahren abgeschlossen haben, sind
dann fein raus aus, weil sich ja bei ihnen nichts ändern wird. Auch hier aber
gießen zumindest die Verbraucherschützer eine Menge Wasser in den Wein. Der BdV
befürchtet
auch Nachteile für Altverträge: „Zwar sind die Garantien schon bestehender
Verträge ziemlich sicher, die neuen Maßnahmen der Bundesregierung werden aber
negativ auf die Überschüsse durchschlagen“, so Axel Kleinlein. Sinkende
Überschüsse könnten dann zu einer noch unrentableren Altersvorsorge führen.
Denn, so der BdV: Die Überschüsse in den Beständen der klassischen Tarife
dienten bisher als Verkaufsargument für den Vertrieb von Neuverträgen mit
Garantiezins. Das fällt jetzt in der neuen Welt weg.
Und wieder stehen wir skeptisch-enttäuscht vor der Szenerie
einer ja auch staatlicherseits seit langem geforderten und geförderten
stärkeren privaten Altersvorsorge. Bekanntlich wurde ein Teil der
Sicherungsfunktion der guten alten umlagefinanzierten Rentenversicherung auf
Kosten der vor allem den Versicherungsunternehmen dienenden Säule der privaten
Altersvorsorge abgebaut – ohne dass es wirklich und gerade bei denen, die
besonders darauf angewiesen wären, zu einer tatsächlichen Kompensation der
Ausfälle kommen wird. Würde es sich nur um Sahnehäubchen handeln, die im
schlimmsten Fall wegfallen, dann wäre die Lage anders zu bewerten. Wir sprechen
hier aber von der existenziellen Sicherungsfunktion eines
Alterssicherungssystems.

Aber auch wenn man – rein hypothetisch mal hier gedacht –
die Entwicklung vor allem seit der „Riester-Rentenreform“ der damaligen
rot-grünen Bundesregierung Anfang des neuen Jahrtausends rückgängig machen. Das
würde den vielen Selbstsändigen und darunter vor allem den vielen
soloselbständigen Kümmerexistenzen nicht helfen. Wieder einmal sehen wir die Mega-Aufgabe
eines Umbaus des Alterssicherungssystems, der alle ausweichen, auch die
derzeitige Große Koalition. Aber das wird uns einholen, das ist gewiss.

Die Rente könnte sicher sein, auch das Rentenniveau, wenn … Gestaltungsvorschläge angesichts der Baufälligkeit des „Drei-Säulen-Modells“ der Alterssicherung in Deutschland

Bekanntlich fällt es oftmals leichter, eine passgenaue und
ernüchternde Analyse sozialpolitischer Zusammenhänge vorzulegen, als
Lösungsvorschläge zu präsentieren oder wenigstens zur Diskussion zu stellen.
Dieser Aspekt wird manchem durch den Kopf gegangen sein bei der
Auseinandersetzung mit einer neuen Studie, die aufzeigen kann, dass das
„Drei-Säulen-System“ der Alterssicherung in Deutschland erhebliche Baumängel
aufweist: Ingo Schäfer zeigt in seiner Veröffentlichung Die
Illusion von der Lebensstandardsicherung. Eine Analyse der Leistungsfähigkeit
des „Drei-Säulen-Modells“
: „Auch wer heute über alle drei Wege spart, wird
nicht an das einstige Leistungsniveau der gesetzlichen Rente herankommen.“
Das Hauptproblem: Die Renten aus allen drei Säulen steigen nicht so stark wie
die Löhne und verlieren dadurch während des Bezugs massiv an Wert. Höchstens
zum Zeitpunkt des Renteneintritts kann eine idealtypische Umsetzung des
„Drei-Säulen-Modells“ wie von der Bundesregierung behauptet die
„Lebensstandardsicherung“, also das Verhältnis zwischen der Rente und
dem versicherten Einkommen (auch „Versorgungsniveau“ genannt),
zusagen – aber dann hört ja die Geschichte nicht auf und das Problem breitet sich
aus: Über die Jahre wird die Rente gemessen an den Löhnen erheblich an Wert
verlieren und das Verhältnis ständig schlechter, so Ingo Schäfer (vgl. hierzu
den Beitrag Die
Rente ist sicher. Immer weniger wert. Auch wenn man sich idealtypisch verhält
und alle drei Säulen bedient
vom 22.08.2015).

Aber was sollte und könnte
man tun, wenn man denn wollte? Dazu hat nun der Rentenexperte Johannes Steffen
eine interessante Veröffentlichung vorgelegt: Für
eine Rente mit Niveau. Zum Diskurs um das Niveau der Renten und das
Rentenniveau
, so hat er seine Ausarbeitung überschrieben. Darin findet man
nicht nur eine prägnante Zusammenfassung der rentenpolitischen Entwicklung vor
allem seit den „Rentenreformen“ der damaligen rot-grünen Bundesregierung Anfang
des Jahrtausends, sondern er zeigt Wege auf, die man gehen könnte, um das
Kardinalproblem des gesetzlichen Rentenversicherungssystems, also das sinkende
Rentenniveau, in den Griff zu bekommen. Seine besonders hervorzuhebende
Leistung besteht darin, dass die damals politisch beschlossene Absenkung des
allgemeinen Rentenniveaus, die seitdem gleichsam einen unantastbaren Charakter
zugeschrieben bekommen hat, nicht nur infrage gestellt, sondern auch eine
Umkehrung dieses rentenpolitischen Entwicklungspfades gefordert und mit
konkreten Schritten versehen wird.


