Gut gemeint: Ein Vorstoß in den Kernbereich der verhärteten Langzeitarbeitslosigkeit über die unschuldigen Kinder. Aber auch gut gemacht?

Da muss man schon ein wenig um die Ecke denken: „Wer die Verhärtung von Armut bekämpfen will, muss möglichst früh ansetzen – also bei den Kindern“. Und um das zu schaffen will man bei den Eltern ansetzen, die als Voraussetzung mitbringen müssen, dass beide Elternteile im Hartz IV-Bezug (also im Regelfall seit längerem in dieser prekären Situation) sind und von denen keiner irgendeine ergänzende Beschäftigung, nicht einmal einen Minijob, ausübt und auch keiner an irgendeiner arbeitsmarktpolitischen Fördermaßnahme teilnimmt und deren Kind bzw. Kinder nicht jünger sein dürfen als sechs Jahre. Wir können begründet annehmen, dass man mit dieser Definition der – da kommt er, der deutsche Folterbegriff – „Zielgruppe“ wirklich auch die „harten Fälle“ erreichen wird, also Menschen, von denen wahrscheinlich sehr viele seit Jahren im Leistungsbezug sind.
Aber beginnen wir lieber mit der guten Absicht: Sozialpartner verbünden sich gegen Hartz-IV-Karrieren, meldet beispielsweise die FAZ unter der Rubrik „Kinderarmut“.

Dietrich Creutzburg beschreibt den Ausgangspunkt für den gemeinsamen Vorstoß von DGB und BDA: »Von den gut 6 Millionen Menschen im Hartz-IV-System leben allein 2,8 Millionen schon seit mindestens vier Jahren von der staatlichen Grundsicherung. Unter ihnen sind 640.000 Kinder. Vor allem eine Gruppe fällt dabei nach gemeinsamer Überzeugung von Arbeitgebern und Gewerkschaften bisher zu oft durch das Raster der Aufmerksamkeit und auch der Förderpolitik: Es gibt darunter 112.000 Familien, deren Kinder das schulpflichtige Alter erreicht haben und bei denen dennoch keiner der beiden Elternteile arbeiten geht. Die Kinder wachsen dann mit der Erfahrung auf, dass Hartz-IV-Bezug und Arbeitslosigkeit normal sind (…).« Die beiden Spitzenverbände der Gewerkschaften und Arbeitgeber haben vor diesem Hintergrund einen „Aktionsplan gegen Kinderarmut“ ausgearbeitet, der es den Jobcentern ermöglichen soll, solche Familien gezielter auf dem Weg in Arbeit voranzubringen und damit Kinder vor sogenannten Hartz-IV-Karrieren zu bewahren. Dieser Vorschlag für einen Aktionsplan trägt den Titel „Zukunft für Kinder – Perspektiven für Eltern im SGB II“. Die dazu gehörende Pressemitteilung ist überschrieben mit DGB und BDA stellen Aktionsplan gegen Kinderarmut vor. Das verdeutlicht sowohl den Handlungsauftrag wie auch das Problem des Ansatzes, denn „Kinderarmut“ als Singularität gibt es nun mal nicht, es handelt sich immer um eine abgeleitete Armut der Kinder von der ihrer Eltern. An denen kommt man partout nicht vorbei, wenn man die Situation der Kinder verbessern möchte, zugleich aber verdeutlicht das Herausstellen der Bekämpfung der Kinderarmut, dass sich dieses Anliegen irgendwie besser „verkaufen“ lässt als wenn man gleich offen diejenigen adressieren würde, um die es auch bei diesem Vorschlag wieder geht: eben die Eltern.

Den Erläuterungen von DGB und BDA kann man den folgenden Ansatz entnehmen:

»Qualifizierte Fallmanager würden gemeinsam mit den Hilfesuchenden eine individuelle Eingliederungsstrategie entwickeln und vereinbaren. Ergänzende Leistungen, wie Kinderbetreuung und psychosoziale Beratung, würden von den Kommunen bereitgestellt.
Sollte es nach etwa einem Jahr nicht gelungen sein, zumindest ein Elternteil in den Arbeitsmarkt zu integrieren – und das hat stets Vorrang -, schlagen BDA und DGB eine zeitlich befristete, öffentlich geförderte und sozialversicherungspflichtige Beschäftigung vor. Als gezielte finanzielle Anreize für Jobcenter, die sich engagieren wollen, schlagen die Sozialpartner 280 Mio. Euro vor. Das Programm soll zunächst auf drei Jahre angelegt sein und wissenschaftlich begleitet werden.«

An dieser Stelle werden nicht wenige Insider der Arbeitsmarktpolitik unter Schmerzen aufstöhnen. Nicht schon wieder ein Sonderprogramm. Denn Programmitis und Modellprojektionitis sind bekanntlich zumindest aus Sicht der meisten Praktiker zwei der Grundübel (nicht nur) in der Arbeitsmarktpolitik, die oftmals, von einzelnen sinnvollen Ergebnissen abgesehen, enorme Ressourcen verschlingen, zu einer Anpassung der real existierenden Menschen an die Zielgruppenvorgaben der Programme zwingen und letztendlich – aufgrund der zeitlichen Befristung – kaum bis gar nicht „nachhaltig“ wirken (können). Außerdem sind wir hier konfrontiert mit einer systemischen Eigendynamik dergestalt, dass je genauer und abgrenzender die Zielgruppen der einzelnen Programme und Maßnahmen gestrickt werden, um so größer wird der Expansionsbedarf zur Abdeckung der anderen, davon nicht erfassten, aber weiter existenten Fälle, die man nun auch irgendwie bedienen müsste und sollte. Ein Teufelskreis.

Schauen wir einmal genauer in den „Aktionsplan“ hinein – und man muss konzedieren, dass man die angesprochene Problematik zwar nicht wirklich aufzulösen, sie aber zumindest etwas abzumildern versucht. Neben dem im Rechtskreis SGB II mit seinen vielen Sanktionstatbeständen wichtigen Hinweis, dass die Teilnahme seitens der Betroffenen freiwillig sein sollte, kommt mit Blick auf diejenigen, die das hauptsächlich und federführend machen müssen, also die Jobcenter, der folgende Passus:

»Jobcenter, die sich an dem vorgeschlagenen Aktionsplan beteiligen, sollen dies ebenfalls freiwillig tun. Es ist nicht unsere Absicht, deren Arbeit durch ein aufgezwungenes Sonderprogramm zu verkomplizieren.« (DGB/BDA 2015: 3)

Stattdessen soll es es Anreize geben, sich daran zu beteiligen – eben der Zugang zu zusätzlichen Mitteln: »Für zusätzliche Aktivitäten der Jobcenter im Rahmen des hier vorgeschlagenen Aktionsplans „Zukunft für Kinder – Perspektiven für Eltern im SGB II“ sollte der Bund mittels eines Sonderprogramms zusätzlich zum regulären Eingliederungsbudget (EGT) ein Finanzvolumen von ca. 280 Mio. Euro zur Verfügung stellen … Zusätzliche finanzielle Mittel aus dem Sonderprogramm erhalten nur jene Jobcenter, die zusätzliche Anstrengungen gegen Kinderarmut unternehmen.« (DGB/BDA 2015: 4). Was natürlich dazu führen muss, dass in den Jobcentern, die sich beteiligen, entsprechende Anstrengungen notwendig werden, den Vorgaben des zusätzlichen Programms zu folgen und diese in der täglichen Arbeit auch abzubilden. Dazu der „Aktionsplan“: »Das Jobcenter sollte in eigener Verantwortung überlegen, ob gesonderte Strukturen, z.B. spezielle Teams, sinnvoll sind. Eine gesonderte Organisationseinheit würde den Charakter des vorgeschlagenen Aktionsplans auch mit Blick auf das Zielsystem betonen. Es kann aber auch örtlich sinnvoll sein, vorhandene Strukturen und Aktivitäten „nur“ gezielt zu verstärken.«

