Mehr, sie brauchen und wollen mehr. Mehr Personal. Ein Streik, der das Gesundheitssystem erschüttern könnte. Der Arbeitskampf des Pflegepersonals an der Charité in Berlin

Jetzt hat er also begonnen – der unbefristet angelegte Streik der Pflegekräfte an der Charité in Berlin. Die Charité gehört zu den größten Universitätskliniken Europas. In der Selbstdarstellung liest sich das so: »Die Charité verteilt sich auf vier Standorte, zu denen rund 100 Kliniken und Institute, gebündelt in 17 CharitéCentren, gehören. Mit 13.100 Mitarbeitern erwirtschaftet die Charité 1,5 Milliarden Euro Gesamteinnahmen pro Jahr und ist damit einer der größten Arbeitgeber Berlins. Im Jahr 2010 konnte die Charité auf eine 300-jährige Geschichte zurückblicken.« Es gibt insgesamt 3.000 Betten – von denen werden in den kommenden Tagen fast 1.000 nicht mehr belegbar und 200 Operationen werden pro Tag ausfallen, weil die Pflegekräfte in den Arbeitskampf ziehen. Nicht für mehr Geld oder weniger Arbeitszeit – sie kämpfen für mehr Personal. Mehr Leute sollen an Bord der Pflege.

Es ist sicherlich keine Übertreibung zu sagen, dass wir es mit einem historischen Ereignis zu tun haben – mit allen Unwägbarkeiten und Risiken, die damit verbunden sind. Es wird auf der einen Seite verdammt schwer, diesen Streik als überzogenes Verhalten irgendeiner kleinen Beschäftigtengruppe, die sich die Taschen voll machen wollen, zu desavouieren. Das spricht dafür, dass es eine breite Sympathiebewegung geben wird. Auf der anderen Seite muss man sehen, dass das Pflegepersonal vor einem Problem stehen, das bereits im Erzieher/innen-Streik der vergangenen Wochen zu beobachten war: Bestreikt werden können sowohl in den Kitas wie auch in den Krankenhäusern nicht die Arbeitgeber direkt, wie beispielsweise in der Automobilindustrie oder anderen „normalen“ Unternehmen, sondern getroffen werden können diese nur indirekt, über die Kinder bzw. Eltern oder eben die Patienten. Und das ruft nach kurzer Zeit erhebliche Widerstände in Teilen der betroffenen Bevölkerung hervor. Das alles haben wir beobachten müssen mit zunehmender Dauer des Kita-Streiks und das wird wesentlicher heftiger ausfallen, wenn sich das im Gesundheitswesen zuspitzt. Allerdings – das muss man hervorheben – wird ein Krankenhaus weitaus schneller und wesentlich härter ökonomisch von einem Arbeitskampf getroffen als eine Kita. Das ist auch eine Folge des Finanzierungssystems auf Basis von Fallpauschalen, mit denen nur erbrachte Leistungen vergütet werden. Und wenn pro Tag 200 OPs ausfallen müssen, dann kann man sich vorstellen, um welche Verlustgrößen in Euro es hier für die Charité gehen wird.

Anfang Juni 2015 berichtete die Berliner Zeitung in dem Artikel Charité-Mitarbeiter wollen unbefristet streiken:

»Charité-Mitarbeiter wollen unbefristet streiken … Nach langen, aber ergebnislosen Verhandlungen steht der Charité ein unbefristeter Ausstand bevor. Am 22. Juni soll es losgehen. Nicht der Streik, sondern der Normalzustand an der Klinik gefährde die Patienten, erklärt die Gewerkschaft … In dem Konflikt geht es vor allem um die Situation der Pflegekräfte: Sie beklagen eine zu dünne Personaldecke und eine sehr hohe Arbeitsbelastung. Bemühungen um einen Tarifvertrag, der etwa Forderungen nach Mindestbesetzungen auf Stationen Rechnung trägt, laufen seit 2013. Die Charité-Leitung sieht jedoch Hindernisse: Die geforderten 600 Zusatz-Pfleger seien nicht verfügbar und die Kosten dafür zu hoch.«