»Zu Beginn des Jahrhunderts beschloss die rot-grüne
Bundesregierung eine drastische Absenkung des Rentenniveaus. Bis Anfang der
2030er Jahre wird der allgemeine Leistungsstandard der gesetzlichen Rente
demnach um rund 20 Prozent sinken. Staatlich geförderte betriebliche
Altersversorgung sowie private Altersvorsorge sollen die im Solidarsystem politisch
aufgerissene Sicherungslücke schließen.« Genau das ist nicht erreicht worden,
wie auch die Studie von Ingo Schäfer hat aufzeigen können.

Johannes Steffen weist dann auf einen systematischen, in der
allgemeinen Renten-Diskussion allerdings grob vernachlässigten Zusammenhang
hin:
In der Rentenpolitik gewinnen klientelgeleiteter Aktionismus
– dies gilt für große Teile des 
„Rentenpakets“ aus dem Jahr 2014 – und Placebo-Projekte die Oberhand, so
die in der vergangenen Wahlperiode gescheiterte und nun im Koalitionsvertrag
wieder aufgewärmte und mit dem Adjektiv „solidarisch“ drapierte  „Lebensleistungsrente“. Dazu Steffen: »Maßnahmen,
die immer auch als Ablenkungsmanöver vom derweil ungebremst weiter sinkenden
Rentenniveau politisch in Szene gesetzt werden – und Maßnahmen, die zwar das
Niveau der von ihnen begünstigten Renten anheben, die aber unter der geltenden
Anpassungsformel gleichzeitig zu einer Forcierung der Niveauabsenkung für alle
Renten beitragen.«

Das ist der entscheidende und leider sehr schmerzhafte
Punkt: Leistungsverbesserung für einige führen in der Gesamtheit aufgrund der
Mechanik der Rentenanpassungsformel dazu, dass das Kollektiv mit einer
Verschärfung der Rentenniveauabsenkung für alle konfrontiert wird, weil man
eben nicht an die Mechanik der Formel herangegangen ist.

Wie konnte es zu der gewaltigen Rentenniveauabsenkung
überhaupt kommen? Steffen verweist hier auf den fundamentalen Paradigmenwechsel
in der Rentenpolitik Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahre und meint:

»Den Wechsel von einer am Leistungsziel orientierten
Einnahmepolitik (das Sicherungsziel
bestimmt die Beitragssatzhöhe
) hin zu einer am Beitragssatz orientierten
Ausgabenpolitik (die Beitragssatzhöhe
bestimmt das Sicherungsziel
).«

Zur Legitimation wurde damals zum einen auf die
demografische Entwicklung verwiesen sowie zum anderen aus der
„Standort“-Debatte der 1990er Jahre auf die angeblich nicht mehr stemmbaren
„Lohnnebenkosten“ für die Arbeitgeber aufgrund der steigenden Beitragssätze.
Hinzu kam damals »eine auf geradezu kindlichem Glauben an die unerschöpfliche
„Ergiebigkeit“ der kapitalmarktabhängigen Altersvorsorge gründende Lobpreisung
des Kapitaldeckungsverfahrens«, das dann in Form der „Riester-Rente“ in das
Alterssicherungssystem als weitere staatlich geförderte Säule eingezogen wurde.

Eine zentrale Folge des angesprochenen Paradigmenwechsels
hin zu einer am Beitragsziel orientierten Ausgabenpolitik: Der Beitragssatzanstieg
zur allgemeinen Rentenversicherung wurde faktisch auf maximal 20 Prozent bis
zum Jahr 2020 und maximal 22 Prozent bis zum Jahr 2030 gedeckelt. Und diese
Deckelung hatte Konsequenzen, denn auf der Ausgabenseite musste es nun
Ausgabenkürzungen geben – und diese nicht einmalig, sondern systematisch. Und
diese Systematik hat man realisiert über eine neue Rentenanpassungsformel, über
die dann die drastische Senkung des Rentenniveaus um rund ein Fünftel bis zu
Beginn der 2030er Jahre modelliert worden ist.
Nun ist es mittlerweile immer stärker bewusst geworden, dass
die Absenkung des Rentenniveaus im Zusammenspiel mit unterdurchschnittlichen
Einkommen (man denke hier an die vielen Niedriglöhner) und unvollständigen
Erwerbsbiografien aufgrund von Arbeitslosigkeit oder durch andere Gründe
bedingte Ausstiege aus der Beitragszahlung aus Erwerbsarbeit dazu führen muss,
dass es für bestimmte Personengruppen erhebliche Sicherungslücken im Alter
geben wird, die dazu führen werden, dass die Betroffenen auf ergänzende Leistungen
aus dem Grundsicherungssystem für Ältere angewiesen sind bzw. mit steigender
Tendenz sein werden. Darauf hat die Politik zu reagieren versucht, allerdings
wenig systematisch, wie Steffen argumentiert:

