Man kennt das (nicht nur) in der Sozialpolitik: Man hat eine gute Absicht und startet entsprechend und muss dann feststellen, dass die Umsetzung in der Praxis irgendwie zu ganz anderen als den angestrebten Ergebnissen führt. Nehmen wir zur Illustration ein Beispiel aus der Pflege. Es muss sicher nicht besonders hervorgehoben werden, weil mittlerweile als „Allgemeingut“ voraussehbar, dass es in der Altenpflege einen erheblichen Personalmangel gibt, vor allem in den Pflegeheimen, wo immer „schwierigere“ Fälle im Sinne einer steigenden Pflegeintensität der dort zu pflegenden Menschen beobachtbar sind. Das durchschnittliche Heimeintrittsalter steigt immer mehr an, viele, die dann kommen, haben einen deutlich höheren Pflegebedarf als früher und der Anteil der Menschen mit einer Demenzerkrankung wird immer größer. Das alles hat Folgen für den Bedarf an Pflegekräften. Immer wieder wurde und wird dabei kritisiert, dass neben der rein pflegerischen Versorgung, die oftmals angesichts der realen Personalsituation nur mit Müh und Not aufrechterhalten wird, andere wichtige Dinge wie Zuwendung oder soziale Aktivierung zu kurz kommen müssen. Da ist dann schlichtweg keine Zeit für sowas wie Vorlesen oder den pflegebedürftigen Menschen mal an die frische Luft zu bringen.
Das wurde schon vor Jahren auch in der Politik erkannt und man hat versucht, darauf zu reagieren – immer natürlich „im Rahmen des Möglichen“. Auslöser für erste Schritte im Sinne einer Verbesserung der Situation war vor dem Hintergrund des steigenden Anteils an Menschen mit einer Demenzerkrankung die Regelung, dass Heime seit 2008 Betreuungsassistenten beschäftigen dürfen. Zu deren Aufgaben gehört etwa, mit Bewohnern spazieren zu gehen, zu basteln oder Sport zu treiben. Zunächst gab es diese Betreuung nur für Menschen mit „eingeschränkter Alltagskompetenz“. Seit Anfang dieses Jahres ist sie für alle Pflegebedürftigen in stationären oder teilstationären Einrichtungen möglich, denn die Ausweitung ist ein Bestandteil des Pflegestärkungsgesetzes I der großen Koalition, das zum 1. Januar 2015 in Kraft gesetzt wurde.
Und in diesem gesetzgeberischen Kontext wird die Ausweitung des Ansatzes, zusätzliche und ergänzend tätige Betreuungskräfte in den Altenheimen einzusetzen, gebührend gefeiert. So kann man beispielsweise der vom Bundesministerium für Gesundheit im Januar 2015 veröffentlichten Broschüre Das Pflegestärkungsgesetz I. Das Wichtigste im Überblick entnehmen:
- Das Erste Pflegestärkungsgesetz mobilisiert rund eine Milliarde Euro zusätzlich, unter anderem für sogenannte zusätzliche Betreuungsangebote in voll- und teilstationären Einrichtungen.
- Die Zahl der zusätzlichen Betreuungskräfte steigt deutlich – von bisher rund 25.000 auf bis zu 45.000. Die Aufstockung durch dieses eigens weitergebildete Personal sorgt dafür, dass Pflegebedürftige noch besser bei ihren alltäglichen Aktivitäten unterstützt werden und sich ihre Lebensqualität erhöht.
- Der Betreuungsschlüssel verbessert sich durch das Pflegestärkungsgesetz von 1 : 24 auf 1 : 20. Zudem stehen die zusätzlichen Betreuungsangebote in den stationären Einrichtungen ab 1. Januar 2015 allen Pflegebedürftigen offen. Das verbessert den Pflegealltag in den voll- und teilstationären Pflegeeinrichtungen deutlich. (BMG 2015: 13)
Das hört sich doch gut an. Genau diese zusätzlichen, ergänzenden Kräfte werden vor Ort dringend gebraucht. Vor allem von vielen Pflegebedürftigen, die ansonsten nicht in die Nähe der Chance auf etwas (mehr) Zuwendung kommen können. Es geht um etwas mehr Lebensqualität.