Die Durchsicht der weiteren Elemente der inhaltlichen Ausgestaltung verdeutlicht, dass hier die als erfolgreich oder wenigstens als irgendwie wirksam erkannten Bausteine aus anderen Modellversuchen und praktischen Erfahrungen vor Ort zusammengestückelt werden:

»Die zuständigen Fallmanager/innen oder Vermittler/innen brauchen flexible Handlungsmöglichkeiten im Rahmen eines Budgets, um den Elternteilen sinnvolle Angebote machen zu können. Wir schlagen eine Ausweitung der Möglichkeiten vor, die § 44 f. SGB III (Vermittlungsbudget, Aktivierungs- und Eingliederungsmaßnahmen) den Vermittler/innen einräumt. So könnte Langzeitarbeitslosen ein Coach an die Seite gestellt werden, der die Jobsuche und den Beginn einer neuen Erwerbstätigkeit begleitend unterstützt. Die in einzelnen Arbeitsagenturen und Jobcentern durchgeführten Modellprojekte („INA“) zum Coaching waren erfolgreich. Dieser Ansatz sollte im vorgeschlagenen Aktionsprogramm genutzt werden können. Die Teilnahme an Qualifizierungsmaßnahmen könnte dort, wo dies sinnvoll und nötig erscheint, durch einen finanziellen Anreiz im Sinne einer Erfolgs- oder Durchhalteprämie stimuliert werden. Diese Hilfen und Anreize sollen gezielt mit Blick auf den Einzelfall eingesetzt werden, als Teil des zwischen Vermittler/in und Elternteil vereinbarten Vorgehens.« (DGB/BDA 2015: 5)

Im weiteren Gang der Beschreibung werden dann alle irgendwie relevanten Partner der Jobcenter bei der Integrationsarbeit aufgezählt und mitverhaftet – von den Kommunen mit ihren Angeboten natürlich bis hin zu den Krankenkassen, örtliche „Paten“ aus der „Zivilgesellschaft“ und in besonderen Fällen auch »eine familienbegleitende Betreuung durch eine/n Familiencoach/in«.
Nun sind Gewerkschaften und Arbeitgeber keine Traumtänzer und sie formulieren in ihrem Papier (S. 5) selbst das zentrale Problem: »Die Integration von arbeitslosen Eltern kann nur gelingen, wenn entsprechende geeignete Arbeitsplätze gefunden werden.«

Und was, wenn das trotz aller Netzwerke und Anstrengungen nicht gelingt? Dann taucht sie auf, die „öffentlich geförderte Beschäftigung“ – oder sagen wir an dieser Stelle schon: das, was von ihr überhaupt noch übrig geblieben ist, nach Jahren nicht nur der budgetären, sondern vor allem der förderrechtlichen Verstümmelung:

»Gelingt es innerhalb eines bestimmten Zeitraums (z.B. ein Jahr) nicht, zumindest ein Elternteil zu integrieren, wird – ultima ratio – eine zeitlich befristete öffentlich geförderte Beschäftigung in sozialversicherungspflichtiger Form im Rahmen der bestehenden gesetzlichen Fördermöglichkeiten angestrebt … Den Sozialpartnern in den Beiräten der Jobcenter sollte die Aufgabe zukommen, die Einsatzfelder öffentlich geförderter Beschäftigung vorab zu prüfen, ob eine Verdrängung regulärer Beschäftigung zu erwarten ist.«

Kein Wort dazu, dass man nun wirklich neue Wege der öffentlich geförderten Beschäftigung gehen müsste, um halbwegs vernünftig arbeiten zu können. Wenigstens ein Hinweis auf den desaströsen rechtlichen Zustand hätte man sich gewünscht. Alles wird irgendwie passungsfähig gemacht zu dem, was da ist. Egal, ob das, was da ist, von vielen Praktikern und Experten als untauglich und sogar in vielerlei Hinsicht als kontraproduktiv bewertet wird.

Damit das nicht missverstanden wird – den neuen Vorstoß der Gewerkschaften und der Arbeitgeber sollte man als eine wirklich gute Absicht bewerten, einer der vielen Teilgruppen im Hartz IV-System zu helfen, die bislang entweder durch den Rost gefallen oder die aus ganz unterschiedlichen Gründen mit den vorhandenen Instrumenten nicht zu erreichen sind.

Aber irgendwie erinnert das Vorgehen an den höchst problematischen „Windows-Effekt“. Damit ist gemeint, dass man das bestehende Betriebssystem mit immer neuen zusätzlichen und anderen Funktionen angereichert hat, in dem man diese „add-on“ gepackt hat, bis irgendwann zahlreiche Schnittstellen-Fehler auftreten mussten, weil sich unten immer mehr Müll angesammelt hat, der nicht beseitigt worden ist. Bildlich gesprochen stehen wir in der Arbeitsmarktpolitik vor einem ähnlichen Problem. Man packt oben immer mehr drauf und weigert sich aber, zu einem bestimmten Zeitpunkt einfach mal einen Schnitt zu machen und eine Generalrevision vorzunehmen.

Für die Arbeitsmarktpolitik würde das bedeuten – was übrigens seit Jahren gefordert wird -, dass man das Förderrecht radikal entschlackt und den Profis vor Ort ein Instrumentarium an die Hand gibt, das sie flexibel einsetzen können. Wenn man dann noch berücksichtigt, dass gerade eine sich verhärtende Langzeitarbeitslosigkeit auch bei einem wesentlich flexibleren Förderrecht nicht bekämpft werden kann, wenn man gleichzeitig die Fördermittel bei – wie gesagt – zunehmender Problemschwere zusammenstreicht, dann hätte man die beiden zentralen Ansatzpunkte für eine echte Reform, die ihren Namen verdienen würde.

Hartz IV Austria? Jetzt natürlich auch noch die Zumutbarkeit von Arbeit. Ein Update.

In Österreich steigt die Arbeitslosigkeit und auch dort kann
bzw. muss man ein bekanntes Muster in solchen Phasen beobachten: Schnell wird
die öffentliche Diskussion auf „die“ Arbeitslosen gelenkt und es wird
nach „Ursachen“ für die Arbeitslosigkeit gesucht, die in der Person
der Arbeitslosen begründet liegen. Gerne wird dabei dann auch auf die angeblich
falschen Anreizwirkungen der Arbeitslosenunterstützung verwiesen und in deren
Absenkung ein „Lösungsansatz“ gesehen. In Deutschland hat diese Debatte
eine lange Traditionslinie, Stichworte wie – eher technisch –  „Lohnabstandsgebot“ oder – nur populistisch –
„soziale Hängematte“ mögen hier genügen. Die Arbeitsmarktforschung hat zeigen
können, dass es ein immer wiederkehrendes Muster des Auf und Ab dieser Debatten
gibt, das eng mit der Arbeitslosigkeitsentwicklung korreliert. Und mit bevorstehenden Wahlen. Auf diesen Aspekt haben beispielsweise schon Frank Oschmiansky, Silke Kull und Günther Schmid in ihrer 2001 veröffentlichten Studie Faule Arbeitslose? Politische Konjunkturen einer Debatte hingewiesen. Sie belegen für Deutschland schon vor der Hartz IV-Zeit, dass das Thema „Faule Arbeitslose“ seit Mitte der 1970er Jahren regelmäßig politisch und medial hochgespielt wird – veranlasst nicht etwa durch neue Erkenntnisse, sondern durch bevorstehende Wahlen. Die Forscher sprechen vom ei­ nem „deutlichen politischen Kalkül“ und einem wiederkehren­ den Zeitpunkt, nämlich ein bis eineinhalb Jahren vor einer Bundestagswahl, und dies besonders ausgeprägt in Zeiten schwächelnder Konjunktur. 

