Mehr teure Pillen im Land der hohen Preise. Der Arzneiverordnungs-Report 2017 mit einigen Fragezeichen

Im Jahre 1980 wurden zu Lasten der gesetzliche Krankenversicherung (GKV) knapp 7 Mrd. Euro für Arzneimittel aus Apotheken umgesetzt. Im Jahre 2007 lag der Umsatz bereits bei 24,8 Mrd. Euro. Und für das vergangene Jahr werden diese Zahlen berichtet: Die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung für Arzneimittel sind 2016 um 3,9 Prozent auf 38,5 Milliarden Euro gestiegen. 3,9 Prozent mehr bedeuten in diesem Fall 1,44 Mrd. Euro mehr als noch 2015. Grundlage dieser Zahlen ist der seit 1985 jährlich veröffentlichte Arzneiverordnungs-Report der AOK, herausgegeben vom Wissenschaftlichen Institut der AOK (WIdO). Der Report wird gemeinsam mit der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) erarbeitet. Wie kommt es zu einem solchen Preisanstieg? Diese Frage wird über eine Komponentenzerlegung beantwortet, durch die man die Preis-, Mengen- und Strukturentwicklung differenziert betrachtet.

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Wenn sogar der Bundesrechnungshof mehr und nicht weniger fordert: Die Medizinischen Dienste der Krankenkassen (MDK) als unterfinanziertes Nadelöhr?

Immer wieder mal wird – meistens sehr kritisch – über die Arbeit der Medizinischen Dienste der Krankenkassen (MDK) berichtet. Da geht es um die Verweigerung einer „richtigen“ Einstufung der Pflegebedürftigkeit, da wird der Vorwurf in den Raum gestellt, dass der MDK gar nicht unabhängig sei, sondern nach der Pfeife der Kassen zu tanzen habe.

Auf der anderen Seite machen die MDK-Mitarbeiter jeden Tag unzählige Gutachten und Einstufungen, die für sehr viele Menschen eine zentrale Bedeutung haben. Und darunter sind sicher sehr viele, denen die tatsächliche Hilfsbedürftigkeit der Menschen wirklich ein Anliegen ist. Ohne Frage muss man davon ausgehen, dass eine solche Prüfinstanz schlichtweg notwendig ist, um den Zugang zu den Leistungen der Kranken- und Pflegekassen zu sortieren und zu steuern – was sie ebenfalls ohne Zweifel nach dem Bedarf der Menschen machen sollen.

Die MDK sind auf Landes-Ebene organisiert und mit knapp 9.000 Mitarbeitern der Begutachtungs-Dienstleister für die Kranken- und Pflegeversicherung. Und wir reden hier über eine Institution, dessen enorme sozialpolitische Bedeutung an einigen wenigen Zahlen erkennbar wird (hinter denen dann immer Einzelschicksale stehen):

Im Jahr 2016 wurden für die Krankenversicherung 5,8 Mio. Empfehlungen abgegeben, darunter 1,36 Mio. zur Arbeitsunfähigkeit, 651.000 zur Rehabilitation oder 268.000 zu Häusliche Krankenpflege, Haushaltshilfen und spezialisierte ambulante Palliativversorgung. 1,9 Mio. Begutachtungen zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit wurden 2016 gezählt. Hinzu kamen 2,522 Mio. geprüfte Krankenhausabrechnungen (bei 17 Mio. Krankenhausfällen insgesamt). Neben den vielen Einstufungen der Pflegebedürftigkeit ist der MDK auch für die Qualitäts-Prüfung der Pflegeheime und -dienste zuständig. Für 2016 wurden 25.300 Prüfungen von Pflegeeinrichtungen insgesamt ausgewiesen, darunter 12.100 Prüfungen ambulanter und 13.200 Prüfungen stationärer Einrichtungen. (Quelle: Medizinischer Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDS): Die Arbeit der Medizinischen Dienste. Zahlen, Daten, Fakten 2016, Essen, August 2017). Die Zahl der Beschäftigten bei den MDK belief sich Ende 2016 auf fast genau 9.000, darunter 2.248 Ärzte und 2.928 Pflegekräfte als pflegefachliche Gutachter. Auf etwa 750 Mio. Euro belaufen sich die Ausgaben der Medizinischen Dienste der Krankenkassen.