»So konzentrieren sich die wenig systematischen Ansätze von
CDU/CSU, SPD und GRÜNEN denn auch in der Hauptsache auf Maßnahmen und/oder
Instrumente, die eine Erhöhung von Anwartschaften im Einzelfall – Summe der
(persönlichen) Entgeltpunkte – zum Ergebnis haben (Anhebung des Niveaus der
Renten). Dieser Ansatz war schon für das zunächst gescheiterte Konzept der
sogenannten Lebensleistungsrente aus der vergangenen Wahlperiode kennzeichnend
und es findet seinen Niederschlag auch in dem von der großen Koalition für die
laufende Legislaturperiode angekündigten Vorhaben einer  „solidarischen Lebensleistungsrente“. So
sollen langjährig Versicherte mit 35 (bis 2023) bzw. 40 Versicherungsjahren und
nach Einkommensprüfung eine Aufwertung ihrer Pflichtbeitragszeiten erfahren,
sofern sie ansonsten – und bei (ab 2024) kontinuierlich betriebener privater
Vorsorge – im Alter auf weniger als 30 Entgeltpunkte kommen. Wird dieses Ziel
im Einzelfall verfehlt, so soll bei vorliegender sozialhilferechtlicher
Bedürftigkeit ein weiterer Zuschlag bis zu einer Gesamtsumme von 30
Entgeltpunkten gewährt werden. – Ähnlich der Ansatz der GRÜNEN in ihrem Konzept
einer Garantierente, die Versicherten bei Vorliegen von 30 und mehr
Versicherungsjahren mindestens 30 Entgeltpunkte garantieren soll.«

Beide Vorstöße kommen lobenswert daher, geht es doch darum,
den Bezug von bedürftigkeitsabhängigen Grundsicherungsleistungen nach
langjähriger Zugehörigkeit zum Pflichtversicherungssystem zu verhindern bzw. zu
reduzieren. Wer kann schon etwas dagegen haben? Aber:

»All diese Maßnahmen führen zweifelsohne zu einer
Verbesserung des Niveaus der Renten. Eine Wirkung, die im Übrigen allen
Maßnahmen zukommt, die die Guthaben auf den Versichertenkonten erhöhen. Vom
Niveau der (einzelnen) Renten streng zu unterscheiden ist das Rentenniveau und
dessen Entwicklung.«

Anders ausgedrückt: Die eine gut gemeinte Maßnahme wird
zumindest teilweise sofort wieder kompensiert durch die negativen Wirkungen,
die sich aus einer anderen Mechanik im Rentensystem ergeben, denn beim »Rentenniveau
… geht es nicht um den Umfang der Anwartschaften, also die Summe der
(persönlichen) Entgeltpunkte, sondern um deren Wert oder Bewertung.
Ausschlaggebend für den Wert der Anwartschaften ist die Höhe des aktuellen
Rentenwerts (AR). Infolge der politisch vorgegebenen Abkoppelung der Renten von
der Lohnentwicklung verlieren die Rentenanwartschaften (Entgeltpunkte) aber
kontinuierlich an Wert – immer verglichen mit dem jeweiligen Stand der Löhne.
Dieser Prozess der Entwertung von Anwartschaften wird von keiner der
aufgeführten Maßnahmen verzögert und erst recht nicht gestoppt; auch die
genannten Leistungsverbesserungen selbst sind daher von der Rentenniveausenkung
betroffen und verlieren im Laufe der Zeit kontinuierlich an Wert.«

Das alles wäre schon schlimm genug, aber es gibt noch einen
zweiten Hammer zu berücksichtigen:

»Im Zusammenhang mit der geltenden Anpassungsformel führen
sämtliche Leistungsverbesserungen ihrerseits zu einer Beschleunigung des
Wertverlustes der bereits berenteten wie auch aller noch nicht berenteten,
selbst der in Zukunft erst noch zu erwerbenden Anwartschaften.«

Es ist ein bitterer Zusammenhang, den Steffen aufzeigen
muss:

»Ein steigendes Niveau einzelner Renten führt unter der
geltenden Anpassungsformel zwingend zu einer (zusätzlichen) Verminderung des
Rentenniveaus für alle. Daher würden auch jene Maßnahmen, die der
Rentenversicherung derzeit beispielsweise zur Vermeidung steigender Altersarmut
politisch angedient werden, mit einer Dämpfung der Rentenanpassung und damit
einer zusätzlichen Senkung des Rentenniveaus für alle erkauft.«

Im weiteren Verlauf seiner Ausarbeitung belegt er diesen
allgemeinen Aspekt detailliert.
Bleibt die Frage: Was tun? Steffen plädiert für einen
rentenpolitischen „Reset“. Gemeint ist damit: Anhebung des Rentenniveaus auf
den Status quo ante. Es geht ihm also um eine sozialpolitische Rückbesinnung
auf die lebensstandardsichernde gesetzliche Rente.

Die Zielvorgabe eines lebensstandardsichernden Rentenniveaus
und dessen Stabilisierung im Zeitablauf erfordert eine neue
Rentenanpassungsformel. Hierbei sind unterschiedliche Wege möglich, je nachdem,
ob die Zielvorgabe Ausgangs- oder Endpunkt des Verfahrens ist (vgl. dazu
ausführlicher Steffen 2015: 22 ff.). Er präsentiert uns zwei Modifikationen der
Rentenanpassungsformel, mit denen man den einen Weg – „Die Renten folgen den
Löhnen“ – wie auch den anderen Weg – „das Leistungsziel dient als Vorgabe für
die Anpassungshöhe“ – beschreiten könnte.

Könnte, wenn man denn wollte.

