Pflege-TÜV: Die Pflegenoten werden abgeschafft. Gut. Und jetzt?

Es war tatsächlich kein Aprilscherz, als der Pflegebevollmächtigten der Bundesregierung, Staatssekretär Karl-Josef Laumann, am 1. April mitteilen ließ: »Die Pflegenoten werden durch eine gesetzliche Regelung zum 1. Januar 2016 ausgesetzt, da sie keinen echten Qualitätsvergleich zwischen Einrichtungen ermöglichen.« Weg damit. Angesichts der Tatsache, dass die bundesdeutsche Durchschnittsnote über alle Einrichtungen mit hervorragenden 1,3 ausgewiesen wird, bekommt dieses Vorhaben den Charakter einer konsequenten Entscheidung, denn was sagt denn so etwas noch wirklich aus? Haben wir wirklich paradiesische Qualitätszustände in den Pflegeeinrichtungen, was diese Bewertung nahelegt? Was ist dann mit den unzähligen Berichten über teilweise eklatante Pflegemissstände? Alles nur Ausnahmen? Wohl kaum.

Vor diesem Hintergrund wurde die Ankündigung von vielen begrüßt: Notensystem ist am Ende, so ist ein Bericht dazu in der Ärzte Zeitung überschrieben. Zugleich findet man da aber auch den Hinweis: »Das umstrittene Notensystem soll nächstes Jahr abgeschafft werden, ein neues Bewertungssystem kommt aber nicht vor 2018.« Als „Übergangslösung“ wird eine gesetzliche Regelung in Aussicht gestellt, nach der Kassen und Pflegeeinrichtungen die Prüfergebnisse des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherungen in der bisherigen Form weiterhin veröffentlichen sollen, allerdings ohne die viel kritisierte Durchschnittsnote. Man kann an dieser Stelle schon die Frage aufwerfen, warum das Notensystem erst zum 1. Januar 2016 eingestellt und nicht sofort suspendiert wird.

2009 wurde das Notensystem eingeführt. Und steht seitdem in der Kritik. »Das System ermöglicht  selbst Heimen mit erheblichen Mängeln, eine gute Gesamtnote zu erzielen. Denn die Dutzenden Kriterien zur Notenvergabe sind untereinander nicht gewichtet«, so Berit Uhlmann in ihrem Artikel Pflegenoten werden wieder abgeschafft. Es geht immerhin um 77 Einzelwerte, die in einen Topf geworfen werden. »Die Spitzennoten kommen zustande, weil pflegerische Mängel zum Beispiel durch gute Küche und Freizeitangebote ausgeglichen werden können. Erst im Februar war in Bonn ein Pflegeheim wegen unhaltbarer Pflegemängel geschlossen worden, das mit einer Einser-Note für sich werben konnte«, so Anno Fricke in seinem Artikel. Ein anderes Bild: »Es wirkt so, als hätte der Bundestag vor mehr als 50 Jahren die Stiftung Warentest mit der Vorgabe aus der Taufe gehoben, nie ein Produkt schlechter als gut zu bewerten«, verdeutlicht Anno Fricke in dem Artikel Eine Ad hoc-Reform überfordert das System.
Aber was soll an die Stelle dessen gesetzt werden, was bislang über den Pflege-TÜV mit Notensystem erreicht werden sollte?

Eine der Lebensweisheitsempfehlungen lautet: Wenn man nicht mehr weiter weiß, dann gründet man einen Arbeitskreis. Offenbar will man diesem Motto auch diesmal eine Bühne geben:

»Zum 1. Januar 2016 soll ein „Pflegequalitätsausschuss“ gegründet werden, der Kriterien für künftige Heim-Prüfungen erarbeitet. In diesem Ausschuss sollen auch die Verbände der Pflegebedürftigen und der Pflegeberufe gleichberechtigt vertreten sein … Das Gremium wird bei seiner Arbeit durch ein neu zu gründendes „Pflegequalitätsinstitut“ mit unabhängigen Wissenschaftlern unterstützt. Bis Ende 2017 soll der Ausschuss seine Vorschläge vorlegen«, so Uhlmann in ihrem Artikel.

Zu dem angekündigten neuen „Pflegequalitätsinstitut“ kann man beim Pflegebevollmächtigten der Bundesregierung lesen: »Das Institut muss schlank sein und aus bereits vorhandenen Mitteln finanziert werden.«

Der Pflegebeauftragte skizziert den zu gründenden Arbeitskreis so: »Zum 1. Januar 2016 wollen wir deshalb einen Pflegequalitätsausschuss errichten, der ein neues Qualitätsprüfungs- und Veröffentlichungssystem für Pflegeeinrichtungen berät und als Richtlinie beschließt. In diesem Ausschuss müssen neben den Einrichtungs- und Kostenträgern künftig auch die Verbände der Pflegebedürftigen und der Pflegeberufe gleichberechtigt mit Stimmrecht vertreten sein.« Es geht also primär um eine institutionelle Veränderung, inhaltliche Fragen sollen an das zu schaffende Gremium delegiert werden. Aber die kurze Beschreibung offenbart natürlich auch schon eine erwartbare und aus der Vergangenheit bekannte Schwachstelle dieses Ansatzes, denn es sind vorrangig Interessenvertreter, die in dem Gremium platziert werden und dort natürlich versuchen müssen, ihre eigenen Interessen zu vertreten. Wozu das bereits in der Vergangenheit geführt hat, wird an dem folgenden Zitat erkennbar, entnommen dem Beitrag „Ungenügend“ von Udo Ludwig et al. aus der Print-Ausgabe des SPIEGEL (Heft 15/2015, S. 46):