Die aktuelle Debatte in Österreich wurde ausgelöst durch
Äußerungen in einem Interview mit dem österreichischen Finanzminister Hans-Jörg
Schelling von der ÖVP (Schelling:
Arbeitsloseneinkommen in Österreich ist zu hoch
) mit völlig falschen
Aussagen der Herrn Finanzministers wie: „Es ist auch deshalb schwer,
Arbeitskräfte zu finden, weil das Arbeitsloseneinkommen fast genauso hoch ist
wie das Arbeitseinkommen. In Deutschland gibt mit Hartz IV ein Modell, das
offenbar besser funktioniert“ – aber  seitdem wird landauf, landab darüber geredet,
ob Arbeitslose in Österreich zu viele Jobangebote ablehnen, die Notstandshilfe
zu lange gewährt wird, die Mindestsicherung streng genug kontrolliert wird und
ob nicht nach deutschem Hartz-IV-Vorbild mehr Druck auf Arbeitslose ausgeübt
werden sollte, öfters schlechtbezahlte Teilzeitjobs anzunehmen. Vgl. zu der
ersten Runde der Diskussion in Österreich im Anschluss an die mehr bzw.
eigentlich weniger gehaltvollen Ausführungen des Herrn Ministers den
Blog-Beitrag Hartz
IV-Austria ante portas? Österreich soll am deutschen Hartz IV-Wesen genesen.
Für so einen Vorschlag gibt es Fassungslosigkeit und viel Kritik
vom 26.
Juli 2015.

Und es überrascht nicht, dass auch wieder – wie in
Deutschland – sofort die beliebte Karte der Zumutbarkeit von Arbeit gezogen
wird, genau an dieser Stelle hat der österreichische Finanzminister dann auch
nachgelegt: Schelling:
Arbeitslose sollen weniger Jobs ablehnen dürfen
. Da ist es dann auch schon
fast egal, dass selbst das Vorstandsmitglied des österreichischen
Arbeitsmarktservices (AMS), also dem dortigen Pedant zur Bundesagentur für
Arbeit, Johannes Kopf, klar Stellung bezogen hat: Zumutbarkeit
kein Rezept gegen Arbeitslosigkeit
. Aber hier geht es ja auch nicht um
Fakten, sondern um Emotionen.

Und wieder einmal geht es viel zu selten um die Menschen,
die davon betroffen sind, über die geredet und so manches behauptet wird und
deren Schicksale unter den großen Etiketten wie „Langzeitarbeitslose“ oder
„Hartz IVler“ in der Regel verschüttet und damit unsichtbar gemacht werden.

Vor diesem Hintergrund ist es ein kleiner, aber wichtiger
Beitrag gegen die populistische Dampfwalze, die sich in Bewegung gesetzt hat,
wenn in Medien der Blick geöffnet wird für die individuelle Seite der Medaille.
Die österreichische Tageszeitung „Der Standard“ hat das anhand von zwei
Porträts versucht: Langzeitarbeitslos
in Wien: „Die Wohnung wird zum Gefängnis“
stellt uns einen
47-jährigen Wiener Akademiker vor, der seit vier Jahren verzweifelt einen Job sucht
und mit Blick auf Deutschland der Artikel Langzeitarbeitslos
in Berlin: „Freunde kann ich mir nicht mehr leisten“
, da geht es
um den 52-jährigen Potsdamer Jürgen Weber, der seit 14 Jahren arbeitslos ist und
seit zehn Jahren von Hartz IV lebt.

Und als ein weiteres Schlaglicht auf die Situation der
deutschen Grundsicherungsempfänger im Hartz IV-System in Deutschland – und vor
allem, wie unerwartet und schnell man da rein und kaum oder gar nicht mehr
rauskommen kann – vgl. diese Fallgeschichte: Armut
ist ein Vollzeitjob. Christine Schultis und ihr Absturz an den Rand der
Gesellschaft
.

Ein besonderes Problem in Deutschland – da sollten die Österreicher genau hinschauen – ist die Tatsache, dass wir in den vergangenen Jahren eine enorme „Verfestigung“ bzw. „Verhärtung“ der Langzeitarbeitslosigkeit beobachten mussten, eine dauerhafte Exklusion, deren Ausbreitung im allgemeinen Gerede über das deutsche „Jobwunder“ leider viel zu oft ausgeblendet bzw. verschwiegen wird. Auch hier kann neben allen Statistiken die Sicht der Betroffenen helfen: Vgl. dazu das Video 10 Jahre leben mit Hartz IV: Betroffene berichten auf der Seite O-Ton Arbeitsmarkt. Es geht im Schatten des zehnjährigen „Jubiläums“ von Hartz IV um Langzeitarbeitslose, für die das auch ein persönliches ist, denn so lange sind sie schon im Leistungsbezug: »Beim Heilbronner Beschäftigungsträger Aufbaugilde sind drei Betroffene ehrenamtlich beschäftigt. O-Ton Arbeitsmarkt haben sie ihre Geschichte erzählt und den Leiter der örtlichen Agentur für Arbeit mit ihren Problemen konfrontiert.«

Arbeitslosigkeit und Beschäftigung in den OECD-Staaten: Schritt für Schritt wieder zurück auf Start vor 2007. Vor allem aber die Langzeitarbeitslosen bleiben auf der Strecke

Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) warnt vor den langfristigen Folgen von Arbeitslosigkeit. Hintergrund ist die Veröffentlichung des OECD Employment Outlook 2015: »Jobs outlook improving slowly but millions risk being trapped at bottom of economic ladder«, so formuliert das zusammenfassend die OECD. In den 34 OECD-Staaten sind 42 Millionen Menschen arbeitslos, zehn Millionen mehr als vor Ausbruch der Finanzskrise im Jahr 2007. Im Schnitt der OECD-Staaten ist der Anteil der Beschäftigten an der Bevölkerung wieder fast so hoch ist wie vor Ausbruch der Finanzkrise.

Allerdings werden weitere Probleme identifiziert. »Die OECD hält aber nicht nur die hohe Jugendarbeitslosigkeit in Griechenland, Spanien und Italien für gefährlich. Sie findet auch den starken Anstieg der Zahl junger Leute bedenklich, die komplett vom Radar verschwinden: Sie haben weder einen Job noch sind sie in einer Ausbildung oder Qualifizierungsmaßnahme. Eine solche Situation in den ersten Berufsjahren hat laut der Studie gravierende Folgen. Demnach hängt der gesamte berufliche Lebensweg stark davon ab, wie die ersten zehn Jahre des Arbeitslebens verlaufen«, so Alexander Hagelüken in seinem Artikel 16 Millionen seit langem ohne Arbeit über den neuen OECD-Bericht. Das passt zu Befunden, die das IAB im vergangenen Jahr veröffentlicht hat in der Studie Verfestigung von früher Arbeitslosigkeit: Einmal arbeitslos, immer wieder arbeitslos? von Achim Schmillen und Matthias Umkehrer. Die Autoren untersuchen den Zusammenhang zwischen der Arbeitslosigkeit in den ersten acht Erwerbsjahren und derjenigen in den darauffolgenden 16 Erwerbsjahren. Die Ergebnisse zeigen: Arbeitslosigkeit zu Beginn des Erwerbslebens geht mit einem deutlich erhöhten Arbeitsmarktrisiko im späteren Erwerbsverlauf einher. Im späteren Erwerbsverlauf waren Personen mit ausgeprägter Jugendarbeitslosigkeit sowohl von häufigeren als auch von längeren Episoden der Arbeitslosigkeit betroffen.