Beeindruckende Zahlen und Größenordnungen. Und das hört sich nicht nur nach einer Menge (wichtiger) Arbeit an, das ist auch so.

Und dann wird man mit solchen Schlagzeilen konfrontiert: Medizinische Dienste der Krankenversicherung leiden unter Geld- und Personalmangel: Die Kritik des Bundesrechnungshofes an der mangelnden finanziellen Ausstattung „ist aus Sicht der Bundesregierung nachvollziehbar und wird grundsätzlich geteilt“, heißt es in einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Bundestagsfraktion „Die Linke“.

»Der Bundesrechnungshof war 2012 bei einer Prüfung aller 15 MDK zu dem Ergebnis gekommen, dass die meisten dieser Einrichtungen in den Jahren 2009 bis 2011 nicht über ausreichende personelle Kapazitäten verfügten. Grund sei vor allem „der Zuwachs an Aufgaben“. Festgestellt und beschlossen würden die Haushaltspläne von den Verwaltungsräten. Die dort vertretenen Krankenkassen seien aber bestrebt, „die zu entrichtenden Umlagen aus kassenindividuellem Interesse möglichst niedrig zu halten. Mehrbedarfe wurden deshalb zurückgewiesen“, heißt es in der kleinen Anfrage.«

Der Artikel bezieht sich auf die Bundestags-Drucksache 18/13595 vom 19.09.2017: „Prüfung der Medizinischen Dienste der Krankenversicherung durch den Bundesrechnungshof und möglicher Handlungsbedarf“, so ist die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Linken überschrieben.

In der Anfrage selbst wird aus einem Bericht des Bundesrechnungshofes an den Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestags zitiert ( Bericht an den Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages nach § 88 Absatz 2 BHO über den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung, Ausschussdrucksache 18(14)265). Normalerweise ist es so, dass der Bundesrechnungshof prüft und zu dem Ergebnis kommt, dass zu viel Geld ausgegeben und zu viel Personal beschäftigt wurde. In diesem Fall stellt sich das aber anders dar:

»Der Bundesrechnungshof kam 2012 durch eine Prüfung aller 15 Medizinischen Dienste der Krankenversicherung (MDK) hinsichtlich ihrer Aufgabenwahrnehmung in den Jahren von 2009 bis 2011 zu dem Ergebnis, dass deren „Mehrzahl“ über „keine ausreichenden personellen Kapazitäten“ verfügte … Wichtiger Grund hierfür sei vor allem der Zuwachs an Aufgaben …, aus dem ein steigender Personal- und Finanzbedarf folgt. Dieser solle in den Entwürfen der jeweiligen Haushaltspläne dargestellt werden … Festgestellt und beschlossen werden die Haushaltspläne von den Verwaltungsräten. Die dort vertretenen Krankenkassen sind aber bestrebt, die „zu entrichtenden Umlagen aus kassenindividuellem Interesse möglichst niedrig zu halten“ … „Mehrbedarfe […] wurden deshalb zurückgewiesen“ … Die MDK waren daher „in vielen Fällen für die von ihnen zu bewältigenden Aufgaben nicht hinreichend finanziert“ … Es komme zu einer „angespannten Personalsituation“.«

Das hat Folge, die vom Rechnungshof auch offen angesprochen wurden, u.a. aufgrund der fehlenden personellen Kapazitäten der Einsatz „externer Gutachterinnen und Gutachter“. Das hört sich unproblematischer an als es in Wirklichkeit ist:

Bei externen Begutachtungen komme es zur „Nutzung privat organisierter Begutachtungsunternehmen“ sowie zur „Einschaltung von ‚Sub-Gutachtern‘“, wodurch „nicht mehr nachvollziehbar ist, welche Person das Gutachten erstellt hat.“ Der Bundesrechnungshof sieht daher „die gesetzlich garantierte Unabhängigkeit des Medizinischen Dienstes gefährdet, wenn externe Gutachterinnen und Gutachter neben der Tätigkeit für den Medizinischen Dienst zugleich bei Leistungserbringern, etwa in Krankenhäusern oder Pflegeeinrichtungen, tätig sind“.