Offensichtlich baut die Bundesregierung hier einen Ansatz aus, der vor Jahren grundgelegt wurde. Seit Sommer 2008 haben Pflegeheime die Möglichkeit, Betreuungsassistenten zu beschäftigen, die sich speziell um Demenzkranke kümmern. Rechtsgrundlage war das Pflegeweiterentwicklungsgesetz (PfWG) mit dem § 87b SGB XI. Betreuungsassistenten müssen eine Qualifizierungsmaßnahme im Umfang von insgesamt 160 Stunden nachweisen, mit einem vorgeschalteten Orientierungspraktikum von 40 Stunden. Nicht selten hat man ehemals langzeitarbeitslose Menschen in dieses Tätigkeitsfeld vermittelt. Es handelt sich also um Arbeitskräfte unterhalb der Qualifikationsebene der Pflegehelfer. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass man die Arbeit der Betreuungsassistenten abgrenzen muss gegenüber dem, was Pflegehelfer oder gar examinierte Fachkräfte machen (dürfen/müssen).
Die Heime bekommen einen festen Lohnkostenzuschuss, wenn sie diese Kräfte beschäftigen und die Betreuungsassistenten werden auf der Basis einer angelernten Kraft eingruppiert.
Schaut man in die aktuelle Pflegestatistik des Statistischen Bundesamtes, deren Werte sich auf das Jahresende 2013 beziehen, dann kann man den Angaben zur Personalsituation entnehmen, dass in den stationären Einrichtungen damals insgesamt 685.447 Beschäftigte (insgesamt, nicht nur Pflegekräfte) gezählt wurden. Eigens ausgewiesen werden in einer Größenordnung von 27.864 zusätzliche Betreuungskräfte nach § 87b SGB XI, also 4,1 Prozent des Gesamtpersonals im stationären Bereich (Statistisches Bundesamt, Pflegestatistik 2013, Deutschlandergebnisse, S. 23).
Und jetzt das: Altenheime setzen unqualifiziertes Personal ein, berichtet beispielsweise die Süddeutsche Zeitung: »In Altenheimen in Deutschland werden vermehrt angelernte Helfer für Pflegearbeiten eingesetzt, die sie gar nicht verrichten dürfen. Bundesweit steige die Zahl der sogenannten Betreuungsassistenten, die Heimbewohner sozial begleiten sollen … In vielen Heimen würden Aufgaben, die eigentlich ausgebildete Pfleger übernehmen sollen, von angelernten Helfern ausgeführt – was gegen das Gesetz verstoße. Die Betreuungsassistenten müssten etwa Bewohner allein waschen, im Bett lagern oder ihnen Medikamente verabreichen.« Das bezieht sich auf Recherchen, die in diesem Original-Artikel veröffentlicht wurden: Helfer ersetzen Profi-Pfleger in Altenheimen von Anette Dowideit. Die an sich begrüßenswerte Maßnahme einer Aufstockung der Betreuungsassistenten, die Erleichterung schaffen sollen, hat nicht selten Besorgnis erregende Folgen. »Denn die Betreuungsassistenten werden nach Recherchen … vielerorts rechtswidrig eingesetzt. Sie waschen bettlägerige Bewohner, lagern sie im Bett um, füttern sie oder verabreichen ihnen Medikamente. Alles Aufgaben, die aus gutem Grund ausgebildetem Fachpersonal vorbehalten sind.«
Das konfligiert mit der Tatsache, dass es sich ausdrücklich um Zusatzkräfte handeln soll. Auch der der Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) weist ausdrücklich darauf hin, die Betreuer seien lediglich als Ergänzung zu Altenpflegern vorgesehen, „sie dürfen kein Ersatz sein“.