Nunmehr ist diese Ankündigung Wirklichkeit geworden. »Die in Verdi organisierten Charité-Beschäftigten fordern mehr Personal, auch um stressbedingte Versorgungsfehler am Krankenbett zu vermeiden. Konkret hieße das, zu den mehr als 4.000 Charité-Pflegekräften kämen Hunderte neue Stellen. Die Gewerkschaft hatte fast drei Jahre mit dem Vorstand verhandelt, der wiederholt erklärte, der Charité fehle dafür das Geld, vielmehr seien die Krankenkassen und die Bundespolitik zuständig«, kann man dem Artikel Wenn die Krankenbetten leer bleiben von Hannes Heine und Juliane Fiegler entnehmen.

An dieser Stelle sei der Hinweis darauf erlaubt, dass wir hier mit einer durchaus vergleichbaren Problematik konfrontiert werden, die bereits beim Streik der Erzieher/innen eine wichtige Rolle gespielt hat bzw. spielt: Viele Kommunen argumentieren dort, dass sie ja gerne die Fachkräfte in den Kindertageseinrichtungen besser bezahlen möchten, dazu finanziell aber nicht in der Lage sind, weil sie bereits heute mit der Umsetzung des vom Bundesgesetzgeber vorgeschriebenen Rechtsanspruchs auf einen Betreuungsplatz ab dem vollendeten ersten Lebensjahr überfordert seien. Wenn man die Fachkräfte besser bezahlen möchte, dann seien an dieser Stelle die Bundesländer und der Bund in der Verantwortung – was durchaus richtig ist, für die betroffenen Arbeitnehmer aber dazu führen kann, dass sie im Niemandsland der Nicht-Zuständigkeit der drei föderalen Ebenen hängen bleiben. Durchaus vergleichbar könnte das sein, was jetzt den Pflegekräften im aktuellen Arbeitskampf droht. Die Charité wird argumentieren, dass das Anliegen der Streikenden ja durchaus nachvollziehbar sei, hierzu aber eine bundeseinheitliche Regelung angestrebt werden müsse, weil sich das vor Ort in den einzelnen Krankenhäuser gar nicht realisieren lässt.

»Der Charité-Ausstand ist im Kern ein politischer Streik – er fordert nicht nur die Universitätsklinik, sondern das Gesundheitswesen heraus. Zu Recht«, so Hannes Heine in seinem Kommentar Ein krankes System, der schon vom 28. April 2015 datiert und über den damaligen zweitägigen Streik an der Charité berichtet hat. »Weil es den überraschend zahlreichen Streikenden nicht um die Löhne geht, sondern darum, die Spitze der Universitätsklinik zu einer anderen Personalpolitik zu zwingen, ist dieser Arbeitskampf im Kern das, was in Deutschland gar nicht erlaubt ist: ein politischer Streik«, so Heine und er findet das auch gut so. Denn ansonsten wird sich kaum etwas bewegen auf der politischen Bühne, die sich bislang darauf verlassen konnte, dass das Pflegepersonal schon nicht streiken wird und man sich weiterhin arrangieren kann bzw. die Interessen anderer Gruppen, beispielsweise der Ärzte, eher verfolgt als die der Pflege, die – wenn überhaupt – nur vor sich hin meckert.

Aber die Pflegekräfte an der Charité haben sich entschlossen, den harten, steinigen Weg eines Arbeitskampfes einzuschlagen. Vielleicht wird sich das einmal als der entscheidende Arbeitskampf im deutschen Gesundheitswesen erweisen. Noch nie wurde für mehr Kollegen gestreikt, statt für mehr Lohn. Erst einmal handelt es sich um einen lokalen Streik – die Charité behandelt etwa 20 Prozent der Berliner Patienten, Vivantes beispielsweise 30 Prozent.  Vielleicht rührt daher die derzeit beobachtbare Interaktivität der Berliner Politik, die die Charité in den Streik hinein laufen lässt, ohne irgendwelche Aktivitäten erkennen zu lassen. Vielleicht ist es die Hoffnung, dass sich die Patienten eben auf die anderen Krankenhäuser verteilt werden, irgendwie, und man das ganze aussitzen kann. unsicher werden genau deswegen auch zahlreiche Zweifler ihre Bedenken vortragen, ob dieser Weg denn der richtige und vor allem der erfolgreicher sein kann.

