Wie die Dinge zusammenhängen: Wenn Polen in Finnland ein Kraftwerk bauen, im Frankfurter Flughafen die Putzkräfte streiken, Leiharbeitern in der Pflege ein Tausender im Monat verloren geht und S-Bahnhöfe von Arbeitskräften befreit werden

Beginnen wir mit der Rechtssache C-396/13. Das ist ein Aktenzeichen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) und der spricht sich gegen Lohndumping bei entsandten Beschäftigten aus. Das Gericht ist mit Urteil vom 15.02.2015 zu dem Ergebnis gekommen, dass Arbeitnehmern entsprechend der geltenden Kollektivverträge bezahlt werden müssen, unabhängig davon in welchem EU-Mitgliedsstaat der Arbeitgeber seinen Sitz hat.  In dem vom EuGH zu beurteilenden Fall hatte ein polnisches Unternehmen seinen polnischen Arbeitnehmern, die in Finnland ein Kraftwerk errichteten, den örtlichen kollektivvertraglichen Mindestlohn, Urlaubszuschüsse und Zusatzleistungen vorenthalten. Das fand das EuGH nun gar nicht korrekt, denn es vertritt die Auffassung, dass sich Fragen, die den Mindestlohnsatz betreffen, nach dem Recht des Aufnahmemitgliedstaates, hier also Finnland, bestimmen. Die Pressemitteilung des EuGH ist folglich überschrieben mit Der Gerichtshof klärt den Begriff „Mindestlohnsatz“ entsandter Arbeitnehmer. Kurz zum Sachverhalt: ESA, ein polnisches Unternehmen, schloss in Polen nach polnischem Recht Arbeitsverträge mit 186 Arbeitnehmern und entsandte diese dann an ihre finnische Zweigniederlassung zur Ausführung von Elektroarbeiten auf der Baustelle des Kernkraftwerks Olkiluoto in Eurajoki, Finnland. Den Arbeitnehmern wurde der finnische Mindestlohn, der dort in allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträgen geregelt ist, vorenthalten. Dem hat der EuGH nun einen Riegel vorgeschoben. Wäre die Entscheidung anders ausgefallen, dann hätten wir angesichts des enormen Wohlstands- und damit zusammenhängend auch Lohngefälles innerhalb der EU ein echtes Lohndumpingproblem durch die Inanspruchnahme deutlich billigerer Arbeitskräfte, die aus anderen EU-Ländern entsandt werden. So weit die gute Nachricht.

Weiter geht es mit den schlechten Nachrichten – und die kommen vom deutschen Arbeitsmarkt.

Bau-Gewerkschaft ruft zu Putzstreik auf, so ist ein Artikel überschrieben: »Mit einem Putzstreik will die Bau-Gewerkschaft auf „unsaubere Praktiken“ des Flughafenbetreibers Fraport hinweisen. Anlass ist die Vergabe eines Reinigungsauftrags im Terminal 2 an einen Dienstleister von außen.« Die IG BAU ruft das Putzpersonal erst einmal zu einem zweistündigen Warnstreik am Frankfurter Flughafen auf. Was ist da los?

»Die bislang von der Fraport-Tochter GCS erbrachten Reinigungsleistungen im Terminal 2 seien per Ausschreibung an den neuen Dienstleister Sasse Aviation Service vergeben worden. Die Firma wolle die rund 100 Beschäftigten zwar übernehmen, aber nur zu schlechteren Bedingungen als bislang. Die GCS ihrerseits weigere sich, die teils schon seit Jahrzehnten bei ihr beschäftigten Leute in anderen Flughafenbereichen einzusetzen, kritisierte die IG BAU. Stattdessen werde der Anteil der Leiharbeiter weiter ausgebaut.«

Und was sagt die Fraport dazu? Man achte auf die Wortwahl: »In der Ausschreibung sei festgehalten, dass die neuen Arbeitsverträge denen bei der GCS „wirtschaftlich entsprechen“ müssten.«

Wieder ein Beispiel für das grassierende kostensenkungsgetriebene Outsourcing in diesem Land, was mit dazu beiträgt, dass die unteren Einkommensgruppen die großen Verlierer sind im Jobwunder-Land Deutschland.
Und was haben wir gerade lesen müssen? Man lagert die teilweise seit vielen Jahren Beschäftigten an eine andere Firma aus und stockt gleichzeitig die Leiharbeit auf? Auch dort zahlen die Beschäftigten im wahrsten Sinne des Wortes die Zeche. Dazu ein Beispiel aus der Pflege: 1000 Euro weniger für Leiharbeiter in der Pflege.