»Der CDU-Sozialexperte Willi Zylajew plädiert dafür, beide Seiten, Kassen wie Heime, aus der Überprüfung herauszuhalten. Die Politik solle über ein neues Bewertungssystem bestimmen, „die Selbstverwaltung ist gescheitert“. Zylajew, früher in der Caritas zuständig für mehrere Pflegeheime, hatte im Jahr 2008 für die Union den Pflege-TÜV mit ausgehandelt. Vernünftige Vorschläge seien damals untergegangen, etwa die Forderung nach unangekündigten Kontrollen abends und an den Wochenenden.«

Steht so etwas wieder vor der Tür? Überraschend wäre das nicht. Ein Teil der Akteure beginnt sich bereits zu positionieren: »Der GKV-Spitzenverband will die Entwicklung eines neuen Pflege-TÜVs dominieren«, meldet die Ärzte Zeitung in einem Artikel. Ganz unbescheiden plädiert man dafür, dass »dem GKV-Spitzenverband … im Rahmen einer Richtlinienkompetenz der Auftrag erteilt werden (sollte), für die Pflegetransparenz die Kriterien der Veröffentlichung einschließlich der Bewertungssystematik zu entwickeln.« Gegen dieses Dominanzstreben regt sich natürlich sofort der Widerstand der Anbieter von Pflegeleistungen, die aus ihrer Sicht verständlich an der Entwicklung und gesetzgeberischen Definition von messbaren Qualitätskriterien beteiligt werden wollen.
Insofern überraschen solche Frontstellungen nicht, von denen der SPIEGEL berichtet:

»Interessenvertreter haben ihre Wünsche bereits formuliert. Die Pflegekassen wollen, dass der Einfluss der Heimträger beschnitten wird: Es gebe keine objektiven Noten, wenn die Kontrollierten mitentscheiden dürfen, wie und was kontrolliert wird. Die Vertreter der Pflegeheime dagegen möchten die Macht der Kassen beschneiden: Die Prüfer des Medizinischen Dienstes der Pflegekassen seien schon mächtig genug – und denen gehe es nicht um Qualität, sondern um Kostensenkung.«

Bereits im Jahr 2008 wurde der Wissenschaftler Klaus Wingenfeld von der Universität Bielefeld beauftragt, ein alternatives Bewertungsmodell zu entwerfen. 250 Pflegeheime in Deutschland wenden es heute an. »„Wir beurteilen nicht die Dokumentationsarbeit der Mitarbeiter, sondern das Ergeb- nis der Pflege, indem wir uns alle sechs Monate die Akten der Pflegeheimbewohner ansehen“, sagt Wingenfeld. Auch die Statistiken jeder Einrichtung würden ausgewertet, etwa über Stürze und Druckgeschwüre, ganz wichtig sei zudem, wie sich die Mobilität der Bewohner entwickelt habe. Am Ende stehe eine von drei Bewertungen: unterdurchschnittlich, durchschnittlich, überdurchschnittlich.« Er könne sich vorstellen, »dieses System durch Sterne zu ersetzen, wie bei Hotels. In den USA habe sich ein Fünfsternesystem bewährt.«

Wie dem auch sei und was immer als neues System auf die Welt gebracht wird – man muss sich wohl eingestehen, dass eine wirkliche Qualitätssicherung nur von innen durch eine Internalisierung bem Personal und in der Unternehmenskultur sowie zugleich durch permanente Begleitung von außen, also vor allem durch Angehörige und durch kommunale „Kümmerer“, erreicht werden kann.

Der Dauerlauf im Hamsterrad des Unzulänglichen und Ungeklärten: Pflege und Pflegekräfte in Bewegung. Nicht zu vergessen die pflegenden Angehörigen

Über 3.000 Menschen besuchen derzeit den Deutschen Pflegetag 2015 in Berlin. Solche Kongresse sind neben vielen fachlichen Impulsen und Diskussionen natürlich immer auch ein Schaulaufen der pflegepolitisch wichtigen Größen sowie der proklamatorischen Selbstvergewisserungen einer Profession. So kann es nicht überraschen, dass den Pflegekräften im Plenum viel Lob und Anerkennung dessen, was sie tagtäglich tun, mit auf den Weg gegeben wird. Aber auch die vielen warmen Worte können – wenn man sich ehrlich macht – nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Pflege als Berufs- und Tätigkeitsfeld insgesamt in einer – zuweilen irritierend daherkommenden – nebulösen Sowohl-als-auch-Debatte festzuhängen scheint.

