Der gesetzliche Mindestlohn ante portas zieht seine Kreise – bis in die Abgeordnetenbüros des Bundestages und in die Köpfe der Umgehungsstrategen

Geht’s noch? Der Vorsitzende des Wirtschaftsausschusses des Deutschen Bundestages, MdB Peter Ramsauer (CSU) warnt davor, dass „Millionen anderer Minijob-Arbeitgeber von Rollkommandos des Zolls mit Kontrollen überzogen und eventuell kriminalisiert würden.“ Was ist das für eine Sprache? Unabhängig davon, dass der Zoll noch nicht einmal in der Lage ist, die Großbaustellen auch nur annähernd zu kontrollieren, weil bereits heute hunderte Planstellen nicht besetzt sind. Man kann dies und mehr dem Artikel Ramsauer für schnelle Änderung des Mindestlohngesetzes entnehmen. Was ist passiert? Neue Erkenntnisse? Neue Probleme? Nein, es ist schlichtweg die Erkenntnis, dass der Mindestlohn auch vor den eigenen Abgeordnetenbüros nicht halt macht. Und da regt man sich auf.

»Alle geringfügig Beschäftigten haben ab 1. Januar 2015 Anspruch auf 8,50 Euro pro Stunde. Damit diese Regelung nicht durch unbezahlte Überstunden unterlaufen wird, müssen Arbeitgeber Beginn, Ende und Umfang der Arbeitszeit erfassen, abzeichnen und zur Kontrolle durch den Zoll mindestens zwei Jahre aufbewahren.«

Ja und? In dem Artikel wird auch die Vorsitzende des Arbeitsausschusses des Bundestags, Kerstin Griese (SPD), zitiert, die darauf hinweist, dass das Verfahren »ohne Probleme für jedes Abgeordnetenbüro leistbar sei, sagte sie. Es reiche aus, wenn der Büroleiter notiere, wie lange die Minijobber gearbeitet hätten.«
Aber Ramsauer stört das nicht:

»Wirtschaftsausschusschef Peter Ramsauer (CSU) will das Mindestlohn-Gesetz … sofort korrigieren. „Der Mindestlohn war gut gemeint und endet jetzt im bürokratischen Chaos“, sagte der CSU-Politiker«.

Das ist schon dreist. Aber wirklich völlig unakzeptabel ist die Sprache dieses hochrangigen Politikers mit Bezug auf den Zoll. Was ist das für ein Staatsverständnis? Das lässt tief blicken.

Zur Abrundung: Axel Hansen beschäftigt sich in seinem Artikel Die Tricks der Arbeitgeber mit den erwartbaren Versuchen einiger Arbeitgeber, den gesetzlichen Mindestlohn ab Januar 2015 zu unterlaufen. Hier seine Auswahl von Beispielen:

1.) Falsche Listen
Das Baugewerbe ist ein Vorreiter, hier gibt es bereits einen Mindestlohn. Das Problem: Es gibt sehr unregelmäßige Arbeitszeiten. Mal erlaubt die Helligkeit einen frühen Beginn, mal ist es zu nass für bestimmte Arbeiten. Deshalb sollen Unternehmen Buch darüber führen, wann ihre Angestellten tatsächlich mit der Arbeit beginnen und wann Feierabend ist. Doch glaubt man der Gewerkschaft IG Bau, werden die Listen häufig manipuliert. „Wer den Mindestlohn umgehen will, betrügt hier“, sagt ein Sprecher. Eine weitere Variante: Eine Stunde wird abgerechnet, tatsächlich musste der Maurer oder Fliesenleger aber 70 oder 80 Minuten arbeiten.

 2.) Falsche Vorgaben
In vielen Branchen sind für bestimmte Tätigkeiten feste Zeiten vorgesehen. In einem Krankenhaus kann der Arbeitgeber der Reinigungsfrau beispielsweise die Vorgabe machen, einen bestimmten Flur in zwei Stunden zu reinigen. Dabei weiß auch er: für diesen Flur braucht die Angestellte eigentlich 2,5 Stunden. Ähnliche Fälle werden auch von Paketdiensten berichtet. Hier machen manche Unternehmen ihren Fahrern strenge Zeitvorgaben für einzelne Touren. Doch das ist schnell Makulatur. Es reicht ein Stau, in den der Fahrer unverschuldet gerät.