»Leiharbeit ist ein echter Lohndrücker. Etwa in der Pflege, wo der Lohnabstand zwischen Festangestellten und Leiharbeiten fast 1000 Euro ausmacht. Dies geht aus der Antwort der Bundesagentur für Arbeit (BA) auf eine Anfrage der Bundestagsabgeordneten Sabine Zimmermann (LINKE) hervor … Demnach verdienten Gesundheits- und Krankenpflegerinnen im Bereich der Leiharbeit als Vollzeitbeschäftigte durchschnittlich 2047 Euro brutto im Monat. Ihre fest angestellten Kolleginnen erhielten hingegen 3014 Euro brutto. Obwohl die Arbeitsbelastung dieselbe war, betrug der Lohnunterschied zwischen beiden Gruppen fast 1000 Euro. Im Bereich der Altenpflege ist die Entlohnung noch mieser. Hier lag der Niedriglohnanteil bei den Leiharbeitskräften bei 56 Prozent. Unter den fest Beschäftigten lag die Quote bei 35,9 Prozent. Der Verdienst als Leiharbeitskraft betrug durchschnittlich 1879 Euro brutto im Monat.«

Das muss man nicht weiter kommentieren.
Ganz offensichtlich haben wir in einigen Branchen und für viele Menschen ein echtes Lohndrückerei-Problem. Aber wenn man ganz zynisch veranlagt ist, was manche sind, könnte man argumentieren, dass das dann immer noch besser sei, als sein Leben in der Hartz IV-Arbeitslosigkeit zu fristen. Aber selbst diese mehr als traurige „Alternative“ zur vollständigen Erwerbslosigkeit wird immer stärker angefressen durch die fast nur noch als suchtförmig zu bezeichnende Ausprägung des Rationalisierungswahns in Deutschland mit dem Ziel, menschliche Arbeitskraft überflüssig zu machen. Auch hierzu ein Beispiel aus der Berichterstattung: Kameras ersetzen Aufsichtskräfte.

»Die Berliner S-Bahn zieht ihr festes Personal von immer mehr Bahnhöfen ab. Inzwischen gibt es an rund 100 der 166 Bahnhöfe in Berlin und Brandenburg keine ständigen Aufsichten mehr. Vom kommenden Jahr an soll es noch an 20 sogenannten Stammbahnhöfen feste Aufsichten geben. An den anderen Bahnhöfen sollen je nach Bedarf 120 mobile Mitarbeiter zum Einsatz kommen. In Zukunft geben sich die Zugführer mit Hilfe von Kameras und einem Monitor im Führerstand selbst das Abfahrtsignal.«

Wozu der Sparwahn führen kann, erleben wir doch täglich – wenn man ehrlich ist – um uns herum. Bröckelnde Brücken und andere Bauten, ein seit Jahren geführtes Leben von der Substanz. Überall wird bis auf die Knochen runter gespart und das wird dann von den Hohepriestern unserer Tage, den Betriebswirten, mit bunten und schönen Powerpoint-Folien überdeckt – aber die Auswirkungen auf die „Moral der Truppe“ sind gravierend.
Apropos „Moral der Truppe“ – das war eben bildhaft gemeint, aber wir können das auch mal ganz real betrachten, um dann zu einem hier ebenfalls thematisch passenden Befund zu kommen: Der Sparwahn frisst seine Kinder. Die Bundeswehr. Eine demoralisierte Armee, so haben Thorsten Jungholt und Andreas Maisch ihren Artikel überschrieben. Und wenn es nicht so traurig wäre und zugleich so bezeichnend für unsere Zeit der Controlling-Fetischisten an den Schaltstellen der Entscheidungen, dann müsste man eigentlich bei dem folgenden Beispiel einfach nur laut lachen: Zitiert wird Oberstleutnant André Wüstner, der Vorsitzende des Bundeswehrverbandes, mit den Worten: »So etwas wie die Besenstiel-Affäre ist für das innere Gefüge der Truppe eine Katastrophe.« Was ist denn das? Eine „Besenstiel-Affäre“? Hier die Auflösung:

»Bei einer Nato-Übung vor wenigen Monaten in Norwegen hatten Panzergrenadiere das fehlende Waffenrohr eines Radpanzers vom Typ Boxer mit einem schwarz angestrichenen Besenstiel simuliert. Die Geschichte sorgte international für Hohn und Spott. Eine solche Blamage, sagt Oberstleutnant Wüstner, „macht auch keine Zulagenerhöhung wett“. Zumal das betroffene Panzergrenadierbataillon 371 nicht irgendein Verband ist. Es ist der deutsche Beitrag zur „Very High Readiness Joint Task Force“, der neuen superschnellen Eingreiftruppe, mit der die Nato auf Russlands Aggression in der Ukraine reagiert hat. Bei der Aufstellung dieser Speerspitze allerdings war die Bundeswehr alles andere als superschnell. Bei den ersten Übungen der Soldaten fehlten funktionierende Radpanzer vom Typ Boxer, Nachtsichtgeräte vom Typ Lucie (76 Prozent), Pistolen P8 (41 Prozent) und Maschinengewehre MG3 (31 Prozent).«

Das ist wirklich peinlich – und zugleich symptomatisch für den Zustand der Truppe und damit auch für die Arbeitsbedingungen (die sich an anderer Stelle durch neue Maßnahmen der „Attraktivitätsagenda“ erheblich verbessern sollen – wir sind hier auf der Lieblingsbaustelle der Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen, der es um die Vereinbarkeit von Krieg und Familie z.B. durch Kasernenkitas für Soldatenkinder oder um die Modernisierung der Kasernenstuben geht. Truppenintern wird das übrigens „FKK“ abgekürzt: „Flachbildschirm, Kita, Kühlschrank“. 
Aber abschließend wieder zurück zu den nicht nur real schmerzhaft spürbaren Folgen der überall grassierenden Verengung auf eine rein zahlengetriebene Betriebswirtschaft. Dazu gehört auch eine offensichtliche semantische Vergewaltigung. Um aus den Reihen der Bundeswehr – das ließe sich jetzt aber von vielen sofort auf ihre eigenen Erfahrungsbereiche übertragen – ein Beispiel zu nennen: „dynamisches Verfügbarkeitsmanagement“ ist so ein Sprechdurchfall. Was damit gemeint ist?

»Das besagt, dass jeder Verband nicht mehr so viele Hubschrauber oder Panzer bekommt, wie er eigentlich brauchte, sondern im Durchschnitt 75 Prozent davon. Will ein Verband üben, muss er sich das Gerät erst von einer anderen Einheit beschaffen.«

Das wäre doch ein Ansatz, den man auch auf Krankenhäuser, Altenheime, Kitas usw. übertragen könnte. Aber Ironie wieder aus und ein letzter Blick in den Artikel von Thorsten Jungholt und Andreas Maisch. Sie berichten darüber, dass ein Hauptfeldwebel, nachdem er alle unteren Instanzen ohne Resonanz bearbeitet hat, der Ministerin persönlich einen langen Brief geschrieben hat, in dem er auch auf das eben angesprochene „dynamische Verfügbarkeitsmanagement“ eingeht. Wie das funktionieren solle, schreibt nun der Hauptfeldwebel, wisse niemand so genau. „Einigkeit aber besteht in der Auffassung, dass es nicht funktionieren kann.“ Da werden sich viele andere wiederfinden.

Aber dann kommt noch ein Hinweis des Herrn Hauptfeldwebels an die Ministerin, den man mit etwas Phantasie durchaus übertragen kann auf eine generelle Verhaltensbeschreibung vieler Arbeitnehmer in Deutschland, die nicht aufbegehren, sondern selbst Hand anlegen angesichts der miesen Bedingungen um sie herum: Der Briefe schreibende Soldat von der Mangelfront »klagt über die Mängel an „praktischer, sinnvoller, zeitgerechter persönlicher Ausrüstung“. Die Folge: Die Soldaten beschafften sich die wichtigsten Utensilien privat im Army Shop, für „im Schnitt 500 Euro im Jahr“.« Geht doch, könnte man zynisch einwerfen. So lange die so was machen – keine Gefahr für das Gesamtsystem. Apropos und schlussendlich – das „System“. Die Spitze sieht das natürlich ganz anders – und wenn es schlimm kommt, dann glauben die das auch noch: Die Bundeswehr sei ein „Sicherheitsunternehmen, Reederei, Fluglinie, Logistikkonzern und medizinischer Dienstleister, alles auf Topniveau und weltweit vernetzt“, heißt es in Werbeprospekten, die Interessierten in den – natürlich muss es heute so heißen – Karrierecentern der Streitkräfte in die Hand gedrückt werden. 
Die deutsche Armee, eine wunderbare Welt in Flecktarn? Eher mit ganz vielen unansehnlichen Flecken, die immer größer werden und verdammt jucken.
Und auch das liest sich fast wie ein Symboltext für die Zustände in vielen anderen Unternehmen und Organisationen:

»Dank andauernden Missmanagements bei der vor 13 Jahren privatisierten Bekleidungsgesellschaft der Bundeswehr war die Auslieferung von Uniformen und Rucksäcken zuletzt ins Stocken geraten, dem Unternehmen drohte die Pleite.«

Ach ja, die Privatisierung. Und wer holt die Kartoffeln aus dem Feuer? Viele wissen die Antwort schon, hier der Vollständigkeit halber die Auflösung aus dem Artikel: »Um die Versorgung mit Feldanzügen sicherzustellen, schlug von der Leyen dem Parlament einen Staatskredit in Höhe von elf Millionen Euro vor. Das Geld wurde vorige Woche bewilligt, allerdings nur zähneknirschend.«

Die einen eher gut, die anderen deutlich schlechter und viele nur zum Teil. Was man in den Pflegeberufen in Deutschland verdient

Der Einkommensunterschied zwischen Krankenpflegern und Altenpflegern ist überraschend hoch. Auch regional betrachtet schwanken die Gehälter sehr stark, so zwei Befunde aus einer neuen Studie zu den Pflegeberufen in Deutschland, von denen Timot Szent-Ivanyi in seinem Artikel Altenpfleger verdienen deutlich weniger als Krankenpfleger berichtet. Es geht um die IAB-Studie Viel Varianz. Was man in den Pflegeberufen in Deutschland verdient von Bogai et al., die im Auftrag des Beauftragten der Bundesregierung für die Belange der Patientinnen und Patienten sowie Bevollmächtigten für Pflege, Karl-Josef Laumann, erstellt wurde, der die Studie vorgestellt und kommentiert hat: Studie belegt ungleiche Bezahlung und unfreiwillige Teilzeit in der Altenpflege, so hat er seine Pressemitteilung überschrieben und er fordert Konsequenzen aus den Ergebnissen. Laumann weist mit Blick auf die Studienergebnisse darauf hin, »dass man als Pflegekraft gut verdienen kann. Es bestehen aber je nach Region deutliche Unterschiede und man verdient als Krankenpfleger eher gut und als Altenpfleger deutlich schlechter. Zudem hat nur rund jede zweite beschäftigte Pflegefachkraft eine Vollzeitstelle. Bei den Helferberufen in der Pflege liegt die Teilzeitquote teilweise sogar deutlich über 70 Prozent.« Und Laumann bleibt nicht bei der Diagnose des Ist-Zustandes stehen, sondern er fordert – auf den ersten Blick in bestechender Schnörkellosigkeit – Konsequenzen:

»Wenn in allen Bundesländern die Fachkräfte der Altenpflege gegenüber vergleichbaren anderen Fachkräften bis zu 19 Prozent weniger verdienen, läuft etwas falsch. Wir brauchen in der Altenpflege endlich flächendeckend faire und angemessene Löhne, die von den Sozialpartnern in Tarifverträgen vereinbart werden. Sonst wird es immer schwieriger, junge Menschen für diesen wichtigen und anspruchsvollen Beruf zu begeistern. Und die brauchen wir für eine menschenwürdige Pflege in unserem Land. Ich schlage daher vor, dass künftig die Pflegekassen von allen Trägern der Pflegeeinrichtungen den Nachweis verlangen können, ob ein angemessener Lohn auch tatsächlich bezahlt wird. Die hierfür nötige Gesetzesänderung sollten wir im Pflegestärkungsgesetz II verankern. Vor allem aber brauchen wir starke Gewerkschaften, die für die Pflegekräfte eintreten und die für einen anständigen Tarifvertrag und für einen fairen Lohn kämpfen. Das ist nicht Sache der Politik.«

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20 Jahre Pflegeversicherung. Eine – wie immer in der Sozialpolitik – unvollständige Erfolgsgeschichte jenseits der Festveranstaltungen