Auch hier kann der Blick in die Vergangenheit helfen. Hannes Heine hat darauf hingewiesen:

»Führen lokale Arbeitskämpfe zu neuen Bundesgesetzen? Historisch gesehen, ja. Heute ist die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall üblich, Millionen nehmen sie in Anspruch. In den 50ern galt dieses Recht nur für Angestellte. Im Winter 1956/57 streikten die Werftarbeiter in Schleswig-Holstein heute unvorstellbare 16 Wochen lang, um die Lohnfortzahlung für Arbeiter durchzusetzen. Weil man in der Bundespolitik fürchtete, solche Tarifverträge würden bald alle wollen, fand sich bald eine Bundestagsmehrheit für eine erste Gesetzesnovelle. Volle Gleichstellung gab es dann 1970.«

Ein solches Unterfangen lebt immer von den handelnden Akteuren, die bereit sind, den steinigen Weg auch zu gehen – Hannes Heine porträtiert einen davon in seinem Artikel Von Bett zu Bett hetzen – bis einer was vergisst: Carsten Becker, 49 Jahre alt, Personalrat in der landeseigenen Charité. Und Becker kann den Streik gut begründen:

»Pro Schicht betreut eine Schwester auf der Normalstation zehn, elf, zwölf Patienten. Hetzt von Bett zu Bett. Bis sie womöglich etwas vergisst, eine Patientenakte, vielleicht aber auch das Desinfizieren der Hände. Nachts betreut eine Schwester 25 Patienten, oft sind Schwergewichtige dabei, die sie ohne Hilfe kaum umdrehen kann. Druckgeschwüre drohen. Nachts keine Schicht allein, fordern die Streikenden, tagsüber fünf Patienten pro Pflegekraft.«

„Wir brauchen mehr Leute“, sagt Becker. „Der Vorstand weiß das.“ Damit direkt angesprochen ist Karl Max Einhäupl, 68 Jahre, Neurologe. Er ist Chef der Charité.

»Einhäupl wollte den Streik vom Arbeitsgericht verbieten lassen, das Patientenwohl sei gefährdet, die Forderungen seien kaum tariffähig. Selbstverständlich, erklärte der Richter, dürfe man für mehr Personal streiken. Und mit Verdi ist vereinbart worden, Notfälle auch während des Streiks zu versorgen. Einhäupl versucht es nun beim Landesarbeitsgericht.« Aber der Streik hat erst einmal begonnen, die Karawane hat sich in Bewegung gesetzt. Und pro Streiktag verliert die Charité mindestens 500.000 Euro.

Nur für alle potenziellen Kritiker der Streikaktionen sei an dieser Stelle nochmals darauf hingewiesen: Der Arbeitskampf ist nicht vom Himmel gefallen, sondern steht am Ende einer längeren Geschichte:

»Die Pflegekräfte sehen durch den schlechten Personalschlüssel und den hohen Einsatz von Leiharbeitern die Standards nicht mehr eingehalten und deshalb die Sicherheit der Patienten gefährdet. Deshalb verhandelt ver.di seit mehr als zweieinhalb Jahren mit der Klinikleitung über eine Mindestbesetzung, die die Gewerkschaft in einem Tarifvertrag festhalten will. Unter anderem fordern sie, dass nachts auf jeder Station mindestens zwei Kollegen Dienst tun und für Intensivstationen einen Betreuungsschlüssel von einer Fachkraft für zwei Patienten. Damit orientiert sich ver.di an Empfehlungen der Fachgesellschaften. Außerdem möchte die Gewerkschaft verbindliche Verfahren zum Erfassen von Überlastungssituationen. Allein seit Beginn der Gespräche haben Beschäftigte laut ver.di mehr als 800 Gefährdungsanzeigen bei der Klinikleitung vorgebracht, um dieser die prekäre Personalsituation vor Augen zu führen und auf die Konsequenzen aufmerksam zu machen. Doch auf eine Reaktion warten sie in den meisten Fällen vergeblich«, so Claudia Wrobel in ihrem Artikel Patientengefährdung.