3.) Scheinselbstständige
Der Trick: Unternehmen kündigen ihren Angestellten und lassen sie nur noch als Selbstständige arbeiten. Für die gilt der Mindestlohn nicht. Weil sie aber weiterhin für ein einziges Unternehmen tätig sind, sind sie sogenannte Scheinselbstständige.
Dieses System kommt zum Beispiel auf Baustellen zum Zug. Es gibt Berichte über Gruppen ausländischer Arbeiter, die in Bussen zum Gewerbeamt gefahren werden und sich dort als Selbstständige melden müssen. Die Bauarbeiter, die kein oder nur wenig Deutsch sprechen, wissen häufig gar nicht, was sie da unterschreiben.

4.) Die Teilzeit-Falle
Relativ neu im Tricksereien-Katalog ist die Umwandlung einer Vollzeit- in eine Teilzeitstelle bei gleicher Arbeitszeit. Erste Versuche soll es in Friseurbetrieben geben, in denen die Vollzeitstelle bislang nicht nach Mindestlohn bezahlt wird, berichtet Verdi. Dabei wird die Arbeitszeit auf dem Papier auf Teilzeit gesenkt. Weil am Gehalt nicht geschraubt wird, verdient der Angestellte nun formal den Mindestlohn. Allerdings nur auf dem Papier: Er oder sie muss trotzdem Vollzeit anrücken.

Der Mindestlohn wird nicht von allen eingehalten werden. Das ist sicher. Aber dass das Bundesfinanzministerium Beihilfe leisten will, ist schon bemerkenswert

Natürlich war und ist zu erwarten, dass es Unternehmen geben wird, die versuchen werden, den gesetzlichen Mindestlohn auszuhebeln, um sich Konkurrenzvorteile zu verschaffen. Und der nicht nur diskutierten, sondern in den Bereichen, wo es schon seit Jahren branchenbezogene Mindestlöhne gibt, auch beobachtbaren Phantasie einiger Unternehmer sind nur wenige Grenzen gesetzt. Eine solche Grenze sind Kontrolldruck und die Sanktionierung von Verstößen, die allerdings eine entsprechende Kontrollinfrastruktur voraussetzt. Dass es hier einige erhebliche Mängel gibt, darauf wurde und wird schon seit längerem immer wieder kritisch hingewiesen (vgl. hierzu beispielsweise den Blog-Beitrag Der Mindestlohn kommt – aber kommt auch seine Kontrolle und welche? Der Blick über den nationalen Tellerrand kann helfen). Offensichtlich war man in Berlin so ermüdet ob der harten Arbeit zur Einführung des Mindestlohns mit seinen nun doch zahlreicheren Ausnahmen als ursprünglich versprochen, dass man nun eine Erholungspause braucht, was die adäquate Personalausstattung der für die Mindestlohn-Kontrollen zuständigen Behörden, also des Zolls, angeht. Das wird sich noch bitter rächen. Hier würde es also „nur“ um den Vorwurf des Nichtstun gehen. Von einer anderen Qualität wäre zu sprechen, wenn der Staat aktiv Hilfestellung geben würde, sein eigenes Gesetz zu unterlaufen. Genau so ein Vorwort steht aber jetzt im Raum, vorgetragen von den Gewerkschaften.

Der Mindestlohn wird löchriger, so ist ein Artikel zu den Vorwürfen der Gewerkschaften überschrieben.Warum regt sich sogar der neue DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann so auf? »Anlass für Hoffmans Ärger ist eine neue Verordnung aus dem Bundesfinanzministerium für sogenannte „mobile Tätigkeiten“, zum Beispiel in der Postzustellung oder dem Gütertransport. Demnach müssten die Arbeitgeber künftig nur die Dauer, nicht aber den konkreten Beginn und das Ende der Arbeitszeit erfassen. Das sei eine Einladung, die Zeit falsch zu erfassen, kritisierte die Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di.« Der DGB hat seine Pressemitteilung sogar so überschreiben: Bundesfinanzministerium fördert Missbrauch bei Mindestlöhnen – deutlicher geht Kritik nicht.