Offensichtlich, so Dowideit in ihrem Artikel, sieht die Realität ganz anders aus:
»Es meldeten sich Dutzende Pfleger, die berichten, dass in ihren Heimen die Angelernten regelmäßig zur Lagerung Bettlägeriger eingeteilt würden – und diese dann häufig offene Wunden entwickelten, weil sie nicht fachgerecht gelegt und stabilisiert würden. Oder dass die Helfer bettlägerige, schwere Patienten allein aus den Betten und auf die Toilette hieven müssten, ohne die richtigen Handgriffe zu kennen … Pfleger Christian Hübner, der heute in einem Krankenhaus arbeitet, machte während seiner Ausbildung Station in fünf Pflegeheimen – und hat in vieren erlebt, dass die Angelernten gesetzeswidrig eingesetzt wurden. „In einer Einrichtung bekamen die Betreuungsassistenten morgens vier oder fünf bettlägerige Bewohner zugeteilt und mussten sie alleine waschen. Das ist nicht mal mehr grenzwertig“, findet er.«
Wie muss man das einordnen? In dem Artikel wird Johanna Knüppel vom Deutschen Berufsverband für Pflegeberufe (DbfK) zitiert:
Sie »vermutet, dass die Bundesregierung sehr wohl vom Missbrauch der Betreuungsassistenten wisse – aber schlicht wegsieht. „Anstatt die Pflegefachkräfte in den Heimen tatsächlich zu entlasten, wird die Versorgung auf immer mehr pflegerische Laien übertragen“, sagt sie. Aus politischer Sicht habe eine solche Strategie gleich mehrere Vorteile: „Sie kaschiert die durch den Fachkräftemangel entstandene pflegerische Unterversorgung in vielen Heimen, sorgt für positive Schlagzeilen und gleichzeitig schafft sie Arbeitsplätze für Langzeitarbeitslose.“«
Für viele Arbeitgeber ist das ein betriebswirtschaftlich gesehen eine interessante Personalbeschaffungsvariante, vor allem dann, wenn man – auch wenn das eigentlich rechtlich nicht zulässig ist – faktisch Personallöcher in anderen Bereichen stopfen kann, wo das Personal auch deutlich teurer käme:
»Die Quereinsteiger verdienen in der Regel nicht mehr als den gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde, während ein examinierter Altenpfleger laut einer aktuellen Berechnung der Gewerkschaft Verdi inklusive aller Zulagen auf 17,50 Euro Stundenlohn kommen kann. Dazu kommt: Das Gehalt der Assistenten wird von den Pflegekassen bezuschusst – bei manchen Heimen laut GKV-Spitzenverband so stark, dass sie selbst gar kein Gehalt mehr zuzahlen müssen. Wie viel Zuschuss ein Heim erhält, handelt es mit den Pflegekassen vor Ort aus.«
Und wieder einmal haben wir ein starkes Gefälle hin zur (Nicht-)Kontrolle, denn was diese Kräfte tatsächlich tun, wird von keinem kontrolliert und steht auch bei den Prüfungen des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen nicht auf der Agenda, dort wird lediglich geschaut, ob die Betreuungsassistenten die vorgeschriebene Qualifizierungsmaßnahme absolviert haben. Nicht aber, wie sie genau eingesetzt werden.