Auch in diesem Blog wurde bereits mehrfach über das Thema berichtet, so beispielsweise im Zusammenhang mit Erkenntnissen über die desaströse Situation bei den Nachtdiensten: Man kann sich auch zu Tode sparen. Die alles überlagernde Kostensenkungslogik trifft in der Pflege beide Seiten der Medaille hart, die Patienten und die Pflegekräfte, so beispielsweise die Überschrift eines Beitrags vom 07. 03.2015.

Letztendlich geht es um die Frage von Personal(mindest)standards. Denn die sind entgegen der Annahme vieler „normaler“ Bürger im Krankenhausbereich gerade nicht vereinbart, geschweige denn, dass ihre tatsächliche Ausprägung vor Ort entsprechend überprüft wird. Bereits am 08.09.2014 wurde dies in dem Beitrag Pflegenotstand – und nun? Notwendigkeit und Möglichkeit von Mindeststandards für die Ausstattung der Krankenhäuser mit Pflegepersonal entfaltet. Dabei handelt es sich um eine sehr lange, gleichsam unendliche Geschichte. Man kann die mit einem Kürzel belegen: PPR. Das steht für „Pflege-Personalregelung“. Die gab es schon mal – und wurde dann ganz schnell wieder eingestampft.

Die Pflege-Personalregelung wurde 1993 eingeführt, um die Leistungen der Pflege transparenter zu machen und eine Berechnungsgrundlage für den Personalbedarf zu haben. Experten gingen damals davon aus, dass sich durch konsequente Anwendung der PPR bundesweit ein Personalmehrbedarf im fünfstelligen Bereich ergeben würde.  Als sich abzeichnete, dass die daraus resultierenden Mehrkosten nicht zu tragen sind, wurde die Pflege-Personalregelung schnell wieder ausgesetzt.

Wie gesagt, das war Anfang der 1990er Jahre. Heute schreiben wir das Jahr 2015. Und im Interview mit Sylvia Bühler, Bundesvorstandsmitglied bei der Gewerkschaft ver.di und Leiterin des Fachbereichs Gesundheit und soziale Dienste, unter der Überschrift „Alarmsignale in den Kliniken werden ignoriert“ muss man lesen: 162.000 Stellen fehlen in deutschen Krankenhäusern, davon allein 70.000 in der Pflege. Gegen die Personalnot fordert ver.di eine gesetzliche Regelung. Eva Quadbeck zitiert in ihrem Artikel Die Not der Klinikpfleger Andreas Westerfellhaus, den Vorsitzenden des Deutschen Pflegerats: „Seit 2007 wurden 50.000 Pflegestellen in Krankenhäusern abgebaut. Oft genug sind nur eine Krankenschwester und eine Schwersternschülerin für rund 30 Patienten zuständig“. Die Arbeitsbelastung hat nach Daten des Statistischen Bundesamtes in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. Während im Jahr 2000 eine Vollzeit-Pflegekraft auf 100 Krankenhausfälle kam, musste sich diese Kraft im Jahr 2013 um 115 Fälle kümmern.

Man kann nur hoffen, dass die Pflegekräfte an der Charité Erfolg haben, nicht ausgehungert werden an der langen Leine des Tot-Stellens, wie wir es von der Arbeitgeber-Seite beispielsweise im Kita-Streik haben zur Kenntnis nehmen müssen. Es ist Zeit für einen Aufbruch der Pflegekräfte. Wenn nicht jetzt, wann dann?