Einige Solo-Selbständige in Deutschland proben den Aufstand gegen die Rentenversicherung und andere möchten gerne rein

Also früher war die Welt irgendwie noch einfacher – jedenfalls aus der heutigen Perspektive, die natürlich immer auch eine verzerrte sein muss. Da gab es die große Masse der abhängig Beschäftigten, in Arbeiter und Angestellte sortiert und auf der anderen Seite der Medaille die Selbständigen. Bei den Selbständigen hatte man zum einen die vielen kleinen Kümmerexistenzen, die mit ihrem Laden mehr schlecht als recht über die Runden gekommen sind. Zum anderen die „normalen“ Selbständigen, die ein Unternehmen betrieben, in dem wiederum andere Menschen eine abhängige Beschäftigung gefunden haben. Und weil man normalerweise davon ausgehen konnte, dass so ein Selbständiger – von manchen politischen Kräften auch Kapitalist genannt – genügend Einkommen aus der Verwertung der Arbeitskraft seiner Arbeiter und Angestellten ziehen konnte, wurde unterstellt, dass hier keine „soziale Schutzbedürftigkeit“ gegeben sei, die eine Einbeziehung in die gesetzliche Sozialversicherung, die ja eine Arbeitnehmerversicherung ist, begründen könnte. Also hat man folgerichtig argumentiert, dass diese Selbständigen alleine in der Lage sind, für ihre Absicherung im Krankheitsfall zu sorgen und für eine eigene Alterssicherung beispielsweise in Form einer Lebensversicherung oder anderer Modelle vorzusorgen.

Es gab dann im Laufe der Zeit eine gewisse notwendige „Übergriffigkeit“ seitens der Sozialpolitik, die auch selbständige Existenzen wie Handwerker unter bestimmten Bedingungen unter das weite Dach der sozialen Sicherung zog, weil man hier eine offensichtliche „Schutzbedürftigkeit“ erkannt hat. Aber die meisten Selbständigen blieben weiter außerhalb des Systems und auf eigene Strategien der Absicherung angewiesen, was sie natürlich auch von einer entsprechenden Beitragszahlung befreit hat.

Nun gibt es seit vielen Jahren einen Trend, der quer zu der klassischen Vorstellung von einem Selbständigen mit einem Unternehmen und mehreren Beschäftigten liegt – gemeint ist der Trend hin zu den Solo-Selbständige, also Selbständige, die nur über sich selbst verfügen und keine weiteren Mitarbeiter beschäftigen. Und da gibt es – wie immer im Leben – echte Erfolgsgeschichten, aber auch viel Schatten.

So veröffentlichte das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin 2013 einen Beitrag von Karl Brenke unter der Überschrift Allein tätige Selbständige: starkes Beschäftigungswachstum, oft nur geringe Einkommen:

»In den vergangenen beiden Jahrzehnten ist die Zahl der Selbständigen in Deutschland kräftig gestiegen. Dies ist fast ausschließlich auf die Entwicklung bei allein tätigen Selbständigen (Solo-Selbständigen) zurückzuführen. Besonders stark hat sich dabei die Zahl selbständiger Frauen erhöht. Auch wenn ein Teil der Solo-Selbständigen hohe Einkünfte erzielt, liegt das mittlere Einkommen dieser Erwerbstätigengruppe unter dem der Arbeitnehmer. Viele kommen über Einkünfte, wie sie Arbeitnehmer im Niedriglohnsektor beziehen, nicht hinaus. Der Anteil der Geringverdiener unter den Solo-Selbständigen ist zwar seit Mitte der letzten Dekade gesunken, er liegt aber immer noch bei knapp einem Drittel oder etwa 800 000 Personen.«

Schon hier gibt es Hinweise, dass für einen Teil dieser überaus heterogenen Gruppe der Solo-Selbständigen eine offensichtliche Schutzbedürftigkeit konstatiert werden muss, die dann nicht annähernd adäquat bearbeitet wird, wenn man sie zusammenwürfelt mit den anderen, die es auch gibt und die gut leben (und vorsorgen) können von ihrer Selbständigkeit. Das Problem ist eben die doch sehr große Streuung zwischen oben und unten (vgl. dazu auch den Beitrag Diesseits und jenseits der Kümmerexistenz. Arme und reiche (Solo)Selbständige, die vielen dazwischen und die Frage, was sich denn wie lohnt vom 11. Februar 2015).

Die Frage der individuellen Schutzbedürftigkeit einer selbständigen Existenz ist das eine. Das vermischt sich aber mit einem weiteren Problem, das unter dem Begriff der „Scheinselbständigkeit“ bekannt und kritisch diskutiert wird. Dahinter verbirgt sich ein recht einfaches Grundproblem: Wenn die gesamte Architektur des Systems der sozialen Sicherung in Form der verpflichtenden Sozialversicherung am Tatbestand der abhängigen Beschäftigung aufgehängt wird, mit den daraus resultierenden Abgabenfolgen für die Arbeitgeber (neben den weiteren Pflichten, die aus einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis resultieren, wie beispielsweise Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Kündigungsschutzbestimmungen usw.), dann leuchtet es unmittelbar ein, dass aus der Tatsache, dass Selbständige auf eigenes Risiko arbeiten (müssen) und keine solche Bindungswirkung beim Arbeitgeber entfalten, da sie immer nur als Auftragnehmer tätig sind und sein können, die auf Rechnung arbeiten (müssen), ein gewisser Anreiz entsteht, bisher von eigenen Mitarbeitern durchgeführte Arbeiten zu substituieren durch selbständige Auftragnehmer.