Bereits am 14.11.2014 hatte der DGB der Öffentlichkeit mitgeteilt: Mindestlohn: Finanzministerium öffnet Schlupflöcher. Wirklich skandalös ist die Tatsache, dass „der“ Staat offensichtlich versucht, seine Erkenntnisse über die Bereiche, wo es Missbräuche geben wird und dem eigenen Hinweis auf diese Bereiche im verabschiedeten Gesetz, nunmehr hinten herum wieder zu neutralisieren. Dazu erst einmal der Sachverhalt, der diesen Zusammenhang erläutert:

»Konkret geht es um zwei Verordnungen des Bundesfinanzministeriums, die Details des Mindestlohngesetzes regeln. Zum einen geht es um die Pflicht der Arbeitgeber, die Arbeistzeit ihrer Beschäftigten zu erfassen. Eigentlich sieht das Mindestlohngesetz vor, dass in Branchen, in denen Verstöße gegen den Mindestlohn wahrscheinlich sind („missbrauchsanfällige Branchen“), die Arbeitszeit von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern genau erfasst werden muss – mit genauer Uhrzeit des Arbeitsbeginns und -endes. Diese Daten müssen zwei Jahre archiviert werden, damit die Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS) des Zolls kontrollieren kann, ob unterm Strich die Mindest-Stundenlöhne gezahlt wurden.
Der Regelungsvorschlag des Finanzministeriums sieht jetzt  aber vor, dass bei Berufen mit „ausschließlich mobiler Tätigkeit“ nur die Gesamtdauer der Arbeitszeit aufgeschrieben werden muss. Angeblich sei eine genaue Erfassung in diesen Tätigkeiten zu kompliziert. Der DGB übt scharfe Kritik: Zum einen gebe es keinen Grund, warum etwa bei der Straßen- oder Stadtreinigung oder der Personenbeförderung keine genaue Erfassung des Arbeitsbeginns und -endes möglich sein sollte. Zum anderen öffne diese Regelung dem Missbrauch Tür und Tor: Arbeitgeber müssten nur noch die „passende“ Arbeitszeit notieren, die dem Mindestlohngesetz entspricht – Kontrollen des Zolls würden unmöglich. „Es handelt sich somit um einen Regelungsvorschlag, dessen Sinn einzig und alleine in einer Förderung der Umgehung des Mindestlohns zu liegen scheint“, heißt es in einer Stellungnahme des DGB.«

Aber es gibt ja noch einen zweiten Verordnungsentwurf und der soll hier nicht unter den Teppich fallen:

»Bei der zweiten Verordnung des Finanzministeriums geht es um Detailvorschriften zum Mindestlohngesetz, zum Arbeitnehmer-Entsendegesetz und zum Arbeitnehmerüberlassungsgesetz. Eigentlich müssen ausländische Arbeitgeber dem Zoll im Voraus melden, wie viele ausländische Beschäftigte sie wann, wo und in welchen Tätigkeiten in Deutschland einsetzen wollen. Auch hier will das Finanzministerium Ausnahmen für „mobile Tätigkeiten“ sowie für grenznahe Regionen schaffen: Statt der genauen Meldepflicht sollen allgemeinere „Einsatzplanungen“ für einen Sechs-Monats-Zeitraum ausreichen, die nachträglich nicht mehr kontrolliert werden müssten. Der DGB kritisiert: Das macht wirksame Kontrollen unmöglich.« Auch hierzu hat der DGB eine Stellungnahme abgegeben.

Das betrifft alles Bereiche, in denen wir mit einer hohen Plausibilität davon ausgehen können und müssen, dass es zu Umgehungsversuchen seitens einiger Unternehmen kommen wird. »„Die Verordnung des Bundesfinanzministeriums nimmt ausgerechnet die Branchen von wirksamen Arbeitszeitkontrollen aus, in denen etliche Unternehmen schon in der Vergangenheit über Lohndumping massiven Druck auf tarifgebundene und fair zahlende Arbeitgeber ausgeübt haben«, so wird der ver.di-Vorsitzende Frank Bsirske zitiert.