Pflegende Angehörige: Verloren im Dickicht der Bürokratie und der sicher gut gemeinten Leistungen

Um es gleich an den Anfang zu stellen: Das Pflegesystem in Deutschland würde innerhalb von Stunden kollabieren, wenn es nur einer überschaubaren Zahl an pflegenden Angehörigen einfallen würde, die Pflegeleistungen einzustellen oder diese an das professionelle Pflegesystem übergeben zu wollen. So viele Pflegeheimplätze und vor allem so viel Pflegefachkräfte könnten wir gar nicht herbeizaubern. Und es handelt sich hierbei nicht um eine kleine Gruppe, sondern 70 Prozent der Pflegebedürftigen (im Sinne einer der Pflegestufen des SGB XI) werden von den Angehörigen betreut und versorgt. Es ist nicht nur seit langem bekannt, dass gerade die Pflege der eigenen Angehörigen eine ungemein belastende und oftmals vernutzende Tätigkeit ist, die beispielsweise dazu beiträgt, dass pflegende Angehörige eine deutlich höhere Wahrscheinlichkeit haben, später selbst pflegebedürftig zu werden.

Und in den vergangenen Jahren sind diese Erkenntnisse nicht nur auf den Bildschirm des Gesetzgebers geraten, sondern man hat auch tatsächlich einen ganzen Strauß an Leistungen geschaffen, mit denen verhindert werden soll, dass die pflegenden Angehörigen selbst zu Pflegefällen werden. „Verhinderungspflege“ nennt man das dann. Eine gute Absicht. Und eine, die zugleich auch dazu beitragen kann, erhebliche Folgekosten zu sparen. Wenn denn aus der Absicht auch Wirklichkeit wird. Die Verhinderungspflege ist gewissermaßen das Angebot an pflegende Angehörige, auch mal Urlaub zu machen oder eine Krankheit auskurieren zu können.

Vor diesem Hintergrund muss man dann nicht nur aufhorchen, sondern genau hinschauen, wenn beispielsweise Rainer Woratschka in einen Artikel berichtet: Angehörige rufen Geld nicht ab.: »Für Urlaub oder Ausfall von pflegenden Angehörigen zahlen die Pflegekassen bis zu 1.612 Euro pro Jahr. Doch nur wenige nehmen das Hilfsangebot in Anspruch.« Die Zahlen, die er präsentiert, sind erschreckend: Nach einer Statistik des Bundesgesundheitsministeriums für das Jahr 2014 nutzten »von etwa 1,95 Millionen zu Hause versorgten Pflegebedürftigen lediglich 106.700 die sogenannte Verhinderungspflege zur Entlastung pflegender Angehöriger. Das sind gerade mal 5,4 Prozent. Hochgerechnet ließen sich pflegende Angehörige dadurch Hilfen im Wert von bis zu 2,86 Milliarden Euro entgehen.« Wie kann das sein? Diese Frage muss gestellt und beantwortet werden auch vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die Leistungen am Anfang dieses Jahres sogar noch ausgeweitet wurden, denn seitdem übernimmt die Pflegeversicherung bis zu sechs Wochen lang Ersatzpflegekosten von bis zu 1.612 Euro pro Jahr. Vorher waren es vier Wochen, dafür gab es bis zu 1.550 Euro. Und seit Januar gibt es auch Geld für Haushaltshilfen – und zwar pro Pflegefall bis zu 104 Euro im Monat. Bisher hatten nur Demenzkranke Anspruch darauf, sie erhalten nun bis zu 208 Euro.

Eugen Brysch, der Vorsitzende der Deutschen Stiftung Patientenschutz wird mit den Worten zitiert, dass „ein riesiges Hilfsangebot fast gar nicht abgerufen wird“. Und auch zwei weitere Zitate von ihm lassen aufhorchen: „Es reicht nicht, schöne Broschüren zu drucken.“ Und mit Blick auf die zu erfüllenden Voraussetzungen, um die Leistungen zu erhalten: „Man darf den Korb nicht so hoch hängen, dass keiner mehr drankommt.“ Er verweist bereits auf eine mögliche Ursache der erheblichen Unterinanspruchnahme: „Den Menschen bloß Formulare in die Hand zu drücken, kann es ja wohl nicht sein.“ Er plädiert dafür, dass Pflegeberater den Ratsuchenden auch beim Ausfüllen von Anträgen helfen.