Und noch ein zweiter Befund muss beunruhigen neben der allgemeine Tatsache, dass Millionen Menschen von Erwerbslosigkeit betroffen sind. Dazu Alexander Hagelüken:

»In den Industriestaaten gibt es inzwischen 16 Millionen Langzeitarbeitslose, drei Viertel mehr als vor der Krise. Die Hälfte von ihnen sind sogar mehr als zwei Jahre ohne Stelle. Die OECD betont das Risiko, dass diese Gruppe vom Arbeitsmarkt entfremdet wird: Vor allem durch die Entwertung der erworbenen Qualifikationen und den Frust, der die Motivation reduziert. Es gebe etwa in den südeuropäischen Staaten Anzeichen dafür, dass sich der konjunkturbedingte Anstieg der Arbeitslosigkeit verfestige – und somit viel schwerer zu korrigieren sei als in anderen Zeiten.«

An dieser Stelle fällt Deutschland negativ auf: »Die Langzeitarbeitslosigkeit ist einer der wenigen Bereiche, in denen Deutschland nicht so gut dasteht: Fast jeder zweite Arbeitslose sucht schon länger als ein Jahr nach Arbeit, mehr als im OECD-Schnitt und doppelt so viel wie in den USA.«

Generell gilt: Viele, die ihren Job in der Fabrik oder am Bau verloren, müssen sich komplett umstellen: Sie brauchen neue Qualifikationen, um einen Dienstleistungsjob zu finden, sonst landen sie im Abseits, schreibt Hagelüken in seinem Beitrag.

In der deutschsprachigen Zusammenfassung OECD‐Beschäftigungsausblick 2015 gibt es noch einige weitere Hinweise auf interessante Aspekte, die in dem Bericht diskutiert werden:

»In der überwiegenden Mehrzahl der OECD‐Länder nimmt die Ungleichheit zu … Neue Daten zu den Informationsverarbeitungskompetenzen der Erwerbsbevölkerung aus der OECD‐Erhebung über die Kompetenzen Erwachsener (PIAAC) machen deutlich, welche wichtige Rolle Kompetenzen als Erklärungsfaktor für Unterschiede zwischen den Ländern in der Lohnspreizung spielen, die ein entscheidender Faktor für die Einkommensungleichheit zwischen den Haushalten ist … In Ländern mit einer unausgewogeneren Kompetenzverteilung ist auch die Lohnungleichheit höher.« Es kann an dieser Stelle allerdings nur darauf hingewiesen, nicht aber ausführlicher diskutiert werden, dass der Kompetenz-Ansatz der OECD nicht unumstritten ist, er bildet ja auch die Basis für die PISA-Studien.

Hervorzuheben ist, dass die OECD sich nicht nur die quantitativen Dimensionen anschaut, sondern explizit auch eine Annäherung an und Berücksichtigung der „Qualität“ von Arbeit versucht.
»Inwieweit sich die zu einem bestimmten Zeitpunkt bestehende Verdienstungleichheit in langfristiger Ungleichheit bei den Erwerbseinkommen niederschlägt, hängt vom Grad der Verdienstmobilität ab, worunter der Auf‐ und Abstieg auf der Verdienstleiter bzw. Übergänge von Beschäftigung in Arbeitslosigkeit und umgekehrt zu verstehen sind …  (Auf der Basis einer Simulationsstudie für 24 OECD-Staaten) zeigte sich, dass durchschnittlich drei Viertel der in einem gegebenen Jahr festgestellten Ungleichheit von Dauer sind, während der verbleibende Teil im Lebensverlauf infolge der Mobilität ausgeglichen wird. Die Mobilität ist in Ländern mit größerer Ungleichheit offenbar nicht höher. Chronische Arbeitslosigkeit, unzureichende kognitive Kompetenzen, atypische Beschäftigungsverhältnisse und Unternehmen mit geringer Produktivität sind die wichtigsten Erklärungsfaktoren langfristig geringer Verdienste. Die Arbeitslosenversicherung spielt eine wichtige Rolle bei der Absicherung der beruflichen Laufbahn, indem sie die mit Arbeitslosigkeit verbundenen Einkommensrisiken verringert.«

Das OECD‐Konzept der Beschäftigungsqualität versucht diese anhand von drei Kriterien zu erfassen: Einkommensqualität (Kombination von Durchschnittsverdiensten und Einkommensungleichheit), Arbeitsmarktsicherheit (gemessen am Risiko von Arbeitslosigkeit und extrem niedrigen Verdiensten) und Qualität des Arbeitsumfelds (gemessen an der Häufigkeit von Arbeitsstress oder sehr langen Arbeitszeiten). Nun gibt es immer wieder die These, dass man sich das „nicht leisten“ könne, weil es einen Bis gebe zwischen (mehr) Beschäftigungsqualität und (mehr) Beschäftigung (und damit weniger Arbeitslosigkeit). Abweichend dazu die OECD:
»Im Hinblick auf die Politikgestaltung zeigt die Erfahrung der am besten abschneidenden OECD‐Länder, dass eine hohe Beschäftigungsqualität mit einem hohen Beschäftigungsniveau vereinbar ist. Maßnahmen zur Anhebung der Beschäftigungsqualität sollten also nicht zwangsläufig als Bremse für das Beschäftigungswachstum betrachtet werden.«

Arbeitsmarktpolitik: Neue Förderprogramme fressen alte auf. Kannibalisierung in der Förderpolitik der Jobcenter für Langzeitarbeitslose und wieder die Grundsatzfrage: Was hilft wem wie?

»Die Arbeitsministerin hat neue Programme für Langzeitarbeitslose aufgelegt – und muss nun an anderer Stelle kürzen. Die Folge: Den Jobcentern fehlen Millionen Euro. Junge Arbeitslose gehen leer aus«, berichtet Stefan von Borstel in seinem Artikel Andrea Nahles stürzt Jobcenter ins Förderchaos.

Im November des vergangenen Jahres wurde wieder einmal ein neues Förderprogramm der Öffentlichkeit präsentiert. Mit Lohnkostenzuschüssen will die Bundesarbeitsministerin 43.000 schwer vermittelbare Arbeitslose ohne Berufsabschluss wieder zu einem regulären Job verhelfen. Eine Milliarde Euro, so kündigte die Ministerin an, würden dafür ausgegeben. So weit, so schön, wenn … Ja, wenn das zusätzliche Mittel wären. Oder wenn Maßnahmen gestrichen werden, die nachweislich keine Wirkung haben und mit denen man bislang Geld verschwendet hat, denn dann würde ein Wegfall dieser Maßnahmen keine negativen Auswirkungen haben auf die betroffenen Langzeitarbeitslosen. Zugleich müssten die neuen Fördermaßnahmen effektiver sein als das, was man bislang angestellt hat mit den Hartz IV-Empfängern. Diese Punkte werden in dem zitierten Artikel von Borstel nicht direkt thematisiert, müssten aber für eine vollständige Bewertung berücksichtigt werden.