Im März 1994 wurde die Pflegeversicherung als vierte Säule der Sozialversicherung neben Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung politisch beschlossen und am 1. Januar 1995 wurde sie zum Leben erweckt. »Die Pflegeversicherung übernimmt seit 1995 ambulante und teilstationäre Kosten. Seit Mitte 1996 zahlt sie auch Leistungen für die damals rund 480.000 Alten- und Pflegeheimbewohner. Mittlerweile leben knapp 800.000 Menschen in Alten- und Pflegeheimen«, so die Bundesregierung in ihrer Mitteilung Meilenstein in der Sozialgeschichte, für die das eine „Erfolgsgeschichte“ ist. 1995 erhielten eine Million Pflegebedürftige Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung, heute sind es gut 2,6 Millionen Menschen. Zwei Drittel der pflegebedürftigen Menschen werden in aller Regel zu Hause durch Familienangehörige, teilweise unter Beteiligung ambulanter Dienste betreut, ein Drittel stationär in Heimen. Etwa eine Million Menschen sind beruflich in der Altenpflege tätig. Auf einem Festakt des Pflegebevollmächtigten der Bundesregierung, Staatssekretär Karl-Josef Laumann, würdigten am 13. Januar 2015 zahlreiche Gäste aus Politik, Gesundheitswirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft die „Erfolgsgeschichte“ Pflegeversicherung. Staatssekretär Laumann wird mit den Worten zitiert: »Hatten Pflegebedürftige und ihre Familien zuvor kaum Unterstützung erhalten, gibt es inzwischen eine Vielzahl von Strukturen und Angeboten zur Entlastung.«

Die Pflegeversicherung, wie wir sie heute vorfinden, ist wie alles in der Sozialpolitik das Ergebnis eines Kompromisses. Über viele Jahre im Vorfeld der dann gewählten Sozialversicherungslösung wurde teilweise erbittert darüber gestritten, wie man das Risiko der Pflegebedürftigkeit in unserem Sozialstaat „richtig“ absichert. Vereinfacht gesagt gab es neben der letztendlich dann auch gewählten Variante als beitragsfinanzierte Sozialversicherung immer auch den Vorschlag, ein steuerfinanziertes Leistungsgesetz einzuführen. Ein ganz wichtiger Aspekt, warum man überhaupt über eine andere Form der Finanzierung der Pflegekosten damals diskutiert und die Pflegeversicherung eingeführt hat, war der immer stärkere Anstieg der Sozialhilfe-Kosten bei den Kommunen, die mit den „Hilfe zur Pflege“-Leistungen nach dem damaligen BSHG als Ausfallbürge für Menschen, die nicht in der Lage waren, die Kosten beispielsweise einer Unterbringung in einer Pflegeeinrichtung mit ihren vorhandenen Mitteln und ihrem Vermögen abdecken zu können, in Anspruch genommen wurden – und in den letzten Jahren in steigendem Maße wieder werden.

Schaut man sich einmal die lange Zeitreihe derjenigen an, die „Hilfe zur Pflege“-Leistungen nach dem BSHG bzw. mittlerweile SGB XII, also aus der Sozialhilfe, in Anspruch genommen haben, dann wird zum einen erkennbar, wie in den Jahren vor der Schaffung der Pflegeversicherung die kommunalen Ausgaben für die Pflege stetig angestiegen sind – und man erkennt auch den Effekt der Leistungen aus der Pflegeversicherung, die 1995 bzw. 1996 begannen, im Sinne stark sinkender kommunaler Sozialhilfeausgaben für den Pflegebereich. Man erkennt allerdings auch, dass seit Anfang des Jahrtausends die Zahl der Empfänger/innen von „Hilfe zur Pflege“-Leistungen wieder kontinuierlich ansteigt. Und dieser Prozess wird erwartbar anhalten und – ceteris paribus – den kommunalen Druck erneut ansteigen lassen.

Die sich in diesen Zahlen manifestierende Entwicklung wird auch in der Berichterstattung rund um die Festivitäten anlässlich des 20jährigen Bestehens der Pflegeversicherung aufgegriffen: Immer mehr Pflegebedürftige werden zum Sozialfall, um nur ein Beispiel zu zitieren. Im Jahr 2013 beliefen sich die staatlichen Nettoausgaben zur Finanzierung armutsgefährdeter Pflegebedürftiger bereits auf 3,34 Mrd. Euro, mit steigender Tendenz.