Ein klassisches Beispiel aus der Vergangenheit waren dann solche Fälle wie die aus der Unternehmens-Logistik, wo bislang angestellte Fahrer von Lastkraftwagen „outgesourct“ wurden und sich selbständig machen „durften“, in dem sie den LKW gekauft und als selbstständige Fahrer betrieben haben – und dann das gleiche gemacht haben wir vorher, allerdings in einem ganz anderen Beschäftigungsstatus und für die Auftraggeber zu deutlich besseren Konditionen, hat man sich doch der „Last“ der eigenen Beschäftigten entledigt. Zugleich waren alle unternehmerischen Risiken ausgelagert auf den Solo-Selbständigen und oftmals befand sich dieser in der überaus unangenehmen Situation, dass er nur einen Auftraggeber hatte bzw. hat, den solche Fälle gibt es auch heute, so dass er diesem Auftraggeber natürlich auch bedingungslos ausgeliefert war und ist.

Der Gesetzgeber hat versucht, diese höchst problematische Entwicklung einzudämmen, in dem er den Tatbestand der „Scheinselbständigkeit“ mit für den Auftraggeber empfindlichen Sanktionen belegt hat – also eigentlich. Denn wie immer tobt sich der Teufel aus im Detail und das ist hier die Frage, wann denn der Tatbestand der „Scheinselbständigkeit“ erfüllt ist, aus der dann beispielsweise die teure Folge einer Nachzahlung vorenthaltener Sozialversicherungsbeiträge resultieren kann.
Dazu schauen wir bei der Deutschen Rentenversicherung (DRV) nach, die versucht, uns das zu erläutern, denn die prüft ja auch in der Praxis, ob eine Scheinselbständigkeit vorliegt oder nicht. Als Merkmale für eine Scheinselbstständigkeit werden uns diese Kriterien serviert:

– die uneingeschränkte Verpflichtung, allen Weisungen des Auftraggebers Folge zu leisten
– die Verpflichtung, bestimmte Arbeitszeiten einzuhalten
– die Verpflichtung, dem Auftraggeber regelmäßig in kurzen Abständen detaillierte Berichte zukommen zu lassen
– die Verpflichtung, in den Räumen des Auftraggebers oder an von ihm bestimmten Orten zu arbeiten
– die Verpflichtung, bestimmte Hard- und Software zu benutzen, sofern damit insbesondere Kontrollmöglichkeiten des Auftraggebers verbunden sind,

denn, so die DRV, derartige »Verpflichtungen eröffnen dem Auftraggeber Steuerungs- und Kontrollmöglichkeiten, denen sich ein echter Selbstständiger nicht unterwerfen muss.«

Diese Kriterien hören sich klarer an als sie erscheinen. Und genau hier setzt eine aktuelle Protestbewegung an, die sich gegen eine Subsumtion unter einer derart verstandene „Schein“-Selbständigkeit wehrt, denn man sieht sich auch bei Erfüllung einiger dieser Kriterien dennoch als selbständig bzw. als freiberuflich tätig an.

Und wie immer in Deutschland gibt es einen eigenen Verband für diese Angelegenheiten: Der Verband der Gründer und Selbstständigen (VGSD). Und dieser Verband hat eine Petition ins Leben gerufen, die mittlerweile von mehr als 10.000 Personen unterzeichnet worden ist. Über diese Petition

»fordert (der Verband) einen „Schluss der Hexenjagd“ der Deutschen Rentenversicherung gegen vermeintlich „Scheinselbstständige“. „Auch wer fair bezahlt wird und gut fürs Alter vorsorgt, dem unterstellt die Deutsche Rentenversicherung (DRV) mittlerweile Scheinselbstständigkeit“, so Verbandsgründer Andreas Lutz, Diplom-Kaufmann und Solo-Selbstständiger in München. Der Verband fordert „klare Kriterien“ für Selbstständigkeit, die sich auch an den Arbeitsbedingungen seiner Klientel, vor allem Wissensarbeitern, orientieren müssten«, berichtet Barbara Dribbusch in ihrem Artikel Solisten gegen die Sozialgesetze.

Das Problem sind die zitierten Kriterien, die für eine Schein-Selbständigkeit sprechen (sollen). »Viele selbstständige Softwareentwickler, Coaches und Datenkaufleute, die für ein bestimmtes Projekt und einen bestimmten Zeitraum von einer Firma eingekauft werden, erfüllen diese Kriterien, ohne sich allerdings als „Scheinselbstständige“ brandmarken lassen zu wollen.« Dribbusch zitiert in ihrem Artikel als Beispiel den selbständigen IT-Berater Alexander Kriegisch.