Was sagen die Pflegekassen zu dem geringen Interesse an bezahlten Pflegeauszeiten? Sie haben dafür noch keine schlüssige Erklärung. Ein Grund könne sein, dass dafür externe Pflegedienste ins Haus kämen, so einer der Hypothesen – und zwar gerade dann, wenn die eigentlich pflegenden Personen nicht da sind. Und ein zeitweiliger Wechsel aus dem häuslichen Umfeld in fremde Einrichtungen müsse ebenfalls gewünscht sein.

Woratschka berichtet in seinem Artikel von einer Studie der Berliner Charité, in der auf der einen Seite der Entlastungsbedarf der pflegenden Angehörigen herausgearbeitet wurde, aber auch: Knapp ein Viertel der Angehörigen fühlen sich unwohl, wenn plötzlich Fremde die Pflege übernehmen. Viele scheuen sich davor, den Pflegebedürftigen abzugeben oder sich in die eigenen vier Wände schauen zu lassen. Insofern wäre es wichtig, sich zu bemühen, solche Hemmschwellen abzubauen und den Pflegenden die Notwendigkeit von Auszeiten nahezubringen.

Die Problematisierung der Situation der pflegenden Angehörigen wird auch von Susanne Werner in ihrem Artikel unter der bezeichnenden Überschrift Verloren im Irrgarten des Reha-Antrags thematisiert: »Pflegende Angehörige können gemeinsam mit ihren pflegebedürftigen Familienmitgliedern eine Rehabilitation in Anspruch nehmen. Ein Gutachten des BQS-Instituts macht jetzt auf das komplizierte Antragswesen aufmerksam.« Dagmar Hertle, Ärztin am BQS-Institut für Qualität und Patientensicherheit in Düsseldorf, wird mit diesen Worten zitiert: „Für die pflegenden Angehörigen sind die Zugangswege zu einer Rehabilitation bislang nicht ausreichend etabliert. Ihr Reha-Bedarf dringt bislang nicht bis zu den Kliniken durch.“

Im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) hat das BQS-Institut untersucht, in wie weit sich die Angebotsstrukturen in der Rehabilitation bereits auf pflegende Angehörige als Zielgruppe eingerichtet haben. Dies muss vor dem Hintergrund des Pflege-Neuausrichtungsgesetzes (PNG) von 2012 gesehen werden. »Seither ist es für pflegende Angehörige möglich, ihre pflegebedürftigen Eltern, Partner oder Kinder in eine Rehabilitation mitnehmen. Zudem sollten die „besonderen Belange pflegender Angehöriger“ bei der Beurteilung eines Antrags besonders berücksichtigt werden.«

Die Studie arbeitet zwei zentrale Problemstellen heraus:

  • »In der Praxis zeigt sich, dass Zeit und Aufwand, die mit einem Reha-Antrag verbunden sind, viele pflegende Angehörige überfordern. Das Vorgehen erscheint sehr bürokratisch, wenig transparent und oftmals uneinheitlich … Oftmals seien Informationen an unterschiedlichen Stellen einzuholen und nicht selten bleibe es dennoch unklar, wer im konkreten Fall der richtige Kostenträger sei. Die Anträge, in denen der Status „pflegender Angehöriger“ bislang fehlt, müssten mitunter mehrfach gestellt werden.«
  • Hinzu kommt ein erhebliches Problem auf der Angebotsseite: Lediglich 31 der knapp 1.200 Rehabilitations- und Vorsorgeeinrichtungen haben bereits spezifische Angebote für pflegende Angehörige und deren Pflegebedürftige. 