Wohlgemerkt, das sind keine neuen Erkenntnisse, sondern Ergebnis von Prüfungen im Jahr 2012. Die Ergebnisse des Prüfungsberichts von 2012 habe der Bundesrechnungshof „bereits in den Jahren 2013 und 2014 gegenüber den Medizinischen Diensten und dem Bundesministerium für Gesundheit (BMG) beanstandet“ – und das BMG hatte zugesagt, hier tätig zu werden. Dem ist aber nicht so passiert.

„In den Jahren 2015 und 2016 hat der Bundesrechnungshof die Umsetzung der vom BMG zugesagten Maßnahmen überprüft. […] Mit Blick auf die Tragweite seiner Feststellungen und einer nicht erkennbaren Verbesserung gegenüber der vorherigen Prüfung im Jahr 2012 hat der Bundesrechnungshof entschieden, den Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages […] zu unterrichten“, so der Bericht des Rechnungshof.

In dem Rechnungshof-Bericht findet man den Hinweis, „dass die sämtlich unter Länderaufsichten stehenden Medizinischen Dienste in einem nicht ihrer Bedeutung für das Gesundheitswesen in Deutschland entsprechendem Maße verwaltet und finanziert wurden. Er fordert das BMG auf, seine nunmehr vorgeschlagenen Maßnahmen tatsächlich umzusetzen.“ Eine klare Ansage.

Und was antwortet nun die Bundesregierung auf die Vorwürfe?

»Die Kritik des Bundesrechnungshofs (BRH), dass die Medizinischen Dienste der Krankenversicherung (MDK) für ihre Aufgabenwahrnehmung nicht hinreichend finanziert sind und deshalb auf Mehrarbeit ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie auch zunehmend regelhaft auf externe Gutachter zurückgreifen müssen, ist aus Sicht der Bundesregierung nachvollziehbar und wird grundsätzlich geteilt.«

Und man schiebt dann das hier nach: »Trotz der grundsätzlich berechtigten Kritik des BRH bleibt festzuhalten, der MDK ist arbeitsfähig.« Wie beruhigend.

Das ist es natürlich nicht. Die wirkliche Wirklichkeit wird dann wohl auch eher durch solche Schlagzeilen beschrieben: Die MDK-Gutachter werden knapp: »Die Medizinischen Dienste der Krankenkassen arbeiten am Anschlag.« Das auch, weil wir seit Anfang des Jahres bei der Feststellung der Pflegebedürftigkeit durch das Pflegestärkungsgesetz II einen Systemwechsel bekommen haben. Um feiner justieren zu können, wurden aus drei Pflegestufen fünf Pflegegrade. Und die Kriterien sind geändert worden, hin zu einer Erhebung der noch vorhandenen Selbständigkeit. Mit Beginn des laufenden Jahres schnellte die Zahl der Pflegebegutachtungen nach oben, weil mehrere hunderttausend Menschen mit eingeschränkter Alltagskompetenz, also zum Beispiel an einer Demenz erkrankte Menschen, seither Anspruch auf Leistungen aus der Sozialen Pflegeversicherung haben. Hinzu kommen anstehende gravierende Veränderungen bei den Qualitätssicherung-Prüfungen der Pflegeeinrichtungen, das Stich- oder Reizwort „Pflegenoten“ mag hie genügen.