Auf der einen Seite gibt es durchaus einige und darunter sehr gewichtige pflegepolitische Entwicklungen, die ein hohes Aktivitätsniveau anzeigen. Das Bundesgesundheitsministerium beschreibt das so: »Durch zwei Pflegestärkungsgesetze will das Bundesgesundheitsministerium in dieser Wahlperiode deutliche Verbesserungen in der pflegerischen Versorgung umsetzen.« Mit dem ersten der beiden Gesetze wurden zum 1. Januar 2015 Leistungen erhöht, mehr Betreuungskräfte für stationäre Einrichtungen ermöglicht und ein – zu Recht sehr umstrittener – „Pflegevorsorgefonds“ installiert. Mit dem zweiten Pflegestärkungsgesetz soll am Ende dieser Wahlperiode ein neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff und ein neues Begutachtungsverfahren eingeführt werden. Damit nicht genug: Der Pflegebeauftragte der Bundesregierung, Karl-Josef Laumann (CDU), hat auf dem Pflegetag angekündigt, im Sommer einen Gesetzentwurf vorzulegen, mit dem die Attraktivität der Pflegeberufe gesteigert werden soll. Auf der anderen Seite leiden alle Bereiche der Pflege unter einer sich seit langem kontinuierlich zuspitzenden Personalmangelsituation, die zu enormen Frustrationen unter den Fachkräften und im Pflegealltag zu teilweise desaströsen Gefährdungssituationen führt (vgl. dazu nur am Beispiel der Nachtdienste in Krankenhäusern den Blog-Beitrag Man kann sich auch zu Tode sparen. Die alles überlagernde Kostensenkungslogik trifft in der Pflege beide Seiten der Medaille hart, die Patienten und die Pflegekräfte vom 07.03.2015). Aber damit nicht genug: Auch hinsichtlich der Frage einer stärkeren institutionellen Verselbständigung der Pflege gibt es erhebliche Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Pflege sowie auseinanderlaufende Entwicklungen zwischen den Bundesländern.

Zeitgleich steigt und steigt die Zahl der pflegebedürftigen Menschen – gerade erst hat das Statistische Bundesamt die Pflegestatistik 2013 veröffentlicht. Im Dezember 2013 waren in Deutschland 2,63 Millionen Menschen formal pflegebedürftig im Sinne des SGB XI. 71 Prozent (also 1,86 Millionen) von ihnen wurden zu Hause versorgt – davon 1,25 Millionen Menschen ausschließlich von ihren Angehörigen. In Pflegeheimen vollstationär betreut wurden insgesamt 764.000 Pflegebedürftige (29 Prozent). Im Vergleich mit Dezember 2011 – also innerhalb von zwei Jahren – ist die Zahl der Pflegebedürftigen um 125.000 gestiegen. Das wird in den vor uns liegenden Jahren so weiter gehen und an Dynamik noch zulegen aufgrund der Altersstruktur der Bevölkerung.

Und der Bedarf an und die Nachfrage nach professioneller Pflege wird deutlich zunehmen, denn die „stille Pflegeressource“, also die Angehörigen und darunter vor allem die Frauen, werden aus unterschiedlichen Gründen eher weniger zur Verfügung stehen. Dies trifft gerade in der Altenpflege auf einen bereits heute in vielen Regionen spürbaren Fachkräftemangel. Und es ist ja nicht nur die Altenpflege, wo die Knappheitsprobleme bereits an allen Ecken und Enden spürbar sind. Der Präsident des Deutschen Pflegerats, Andreas Westerfellhaus, wird in dem Artikel Pfleger warnen vor Kollaps in der Altenversorgung den Bereich der Altenpflege verlassend mit den Worten zitiert: »Allein in Krankenhäusern fehlten etwa 50.000 Stellen, um den Personalabbau zwischen den Jahren 2007 und 2009 auszugleichen.«

Das „Pflegepotenzial“ der Angehörigen im Bereich der Altenpflege läuft in vielen Fällen auf vollen Touren und das ist nicht nur bei einem Auto mit erheblichen Verschleiß verbunden. Diese Tage veröffentlichte die Techniker Krankenkasse (TK) die Ergebnisse einer Befragung pflegender Angehöriger: TK-Pflegestudie zeigt: Die Mehrheit der pflegenden Angehörigen verzichtet auf professionelle Unterstützung. »Nur vier von zehn (41 Prozent) teilen sich die Aufgabe mit professionellen Pflegekräften, die ins Haus kommen. Sogar nur acht Prozent nutzen zeitweise die Unterstützung von professionellen Einrichtungen für Tages-, Nacht- oder Kurzzeitpflegeaufenthalte. Dabei sind zwei Drittel (65 Prozent) der pflegenden Angehörigen täglich im Einsatz. Eine knappe Mehrheit von 54 Prozent teilt sich die Pflegeaufgaben mit anderen Familienangehörigen, Freunden und Nachbarn. Jeder Vierte pflegt ganz allein.«

Weitere Ergebnisse der Befragung kann man hier nachlesen:

Beate Bestmann, Elisabeth Wüstholz und Frank Verheyen: Pflegen: Belastung und sozialer Zusammenhalt. Eine Befragung zur Situation von pflegenden Angehörigen, Hamburg: Wissenschaftliches Institut der TK für Nutzen und Effizienz im Gesundheitswesen (WINEG)