Die Studie gibt auch Empfehlungen: »Um den pflegenden Angehörigen den Weg in die Reha zu erleichtern, empfiehlt sie, die Beratungsleistungen für eine Rehabilitation zu standardisieren und auf kommunaler Ebene zusammenzuführen.«

Entlastung an der einen oder anderen Stelle, aber keine Lösung des zunehmenden Personalmangels: Ausländische Pflegekräfte

Schon heute klagen Heime, Kliniken und Pflegedienste über Probleme, freie Stellen zu besetzen. Im Ausland nach Fachkräften zu suchen, ist dabei trotzdem für die meisten keine Option, wie eine aktuelle Befragung zeigt, die von der Bertelsmann-Stiftung veröffentlicht wurde. Eine Zusammenfassung findet man in dem Artikel Im Ausland wird kaum nach Arbeitskräften gesucht.  Der Artikel bezieht sich dabei auf die Studie Internationale Fachkräfterekrutierung in der deutschen Pflegebranche von Holger Bonin, Grit Braeseke und Angelika Ganserer. Der Befund einer sehr zurückhaltenden Inanspruchnahme der aktiven Personalgewinnung im Ausland ist vor dem Hintergrund, dass in den vergangenen Monaten immer wieder von den Bemühungen, ausländische Pflegekräfte für den deutschen Arbeitsmarkt zu rekrutieren, in den Medien berichtet wurde. Da kommen dann solche Berichte raus: »Ohne Kräfte aus dem Ausland wäre das Pflegesystem in Deutschland längst zusammengebrochen«, kann man dem Artikel So integriert die Münchenstift ausländische Pflegekräfte entnehmen. Und weiter: „Ohne diese Pflegekräfte aus Bosnien, Kroatien oder anderen Ländern geht es längst nicht mehr“, wird der Münchenstift-Chef Sigi Benker zitiert. »Schon jetzt haben 60 Prozent der insgesamt 1.900 Mitarbeiter in seinen Häusern einen Migrationshintergrund – es werden wohl noch mehr werden.« Oder auch dieses Beispiel, zugleich ein weiteres Thema öffnend: »Sie kommen aus Spanien oder Polen und pflegen Patienten in Berlin und Brandenburg: Ohne ausländische Pflegekräfte könnten viele Kliniken nicht mehr arbeiten. Doch einige fühlen sich ausgebeutet«, heißt es in dem Beitrag Wie Krankenhäuser und Heime ausländische Pfleger knebeln aus dem Jahr 2014.

Damit man sich ein Bild machen kann von den Größenordnungen, um die es derzeit geht, hier ein grober Blick auf die Beschäftigungsdaten:

73.600 ausländische Pflegekräfte waren 2013 in Deutschland sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Das waren 5,5 Prozent aller Pflegekräfte. Mit 9.949 Pflegekräften war Polen am stärksten vertreten, knapp gefolgt von der Türkei, woher 9.071 Fachkräfte kamen. Das andere Ende der Skala bildet China mit 106 in Deutschland tätigen Pflegekräften.

Schon in zehn Jahren dürften in Deutschland zwischen 150.000 und 370.000 Vollzeitstellen in der Pflege fehlen, heißt es in der Untersuchung der Bertelsmann Stiftung. Dann stellt sich natürlich die Frage, warum die Arbeitgeber relativ zurückhaltend sind bei der Rekrutierung ausländischer Pflegekräfte:

»Demnach haben nur rund 16 Prozent der dafür befragten 600 Unternehmen ausländische Fachkräfte im Einsatz. Mit gutem Erfolg: Drei von fünf Personalverantwortlichen sind mit den neuen Mitarbeitern zufrieden oder sogar sehr zufrieden.
Weil die bürokratischen Hürden bei der Einstellung ausländischer Pflegekräfte oft ebenso hoch sind wie die Sprachbarrieren, versuchen viele Unternehmer eher Personal von der Konkurrenz abzuwerben und die Mitarbeiter im Betrieb zu qualifizieren. Ein gutes Arbeitsklima und ein sinkender Krankenstand soll helfen, die Mitarbeiter zu halten«, berichtet Anno Fricke in seinem Artikel.

Auch der Pflegebeauftragte der Bundesregierung, Staatssekretär Karl-Josef Laumann, hat sich zu Wort gemeldet: Der Arbeitsmarkt in Deutschland sei jedoch so lange nicht ausgeschöpft, so lange das Problem der unfreiwilligen Teilzeit fortbestehe. Ein wichtiger und richtiger Hinweis.