Vielleicht sollte man an dieser Stelle daran erinnern, dass das Bundesfinanzministerium Dienstherr des Zolls ist, der bereits heute 600 Planstellen nicht besetzt hat und bei dem die in Aussicht gestellten Personalressourcen, die für die zusätzlichen Aufgaben ab 2015 erforderlich sind, wohl erst bis zum Ende der laufenden Legislaturperiode kommen werden (vgl. zu dieser Debatte bereits den Blog-Beitrag Die Schwarzarbeit und der Zoll sowie der Missbrauch mit dem Teil-Missbrauch. Notizen aus den Schmuddelecken des Arbeitsmarktes vom 22.03.2014). Eigentlich also hätte dieses Ministerium genug zu tun. Fragt sich natürlich auch – was sagt eigentlich Frau Nahles als zuständige Bundesmindestlohnministerin dazu. Wo ist die eigentlich? Auf Erholung?

Foto: © Stefan Sell

Der Mindestlohn kommt – aber kommt auch seine Kontrolle und welche? Der Blick über den nationalen Tellerrand kann helfen

Der Mindestlohn kommt – aber auch seine Kontrolle? Daran kann man aus heutiger Sicht so einige große Fragezeichen machen. Die zuständige Behörde, also der Zoll, verweist auf erhebliche Personalprobleme. Bereits heute sind zahlreiche Planstellen gar nicht besetzt und zusätzliches Personal angesichts der erheblich umfangreicheren Aufgaben im Gefolge der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns im Januar 2015 soll in geringerem Umfang als von den Fachleuten gefordert und dann auch noch zeitlich gestreckt erfolgen (vgl. dazu den Beitrag „Zwei Beamte mehr, das ist ein schlechter Witz“). Gerade am Beginn der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns ist eine spürbare Kontrolldichte und die klare Botschaft, dass es riskant werden wird, sich dem Mindestlohn zu entziehen, von großer Bedeutung, um die zahlreichen Umgehungsstrategien der schwarzen Schafe unter den Arbeitgebern, die sich mit dem Unterlaufen des Mindestlohns einen Konkurrenzvorteil gegenüber den anständigen Unternehmen verschaffen wollen und könnten, wenn nicht zu verhindern, so doch wenigstens gehörig zu begrenzen.

Hinzu kommt: Je genauer man in bestimmte Tätigkeitsfelder hineinschaut, um so deutlicher erkennbar werden auch ganz handfest-praktische Kontrollprobleme, die man bekommen wird, auch wenn man kontrollieren will. Man denke an dieser Stelle nur an Branchen mit Umsatzbeteiligungsmodellen, die Taxi-Branche mag hier stellvertretend genannt sein.
In so einer Situation ist es immer wieder hilfreich, den Blick über den nationalen Tellerrand zu weiten und in andere Länder zu schauen, die schon lange einen gesetzlichen Mindestlohn haben. Wie organisieren die das mit der Kontrolle?

Genau diesen Ansatz hat das gewerkschaftsnahe Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung gewählt. Herausgekommen ist diese Studie:

Thorsten Schulten, Nils Böhlke, Pete Burgess, Catherine Vincent und Ines Wagner: Umsetzung und Kontrolle von Mindestlöhnen Europäische Erfahrungen und was Deutschland von ihnen lernen kann. Studie im Auftrag der G.I.B. – Gesellschaft für innovative Beschäftigungsförderung (= G.I.B. Arbeitspapiere 49), Bottrop, November 2014

Mindestlohn: Für erfolgreiche Umsetzung noch einiges zu tun, so ist die Pressemitteilung dazu überschrieben. Darin wird über die wichtigste Aspekte der Studie berichtet:
Analysiert haben die Wissenschaftler die Mindestlohn-Praxis in Frankreich, Großbritannien und den Niederlanden. Außerdem haben sie sich mit der Durchsetzung von Lohnuntergrenzen in einzelnen deutschen Branchen befasst.