Die Fragilität des Themas Pflege durch Angehörige ist in der Fachdiskussion hinreichend bekannt – und immer mehr Arbeitnehmer/innen werden in Zukunft mit den Herausforderungen der Vereinbarkeit von Beruf und Pflege konfrontiert sein. Guido Bohsem hat das in seinem Artikel Vereinbarkeit von Beruf und Pflege scheitert an den Firmen aufgegriffen und auf einen wunden Punkt der vor uns liegenden Entwicklung hingewiesen: »In den kommenden 15 Jahren wird die Zahl der Pflegebedürftigen um etwa 700 000 Menschen ansteigen. Immer mehr Arbeitnehmer werden sich neben dem regulären Job auch um einen Pflegefall kümmern müssen. Die Unternehmen sind auf diese Realität noch überhaupt nicht vorbereitet.« Bei den Unternehmen zwischen 50 und 249 Mitarbeitern sind nur 13 Prozent für den Fall gerüstet, dass ein Mitarbeiter eine Pflegeproblem in der Familien hat. Wie weit weg viele Betriebe – aus einer, das sei hier angemerkt, betriebswirtschaftlich erst einmal durchaus nachvollziehbaren Perspektive – von neuen Wegen einer besseren Vereinbarkeit von Beruf und Pflege sind, kann man diesem Passus des Artikels entnehmen:

»Einig sind sich die Unternehmen in ihrer Ablehnung der seit Anfang des Jahres geltenden Gesetze zur Pflegezeit. So schätzen 63 Prozent der Befragten die nun mögliche Arbeitszeitreduzierung als schlecht umsetzbar ein. Skepsis herrscht auch, wenn es um die Frage geht, ob ein Arbeitnehmer zur Sterbebegleitung eine Auszeit nehmen kann. 53 Prozent halten diese Regelung für wenig praktikabel. Selbst die maximal zehn Tage, die Arbeitnehmer im akuten Pflegefall frei nehmen können, um die nötigsten Dinge für ihre Angehörigen zu erledigen, bewertet ein Drittel der Arbeitgeber als problematisch – obwohl ihren Mitarbeitern in dieser Zeit ein Unterstützungsgeld von der Pflegeversicherung gewährt wird. Besonders kleinere Unternehmen von 16 bis 49 Mitarbeitern sehen sich demnach außer Stande, den vorübergehenden Ausfall eines Mitarbeiters zu kompensieren.«

Aber man könnte es auch so sehen: Alles braucht seine Zeit. Die gleiche Abwehrhaltung hatten wir noch vor nicht allzu langer Zeit gegenüber der Vereinbarkeit von Beruf und Familie – und da hat sich ja in den vergangenen Jahren schon einiges getan unter dem Druck der sich verändernden Lebenswirklichkeit für viele Beschäftigte mit Familie und kleinen Kindern. So etwas kann (und muss) man auch erwarten für das Pflegethema. Eine ganz wichtige – und derzeit noch völlig vernachlässigte – Baustelle auf dem Weg in eine bessere Zukunft werden Zwischenformen ambulanter und stationärer Pflege sein, also konkret: Tagesbetreuungsstrukturen. Etwas sehr idealistisch (und hinsichtlich der Folgewirkungen für Frauen nicht unproblematisch) formuliert beispielsweise in dem Beitrag Pflege 2015: Teilzeitjob plus Tagespflege – so kann es funktionieren, der die neue Familienpflegezeit (dazu auch die Webseite des Bundesfamilienministeriums www.wege-zur-pflege.de) thematisiert:

»Auf dem Weg zum Teilzeitjob bringt die Tochter ihre pflegebedürftige Mutter zur örtlichen Tagespflege, um sie nach Feierabend wieder nach Hause mitzunehmen. So könnte künftig der Pflegealltag häufig aussehen.«

Die staatliche Förderung des Modells „Teilzeitarbeit und Teilzeitpflege“ ist aus frauenpolitischer Sicht höchst problematisch, aber unabhängig von dieser kritischen Dimension: Unstrittig ist der Bedarf an mehr tagesbetreuenden und damit beide, die Pflegebedürftigen wie die Angehörigen entlastenden und unterstützenden Strukturen vor Ort. Übrigens – auch hier könnte man viel lernen von den Erfahrungen, die wir im Bereich des Ausbaus der Tagesbetreuung für kleine Kinder gemacht haben.

Aber wieder zurück in den Kernbereich der institutionellen Pflegelandschaft. Ein Thema, das die Pflege und Pflegekräfte durchaus spaltet, sind die Pflegekammern, also eine institutionalisierte Form der Selbstverwaltung der Pflege wie man sie von den Ärzten kennt. An der Pflegekammer scheiden sich in Deutschland die Geister: Einige Bundesländer forcieren eine Gründung, manche sind unentschlossen und andere lehnen sie ab. Eine Übersicht über die völlig heterogene Lage in den Bundesländern kann man in diesem Beitrag der Ärzte Zeitung finden: So steht’s um eine Pflegekammer. In keinem anderen Bundesland ist die Gründung einer Pflegekammer so weit gediehen wie in Rheinland-Pfalz. Bereits am 5. Januar 2015 ist der Gründungsausschuss zusammengetreten und die Kammer wird 2016 das Licht der Welt erblicken.