Er »arbeitet als Projektmanagement-Coach in Firmen vor Ort, sein Tageshonorar liegt bei 1.000 Euro und höher. Als er mit vielen anderen Freiberuflern an einem Auftrag der Telekom arbeitete, ließ das Bonner Unternehmen die Auftragsverhältnisse durch Juristen prüfen – und kam zu dem Schluss, dass die Selbstständigen in den Augen der Deutschen Rentenversicherung als „Scheinselbstständige“ gelten könnten, was hohe Nachzahlungen von Sozialversicherungsbeiträgen nach sich gezogen hätte.
In der Folge verloren einige der Leute den Auftrag, andere wiederum mussten sich über eine Zeitarbeitsfirma zu schlechteren Konditionen anstellen lassen, um dann wieder für die Telekom arbeiten zu können. Kriegisch verließ das Projekt. „Ich wollte kein Scheinangestellter sein“, sagt er.«

Aber es ist nicht nur die IT-Branche, aus der diese Probleme berichtet werden. Selbst in der Pflege wird man damit konfrontiert, wie Barbara Dribbusch an einem Beispiel berichtet:

»Auch Marten Wiersma, Krankenpfleger mit Intensivpflegeausbildung und 61 Jahre alt, möchte lieber als Freiberufler in Kliniken eingesetzt werden und nicht festangestellt sein, erst recht nicht bei einer Zeitarbeitsfirma. Als Freiberufler käme er auf 8.000 Euro Bruttohonorar im Monat, als Angestellter einer Zeitarbeitsfirma hingegen nur auf 4.000 Euro brutto, berichtet Wiersma.
Der Krankenpfleger arbeitete unter anderem auch an einer Klinik in Duisburg als Selbstständiger. In einer Betriebsprüfung wurde dort Scheinselbstständigkeit festgestellt, die Klinik trennte sich von den Leuten. Es sei daraufhin schwieriger geworden, als Freiberufler zu arbeiten, erzählt Wiersma.«

Aber wo die Sonne ist (oder angeblich scheint), da gibt es auch Schatten: »Im schlecht zahlenden Kulturbereich etwa arbeiten viele selbstständige Publizisten, Lektoren und Musiktherapeuten auf Honorarbasis und sehnen eine Festanstellung mit Kündigungsschutz und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall herbei – während die Situation der hochbezahlten Spezialisten im wirtschaftsnahen IT-Bereich ganz anders ist.«

Oder man denke – gerade vor dem aktuellen und absehbar anhaltenden Hintergrund der massiven Zuwanderung von Flüchtlingen nach Deutschland – an die Situation der ebenfalls meistens als selbständige Existenzen arbeitenden Lehrkräfte für Integrations- und Sprachkurse, die mit Hungerhonoraren abgegolten werden.

Das Thema bewegt die Politik mal wieder. Thomas Öchsner berichtet in seinem Artikel Rente für alle über aktuelle Vorstöße des Sozialflügels der CDU: »Die Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft Deutschlands (CDA) will eine Pflicht zur betrieblichen Altersvorsorge einführen. Dies geht aus dem Entwurf der CDA für ihr neues Grundsatzprogramm hervor, das die Parteigruppe im November bei ihrer Bundestagung verabschieden will.« Und die CDA bleibt nicht stehen beim Thema betriebliche Altersvorsorge, sondern erweitert das:

»Für Selbständige will der Arbeitnehmerflügel der CDU daher eine „verpflichtende Basisabsicherung“ in der Rentenversicherung einführen, „damit niemand im Alter der Grundsicherung und damit dem Steuerzahler anheimfällt“. Die frühere Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen war mit ähnlichen Plänen gescheitert. Damals gab es einen Proteststurm von Selbständigen, die sich gegen ein solche „Zwangsabsicherung“ wehrten.«

Das ist das Dilemma: Die Freiberufler und Solo-Selbständigen, die genügend verdienen, können sich tatsächlich selbst absichern und viele tun das natürlich auch. Aber die Hungerleider unter diesem Dach können das gar nicht, auch wenn sie es wollten. Und wenn man jetzt eine Zwangsabsicherung für die angesprochene Basisabsicherung in der Rentenversicherung einführen würde, dann bedeutet das natürlich: Beitragszahlung. Aber genau auf den Verzicht auf eine solche basiert das heutige Geschäftsmodell vieler armer Schlucker, die als Solo-Selbständige versuchen, den Kopf über dem Wasser zu halten. Denn nur dann können sie Aufträge und damit Einnahmen generieren, von denen sie die laufenden Ausgaben halbwegs bestreiten können – aber eben nicht die zusätzlichen Ausgaben, die mit einer entsprechenden Absicherung, ob sie nun privat oder eben gesetzlich erfolgt, verbunden wären. Also werden die aus purer Not Amok laufen müssen, während die anderen, auf der Sonnenseite der Selbständigkeit befindlichen Personen ebenfalls Sturm laufen, weil es ihre persönlichen Einnahmen belasten würde.

Wie erwähnt, bereits Ursula von der Leyen (CDU) ist als Arbeitsministerin an dieser Frage gescheitert. Wir dürfen mit Interesse verfolgen, ob die durch Mindestlohn und Rentenpaket schon reichlich angeschossene gegenwärtige Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) noch Kraft und Ideen haben wird, diesen gordischen Knoten zu durchschlagen. Wetten würde ich darauf nicht, obgleich der Klärungsbedarf mehr als auf der Hand liegt.