Nach Auffassung der Wissenschaftler gibt es Handlungsbedarf in den folgenden Bereichen: Transparente Vorschriften, korrekte Erfassung der Arbeitszeit, effektive Kontrollen, Aufklärung und Durchsetzung von Ansprüchen sowie gesellschaftliche Akzeptanz.

Hier die Erläuterungen des WSI zu den genannten Handlungsbedarfen, die der Pressemitteilung entnommen worden sind:

»Transparente Vorschriften: Um überprüfen zu können, ob die künftige Lohnuntergrenze eingehalten wird, wären klare Vorgaben dafür nötig, wie die tatsächliche Lohnhöhe zu berechnen ist. Das Problem: In der vom Bundestag beschlossenen Regelung fehlt nach Analyse der Forscher eine solche präzise Definition. Wenn es darum geht, welche Einkommensbestandteile in die Kalkulation einfließen dürfen, verweist die Bundesregierung auf die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs. Demnach dürfen Arbeitgeber nur das berücksichtigen, was sie für die vertraglich vereinbarte „Normalleistung“ zahlen. Das heißt: Tätigkeiten, die über das Normalmaß hinausgehen, sind extra zu vergüten. Das betrifft beispielsweise Zuschläge für Sonn- und Feiertagsarbeit, Gefahrenzulagen oder Trinkgelder. Dagegen herrsche Uneinigkeit darüber, wie mit Weihnachts- und Urlaubsgeld oder Verpflegung und Unterkunft umzugehen ist, monieren die Autoren. Für Unternehmen und Beschäftigte sei damit teilweise nicht nachvollziehbar, wer durch den Mindestlohn Anspruch auf eine Lohnerhöhung hat. Hier wäre nach der WSI-Analyse eine Klarstellung durch den Gesetzgeber angebracht.«

»Korrekte Erfassung der Arbeitszeit: Da der Mindestlohn sich auf die Bezahlung pro Stunde bezieht, ist nicht nur die Lohnhöhe, sondern auch die Länge der Arbeitszeit maßgeblich. Auch hier sehen die Wissenschaftler weiteren Regelungsbedarf. Die Erfahrungen des europäischen Auslands und auf Branchenebene zeigten, dass die unkorrekte Erfassung der Arbeitszeit eine gängige Praxis zur Umgehung von Mindestlöhnen ist. Zum einen müssten Beschäftigte oft unbezahlte Mehrarbeit leisten – das passiert auch und gerade in Deutschland: Umfragen zufolge macht ein Fünftel der deutschen Beschäftigten regelmäßig Überstunden, die nicht vergütet werden. Zum anderen lüden Vergütungssysteme mit Stücklöhnen sowie Akkordarbeit zum Missbrauch ein, die gerade im Niedriglohnbereich weit verbreitet sei. Arbeitgeber könnten versucht sein, bei der Berechnung von Stundenlöhnen von unrealistisch hohen Arbeitsanforderungen auszugehen. Darüber hinaus lasse das Mindestlohngesetz offen, wie mit „besonderen Arbeitszeiten“ wie Bereitschaftsdienst oder Anfahrts- und Wartezeiten zu verfahren ist.«

»Effektive Kontrollen: Um Verstößen gegen das neue Gesetz vorzubeugen, ist der Studie zufolge eine angemessene Kontrolldichte unerlässlich. Erfahrungen zeigten zwar, dass sich die große Mehrheit der Unternehmen gesetzeskonform verhält. Insbesondere in arbeitsintensiven Branchen wie dem Einzelhandel oder dem Gastgewerbe sei allerdings durchaus mit Umgehungsversuchen zu rechnen. In Frankreich und den Niederlanden gibt es jeweils eine umfassende Arbeitsinspektion, die das verhindern soll. Deutschland dagegen verfüge über eine fragmentierte Struktur unterschiedlicher Kontrollbehörden, schreiben die Forscher. Am wichtigsten sei die beim Zoll angesiedelte Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS). Dazu kommen landeseigene Kontrollstellen im Rahmen der öffentlichen Auftragsvergabe und die Rentenversicherung, die regelmäßig Betriebsprüfungen durchführt. Gewerbeaufsichtsämter, Arbeitsagenturen und Sozialkassen seien zwar nicht explizit zuständig, aber durchaus in der Lage, Verstöße aufzudecken. Wichtig wäre, dass diese verschiedenen Institutionen effizient zusammenarbeiten. Problematisch sei außerdem, dass die geplante Aufstockung der FKS um 1.600 Stellen erst in fünf Jahren abgeschlossen werden soll, da gerade in der Einführungsphase des Mindestlohns von besonders vielen Verstößen ausgegangen werden müsse, so die Forscher. Die Bußgelder von bis zu 500.000 Euro und die Möglichkeit, gesetzeswidriges Verhalten mit dem Ausschluss von öffentlichen Aufträgen zu bestrafen, dürften aber Wirkung zeigen: „Der damit geschaffenen Sanktionsrahmen ist – sofern er in der Praxis auch tatsächlich ausgeschöpft wird – durchaus geeignet, eine präventive Regelung gegen Mindestlohnverstöße zu schaffen.“«