Aber es scheint sich etwas zu tun: »Die Personalknappheit der Medizinischen Dienste wird ab November das Bundesgesundheitsministerium, die Länder und den Gesetzgeber beschäftigen. Zudem steht das Thema auf der Tagesordnung einer Arbeitssitzung der Aufsichtsbehörden der Sozialversicherungsträger ebenfalls im November.« Und aus dem BMG kommen weiterführende Signale:

»Im Gesundheitsministerium wird bereits an einem Gesetz gefeilt, das künftig den Einsatz externer Gutachter regeln soll … Zum einen wolle man „grundsätzlich erwägen“, eine Richtlinie zur Ermittlung des Personalbedarfs der Medizinischen Dienste zu erarbeiten. Gesetzlich geregelt werden sollen auch die Aufträge an externe Gutachter. Um die Unabhängigkeit der Medizinischen Dienste zu gewährleisten, wird der Ausschluss privatrechtlich organisierter Begutachtungsunternehmen aktuell zumindest nicht ausgeschlossen.«

Das muss auch in dem Kontext gesehen werden, dass den Medizinischen Diensten im dritten Pflegestärkungsgesetz weitreichende Kontrollrechte in der häuslichen Krankenpflege eingeräumt worden sind. Auslöser waren Betrugsfälle, die die Kassen möglicherweise bis zu eine Milliarde Euro gekostet haben könnten. Wobei sich das auf die häusliche Krankenpflege bezieht – aber auch aus der ambulanten Altenpflege wird immer wieder über hoch professionellen Abrechnungsbetrug berichtet. Dazu diese Hintergrund-Sendung des Deutschlandfunks vom 30.09.2017: Warum Abrechnungsbetrug in der Pflege so einfach ist. Wobei es in diesem Beitrag vor allem um die Altenpflege geht. Auch hier bestätigt der MDK, dass ihm Personal und Mittel für umfassende Kontrollen fehlen.

Und da wären wir wieder bei denen, die das finanzieren (müssen) – also die Kranken- und Pflegekassen. Von denen der MDK dann zugleich aber auch unabhängig sein muss bzw. sein soll. Da erinnert man sich dann an den Juni 2017, als die Online-Ausgabe der „Ärzte-Zeitung“ diesen Artikel veröffentlichte: Laumann will einen von den Kassen unabhängigen MDK. Gemeint ist der (damalige) Staatssekretär Karl-Josef Laumann, der Pflege- und Patientenbeauftragte der Bundesregierung. Mittlerweile ist er nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen zum Arbeits- und Gesundheitsminister des Landes berufen worden.

Der MDK gehört in eine unabhängige Trägerschaft, so die damalige Vorgabe des Herrn Laumann. Er hatte darauf hingewiesen, dass der Dienst sein Budget statt von den Kassen direkt aus dem Gesundheitsfonds erhält. „Dann hängt der MDK nicht länger am Tropf der Kassen“.

Laumann steht mit dieser Forderung nicht allein: Auch Grüne wollen unabhängige Pflege-Gutachter, so bereits im Mai 2017 ein entsprechender Artikel. Allerdings weisen die Grünen auch darauf hin, dass es neben der Forderung in der nunmehr abgelaufenen Legislaturperiode keine substanziellen Schritte in diese Richtung gegeben habe. Die Krankenkassen und der Medizinische Dienst (MDK) selbst dagegen wehren sich gegen eine Neuorganisation ihres Gutachterwesens. Das muss auch vor diesem Hintergrund gesehen werden: »Bisher können laut Gesetz bis zu 25 Prozent der MDK-Verwaltungsratsmitglieder hauptamtlich bei den Kranken- und Pflegekassen angestellt sein. Zudem erlässt der GKV-Spitzenverband Richtlinien für den MDK.«

Handlungsbedarf wird von ganz unterschiedlichen Seiten erkannt – es bleibt abzuwarten, ob und wann sich etwas tun wird. Aber über eines sollte man sich keinen Illusionen hingeben – wenn der MDK vor dem Hintergrund der zahlreichen – und alle für sich dringenden – Aufgaben weiter so knapp gehalten wird, dann muss das Auswirkungen haben auf die, die über den MDK den Zugang zu bestimmten Leistungen bekommen (wollen bzw. müssen).