Dem Artikel kann man entnehmen: »Um die neuen Spezialmaßnahmen für Langzeitarbeitslose zu finanzieren, muss Nahles an anderer Stelle in ihrem Etat sparen. Mitte März bekamen die Jobcenter Post aus dem Arbeitsministerium: Sie wurden darüber informiert, dass sie in den nächsten Jahren weit weniger Fördermittel abrufen können als bislang zugesagt. Allein in den nächsten drei Jahren sind es rund 750 Millionen Euro weniger.«

„Beabsichtigte Maßnahmen wurden damit von heute auf morgen infrage gestellt, zum Teil mussten bereits veröffentlichte Ausschreibungen zurückgezogen werden.“ Mit diesen Worten wird die arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, Brigitte Pothmer, zitiert. Sie hat die Zahlen über eine Anfrage an die Bundesregierung öffentlich gemacht. Die hatte sich schon im April zu Wort gemeldet mit einer Stellungnahme das neue Programm betreffend: Nahles-Programm für Langzeitarbeitslose bleibt weit hinter den Erwartungen zurück. Darin heißt es: »Statt mit angestrebten 33.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer planen die Jobcenter lediglich mit etwas mehr als 24.000 Plätzen … Angesichts von mehr als einer Million Langzeitarbeitslosen werden von dem Programm nach dem jetzigen Stand gerade einmal 2,4 Prozent der Betroffenen erreicht.« Und bereits in dieser Stellungnahme aus dem April weist Pothmer darauf hin:

»Auf die Teilnahme am Nahles-Programm können viele Jobcenter trotz inhaltlicher Bedenken und trotz des hohen Aufwands nicht verzichten, da ihnen sonst noch weniger Fördermittel als ohnehin zur Verfügung stünden. Nicht nur die steigenden Verwaltungskosten zehren Jahr für Jahr am Topf für die aktive Arbeitsmarktpolitik. Auch das Bundesprogramm wird teilweise aus diesen Mitteln finanziert. Dabei handelt es sich allein im Jahr 2015 um 117 Millionen Euro, für 2016 werden 204 Millionen Euro veranschlagt. Dieses Geld steht den Jobcentern nicht zur freien Verfügung, sondern ist an das Bundesprogramm gebunden.«

Es wurde am Anfang dieses Beitrags schon erwähnt, dass ein wichtiges Kriterium wäre, ob der Wegfall der alten Förderung unsinnige Maßnahmen betrifft. Denn dann müsste eine Bewertung anders ausfallen, als wenn durchaus sinnvolle Maßnahmen aus haushaltstechnischen Gründen zum Verdrängungsopfer werden. Einen Hinweis, dass der letzte Punkt nicht auszuschließen ist, kann man dem folgenden Beispiel aus Nordrhein-Westfalen entnehmen, mit dem konkretisiert wird, was denn gestrichen oder erschwert wird:

»Zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen, dem bevölkerungsreichsten Bundesland. Dort können Jobcenter keine mehrjährigen Ausbildungsmaßnahmen für junge Menschen mehr finanzieren, weil Nahles die Verpflichtungsermächtigungen für die folgenden Jahre zusammengestrichen hat. Für das kommende Jahr wurden die Mittel um zehn Prozent, für die Jahre danach um 40 bis 50 Prozent gekürzt. „Planung und Ausschreibung von Ausbildungsplätzen für die Zielgruppe der benachteiligten jungen Menschen im Rechtskreis SGB II (Hartz IV) wird hierdurch unmöglich gemacht“, heißt es in einem Schreiben der Landesarbeitsgemeinschaft Jugendsozialarbeit an die Ministerin in Berlin.
Damit erhielten viele junge Menschen, die derzeit in Jugendwerkstätten, Produktionsschulen oder berufsvorbereitenden Maßnahmen fit für eine Ausbildung gemacht würden, keinen Anschluss und Übergang in ein weiteres Förderangebot.«

Auf die Situation der jungen Arbeitslosen in Nordrhein-Westfalen wurde schon an anderer Stelle kritisch hingewiesen und das sollte man wissen, um die neuere Verengung der Fördermöglichkeiten richtig einordnen zu können:

»40 Prozent der Hartz IV-Empfänger unter 25 Jahren sind schon seit mehr als vier Jahren hilfebedürftig. Dennoch erhalten sie immer weniger arbeitsmarktpolitische Fördermaßnahmen und stattdessen mehr Sanktionen und Leistungskürzungen. Das kritisiert die Freie Wohlfahrtspflege Nordrhein-Westfalen in der aktuellen Ausgabe des Arbeitslosenreports«, so O-Ton Arbeitsmarkt in dem Artikel Arbeitslosenreport der Freien Wohlfahrtspflege NRW: Jugendliche werden nicht ausreichend gefördert.

Den Finger auf eine grundsätzliche Wunde der deutschen Arbeitsmarktpolitik legt der Deutsche Landkreistag: „Die Handlungsmöglichkeiten der Jobcenter sollten nicht durch immer neue Bundesprogramme für kleine Personengruppen eingeschränkt werden“, fordern die Landkreise in ihrer Stellungnahme zu einer Anhörung zum Thema Langzeitarbeitslosigkeit vor dem Bundestagsausschuss für Arbeit und Soziales am Montag, dem 18. Mai 2015.

Bereits im Februar 2015 berichtete O-Ton Arbeitsmarkt über die ernüchternden Ergebnisse einer Befragung hessischer Jobcenter zu dem neuen Förderprogramm: Bundesprogramm für Langzeitarbeitslose: Viel Aufwand, wenig Nutzen. »Nicht durchdacht, zu viel Aufwand, zu wenig Nutzen. So denken hessische Jobcenter über das ESF-Förderprogramm für Langzeitarbeitslose von Arbeitsministerin Nahles. Dennoch werden zwei Drittel der Jobcenter am Programm teilnehmen.« Und der Vorwurf wird auch konkretisiert:

»Das Programm sei wenig durchdacht und mit hohem Aufwand verbunden. So könne die spezielle Zielgruppe nicht automatisch aus der Fachsoftware ermittelt werden, sondern müsse aufwändig im Einzelfall überprüft werden. Man gehe davon aus, dass für die geringe Teilnehmerzahl von 60 Personen in Hessen (nicht mal ein Prozent der dort grundsätzlich für die Förderung infrage kommenden Klientel) etwa 1.300 Gespräche zu führen seien.«

Man muss sich an dieser Stelle klar machen, dass das neue Förderprogramm aus dem Bundesarbeitsministerium ein Lohnkostenzuschuss-Programm für besonders beeinträchtige Langzeitarbeitslose ist. Dazu die hessischen Jobcenter aus der Befragung des Städtetags:

»Ohnehin mache es wenig Sinn, die besonders arbeitsmarktferne Zielgruppe direkt mit Lohnkostenzuschüssen in den ersten Arbeitsmarkt integrieren zu wollen. Die Vorbereitung auf den Arbeitsmarkt müsse vor und nicht nach dem Abschluss des Arbeitsverhältnisses stattfinden … Ansonsten seien die geförderten Verhältnisse nicht nachhaltig und auf den Zeitraum der Förderung beschränkt.
Die Erfahrungen mit anderen Lohnkostenzuschüssen (nach § 16e SGB II) zeigten zudem, dass die Zielgruppe so kaum zu integrieren sei. Arbeitgeber hätten grundsätzlich ein geringes Interesse an Lohnkostenzuschüssen und suchten nach direkt einsetzbaren, motivierten und qualifizierten Fachkräften.«

Ein weiterer wichtiger Aspekt zur Einordnung des Sachverhalts muss hier aufgerufen werden. Die haushaltstechnischen Kapriolen, die jetzt wieder einmal geschlagen werden müssen, weil man ansonsten das neue Förderprogramm nicht auf die Bühne heben kann, finden nicht im luftleeren Raum statt, sondern ganz im Gegenteil in einem Umfeld, in dem immer weniger Fördermittel für Langzeitarbeitslose um Grundsicherungssystem zur Verfügung stehen, auch deshalb, weil die Jobcenter selbst erheblich unterfinanziert sind und eine gegenseitige Deckungsfähigkeit zwischen den Fördermittel und den Verwaltungsausgaben besteht (vgl. beispielsweise den Beitrag Jobcenter: Weniger Geld für arbeitsmarktpolitische Maßnahmen, mehr für die Verwaltung), was dann auch praktisch genutzt wird. Zu dieser Problematik der Beitrag Unterfinanzierte Jobcenter: Von flexibler Nutzung zur Plünderung der Fördergelder für arbeitsmarktpolitische Maßnahmen vom 10. April 2015:

»Mehr als 520 Millionen Euro nutzten die Jobcenter 2014 nicht wie vorgesehen für arbeitsmarktpolitische Maßnahmen, sondern stopften damit Löcher in ihrem Verwaltungshaushalt. Einzelne Jobcenter zweckentfremdeten sogar zwei Drittel der Fördergelder. 2014 wanderten so mehr als 520 Millionen Euro aus dem Eingliederungs- in den Verwaltungsetat der Jobcenter, ganze 15 Prozent der insgesamt 3,5 Milliarden Euro für arbeitsmarktpolitische Maßnahmen. Und die Einzelfälle sind häufig deutlich dramatischer. Manche Jobcenter bedienen sich bei bis zu zwei Dritteln der Fördergelder, darunter das Jobcenter Ansbach (Landkreis) mit einer 66-prozentigen Umschichtung aus dem Eingliederungs- in den Verwaltungsetat, das Jobcenter Memmingen mit einer 63-prozentigen Umschichtung und das Jobcenter Lichtenfels, das 61 Prozent der Eingliederungsmittel nutzte, um seine Verwaltungskosten zu decken.«

Abschließend muss an dieser Stelle erneut die nicht nur grundsätzlich ungelöste, sondern durch die Ausgestaltung der Arbeitsmarktpolitik in den vergangenen Jahren deutlich verschärfte Grundsatzfrage aufgeworfen werden: Was hilft wem wie?

Das Förderrecht im SGB III und im SGB II, vor allem mit Blick auf die besonderen Probleme der überaus heterogenen Gruppe der langzeitarbeitslosen Menschen, ist in den vergangenen Jahren zahlreichen Veränderungen unterworfen worden,  die sich summa summarum dahingehend zusammenfassen lassen, dass die Fördermöglichkeiten – man denke hier insbesondere an den Bereich der öffentlich geförderten Beschäftigung – immer restriktiver ausgestaltet worden sind. Das hat dann zum Beispiel dazu geführt, dass die förderrrechtlichen Rahmenbedingungen im Bereich der im wesentlichen auf die Billigvariante der Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung („Ein-Euro-Jobs“) eingegrenzten öffentlich geförderten Beschäftigungsmöglichkeiten es mit sich bringen, dass man im Grunde nur noch völlig arbeitsmarktferne Maßnahmen durchführen kann, die dann aber gemessen werden an der (Nicht-) Integration in den ersten Arbeitsmarkt.

Den meisten Praktikern und Experten, die vorurteilsfrei auf die Arbeitsmarktpolitik schauen, ist eines seit langem klar: Wir brauchen nicht noch mehr einzelne Förderprogramme, die dann auch noch hoch selektiv ausgestaltet werden, so dass ihr Scheitern in der Lebensrealität vorprogrammiert ist, Sondern unabdingbar ist eine grundsätzliche Flexibilisierung und Erweiterung des Förderrechts  innerhalb des SGB II, die es überhaupt erst möglich machen würde, das vor Ort mit Blick auf den einzelnen Langzeitarbeitslosen individuelle Maßnahmen gestaltet werden könnten, die unterm Strich wesentlich effektiver sein würden. Dazu gehört eben auch die Möglichkeit, bestimmten Menschen, die mittelfristig bis langfristig keine wirklich realistischen Perspektiven auf eine Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt haben, dennoch eine Teilhabe an einer dann öffentlich organisierten Erwerbsarbeit zu ermöglichen. Unabhängig von der dann zu konkretisierenden Frage, wer das sie finanziert, muss man gegenwärtig schlichtweg zu dem Ergebnis kommen, dass auch wenn man wollte, dieser Ansatz einer Kombination ganz unterschiedlicher Fördermaßnahmen schlichtweg vor dem Hintergrund der gesetzgeberischen Ausgestaltung des SGB II gar nicht realisierbar wäre. Insofern – aber das wäre ein eigenes, sehr umfängliches Thema – hätte der Bundestag die zentrale Aufgabe, eine umfassende Reform im Sinne einer erheblichen Entschlackung des bestehenden Förderrechts vorzunehmen. Vorschläge aus den Reihen der Praktiker und der Experten, die sich mit diesem Thema seit langem beschäftigen, gibt es viele. Wie so oft fehlt derzeit der politische Wille, diesen an sich notwendigen Weg auch zu gehen. Stattdessen fokussiert man erneut auf die scheinbar öffentlichkeitswirksame Installierung neuer Förderprogramme nach dem Motto: Seht ihr, wir tun doch was für Langzeitarbeitslose. Auch wenn das wieder einmal ein großes Chaos und zahlreiche Verwüstungen vor Ort anrichtet. Aber das müssen ja andere ausbaden.

Was für ein (scheinbares) Durcheinander: Immer weniger Arbeitslose und viele offene Stellen, gleichzeitig profitieren immer weniger Arbeitslose vom „Jobwunder“ und der Mindestlohn hält auch nicht das, was einige von ihm erwartet haben

„Im Februar hat sich die positive Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt fortgesetzt. Die Arbeitslosigkeit ist gesunken und die Beschäftigung behält ihren Aufwärtstrend bei.“ Mit diesen Worten wird Frank-Jürgen Weise, der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit (BA) von seiner eigenen Behörde zitiert. »Die Zahl der arbeitslosen Menschen ist von Januar auf Februar um 15.000 auf 3.017.000 gesunken. Im Durchschnitt der letzten drei Jahre ist die Arbeitslosigkeit im Februar gestiegen, und zwar um 15.000. Saisonbereinigt ist die Arbeitslosigkeit im Vergleich zum Vormonat um 20.000 gesunken. Gegenüber dem Vorjahr waren 121.000 Menschen weniger arbeitslos gemeldet.« Und auch die Zahl der Unterbeschäftigten wird erwähnt: »Die Unterbeschäftigung, die auch Personen in entlastenden arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen und in kurzfristiger Arbeitsunfähigkeit mitzählt, hat sich saisonbereinigt um 20.000 verringert. Insgesamt belief sich die Unterbeschäftigung im Februar 2015 auf 3.888.000 Personen. Das waren 173.000 weniger als vor einem Jahr.« Und auch die Arbeitsnachfrage – gemessen an der Zahl der bei der BA gemeldeten offenen Stellen, die nur einen Teil der gesamtwirtschaftlichen Arbeitsnachfrage abzubilden in der Lage ist – befindet sich im positiven Bereich: »Die Nachfrage nach neuen Mitarbeitern ist weiter aufwärtsgerichtet. Im Februar waren 519.000 Arbeitsstellen bei der Bundesagentur für Arbeit gemeldet, 63.000 mehr als vor einem Jahr … Besonders gesucht sind zurzeit Arbeitskräfte in den Berufsfeldern Mechatronik, Energie- und Elektrotechnik, Verkauf und Verkehr und Logistik. Es folgen Berufe in der Metallerzeugung, Maschinen- und Fahrzeugtechnik sowie Gesundheitsberufe.« Also alles gut.
Wie passen dann aber solche Schlagzeilen in diese schöne Landschaft: Warum Arbeitslose nicht vom Jobwunder profitieren? Und Moment – gab es da nicht die Schreckensvisionen vieler Ökonomen in den vergangenen Monaten, die immer wieder von mehreren hunderttausend Arbeitsplätzen gesprochen haben, die mit der Einführung des Mindestlohns verloren gehen werden? Wie passt das alles zusammen?