»Aufklärung und Durchsetzung von Ansprüchen: Neben wirksamen Sanktionen bedarf es laut der WSI-Studie gangbarer Verfahren, mit denen Arbeitnehmer ihre Mindestlohnansprüche geltend machen können. Eine wichtige Voraussetzung: Die Beschäftigten müssen sich über ihre Rechte im Klaren sein. Daher, so die Empfehlung, sollten Arbeitgeber verpflichtet werden, ihre Belegschaften über deren Ansprüche zu informieren. Außerdem müsse die Gehaltsabrechnung so gestaltet sein, dass die Einhaltung des Mindestlohns nachvollziehbar ist. Ähnlich wie in Großbritannien wäre zudem ein Mindestlohn-Rechner im Internet hilfreich.
Dass das Arbeitsministerium mittlerweile ein Bürgertelefon eingerichtet hat und eine Informationsstelle für den Mindestlohn bei der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin geplant ist, begrüßen die Forscher. Denn es habe sich gezeigt, dass niedrigschwellige Beratungsmöglichkeiten eine wichtige Rolle spielen. Dazu werde auch eine Hotline beitragen, die der Deutsche Gewerkschaftsbund ab Anfang Januar anbieten will. Abgesehen von möglichst umfassender Aufklärung wären mehr kollektive Klagemöglichkeiten wünschenswert, betonen die Forscher: Aus Angst vor Sanktionen oder Jobverlust hätten viele Beschäftigte erfahrungsgemäß Hemmungen, Verstöße vor Gericht zu bringen. Helfen könnte ein Verbandsklagerecht wie in Frankreich, wo Gewerkschaften stellvertretend für Arbeitnehmer klagen können.«

»Gesellschaftliche Akzeptanz: Eine zentrale Herausforderung bestehe darin, den Mindestlohn zu einer allgemein akzeptierten Institution zu machen, schreiben die Wissenschaftler. Wenn das gelinge, so die Erfahrung anderer Länder, werde sich die Lohnuntergrenze weitgehend von alleine durchsetzen. Das Problem: Zwar befürworte die überwiegende Mehrheit der deutschen Bevölkerung die neue Regelung, große Teile der Wirtschaft seien aber nach wie vor skeptisch. Die Autoren empfehlen Großbritannien als Vorbild: Dort habe eine umfassende Informationskampagne die Mindestlohneinführung begleitet. Zudem organisiere die Low Pay Commission einen breiten gesellschaftlichen Dialog und gebe regelmäßig wissenschaftliche Untersuchungen in Auftrag. Auch in Deutschland gelte es, Wirtschaftsverbände, Unternehmen, Gewerkschaften und Betriebsräte miteinander ins Gespräch zu bringen, um gemeinsam Probleme zu identifizieren und kreative Lösungen zu entwickeln. Vorbild könnten die bereits bestehenden Branchenbündnisse gegen Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung sein, in denen Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Zoll zusammenarbeiten.«

Die Befunde und Vorschläge zeigen: Es ist noch eine Menge zu tun in Deutschland.