Die Krankenkassen auf dem wahren Schlachtfeld. Wo es um das ganz große Geld geht. Der „Morbi-RSA“ als höchst umstrittene Verteilungsformel im Gesundheitswesen

An solchen Meldungen aus einem Ministerium kurz vor einer Bundestagswahl merkt man die Absicht, frohe Kunde über die Bürger auszuschütten: »Krankenkassen haben nach Ansicht von Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) ausreichend Spielräume, um ihren Versicherten „hochwertige Leistungen bei attraktiven Beiträgen“ zu gewähren. Die Kassen haben im ersten Halbjahr einen Überschuss von 1,41 Milliarden Euro erzielt – im gleichen Vorjahreszeitraum sind es nur knapp 600 Millionen Euro gewesen«, so das Bundesgesundheitsministerium laut dem Artikel Kassen „surfen“ im Geld. Das die gute Beschäftigungslage den Kassen viel Geld ins Portemonnaie spült, mag für den einen oder anderen dann auch ein Erklärungsansatz sein für solche irritierende Meldungen: »6,8 Milliarden Euro: Diesen Schuldenberg schieben die gesetzlichen Krankenkassen vor sich her. Und die Politik schaut zu. 6,8 Milliarden Euro, für die alle Versicherten am Ende geradestehen.« So das Wirtschaftsmagazin Plusminus (ARD) in dem Beitrag Milliarden Schulden: Wer bei der Krankenkasse in der Kreide steht vom 6. September 2017. Wobei diese Beitragsschulden offensichtlich eine überaus bewegliche Größe sind, denn Timot Szent-Ivanyi berichtet in seinem Artikel Deutsche schulden den Krankenkassen mehr als sieben Milliarden Euro: »Im Sommer  haben sie erstmals die Marke von sieben Milliarden Euro überschritten. Ende Juli verzeichneten die 113 Kassen Rückstände von exakt 7,045 Milliarden Euro. Das ist fast eine Milliarde Euro mehr als noch am Jahresanfang.  In der abgelaufenen Wahlperiode hat sich der Schuldenstand damit  in etwa  verdreifacht.«

Nun sollte man meinen, die Kassen und ihre Verbände schlagen angesichts der horrenden Summe an ausstehenden Beitragseinnahmen Alarm und fordern von der Politik Abhilfe. Aber weit gefehlt. In dem Plusminus-Beitrag wird die Sprecherin des Spitzenverbandes der Krankenkassen, Ann Marini, dahingehend befragt, wer für diese Beitragsausfälle verantwortlich ist. Die erstaunliche Erkenntnis – man wisse es nicht wirklich: »Sie vermutet, es seien hauptsächlich die Selbstständigen.« Aber der enorme Anstieg? »Wir haben leider keine belastbaren Daten. Insofern müssen wir immer sagen: Wir vermuten.«

Sollte es vielleicht neben den mit der Beitragslast überforderten Selbständigen (vgl. dazu bereits den Beitrag Explodierende Beitragsschulden in der Krankenversicherung, Solo-Selbständige, die unterhalb des Mindesteinkommens jonglieren und warum Bismarck wirklich tot ist vom 11. Februar 2017) noch andere Ursachen geben für das Beitragsloch?

In dem Plusminus-Beitrag bekommen wir zumindest einen Hinweis, der zugleich anschlussfähig ist an das hier interessierende Thema mit dem Risikostrukturausgleich, denn auch der ist Teil der großen Geldverteilungsmaschinerie namens „Gesundheitsfonds“. Und um den geht es auch bei den Mitverursachern der Beitragsschulden:

»Die Betriebskrankenkassen „vermuten“ es seien die „obligatorisch Anschlussversicherten“. Der AOK Bundesverband nennt beispielhaft „Saisonarbeiter“ oder „ins Ausland unbekannt verzogene Personen“ … Die Erntehelfer, zumeist aus Osteuropa, arbeiten im Sommer und Herbst für wenige Wochen in Deutschland. Leiharbeiter helfen bei Amazon im Weihnachtsgeschäft aus. Für alle gilt: Sie bleiben obligatorisch in der gesetzlichen Krankenversicherung, auch wenn sie Deutschland längst wieder verlassen haben. Die Saisonarbeiter werden sogar mit dem Höchstbeitrag eingestuft. Zurück in ihrer Heimat zahlen sie selbstverständlich keine Beiträge in die Krankenversicherung. 2014 wurde die Gruppe der obligatorisch Anschlussversicherten per Gesetz eingeführt. Just seitdem explodieren die Schulden der Kassen.«