Bevor auf die wieder steigenden Ausgaben für die Kommunen eingegangen wird, muss aber mit Blick auf die Daten betont werden, dass der größte Teil der Ausgaben für Pflegebedürftigkeit von der Sozialen Pflegeversicherung sowie durch private Ausgaben der Betroffenen und ihrer Angehörigen gedeckt werden (müssen). Noch ist der Anteil der kommunal finanzierten Sozialhilfe kleiner als 10% – besonders erhöht haben sich in der Vergangenheit die privaten Ausgaben, die mittlerweile mehr als ein Drittel der Gesamtausgaben umfassen. Dass die Kommunen ohne substantielle Veränderungen im Gesamtsystem der Finanzierung von Pflegeleistungen mit stetig steigenden Ausgaben konfrontiert sein werden, liegt auf der Hand: Zum einen muss man immer wieder darauf hinweisen, dass die Pflegeversicherung eine Teil-Kaskoversicherung ist, also eben nicht die gesamten Kosten beispielsweise der Pflege und Unterbringung in einem Pflegeheim abdecken, sondern „nur“ einen definierten Anteil, der sich vom Grad der festgestellten Pflegebedürftigkeit ableitet. Der restliche Anteil muss zum einen aus den laufenden Einnahmen der Pflegebedürftigen gedeckt werden, also im wesentlichen aus den Renten bzw. Pensionen und – wenn diese Beiträge nicht ausreichen – dann auch aus dem gegebenenfalls vorhandenen Vermögen des Betroffenen. Sollten auch diese Beträge nicht ausreichen, um die Kosten zu decken, dann würde vor der Inanspruchnahme der kommunalen Sozialhilfeleistungen geprüft werden, ob die Kinder zur Mitfinanzierung herangezogen werden können.

Die großen Treiber der Ausgabensteigerungen im bestehenden System für die Kommunen sind offensichtlich: Zum einen steigt schlichtweg die Zahl der pflegebedürftigen Menschen aufgrund der demografischen Entwicklung erheblich an. Hinzu kommt, dass unter den zukünftigen Pflegebedürftigen zahlreiche Menschen sein werden, die zum einen mit Armutsrenten ausgestattet und kaum oder gar keinem Vermögen auf anteilig höhere Hilfeleistungen aus dem Sozialhilfe-System angewiesen sein werden. Viele von ihnen werden – wenn überhaupt – zudem Kinder haben, bei denen „nicht viel zu holen“ sein wird. Eine weitere Quelle steigender Hilfe zur Pflege-Ausgaben der Kommunen liegt innerhalb des Systems der Pflegeversicherung begründet bzw. des bisherigen Umgangs mit ihren Leistungen: Über Jahre hinweg wurden weder Beiträge noch Leistungen angepasst, so der Hinweis bei Stefan Vetter in seinem Artikel Der Preis der Würde. Das hat zu einer erheblichen Realwert-Senkung der Leistungen aus der Pflegeversicherung geführt, was natürlich nach dem Prinzip der kommunizieren den Röhren dazu führt, dass diese Anteile an anderer Stelle gegenfinanziert werden müssen. Ein weiterer Aspekt ist die in vielen Sonntagsreden vielfach beschworene Verbesserung der Pflegelandschaft vor allem mit Blick auf die dort arbeitenden Menschen. Theoretisch sind sich alle einig, dass beispielsweise die Vergütung für die Pflegekräfte erhöht werden müssten. Auch die Personalschlüssel in den Pflegeeinrichtungen, vor allem in der stationären Pflege, die durch immer höhere Grade der Pflegeintensität charakterisiert sind, müssten verbessert werden, was allerdings zu erheblichen Mehrausgaben führen würde.

Man kann es drehen und wenden wie man will. Die Finanzierungsfrage wird – neben den vielen Baustellen auf der Seite der Leistungen wie auch des Zugangs (Stichwort Pflegebedürftigkeitsbegriff) – zu einer zentralen Thematik werden (müssen). Hier erweist es sich als hoch problematisch, dass die Pflegeversicherung als beitragsfinanzierte Sozialversicherung konzeptualisiert worden ist mit all den Folgeproblemen, die wir auch von ihren großen Geschwistern wie der Rentenversicherung kennen, vor allem hinsichtlich der Begrenzung auf den Faktor sozialversicherungspflichtige Arbeit und dann auch noch bis zur Beitragsbemessungsgrenze.