Foto: © Stefan Sell

Billig, billiger, Deutschland. Wie sich die Umsätze in der deutschen Fleischindustrie verdoppeln konnten und warum der Mindestlohn ein fragiler Fortschritt ist

Bis in das Jahr 2000 spielte die deutsche Fleischindustrie im Prinzip keine Rolle auf dem europäischen Markt. Seit dem Jahr 2000 ist die Branche dann umsatzmäßig explodiert. Es geht um eine  Verdoppelung des Umsatzes von knapp 20 auf 40 Milliarden Euro innerhalb der letzten 10 bis 15 Jahre. Wie konnte das passieren? Was hatte sich verändert? Ganz einfach: man verwandelte die Branche in eine – betriebswirtschaftlich und im Vergleich zu anderen europäischen Ländern gesprochen – „Effizienzmaschine“, vor allem dadurch, dass man Arbeitskräfte aus Osteuropa nach Deutschland geholt hat, die dann im Rahmen von Werkverträgen zu billigsten Löhnen ausgebeutet werden konnten. Mittlerweile wird bis zu 90% der Arbeit in den Schlachtbetrieben nach Angaben der Gewerkschaft NGG über Werkverträge organisiert. In der Vergangenheit wurde von Dumpinglöhnen zwischen drei bis sieben Euro berichtet, aber seit dem August dieses Jahres gibt es einen branchenweiten Mindestlohn von 7,75 Euro, der auch grundsätzlich für die Werkvertragsarbeitnehmer gilt. Also wird jetzt am Ende alles gut?

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„Wir brauchen Leute, die Bock haben zu arbeiten“. Also „fantastische Mitarbeiter“. Und was die Schlachthöfe können, kann ein Burger-Brater auch

Der Betreiber von McDonalds-Restaurants in Nordwestdeutschland holt sich aus Rumänien Arbeitskräfte – eine Praxis, die bislang von Schlachthöfen bekannt war. Darüber berichtet Dirk Fisser in seinem Artikel Vorbild Schlachthof? McDonald‘s setzt auf Rumänen – auch in Osnabrück. Und man lernt nicht nur, was es bedeutet, wenn sich ein Arbeitgeber über willige Arbeitskräfte freut.

Während die Streikaktionen der Lokführer und der Lufthansa-Piloten die Medien beherrschen, läuft im Hintergrund eine Tarifauseinandersetzung, von der wesentlich mehr Menschen betroffen sind und bei der richtig geholzt wird: »Die Gewerkschaft NGG und der Bundesverband der Systemgastronomie (BdS), hinter dem Fast-Food-Ketten wie McDonald’s, Burger King oder Starbucks stehen, zoffen sich darum, wie viel die Arbeit der mehr als 100.000 Angestellten wert ist. Ein Streit am unteren Ende der Gehaltsskala«, schreibt Fisser. Dazu auch der Blog-Beitrag Diesseits der großen „Jobwunderland“-Erzählung: Schmutzige Geschäfte auf Kosten der Reinigungskräfte und Rache für den gesetzlichen Mindestlohn seitens der großen Fastfood-Ketten vom 29.09.2014 oder den Beitrag Verdienen Mitarbeiter von Fast Food-Ketten mit Mindestlohn weniger? des Politikmagazins „defacto“ (HR-Fernsehen) vom 12.10.2014.

Es waren die Arbeitgeber, die den Tarifvertrag angesichts des herannahenden gesetzlichen Mindestlohns von 8,50 Euro vorzeitig aufgekündigt und neue Eckpunkte vorgelegt haben. Der Grundlohn, bislang im Westen bei 7,71 Euro und im Osten bei 7,06 Euro in der Stunde, wäre demnach zwar über die gesetzliche Untergrenze gestiegen. Dafür wollen die Arbeitgeber der Systemgastronomie aber Urlaubs- und Weihnachtsgeld sowie Zuschläge ins Nirwana befördern, so dass am Ende viele Mitarbeiter weniger in der Tasche hätten als heute. Die Gewerkschaft NGG hat dieses „vergiftete Angebot“ verständlicherweise empört zurückgewiesen, aber man muss auch sehen, dass die Arbeitgeber zum einen wissen, wie niedrig der Organisationsgrad der Gewerkschaft in den Betrieben der Systemgastronomie ist – und dass dadurch der NGG schlichtweg das Drohpotenzial eines wirkkräftigen Arbeitskampfes fehlt. Zum anderen muss der Arbeitgeberverband auch deshalb die Muskeln spielen lassen, weil ihm die eigenen Mitglieder abhanden kommen. Zunächst war es der größte Betreiber von Burger-King-Restaurants in Deutschland, der den Bundesverband der Systemgastronomie (BdS) verlassen hat, während Burger King selbst an seiner Mitgliedschaft festhält. Dirk Fisser weist in seinem Artikel auf ein weiteres Beispiel hin: »… etwa der Pizzadienst „Joey’s“. Der Osnabrücker Franchise-Nehmer erklärte kürzlich ebenfalls seinen Austritt aus dem BdS, ist zu erfahren.«