Dann wären die Schulden ja eine Art Luftbuchung, handelt es sich doch bei den Beitragsschuldnern um Karteileichen. Aber warum werden die nicht schnellstens bereinigt? Ganz einfach, weil sie nicht nur Auswirkungen haben auf die – nicht gezahlten – Beitragseinnahmen, sondern auch für die Zuwendungen aus dem Gesundheitsfonds. Offensichtlich haben wir es hier mit einem System zu tun. Man kann das so formulieren:

»Die Versicherten zahlen Beiträge an die gesetzlichen Krankenkassen. Diese leiten die Beiträge sofort weiter an den Gesundheitsfonds. Ein riesiges Konto, das jedes Jahr über 200 Milliarden Euro Versichertenbeiträge verwaltet. Aus diesem Topf wird den Kassen das Geld zugeteilt. Und da gilt: Je mehr Mitglieder eine Kasse hat, umso mehr bekommt sie aus dem Topf. Das bedeutet: Jede Karteileiche bringt der Kasse zusätzliches Geld.«

Und die Sprecherin des Krankenkassenverbandes wird mit diesen Worten zitiert – falls jemand auf die Frage kommen sollte, warum denn Kassen solche Karteileichen in Kauf nehmen: „Solange die Krankenkasse keine Information hat, dass derjenige, der bei ihr gemeldet ist, nicht mehr in Deutschland ist, also quasi nicht mehr existiert, ist sie verpflichtet diesen Menschen weiterzuführen“. Und das tun sie, weil sie es müssen: 2014 wurde die Gruppe der obligatorisch Anschlussversicherten per Gesetz eingeführt.

Das Fazit im Plusminus-Beirag: »Das Milliardenloch von 6,8 Milliarden Euro sind ausstehende Zahlungen von Selbständigen, die mit Höchstbeiträgen geschröpft werden und Schulden von Zwangsversicherten, die nur als Karteileichen existieren. Ein Irrsinn.«

Und wir können jetzt nahtlos weitermachen. Denn mit dem Gesundheitsfonds verknüpft ist der „morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich“, auch „Morbi-RSA“ genannt. Dieser wurde – ursprünglich als Weiterentwicklung des alten, seit 1995 geltenden Ausgleichssystems seit 2001 für 2007 geplant – im Jahr 2009 mit dem Gesundheitsfonds tatsächlich auch eingeführt.

»Die Mittel des Gesundheitsfonds sollen so an die Krankenkassen verteilt werden, dass sie da ankommen, wo sie zur Versorgung der Versicherten am dringendsten benötigt werden. Zunächst erhält jede Krankenkasse für jeden Versicherten eine Grundpauschale in Höhe der durchschnittlichen Pro-Kopf-Ausgaben in der GKV. Für eine Krankenkasse mit vielen alten und kranken Versicherten reicht dieser Betrag naturgemäß nicht aus, während eine Krankenkasse mit vielen jungen und gesunden Versicherten zuviel Geld erhielte. Daher wird diese Grundpauschale durch ein System von Zu- und Abschlägen angepasst. Neben den bisherigen Merkmalen des Risikostrukturausgleichs – Alter, Geschlecht und Bezug einer Erwerbsminderungsrente – soll dabei auch die anhand von 80 ausgewählten Krankheiten gemessene Krankheitslast der Krankenkassen berücksichtigt werden«, so das Bundesversicherungsamt in einer Darstellung des Risikostrukturausgleichs. Zu dem Mechanismus vgl. auch die Abbildung am Anfang dieses Beitrags.