»Die Autoren der Bertelsmann-Studie geben sieben Empfehlungen ab, wie ausländische Pflegekräfte reibungsloser in den deutschen Arbeitsmarkt integriert werden könnten. Ganz oben steht die Forderung nach einem bundesweit einheitlichen und kompetenzorientierten Verfahren der Berufsanerkennung. Zudem sollten mögliche Bewerber schon zu Hause Möglichkeiten vorfinden, Deutsch zu lernen«, berichtet Fricke.

Die Umfrage habe aber auch deutlich gemacht, so die Studienautoren, dass nicht alle Unternehmen von sich aus bedächten, dass sich durch ihr Engagement Lücken in der medizinischen und pflegerischen Versorgung der Entsendeländer auftun könnten. Das nun wieder wirkt irgendwie als wohlfeile Einfügung einer kritisch daherkommenden Fußnote – denn natürlich reißen alle Arbeitgeber, die hier in Deutschland Fachkräfte aus anderen Ländern beschäftigen, unvermeidbar Lücken in die dortige Versorgung. Man werfe nur einen Blick auf die gut 30.000 ausländischen Ärzte, die in deutschen Krankenhäusern die medizinische Versorgung mit aufrechterhalten. Viele kommen aus osteuropäischen Ländern, wo ihr Weggang schmerzhafte Versorgungslücken reißt.

Die entscheidende Aufgabe wird in den vor uns liegenden Jahren darin liegen, zum einen die Pflegeberufe endlich aufzuwerten und die Arbeitsbedingungen erträglicher zu gestalten, auf der anderen Seite wird man gerade angesichts der definitiv stark ansteigenden Zahl an pflegebedürftigen Menschen nicht umhin kommen (im Zusammenspiel mit völlig berechtigten Forderungen nach einer Verbesserung der Personalschlüssel), auch Zuwanderer für die Pflege zu gewinnen. Dies dann aber bitte zu qualifizierten und qualifizierenden Bedingungen. Sicherlich gäbe es unter den Menschen, die gerade in großer Zahl zu uns gekommen sind und noch kommen werden, auch viele, die sich eine berufliche Tätigkeit in der Pflege vorstellen können. Dafür muss man diese Menschen dann aber auch entsprechend qualifizieren. Jeder Euro, den man dafür in die Hand nimmt bzw. nehmen würde, wird sich um ein Vielfaches auszahlen.

Man sollte aber auch so ehrlich sein, dass das nicht nur erhebliche vorlaufende Investitionen voraussetzen würde, sondern man braucht vor allem auch Zeit, denn das zentrale Nadelöhr gerade für die Menschen, die in der Pflege arbeiten wollen oder sich das vorstellen können, ist oftmals die deutsche Sprache, denn man arbeitet in der Pflege nicht an Maschinen oder anderen Dingen, sondern am und mit dem Menschen und da ist Kommunikation von zentraler Bedeutung. Und die deutsche Sprache ist keine einfache Sprache und nicht jeder ist sprachbegabt. Dann benötigt man Zeit und eine qualifizierte Begleitung der zukünftigen (potenziellen) Pflegekräfte, denn gerade auf ausreichend Sprachkompetenz muss gerade in solchen Bereichen wie er Pflege besonderer Wert gelegt werden – im beiderseitigen Interesse, sowohl der Pflegebedürftigen wie auch des Personals. Aber das verstärkt nur eine Einsicht: Jedes Jahr, jeder Monat und jeder Tag, den wir länger warten, durch umfassende Bildungsinvestitionen den Menschen, die zu uns gekommen sind bzw. das noch werden, und die auch prinzipiell in der Pflege arbeiten können und wollen, das zu ermöglichen, wird sich angesichts des in den meisten Fällen mehrjährigen Qualifikations- und Anpassungsprozesses bitter rächen. Statt aber dieses Thema systematisch anzugehen, verlässt man sich auf die mehr oder weniger durchdachten Suchbewegungen einzelner Heime oder Träger von solchen. Das kann mal klappen, oft aber auch nicht.