Was aber hat das alles mit Rumänen zu tun? Fisser nimmt als Beispiel Christian Eckstein.

»22 McDonald’s-Restaurants im westlichen Niedersachsen und angrenzenden Nordrhein-Westfalen betreibt er in einem Joint Venture mit dem deutschen Marktführer. Der Blick in den Bundesanzeiger: Der Umsatz der „Systemgastronomie Christian Eckstein GmbH und Co. KG“ lag 2012 bei gut 44 Millionen Euro, der Jahresüberschuss bei 1,4 Millionen Euro. Knapp 1.100 Mitarbeiter hat das Unternehmen mit Sitz in Kirchdorf im Landkreis Diepholz demnach angestellt.«

Nicht nur auf Schlachthöfen würden Rumänen eingesetzt, sie würden auch bei McDonald’s die Hamburger braten. Also auf Fälle in den Filialen des Herrn Eckstein. Und für deren Unterbringung sorgt er auch, im »Erich-Maria-Remarque-Ring 1 in Osnabrück, Ortskundigen besser bekannt als das Iduna-Hochhaus.« Die Unterlagen, die dem Redakteur zugespielt wurden, sind sehr detailliert:

»134 Wohneinheiten befinden sich im Innern, zwischen 33 und 160 Quadratmetern groß. 16 gehören Eckstein. Er vermiete sie unter anderem an seine Mitarbeiter. Im vorliegenden Vertrag fordert er dafür etwa 200 Euro im Monat. „Pro Schlafplatz, bei maximal sechs Schlafplätzen in der Wohnung“, lautet ein Nachsatz. „Dieses Nutzungsentgelt wird vom Arbeitnehmer getragen und vom Arbeitgeber monatlich von dem an den Arbeitnehmer auszuzahlenden Arbeitsentgelt einbehalten“, heißt es weiter. Verbraucht der Mieter Strom, Wasser oder Gas „über dem üblichen Durchschnittsverbrauch“, behält Eckstein diese Mehrkosten ebenfalls ein.«

Der genannte Unternehmer hat natürlich – wie es sich für gute journalistische Arbeit gehört – die Möglichkeit bekommen, seine Sicht der Dinge darzustellen. Und die ist sehr aufschlussreich:

»Der Restaurantbetreiber erzählt, wie er vor fünf Jahren das erste Mal Mitarbeiter in Rumänien „castete“. Mittlerweile seien es etwa 130 Rumänen, die in Eckstein-Restaurants arbeiteten. „Die dritte Generation“, sagt der Chef, der von „fantastischen Mitarbeitern“ spricht, auf die er „superstolz“ sei …   In Deutschland habe er niemanden gefunden. „Wir brauchen Leute, die Bock haben zu arbeiten“, deutet Eckstein Probleme an. Und mit Blick auf sein rumänisches Personal schiebt er hinterher: „Die kommen hierher, um zu arbeiten und nicht um Freizeit zu haben.“ … Einer von denen, die aus Rumänien nach Osnabrück kamen, um hier die Burger zu braten, sagt im Schatten des Iduna-Hochhauses: Die Arbeit sei „hart, aber fair“. Für ihn habe sich die weite Reise gelohnt.«

Es steht zu vermuten, dass wir solche Berichte in der vor uns liegenden Zeit angesichts des erheblichen Wohlstandsgefälles innerhalb der EU öfter zur Kenntnis nehmen müssen.