Nun hört sich das mit dem Ausgleich der besonders hohen Ausgaben, die mit bestimmten Krankheiten verbunden sind, einfacher an als es dann in der Praxis ist. Am Anfang steht wie meistens eine gute Idee: Stellen wir uns eine vielleicht sogar kleine Krankenkasse vor, die zwei oder drei Versicherte hat, die wegen einer bestimmten Erkrankung monatlich Behandlungskosten verursachen, die im sechsstelligen Bereich liegen (können). Wenn die vereinfacht gesagt die gleiche Kopfpauschale für jeden Versicherten bekommen, wie andere Kassen auch, die aber nicht eine derart extremen Belastung auf der Kostenseite haben, dann ist das ein Problem. Das nun kann man tatsächlich ausgleichen durch eine Berücksichtigung dieser Fälle in einem Finanzausgleich zwischen den Kassen.

Man ahnt schon, wo das methodische Grundproblem liegt: Wenn man (lediglich) klar abgrenzbare Hochkosten-Fälle berücksichtigt, ist das nachvollziehbar und auch kaum manipulationsanfällig – denn eine relativ seltene, aber extrem kostenintensive Autoimmunerkrankung lässt sich gut abgrenzen.
Problematisch wird es dann, wenn man das Spektrum der berücksichtigungsfähigen Krankheiten seht weit aufmacht und die Frage der (Nicht-)Diagnose einem gewissen „Gestaltungsspielraum“ unterliegt. Dann werden Anreize in die Welt gesetzt, die man nutzen kann. Was offensichtlich, so die Kritiker, auch passiert (ist).

An dieser Stelle wird sich der eine oder andere daran erinnern, dass bereits im vergangenen Jahr aus den Reihen der Krankenkassen selbst der Finger auf die „Manipulationsvorwurfwunde“ gelegt wurde (vgl. zu der damaligen Berichterstattung den Beitrag Wenn der „mordbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich“ Anreize setzt, Patienten morbider zu machen als sie sind und denen das dann schmerzhaft auf die Füße fallen kann vom 7. November 2016):
Je kränker ein Patient auf dem Papier, desto mehr Geld erhält die Krankenkasse. Die gesetzlichen Kassen sollen deshalb Diagnosen manipuliert haben. Und das schlug im vergangenen Jahr so richtig große Wellen, vgl. dazu die Artikel Wettbewerb mit falschen Kranken oder Wie krank ist unser Gesundheitssystem? Für den Vorwurf gab es einen gewichtigen Zeugen der Anklage, berichtete die FAZ in dem Artikel „Krankenkassen verpulvern Geld für Drückerkolonnen“. Es geht um Jens Baas, dem Chef der Techniker Krankenkasse:

»Im Gespräch mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung bezichtigte er seine eigene und andere gesetzliche Krankenkassen, aus diesem Grund sogar Diagnosen von Patienten zu manipulieren. Die Kassen versuchten die Ärzte dazu zu bringen, für die Patienten möglichst viele Diagnosen zu dokumentieren, sagte Baas. „Aus einem leichten Bluthochdruck wird ein schwerer. Aus einer depressiven Stimmung eine echte Depression, das bringt 1000 Euro mehr im Jahr pro Fall.“«

Die Krankenkassen haben im bestehenden System des Risikostrukturausgleichs einen Anreiz, dass möglichst viele Patienten als lukrative Chroniker eingestuft werden, schließlich bekommen sie dann besonders viel Geld aus dem Risikostrukturausgleich. Daher halten sie die Ärzte an, eine möglichst vollständige und präzise Diagnose zu stellen, entweder über Briefe oder indem sie ihnen Berater in die Praxis schicken. Und der Kassen-Chef hat sich ziemlich deutlich geäußert:

»Der Vorwurf des Techniker-Chefs Baas lautet …, dass die Kassen die Ärzte sogar dazu drängen, entweder einen Code für eine schwerwiegendere Krankheit zu vergeben oder für einen anderen Schweregrad – dass sie also bei der Leistungsabrechnung betrügen. Für die Ärzte macht das finanziell oft keinen Unterschied, für die Kassen aber schon. Die bezahlten „Prämien von zehn Euro je Fall für Ärzte, wenn sie den Patienten auf dem Papier kränker machen“, sagte Baas. „Sie bitten dabei um ,Optimierung‘ der Codierung. Manche Kassen besuchen die Ärzte dazu persönlich, manche rufen an.“ Besonders häufig sei das der Fall bei den Volkskrankheiten, also Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und auch psychischen Krankheiten.«