Auch Schleswig-Holstein ist auf diesem Entwicklungspfad: »Eine vom Sozialministerium in Auftrag gegebene repräsentative Umfrage hat eine knappe Mehrheit für die Errichtung einer Kammer erbracht. Das entsprechende Gesetz ist auf den Weg gebracht, damit der Errichtungsausschuss seine Arbeit aufnehmen kann.« Auf der anderen Seite ein Bundesland wie Baden-Württemberg: »Eine Pflegekammer ist für die rund 115.000 Beschäftigten in der Pflege nicht absehbar. « Erst einmal hat man eine Pflege-Enquete eingesetzt, die sich Gedanken machen soll. Oder Hamburg: »Eine Umfrage hat eine ablehnende Haltung zur Pflegekammer gezeigt. Die Sozialbehörde beschäftigt sich seitdem nicht mehr offiziell mit der Kammergründung.«

Die Gefechtslage in diesem Teilbereich ist unübersichtlich und von vielen institutionenegoistischen Interessen vergiftet. So sind nicht nur die privaten Träger von Pflegeeinrichtungen (vgl. dazu auch den bpa, den Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste) entschieden gegen eine Verkammerung, sondern auch die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, die hier eine institutionelle Konkurrenz in ihrem Kampf um einen höheren gewerkschaftlichen Organisationsgrad in der Pflege wittern.

Wieder einmal geht es natürlich auch um Machtfragen bzw. um die Hoffnung, durch eine solche Institutionalisierung aufschließen zu können zu dem, was die Ärzte schon haben. Ob das wirklich schlüssig ist und ob nicht möglicherweise die eigentlichen Probleme der Pflege von einem „Nebenkriegsschauplatz“ überlagert werden, muss an dieser Stelle unbeantwortet bleiben. Offensichtlich allerdings zeigt sich das Grundproblem der Pflege auch hier, ihre Zersplitterung und das Fehlen vergleichbarer institutioneller Strukturen wie sie die Ärzte schon lange haben. In diesen Kontext muss dann auch so eine Wortmeldung eingeordnet werden: »In der Pflege ist die Qualitätssicherung zurzeit nur unbefriedigend geregelt. Ein Hauptproblem liegt darin, dass ein Gremium wie der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) fehlt.« Das zumindest ist die Auffassung von Peter Axer beim 13. Kölner Sozialrechtstag, zitiert nach dem Artikel Mehr Qualität durch einen Pflege-GBA? »In der GKV habe sich der GBA zur Schlüsselfigur entwickelt, sagte Axer. Das Gremium habe eine starke institutionelle Basis, mit der es wissenschaftlichen Sachverstand und Erfahrungen implementieren kann.«

Und eine weitere institutionelle Großbaustelle für die Pflege ist ante portas, die hier nur nachrichtlich aufgeführt werden kann, weil sie für sich allein schon genug Stoff liefern würde für einen längeren Blog-Beitrag: Gemeint ist die Zusammenlegung der versäulten hin zu einer gemeinsamen Pflegeausbildung. Das steht auch noch auf der Tagesordnung.

Abschließend wieder zurück in die Tiefen und auch Untiefen der Pflege – sowohl für die Pflegekräfte wie auch für die Pflegebedürftigen. Dies am Beispiel der Fixierungen von Pflegebedürftigen, ein überaus heikles und emotional verständlicherweise sehr aufgeladenes Thema.
Pflegekräfte fühlen sich „mutterseelenallein“, so hat Ilse Schlingensiepen ihren Artikel überschrieben.:

»Wenn eine Pflegekraft in Altenpflegeeinrichtungen die Fixierung eines Patienten anregt, löst das häufig einen fatalen Dominoeffekt aus.
Der Betreuer beantragt die Maßnahme beim Amtsgericht, der zuständige Richter bestellt einen Verfahrenspfleger und holt Stellungnahmen von verschiedenen Stellen ein. Um sich ein Bild von der Lage zu machen, wenden sich der Richter, der Verfahrenspfleger und die anderen Beteiligten meist an ein und dieselbe Person: die Pflegekraft.«

Nur fühlen sich diese oftmals hoffnungslos überfordert mit dieser Situation. Die Entscheidung für eine Fixierung erfolgt in den Einrichtungen häufig aus Angst vor Haftungsproblemen oder finanziellen Forderungen von Angehörigen, falls einem Bewohner durch einen Sturz etwas passiert. Sebastian Kirsch, Richter am Amtsgericht Garmisch-Partenkirchen, wird mit den folgenden Worten zitiert: »Der Einzige, der fachliches Wissen hat, wird von Haftungsängsten geleitet, alle anderen vertrauen auf seine fachliche Beurteilung mangels eigener Fachkenntnisse.«

Über was reden wir hier eigentlich? »Über die Zahl der Fixierungen gibt es keine belastbaren Zahlen. Viele Schätzungen gehen von 240.000 im Jahr aus, manche sogar von 400.000, sagt er. Dabei seien die mit den Maßnahmen verbundenen Risiken bekannt, die bis zum Tod durch Strangulation, Brustkompression oder Kopfschieflage reichen können«, so Schlingensiepen in ihrem Beitrag. Wie so oft gibt es eine erhebliche Lücke zwischen Theorie und Prass, zwischen Erwartung und Realität. In Pflegeheimen soll weniger fixiert werden, so ein Artikel aus dem November des vergangenen Jahres und mit einem speziellen Blick auf die in der Altenpflege arbeitenden Menschen.