Es handelt sich auch nicht um eine vernachlässigbare Größenordnung. Dowideit zitiert in ihrem Artikel eine Zahlenrelation, die zu denken geben sollte:
»Seit der Einführung dieses Berufs im Jahr 2008 war die Zahl bis Ende 2013 auf knapp 28.000 gestiegen. Und die Bundesregierung prognostiziert, dass es schon bald 45.000 sein werden – so viele wären es, wenn alle Heime die ihnen für ihre Bewohner zustehenden Kräfte demnächst einsetzen. Zum Vergleich: Die Zahl der ausgebildeten Altenpfleger, die in den 13.000 Heimen bundesweit arbeiten, liegt nur gut dreimal höher, nämlich bei 151.000.«
Dowideit berichtet in ihrem Artikel von konkreten Beispielen, wo seit Anfang des Jahres zahlreiche Betreuungsassistenten neu eingestellt wurden und werden, die dann Arbeit auf Abruf machen sollen. »Rund um die Uhr sollen die Angelernten einsatzbereit sein für die Heimkette, theoretisch auch mitten in der Nacht – obwohl sie ihren gesetzlich erlaubten Tätigkeiten, also mit den Bewohnern Karten spielen, gärtnern, ihnen vorlesen – zu dieser Zeit wohl kaum nachkommen können. Der Betriebsrat der Heimkette vermutet, dass die Betreuungsassistenten als billige Alternative zum Pfleger im Nachtdienst eingesetzt werden könnten.«
Manche Heimbetreiber sind auch ganz ehrlich, was sie wollen, bis man sie entdeckt: »Zum Beispiel die privatwirtschaftliche Kette Compassio mit Sitz in Ulm, die 24 Standorte betreibt. In einer Stellenanzeige, die sie auf einem Internetportal schaltete, ist zu lesen: „Sie sind für die soziale Betreuung unserer Bewohner verantwortlich und verrichten zudem grundlegende pflegerische Tätigkeiten.“ Eine Sprecherin des Unternehmens sagt dazu auf Anfrage, beim Formulieren der Anzeige sei ein Fehler unterlaufen. Die knapp 100 bei Compassio angestellten Betreuungsassistenten würden keinesfalls pflegerische Aufgaben übernehmen.«
Es hat seine eigene betriebswirtschaftliche Rationalität: Wenn dieses zusätzliche Angebot an Personal auf Einrichtungen trifft, die in den Bereichen, für die das zusätzliche Personal gar nicht zuständig sein soll, erhebliche Personalmangelprobleme hat, dann liegt es nahe, dass es entweder „lebenspraktisch“ bedingt auch bei keiner Vorgängen Absicht zu zahlreichen Überschneidungen kommen kann zwischen dem, was Betreuungskräfte tun und was Pflegekräfte tun – gerade bei teamorientierten Arbeiten ist das zu arbeiten. Und mancher Arbeitgeber wird das auch bewusst nutzen, um Löcher zu stopfen.
Damit hier kein Missverständnis aufkommt: Der Ansatz und Einsatz zusätzlicher, ergänzender Betreuungsassistenten wird hier ausdrücklich befürwortet. Damit verbunden ist die Möglichkeit einer erheblichen Steigerung der Lebensqualität der Pflegebedürftigen in den Heimen.
Wenn, ja wenn man sich an das hält, was in den – ich kann nichts für den Titel – „Richtlinien nach § 87b Abs. 3 SGB XI zur Qualifikation und zu den Aufgaben von zusätzlichen Betreuungskräften in stationäre Pflegeeinrichtungen (Betreuungskräfte-Rl) vom 19. August 2008 in der Fassung vom 29. Dezember 2014″ im § 2 über die „Grundsätze der Arbeit und Aufgaben der zusätzlichen Betreuungskräfte“ normiert worden ist:
Die Aufgabe der zusätzlichen Betreuungskräfte ist es, die Anspruchsberechtigten zum Beispiel zu folgenden Alltagsaktivitäten zu motivieren und sie dabei zu betreuen und zu begleiten:
– Malen und basteln,
– handwerkliche Arbeiten und leichte Gartenarbeiten,
– Haustiere füttern und pflegen,
– Kochen und backen,
– Anfertigung von Erinnerungsalben oder -ordnern,
– Musik hören, musizieren, singen,
– Brett- und Kartenspiele,
– Spaziergänge und Ausflüge,
– Bewegungsübungen und Tanzen in der Gruppe,
– Besuch von kulturellen Veranstaltungen, Sportveranstaltungen
– Gottesdiensten, und Friedhöfen,
– Lesen und Vorlesen,
– Fotoalben anschauen.
Die Betreuungskräfte sollen den Anspruchsberechtigten für Gespräche über Alltägliches und ihre Sorgen zur Verfügung stehen, ihnen durch ihre Anwesenheit Ängste nehmen sowie Sicherheit und Orientierung vermitteln. Betreuungs- und Aktivierungsangebote sollen sich an den Erwartungen, Wünschen, Fähigkeiten und Befindlichkeiten der Anspruchsberechtigten unter Berücksichtigung ihrer jeweiligen Biographie, ggf. einschließlich ihres Migrationshintergrundes, dem Geschlecht sowie dem jeweiligen situativen Kontext orientieren.
Damit wäre sehr viel gewonnen. Wenn, ja wenn es darum gehen würde.