Diesseits und jenseits der Kümmerexistenz. Arme und reiche (Solo)Selbständige, die vielen dazwischen und die Frage, was sich denn wie lohnt

Es ist ja zu einer gewissen Unsitte geworden, dass man Studien vor ihrer allgemeinen Veröffentlichung exklusiv irgendeinem Medium zur Verfügung stellt, das sich dann hoffentlich bedankt mit einer entsprechend prominent platzierten Berichterstattung, an die man ansonsten vielleicht nicht gekommen wäre. Das kann Sinn machen, kann aber auch zuweilen zu einem Ergebnis führen, das man so nicht haben wollte. Weil Berichterstattung kann nur sehr selektiv sein, muss verkürzen und zuweilen greift man nur einen und dann noch nicht einmal den für die Studienverfasser wichtigsten Aspekt heraus, weil der gerade gut in die Landschaft passt. Diese Tage kann man dieses allgemeine Muster wieder einmal exemplarisch studieren am Beispiel einer neuen Studie des DIW Berlin zur Selbständigkeit in Deutschland. So berichtete Philip Plickert in der FAZ unter der Überschrift Selbständig – aber oft arm über eine der Zeitung vorliegende „neue, noch unveröffentlichte Studie“ des DIW. »Der Sprung in die Selbständigkeit ist mit Risiken verbunden. Und es winken noch nicht einmal immer gute Einkommen. Fast jeder fünfte Selbständige ohne Mitarbeiter verdient je Stunde weniger als das Mindestlohnniveau«, kann man da lesen. Und der DIW-Forschungsdirektor Alexander Kritiklos wird in dem Artikel zitiert mit den Worten, dass die Zahl der „Kümmerexistenzen“ höher sei als er erwartet hätte. Um das zu untermauern, werden auch Zahlen geliefert: „18 Prozent der Solo-Selbständigen in Deutschland, das sind etwa 400.000, verdienen weniger als 5 Euro netto je Stunde und haben damit weniger als den aktuellen Bruttomindestlohn“, so Kritikos. Unter den abhängig Beschäftigten lag nur jeder Zehnte unter 5 Euro Nettolohn. Nur einen Tag nach der Veröffentlichung geht das DIW dann mit dieser Pressemitteilung an die Öffentlichkeit: Selbständigkeit lohnt sich doch. Schon die Überschrift deutet an, dass hier wohl „korrigierend“ auf die Berichterstattung im Vorfeld der Veröffentlichung der angesprochenen Studie reagiert werden soll.

Das kann man auch der Formulierung gleich am Anfang der Pressemitteilung entnehmen:

Der Schritt in die Selbständigkeit lohnt sich finanziell für viele, denn auch Solo-Selbständige verdienen nicht generell weniger als vergleichbare Angestellte … Alexander Kritikos, einer der Autoren der Studie und Forschungsdirektor am DIW Berlin, widerspricht damit einem weit verbreiteten Vorurteil, viele Selbständige würden ein Kümmerdasein fristen. Selbständige mit Mitarbeitern erzielen mit großer Wahrscheinlichkeit ein höheres Einkommen als Angestellte. „Aber auch Solo-Selbständige“ – so Kritikos – „stellen sich finanziell nicht selten besser als Angestellte, insbesondere wenn sie sich am oberen Ende der Einkommensverteilung befinden oder wenn sie über ein Abitur, aber keine weitere berufliche Ausbildung verfügen.“

Unabhängig von diesen medialen Manövern kann man nun auch einen direkten Blick in die zitierte Studie des DIW werfen, denn sie wurde zwischenzeitlich allen zugänglich gemacht:

Michael Fritsch, Alexander S. Kritikos und Alina Sorgner: Verdienen Selbständige tatsächlich weniger als Angestellte? In: DIW Wochenbericht Nr. 7/2015, S. 134 ff.

Zur Datenbasis der Studie eine wichtige Hintergrundinformation: Die Wissenschaftler haben die Daten des Mikrozensus 2009 ausgewertet, die den Forschern zufolge in ihrer Verteilungsstruktur im Wesentlichen auch heute so gültig seien. Was man gesondert diskutieren könnte.

Insgesamt gibt es in Deutschland 4,2 Millionen Selbständige, davon 2,3 Millionen Solo-Selbständige und 1,9 Millionen mit Angestellten. Und das die Gruppe der Selbständigen sehr heterogen ist, wird niemanden überraschen, der sich die unterschiedlichen Typen von Selbständigen vor Augen führt: Das reicht dann von kleinen Ladenbesitzern, Kiosk- und Kneipenbetreibern oder Dienstleistern über Handwerkermeister oder Angehörige der Freien Berufe bis hin zu den „klassischen“ großen Unternehmern. Entsprechend breit muss auch die Streuung der Einkommen sein. »Die relativ starke Streuung der Einkommen von Selbständigen weist darauf hin, dass unternehmerische Selbständigkeit mit hohen Einkommens- chancen, aber auch mit hohen Einkommensrisiken behaftet ist.« Diese Schlussfolgerung erscheint zwingend und ist nicht wirklich überraschend. Wir sind konfrontiert mit sehr hohen Einkünfte einer Minderheit der Selbständigen und einer kaum vorhandene „Unternehmer- rendite“ für viele andere Selbständige.

Hinsichtlich der Einkommensverteilung bei den Selbständigen (und deren Vergleich zu den abhängig Beschäftigten) kommen die DIW-Wissenschaftler zu folgenden Erkenntnissen:

»Während Selbständige am unteren Ende der Einkommensverteilung sehr geringe Einkommen in Kauf nehmen müssen, übersteigen die Werte am oberen Ende der Einkommensverteilung die Werte für die abhängig Beschäftigten bei weitem. Ein Beispiel: Rund 18 Prozent (etwa 400 000) der Solo-Selbständigen, aber auch etwa zehn Prozent (185 000) der Selbständigen mit weiteren Beschäftigten verdienten im Jahr 2009 weniger als fünf Euro netto pro Stunde. Allerdings mussten sich auch zehn Prozent aller abhängig Beschäftigten (rund 3,65 Millionen) mit weniger als fünf Euro netto pro Stunde zufrieden geben … (Nach den Nettoeinkommensdaten) ist die Streuung für Selbständige um mehr als das Dreifache höher als für abhängig Beschäftigte … So verdienen die untersten zehn Prozent der Selbständigen mit Beschäftigten (das zehnte Perzentil) pro Stunde weniger als die untersten zehn Prozent der abhängig Beschäftigten … mehr als 40 Prozent aller Solo-Selbständigen realisieren ein höheres Einkommen als abhängig Beschäftigte, allerdings nur in den höheren Einkommenskategorien … Der Median-Selbständige mit weiteren Beschäftigten verdient pro Stunde 22 Prozent mehr als ein vergleichbarer abhängig Beschäftigter. Der Median-Solo-Selbständige verdient hingegen sechs Prozent weniger.«

In ihrem Fazit kommen die Wissenschaftler zu dem Ergebnis, dass die »Analyse verdeutlicht, dass es keinen Grund gibt, insbesondere die Solo-Selbständigkeit grundsätzlich in ein schlechtes Licht zu stellen. Im Gegenteil: Bei Solo-Selbständigen ist die Streuung der Einkommen besonders hoch, sie erwirtschaften also sowohl sehr niedrige als auch überproportional hohe Einkommen.«

Soweit einige zentrale Befunde aus der DIW-Studie. Ganz offensichtlich möchte man vermeiden – so ist die Pressemitteilung des Instituts zu lesen -, dass es eine Fokussierung auf den unteren Rand vor allem der Solo-Selbständigkeit gibt, deshalb die fast schon allergisch daherkommende Reaktion auf den dann auch noch von der FAZ aufgegriffene Begriff von den „Kümmerexistenzen“. Dies muss sicher auch im Kontext der vielen Bemühungen gesehen werden, Existenzgründungen in die Selbständigkeit hinein zu befördern.

Aber genau hier sind eben auch eine nicht wegzudiskutierende sozialpolitische Relevanz und zugleich ein weitgehend ungelöstes sozialpolitisches Problem zu verorten: Denn viele der nun mal auch tatsächlich vorhandenen Solo-Selbständigen, die schon derzeit kaum oder gar nicht über die Runden kommen, induzieren reale sozialpolitische Leistungen in der Gegenwart bzw. und vor allem mit Blick auf die Zukunft erhebliche Sicherungslücken, vor allem im Bereich der Alterssicherung.

Ein Teil der auch in der DIW-Studie beschriebenen Solo-Selbständigen mit den sehr niedrigen Einkommen findet man wieder im Grundsicherungssystem (SGB II) und hier als Aufstocker. Die Abbildung mit der Entwicklung der Zahl der selbständigen Aufstocker verdeutlicht, dass es seit einigen Jahren eine erkennbare Konstanz gibt, was die Zahl der Betroffenen angeht. Die unvollständige Existenzsicherung dieser „Kümmerexistenzen“ wird also über Steuermittel gewährleistet. Und Steuermittel werden auch bei vielen Solo-Selbständigen spätestens im Alter fällig werden, denn sie zeichnen sich aus durch oftmals nur rudimentär oder gar nicht vorhandene Altersvorsorge – woher auch, wenn sie mit den laufenden Einkommen schon gegenwärtig nicht oder gerade so über die Runden kommen. Hier wird in aller Deutlichkeit und Konsequenz ein nur historisch zu verstehendes Sicherungsdilemma erkennbar, denn die weitreichende Herausnahme „der“ Selbständigen aus der gesetzlichen Rentenversicherung war ein gleichsam ständisches Abbild der Gesellschaft in der Vergangenheit, in der man tatsächlich oftmals davon ausgehen konnte, dass der Selbständige über andere, private Formen der Altersvorsorge selbst in der Lage war, sich gegen die mit dem Alter verbundenen Einkommensrisiken abzusichern. Das ist aber bei vielen Solo-Selbständigen im unteren und mittleren Einkommensbereich heute schlichtweg eine Illusion und wird nicht funktionieren können. Im Ergebnis wird das dann dazu führen, dass die Betroffenen im Alter auf Leistungen aus der Grundsicherung für Ältere angewiesen sein werden.

Das Problem ist schon lange bekannt. Und sogar Versuche des Gegensteuerns hat es gegeben, die allerdings schnell wieder beerdigt worden sind. Man erinnere sich an dieser Stelle nur an die blutige Nase, die sich die damalige Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU), geholt hat, als sie in der letzten Legislaturperiode davon gesprochen hat, dass es die „Notwendigkeit einer Pflichtvorsorge“ geben würde, die man gegenüber den Selbständigen durchsetzen müsse, da das Risiko der Altersarmut nicht auf die Gesellschaft abgewälzt werden dürfe. Der im Frühjahr 2012 von ihr in die Diskussion eingebrachte geplante Zwang zur Alterssicherung wurde bereits wenige Monate später sang- und klanglos beerdigt (vg. hierzu beispielsweise schon im August 2012 Zwangsrente für Selbständige steht vor dem Aus).

Aber nur, weil man den Kopf in den Sand steckt angesichts der Widerstände und der auch vielen tatsächlichen technischen Schwierigkeiten – das Problem verschwindet ja deshalb nicht einfach von der Tagesordnung, wenn man darüber nicht mehr nachdenkt und nach Lösungen sucht.