Und um den Beitrag abzurunden und wieder bei den pflegenden Angehörigen zu landen: Viele Familien, die keinen ambulanten Pflegedienst eingeschaltet haben, sind dennoch nicht ohne Hilfe – sie greifen auf eine osteuropäische Haushaltshilfe und Pflegekraft zurück, die für eine bestimmte Zeit für eine „24-Stunden-Pflege“ in den Haushalten zur Verfügung stehen. Die meisten verantwortlichen Politiker stecken hier ihren Kopf in den Sand, denn sie wissen auf der einen Seite, dass unser Pflegesystem zusammenbrechen würde, wenn man von heute auf morgen auf diese Menschen verzichten müssen, denn ansonsten müssten die Familien aufgrund ihrer eigenen Verpflichtungen hinsichtlich der Erwerbsarbeit immer öfter eine Heimunterbringung wählen müssten. Erschwerend kommt hinzu, dass viele Beschäftigungen in diesem Bereich in einer Grau-, zuweilen auch in einer richtigen Schwarz-Zone angesiedelt sind. Zu diesem Themenkomplex vgl. auch den Beitrag von:

Margret Steffen: Gute Arbeit in Privathaushalten. Europäische Erfahrungen und mögliche Gestaltungsansätze der Beschäftigung osteuropäischer Haushaltshilfen und Pflegekräfte. Berlin: Vereinte Dienstleitungsgewerkschaft – ver.di, Januar 2015

So wie jetzt geht es nicht weiter – das ist die Kommentierung eines Teilnehmers am diesjährigen Deutschen Pflegetag. Dem ist derzeit leider nicht wirklich viel hinzuzufügen.

20 Jahre Pflegeversicherung. Eine – wie immer in der Sozialpolitik – unvollständige Erfolgsgeschichte jenseits der Festveranstaltungen

Im März 1994 wurde die Pflegeversicherung als vierte Säule der Sozialversicherung neben Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung politisch beschlossen und am 1. Januar 1995 wurde sie zum Leben erweckt. »Die Pflegeversicherung übernimmt seit 1995 ambulante und teilstationäre Kosten. Seit Mitte 1996 zahlt sie auch Leistungen für die damals rund 480.000 Alten- und Pflegeheimbewohner. Mittlerweile leben knapp 800.000 Menschen in Alten- und Pflegeheimen«, so die Bundesregierung in ihrer Mitteilung Meilenstein in der Sozialgeschichte, für die das eine „Erfolgsgeschichte“ ist. 1995 erhielten eine Million Pflegebedürftige Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung, heute sind es gut 2,6 Millionen Menschen. Zwei Drittel der pflegebedürftigen Menschen werden in aller Regel zu Hause durch Familienangehörige, teilweise unter Beteiligung ambulanter Dienste betreut, ein Drittel stationär in Heimen. Etwa eine Million Menschen sind beruflich in der Altenpflege tätig. Auf einem Festakt des Pflegebevollmächtigten der Bundesregierung, Staatssekretär Karl-Josef Laumann, würdigten am 13. Januar 2015 zahlreiche Gäste aus Politik, Gesundheitswirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft die „Erfolgsgeschichte“ Pflegeversicherung. Staatssekretär Laumann wird mit den Worten zitiert: »Hatten Pflegebedürftige und ihre Familien zuvor kaum Unterstützung erhalten, gibt es inzwischen eine Vielzahl von Strukturen und Angeboten zur Entlastung.«

Die Pflegeversicherung, wie wir sie heute vorfinden, ist wie alles in der Sozialpolitik das Ergebnis eines Kompromisses. Über viele Jahre im Vorfeld der dann gewählten Sozialversicherungslösung wurde teilweise erbittert darüber gestritten, wie man das Risiko der Pflegebedürftigkeit in unserem Sozialstaat „richtig“ absichert. Vereinfacht gesagt gab es neben der letztendlich dann auch gewählten Variante als beitragsfinanzierte Sozialversicherung immer auch den Vorschlag, ein steuerfinanziertes Leistungsgesetz einzuführen. Ein ganz wichtiger Aspekt, warum man überhaupt über eine andere Form der Finanzierung der Pflegekosten damals diskutiert und die Pflegeversicherung eingeführt hat, war der immer stärkere Anstieg der Sozialhilfe-Kosten bei den Kommunen, die mit den „Hilfe zur Pflege“-Leistungen nach dem damaligen BSHG als Ausfallbürge für Menschen, die nicht in der Lage waren, die Kosten beispielsweise einer Unterbringung in einer Pflegeeinrichtung mit ihren vorhandenen Mitteln und ihrem Vermögen abdecken zu können, in Anspruch genommen wurden – und in den letzten Jahren in steigendem Maße wieder werden.