Warum Arbeitslose nicht vom Jobwunder profitieren, fragt Thomas Öchsner in der Süddeutschen Zeitung: Er verweist nicht nur auf die Zahl von mehr als 43 Millionen Beschäftigten (wobei man hier immer mitdenken muss, dass es sich um alle Erwerbstätige handelt, also nicht nur der Vollzeitbeschäftigte mit einer 40-Stunden-Woche ist darin enthalten, sondern beispielsweise auch die Minijobber), sondern auch auf die enorme Bewegung, die wir auf dem Arbeitsmarkt haben: »Jeden Werktag melden sich gut 10.000 Menschen arbeitslos, weil sie ihren Job verloren haben. Die Bundesagentur für Arbeit (BA) zählte aber auch 2014 mehr als zwei Millionen Menschen, die ihre Arbeitslosigkeit beenden konnten.«

Die arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, Brigitte Pothmer, hat bei der Bundesregierung nachgefragt, wie sich denn der Beitrag der Arbeitsagenturen und Jobcenter darstellt, wenn es um die Vermittlung in eine (neue) Beschäftigung geht. »Das Ergebnis fand sie ziemlich ernüchternd: Trotz der Rekordbeschäftigung gelingt es den staatlichen Vermittlern immer seltener, Arbeitslosen einen festen Job zu vermitteln«, so Thomas Öchsner in seinem Bericht über die Antwort der Bundesregierung auf die Anfrage:

»2014 erhielten etwa 272 000 Arbeitssuchende eine reguläre, ungeförderte Stelle auf dem Arbeitsmarkt, weil sie ein Jobcenter oder eine Agentur bei einem Arbeitgeber vorgeschlagen hatte. Das sind 28 Prozent oder 100 000 weniger als noch 2011 … Wie erfolgreich die Arbeit der staatlichen Vermittler ist, zeigt unter anderem die Vermittlungsquote. Diese ist … seit Jahren rückläufig. Danach waren von allen arbeitslosen Menschen, die 2011 eine normale, nicht geförderte Stelle ergattern konnten, 16,2 Prozent von den staatlichen Behörden direkt vermittelt worden. 2014 waren es nur noch 13 Prozent.«

Nun sollte man fairerweise zugestehen, dass die Vermittlungsquote den Teil der Stellenbesetzungen abbildet, bei dem die Agenturen und Jobcenter direkt vermittlerisch tätig waren (oder wo das als solches statistisch erfasst wurde). Daneben kann man natürlich argumentieren, dass es auch zahlreiche indirekte Vermittlungsleistungen gibt oder geben kann, die dann in einer Stellenbesetzung münden, ohne dass diese in der Vermittlungsquote ausgewiesen werden.

Öchsner weist aber auch noch auf einen weiteren Aspekt hin, den man der Antwort der Bundesregierung entnehmen kann: Frühere Erwerbslose verlieren häufig relativ schnell wieder ihren neuen Job. »Danach haben nur knapp 57 Prozent noch nach einem Jahr die Stelle, die sie mithilfe der staatlichen Behörden bekommen haben. Bei denjenigen, die Arbeitslosengeld II (Hartz IV) beziehen und meist länger als ein Jahr arbeitslos sind, gelingt es nicht einmal jedem Zweiten, den zuvor vermittelten Job mindestens ein Jahr zu behalten.« Auch in der Bundesagentur wird das als Problem erkannt: „Die Dauer der Beschäftigungsverhältnisse ist besonders für Hartz-IV-Bezieher zu kurz.“ Jeder Arbeitsvermittler werde eine unbefristete Stelle einer befristeten Stelle oder einer in der Zeitarbeit vorziehen. „Wir können uns solche Stellen jedoch nicht backen“, zitiert Öchsner eine Sprecherin der BA.

Die arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, Brigitte Pothmer, »fordert einen Politikwechsel in der Arbeitsförderung, „weil weder Umfang noch Qualität der Vermittlung überzeugen können“. Vor allem bei gering Qualifizierten sei es nötig, stärker das Augenmerk auf das Fördern und Qualifizieren der Arbeitslosen zu legen, statt ihrer schnellen Vermittlung den Vorrang zu geben.«

Das wäre ein richtiger und wichtiger Schritt, der allerdings derzeit in einem doppelten Sinne versperrt wird: Zum einen durch zahlreiche förderrechtliche Restriktionen im SGB III und II, die dazu führen, dass an sich sinnvolle und gebotene Maßnahmen gar nicht durchgeführt werden dürfen, zum anderen aber auch eine seit 2011 ablaufende erhebliche Kürzung der Mittel für Fördermaßnahmen (vgl. dazu auch den Beitrag Arbeitsmarktpolitische Förderung: Weiterer Rückgang 2014 bei O-Ton Arbeitsmarkt). Und vor dem Hintergrund der folgenden Äußerung der Sprecherin der BA, die Öchsner in seinem Artikel zitiert, wird zugleich die völlig unsinnige Ausgestaltung der Nicht-Förderung derzeit im SGB II erkennbar: „Unter den Arbeitslosen haben wir zu wenig Fachkräfte, die werden aber gesucht.“ Richtig, über die Hälfte der arbeitslos registrierten Hilfeempfänger im Hartz IV-System haben keine Ausbildung. Dann wäre es doch nur naheliegend, alles daran zu setzen, die Betroffenen, wenn sie denn wollen und können, zu einem ordentlichen Berufsabschluss zu verhelfen, auch und gerade vor dem Hintergrund das wir wissen, dass die Arbeitgeber in Deutschland extrem abschlussorientiert sind, also darauf schauen, ob jemand einen Berufsabschluss hat – oder eben nicht. Dann nützen auch zahlreiche Zertifikate mehr oder weniger sinnvoller Maßnahmen nichts. In der Rarität aber werden Hartz IV-Empfängern ohne eine Ausbildung aufgrund der rechtlichen Ausgestaltung im SGB II zahlreiche Steine in den Weg gelegt, wenn sie eine Ausbildung machen wollen, bei älteren Hilfeempfängern kann sogar die Leistung vollständig gestrichen werden, wenn sie sich selbst bemühen, ohne Ansprüche auf andere Leistungen – ein Irrsinn (vgl. dazu den Beitrag Langzeitarbeitslose: Wer sich engagiert, wird bestraft des Politikmagazins „Monitor“ in der Sendung am 26.02.2015).