Entsprechend die Argumentation von Rothgang et al. im BARMER GEK Pflegereport 2014, die neben den unbestreitbaren Erfolgskomponenten von 20 Jahren Pflegeversicherung auch auf zentrale kritische Punkte hinweisen:

»Gleichzeitig enthält das Pflege-Versicherungsgesetz einige Geburtsfehler dieses neuen Sozialversicherungszweig, die bis heute nachwirken und aktuelle Reformvorhaben und -debatten prägen. Hierzu zählt der (zu) enge Pflegebedürftigkeitsbegriff, der im für 2017 geplanten zweiten Pflegestärkungsgesetz erweitert werden soll, die fatale Eingrenzung der Beitragspflicht auf Löhne, Gehälter und Lohnersatzleistungen ebenso wie das duale System von Sozialer Pflegeversicherung und Privater Pflegepflichtversicherung, das normativ nicht gerechtfertigt werden kann. Auch produziert das Nebeneinander von einer Krankenversicherung mit Kassenwettbewerb und einer Pflegeversicherung ohne Kassenwettbewerb Fehlanreize an den Schnittstellen.«

Trotz des unabweisbaren Weiterentwicklungsbedarfs angesichts zahlreicher kritischer Punkte muss aber fairerweise auch darauf hingewiesen werden, dass gerade mit Blick auf die Situation vor über 20 Jahren zahlreiche positive Bilanzpunkte auszuweisen wären (vgl. dazu Rothgang et al. 2014: 25 ff.): So waren vor Einführung der Pflegeversicherung etwa 80 % der Pflegeheimbewohner auf die bedürftigkeitsabhängige Hilfe zur Pflege angewiesen, heute sind es weniger als die Hälfte. Die Versorgungssituation war damals eine ganz andere und durch erhebliche Defizite, und zwar nicht nur im Hinblick auf die Zahl der Einrichtungen, sondern auch im Hinblick auf das konkrete Leistungsangebot gekennzeichnet. Qualität war kein Thema. Hier hat es nach Einführung der Pflegeversicherung erhebliche Veränderungen gegeben: Im Bereich der Pflegeinfrastruktur kam es zu einer dramatischen Expansion des Angebots an formeller Pflege. Im Pflege-Versicherungsgesetz wurde erstmals die ganze Bevölkerung obligatorisch in eine gesetzliche Versicherung einbezogen. »Vor allem aber wurde das Pflegerisiko mit Einführung der Pflegeversicherung als allgemeines Lebensrisiko anerkannt, das einer sozialrechtlichen Bearbeitung bedarf. Damit wurde die deutsche Pflegeversicherung Vorbild für die Einführung der Pflegeversicherung in Luxemburg, Japan und Korea und für viele aktuelle Debatten zur Pflegesicherung in anderen Teilen der Welt« (Rothgang et al. 2014: 27). Das darf und muss zur Kenntnis genommen werden.

In den vor uns liegenden Jahren wird es – hier folge ich der Einschätzung von Rothgang et al. (2014: 29) – vor allem an drei Punkten dringenden Handlungsbedarf geben:
Zum einen der enge Pflegebedürftigkeitsbegriff, dann die anhaltende Debatte über Leistungsdynamisierung, da der § 30 SGB XI nur die Möglichkeit für diskretionäre Leistungsanpassungen, aber keine obligatorischen regelgebundenen Leistungsanpassungen vorsieht, sowie last but not least vor dem Hintergrund der Begrenzung der Beitragspflicht auf Einkommen aus unselbständiger Arbeit und Lohnersatzleistungen, die zur strukturellen Einnahmeschwäche auch der Pflegeversicherung führen, eine Weiterentwicklung der Finanzierungsgrundlagen.
Es gibt also – nicht wirklich überraschend – eine Menge zu tun. Und wir sind dann nur auf der Ebene der Pflegeversicherung, hinzu kommen weitere hoch relevante Felder der Pflegepolitik, vom Pflegepersonal angefangen über die kommunale Altenhilfe bis hin zu den osteuropäischen Pflegekräften, die im Regelfall in halb- oder illegalen Verhältnissen mit dafür sorgen, dass unser Pflegesystem nicht kollabiert ist.