Schaut man sich einmal die lange Zeitreihe derjenigen an, die „Hilfe zur Pflege“-Leistungen nach dem BSHG bzw. mittlerweile SGB XII, also aus der Sozialhilfe, in Anspruch genommen haben, dann wird zum einen erkennbar, wie in den Jahren vor der Schaffung der Pflegeversicherung die kommunalen Ausgaben für die Pflege stetig angestiegen sind – und man erkennt auch den Effekt der Leistungen aus der Pflegeversicherung, die 1995 bzw. 1996 begannen, im Sinne stark sinkender kommunaler Sozialhilfeausgaben für den Pflegebereich. Man erkennt allerdings auch, dass seit Anfang des Jahrtausends die Zahl der Empfänger/innen von „Hilfe zur Pflege“-Leistungen wieder kontinuierlich ansteigt. Und dieser Prozess wird erwartbar anhalten und – ceteris paribus – den kommunalen Druck erneut ansteigen lassen.

Die sich in diesen Zahlen manifestierende Entwicklung wird auch in der Berichterstattung rund um die Festivitäten anlässlich des 20jährigen Bestehens der Pflegeversicherung aufgegriffen: Immer mehr Pflegebedürftige werden zum Sozialfall, um nur ein Beispiel zu zitieren. Im Jahr 2013 beliefen sich die staatlichen Nettoausgaben zur Finanzierung armutsgefährdeter Pflegebedürftiger bereits auf 3,34 Mrd. Euro, mit steigender Tendenz.

Bevor auf die wieder steigenden Ausgaben für die Kommunen eingegangen wird, muss aber mit Blick auf die Daten betont werden, dass der größte Teil der Ausgaben für Pflegebedürftigkeit von der Sozialen Pflegeversicherung sowie durch private Ausgaben der Betroffenen und ihrer Angehörigen gedeckt werden (müssen). Noch ist der Anteil der kommunal finanzierten Sozialhilfe kleiner als 10% – besonders erhöht haben sich in der Vergangenheit die privaten Ausgaben, die mittlerweile mehr als ein Drittel der Gesamtausgaben umfassen. Dass die Kommunen ohne substantielle Veränderungen im Gesamtsystem der Finanzierung von Pflegeleistungen mit stetig steigenden Ausgaben konfrontiert sein werden, liegt auf der Hand: Zum einen muss man immer wieder darauf hinweisen, dass die Pflegeversicherung eine Teil-Kaskoversicherung ist, also eben nicht die gesamten Kosten beispielsweise der Pflege und Unterbringung in einem Pflegeheim abdecken, sondern „nur“ einen definierten Anteil, der sich vom Grad der festgestellten Pflegebedürftigkeit ableitet. Der restliche Anteil muss zum einen aus den laufenden Einnahmen der Pflegebedürftigen gedeckt werden, also im wesentlichen aus den Renten bzw. Pensionen und – wenn diese Beiträge nicht ausreichen – dann auch aus dem gegebenenfalls vorhandenen Vermögen des Betroffenen. Sollten auch diese Beträge nicht ausreichen, um die Kosten zu decken, dann würde vor der Inanspruchnahme der kommunalen Sozialhilfeleistungen geprüft werden, ob die Kinder zur Mitfinanzierung herangezogen werden können.

Die großen Treiber der Ausgabensteigerungen im bestehenden System für die Kommunen sind offensichtlich: Zum einen steigt schlichtweg die Zahl der pflegebedürftigen Menschen aufgrund der demografischen Entwicklung erheblich an. Hinzu kommt, dass unter den zukünftigen Pflegebedürftigen zahlreiche Menschen sein werden, die zum einen mit Armutsrenten ausgestattet und kaum oder gar keinem Vermögen auf anteilig höhere Hilfeleistungen aus dem Sozialhilfe-System angewiesen sein werden. Viele von ihnen werden – wenn überhaupt – zudem Kinder haben, bei denen „nicht viel zu holen“ sein wird. Eine weitere Quelle steigender Hilfe zur Pflege-Ausgaben der Kommunen liegt innerhalb des Systems der Pflegeversicherung begründet bzw. des bisherigen Umgangs mit ihren Leistungen: Über Jahre hinweg wurden weder Beiträge noch Leistungen angepasst, so der Hinweis bei Stefan Vetter in seinem Artikel Der Preis der Würde. Das hat zu einer erheblichen Realwert-Senkung der Leistungen aus der Pflegeversicherung geführt, was natürlich nach dem Prinzip der kommunizieren den Röhren dazu führt, dass diese Anteile an anderer Stelle gegenfinanziert werden müssen. Ein weiterer Aspekt ist die in vielen Sonntagsreden vielfach beschworene Verbesserung der Pflegelandschaft vor allem mit Blick auf die dort arbeitenden Menschen. Theoretisch sind sich alle einig, dass beispielsweise die Vergütung für die Pflegekräfte erhöht werden müssten. Auch die Personalschlüssel in den Pflegeeinrichtungen, vor allem in der stationären Pflege, die durch immer höhere Grade der Pflegeintensität charakterisiert sind, müssten verbessert werden, was allerdings zu erheblichen Mehrausgaben führen würde.