Und wie sieht es auf einer anderen großen arbeitsmarktpolitischen Baustelle aus? Beim (fast) flächendeckenden Mindestlohn? Der muss hier natürlich gerade vor dem Hintergrund der neuen Arbeitsmarktzahlen aufgerufen werden. Denn wie war das im vergangenen Jahr, vor der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns? Hunderttausende Arbeitsplätze sollten nach den Vorhersagen zahlreiche Mainstream-Ökonomen durch die neue Lohnuntergrenze verloren gehen. Vom „Jobkiller“ Mindestlohn war die Rede und viele Medien haben die apokalyptischen Visionen der Ökonomen übernommen und verbreitet. Da gab es – um nur ein Beispiel zu nennen – die Zahl von 900.000 Arbeitsplätzen, die angeblich verloren gehen durch den Mindestlohn, wie eine Studie ergeben habe. Die Zahl stammt aus einem Diskussionspapier der Wirtschaftswissenschaftler Andreas Knabe, Ronnie Schön und Marcel Thun: Der flächendeckeckende Mindestlohn, veröffentlicht im Februar 2014. Dort findet man tatsächlich den folgenden Satz: »Die gesamten Beschäftigungsverluste belaufen sich auf über 900.000 Arbeitsplätze« (Knabe et al. 2014: 34). Aufschlussreich wird es dann schon, wenn man nicht nur bei diesem Satz stehen bleibt, sondern einfach mal weiterliest: »Doch diese Zahl ist mit Vorsicht zu interpretieren, da in ihr auch der Verlust von 660.000 geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen (einschließlich Rentner und Studenten) mitgezählt wird. Rechnet man die Verluste bei den geringfügig Beschäftigten in Vollzeitäquivalente um, so entsprechen diese Verluste in etwa 340.000 Vollzeitarbeitsplätzen. Konzentriert man sich auf die Vollzeitbeschäftigten, so ergeben sich insgesamt rund 160.000 Arbeitsplatzverluste, die etwa je zur Hälfte in den Neuen und Alten Bundesländern anfallen.«

Wenn das alles so wäre, dann müssten wir erste Spuren dieses Beschäftigungsabbaus in den Zugangszahlen in die Arbeitslosigkeit sehen. Sehen wir aber nicht. Vielleicht einfach deshalb, weil es eben nicht zu den von vielen abgeschriebenen Arbeitsplatzverlusten kommt, wie Kritiker immer eingewandt haben? Nun kann man an dieser Stelle darauf hinweisen, dass es vielleicht noch zu früh ist, für eine erste Bilanzierung des Mindestlohns, denn möglicherweise halten sich viele Unternehmen noch zurück mit den Entlassungen, die es eigentlich geben müsste, wenn denn die Modellwelten der Mindestlohnkritiker was mit der Realität zu tun haben. Schauen wir mal, kann und muss man dieser Stelle sagen, aber es ist durchaus plausibel, dass es insgesamt gesehen kaum relevante Arbeitsmartkeffekte geben wird – was nicht bedeutet, dass nicht einzelne Unternehmen bzw. bestimmt Geschäftsmodelle vom Markt verschwinden werden. Aber derzeit kann und muss man sagen, dass sich der Arbeitsmarkt sehr robust darstellt und keine Anhaltspunkte für ein Eintreten der Horrorszenarien, die manche an de Wand gemalt haben, zu beobachten sind.

Statt dessen dreht sich die aktuelle Diskussion um die Versuche eines Teils der Arbeitgeber bzw. ihrer Funktionäre, die Arbeitszeiterfassung bestimmter Beschäftigter und hierbei vor allem der Minijobber wieder aus den Vorschriften zu kegeln. Was natürlich ein Scheunentor öffnen würde für schwarze Schafe. Und in der Praxis werden – nicht wirklich überraschend – von dem einen oder anderen Unternehmen Umgehungsstrategien gesucht und ausprobiert, um faktisch einen Lohn unterhalb der Lohnuntergrenze zahlen zu können. Vgl. dazu beispielsweise den Artikel Der schwierige Kampf gegen den Überstunden-Trick. In diesem Artikel wird das Vorstandsmitglied der BA, Heinrich Alt, zitiert:

Dass ausgerechnet die Erfassung der Arbeitszeiten für Konfliktstoff sorgt, kommt überraschend. Schließlich ist sie laut Arbeitszeitgesetz Pflicht, betonte Heinrich Alt, Vorstand der Bundesagentur für Arbeit (BA). Die Erfassung von Arbeitszeiten „sollte der Normalfall sein – nicht nur, wenn es um den Mindestlohn geht“.
Er sei „immer davon ausgegangen, dass Arbeitszeiten festgehalten werden, wenn nach geleisteten Arbeitsstunden abgerechnet wird“, sagte Alt. Die hitzige Debatte in der Koalition über das Thema verstehe er nicht: „Wenn man die Zahl der geleisteten Stunden nicht dokumentiert, ist Missbrauch nicht auszuschließen, auch nicht bei Minijobs.“

Man sollte an dieser Stelle ergänzen: nicht auch, sondern gerade bei den Minijobs ist der Missbrauch mit der unbezahlten Mehrarbeit in der Vergangenheit schon an vielen Stellen beobachtet und in Studien auch kritisiert worden. »Für geringfügig Beschäftigte solle die Dokumentationspflicht ganz abgeschafft werden, wenn ein schriftlicher und aussagekräftiger Arbeitsvertrag vorliege.« Die Verwirklichung dieser Forderung von Arbeitgeberverbänden unter dem Segel eines angeblichen „Bürokratie-Abbaus“ würde gerade den für Missbrauch am anfälligsten Bereich, also die geringfügige Beschäftigung, schutzlos den schwarzen Schafen unter den Unternehmen überlassen.

Selbst aus dem Osten Deutschlands kommen – neben den derzeit üblichen Berichten über Umgehungsversuche in einzelnen Betrieben – (noch) keine Hiobsbotschaften. „Frustrierend“ für die Mindestlohn-Gegner. Ein Beispiel aus Brandenburg:

»Seine Mitarbeiter zu erpressen, das kommt für Ralf Blauert nicht in Frage. Er betreibt in Potsdam ein Cateringunternehmen mit 50 Mitarbeitern. Früher verdienten die um die sieben Euro. Jetzt zahlt Blauert ihnen gern den Mindestlohn – dafür musste er allerdings die Preise anheben: An den Grundschulen, die Blauert mittags beliefert, zahlen Eltern jetzt für ein Essen 3,25 Euro statt 3 Euro. Die Reaktionen waren nicht so negativ, wie Blauert erwartet hatte. „Natürlich waren nicht alle begeistert. Aber wir haben mit viel mehr Unverständnis gerechnet“, sagt er. Entlassungen sind für Ralf Blauert kein Thema.«

Das sind alles erste Eindrücke, die natürlich keine annähernd seriöse Evaluierung der neuen Lohnuntergrenze darstellen. Dazu muss man zahlreiche Faktoren und Wirkungskanäle über einen längeren Zeitraum beobachten. Aber es sind Indizien, dass die Welt sicher keine ökonomische Modellwelt ist.

Um das Thema abschließend abzurunden: Bereits am 1. Februar 2014 hatte ich in dem Beitrag Was „Aufstocker“ im Hartz IV-System (nicht) mit dem Mindestlohn zu tun haben darauf hingewiesen, dass  zumindest für alleinstehende Aufstocker ein Mindestlohn von 8,50 Euro ausreicht, um die aufstockenden Leistungen aus dem Hartz IV-System wegfallen zu lassen, die ja aus Steuermittel gezahlt werden müssen und damit eine Subventionierung der Geschäftsmodelle mit besonders niedrigen Löhnen darstellt. Nun hat sich auch die BA zu Wort gemeldet: Bundesagentur sieht Millioneneinsparungen durch Mindestlohn, so eine Meldung der Nachrichtenagentur dpa:

»Nach vorläufigen Berechnungen sei bei den Ausgaben für alleinlebende Hartz IV-Empfänger mit einer Vollzeitstelle jährlich mit 600 Millionen bis 900 Millionen Euro weniger zu rechnen, sagte BA-Vorstandsmitglied Heinrich Alt am Donnerstag in Nürnberg. Diese Gruppe der sogenannten Aufstocker benötige künftig deutlich weniger Arbeitslosengeld II zusätzlich zu ihrem Lohn.«

Eben. Und Heinrich Alt legt noch einen nach und das, was er gesagt hat, soll hier als Schlusswort gesetzt werden: „Aber eines kann man schon jetzt sagen: Für die Horrorprognosen des Münchner Ifo-Instituts, das mit dem Mindestlohn eine Million Arbeitsplätze verloren gehen, gibt es bislang keine Hinweise.“ So ist das.