Man kann es drehen und wenden wie man will. Die Finanzierungsfrage wird – neben den vielen Baustellen auf der Seite der Leistungen wie auch des Zugangs (Stichwort Pflegebedürftigkeitsbegriff) – zu einer zentralen Thematik werden (müssen). Hier erweist es sich als hoch problematisch, dass die Pflegeversicherung als beitragsfinanzierte Sozialversicherung konzeptualisiert worden ist mit all den Folgeproblemen, die wir auch von ihren großen Geschwistern wie der Rentenversicherung kennen, vor allem hinsichtlich der Begrenzung auf den Faktor sozialversicherungspflichtige Arbeit und dann auch noch bis zur Beitragsbemessungsgrenze.

Entsprechend die Argumentation von Rothgang et al. im BARMER GEK Pflegereport 2014, die neben den unbestreitbaren Erfolgskomponenten von 20 Jahren Pflegeversicherung auch auf zentrale kritische Punkte hinweisen:

»Gleichzeitig enthält das Pflege-Versicherungsgesetz einige Geburtsfehler dieses neuen Sozialversicherungszweig, die bis heute nachwirken und aktuelle Reformvorhaben und -debatten prägen. Hierzu zählt der (zu) enge Pflegebedürftigkeitsbegriff, der im für 2017 geplanten zweiten Pflegestärkungsgesetz erweitert werden soll, die fatale Eingrenzung der Beitragspflicht auf Löhne, Gehälter und Lohnersatzleistungen ebenso wie das duale System von Sozialer Pflegeversicherung und Privater Pflegepflichtversicherung, das normativ nicht gerechtfertigt werden kann. Auch produziert das Nebeneinander von einer Krankenversicherung mit Kassenwettbewerb und einer Pflegeversicherung ohne Kassenwettbewerb Fehlanreize an den Schnittstellen.«

Trotz des unabweisbaren Weiterentwicklungsbedarfs angesichts zahlreicher kritischer Punkte muss aber fairerweise auch darauf hingewiesen werden, dass gerade mit Blick auf die Situation vor über 20 Jahren zahlreiche positive Bilanzpunkte auszuweisen wären (vgl. dazu Rothgang et al. 2014: 25 ff.): So waren vor Einführung der Pflegeversicherung etwa 80 % der Pflegeheimbewohner auf die bedürftigkeitsabhängige Hilfe zur Pflege angewiesen, heute sind es weniger als die Hälfte. Die Versorgungssituation war damals eine ganz andere und durch erhebliche Defizite, und zwar nicht nur im Hinblick auf die Zahl der Einrichtungen, sondern auch im Hinblick auf das konkrete Leistungsangebot gekennzeichnet. Qualität war kein Thema. Hier hat es nach Einführung der Pflegeversicherung erhebliche Veränderungen gegeben: Im Bereich der Pflegeinfrastruktur kam es zu einer dramatischen Expansion des Angebots an formeller Pflege. Im Pflege-Versicherungsgesetz wurde erstmals die ganze Bevölkerung obligatorisch in eine gesetzliche Versicherung einbezogen. »Vor allem aber wurde das Pflegerisiko mit Einführung der Pflegeversicherung als allgemeines Lebensrisiko anerkannt, das einer sozialrechtlichen Bearbeitung bedarf. Damit wurde die deutsche Pflegeversicherung Vorbild für die Einführung der Pflegeversicherung in Luxemburg, Japan und Korea und für viele aktuelle Debatten zur Pflegesicherung in anderen Teilen der Welt« (Rothgang et al. 2014: 27). Das darf und muss zur Kenntnis genommen werden.

In den vor uns liegenden Jahren wird es – hier folge ich der Einschätzung von Rothgang et al. (2014: 29) – vor allem an drei Punkten dringenden Handlungsbedarf geben:
Zum einen der enge Pflegebedürftigkeitsbegriff, dann die anhaltende Debatte über Leistungsdynamisierung, da der § 30 SGB XI nur die Möglichkeit für diskretionäre Leistungsanpassungen, aber keine obligatorischen regelgebundenen Leistungsanpassungen vorsieht, sowie last but not least vor dem Hintergrund der Begrenzung der Beitragspflicht auf Einkommen aus unselbständiger Arbeit und Lohnersatzleistungen, die zur strukturellen Einnahmeschwäche auch der Pflegeversicherung führen, eine Weiterentwicklung der Finanzierungsgrundlagen.
Es gibt also – nicht wirklich überraschend – eine Menge zu tun. Und wir sind dann nur auf der Ebene der Pflegeversicherung, hinzu kommen weitere hoch relevante Felder der Pflegepolitik, vom Pflegepersonal angefangen über die kommunale Altenhilfe bis hin zu den osteuropäischen Pflegekräften, die im Regelfall in halb- oder illegalen Verhältnissen mit dafür sorgen, dass unser Pflegesystem nicht kollabiert ist.