Auch das Bundesversicherungsamt, das für die Aufsicht aller bundesweit aktiven Kassen zuständig ist, hatte immer wieder auf Unregelmäßigkeiten hingewiesen. Mittlerweile ist auch der Gesetzgeber aktiv geworden. Inzwischen hat der Gesetzgeber mit Wirkung ab 11. April jede Form der Einflussnahme der Krankenkassen auf die Diagnosestellung gesetzlich verboten.

Auch die Forschung hat zwischenzeitlich Hinweise geliefert, dass das nicht aus der Luft gegriffen ist, wie Florian Staeck in seinem Artikel Forscher vermuten Manipulation aus dem Juni 2017 berichtet. Er bezieht sich auf diese Studie :

Sebastian Bauhoff, Lisa Fischer, Dirk Göpffarth and Amelie C. Wuppermann (2017): Plan Responses to Diagnosis-Based Payment: Evidence from Germany’s Morbidity-Based Risk Adjustment. CESifo Working Papers 65017, Munich, May 2017

Die Wissenschaftler konnten Daten von rund 1,2 Milliarden Diagnosen aus den Jahren 2008 bis 2013 untersuchen, die fast 44 Millionen Personen betrafen. »Den Daten zufolge ist der Anteil der validierten und damit ausgleichsfähigen Diagnosen im Zeitraum von 78 Prozent (2008) auf 83,7 Prozent (2013) gestiegen. Den Trend belegen die Wissenschaftler an den Beispielen akuter Myokardinfarkt und Schlaganfall. In den sechs Jahren sank die Prävalenz der Verdachtsdiagnosen, die der gesicherten Diagnosen nahm zu. „Unser Studiendesign lässt den Schluss zu, dass dies eine Folge der vermehrten Aufzeichnung dieser Diagnosen durch Ärzte ist und dass nicht etwa die Verbreitung dieser Krankheiten gestiegen ist“, kommentiert Wuppermann, die in München Ökonometrie lehrt.«

Und dann kommt dieser wichtige Passus:

»Augenfällig ist, dass dieser Effekt ab 2010 sichtbar wird: Ende 2008 ist die Liste mit den 80 finanziell besonders „wertvollen“ Erkrankungen im neuen Morbi-RSA bekannt geworden, anschließend schickten Kassen Heerscharen von „Beratern“ in die Praxen der Vertragsärzte. Brisant in der Studie ist, dass die Autoren bei den AOKen besonders starke Veränderungen im Kodierverhalten festgestellt haben.«

An dieser Stelle können wir zur aktuellen Berichterstattung überleiten, die zugleich verdeutlicht, mit welchen harten Bandagen hier gekämpft wird. Unter der Überschrift Vermögen der AOK wächst weiter hat Peter Thelen einen längeren Beitrag im Handelsblatt veröffentlicht. Er fährt schweres Geschütz auf: »Das Vermögen der AOK wächst, obwohl ihre Versicherten absolut weniger Beiträge als bei der Konkurrenz zahlen. Gründe liegen im Finanzausgleich der Krankenkassen – und an Befangenheit im Gesundheitssystem.«

Auch sein Ausgangspunkt sind die schwarzen Zahlen der Krankenkassen, von den am Anfang dieses Beitrags schon berichtet wurde – allerdings schaut er genauer hin:

»Vom bisherigen Gesamtüberschuss in Höhe von 1,4 Milliarden Euro verbuchten die Ortskrankenkassen allein 650 Millionen Euro – das sind 47 Prozent. Der Überschuss der Ortskrankenkassen je Mitglied lag mit 32 Euro deutlich über dem der Betriebskrankenkassen (13,80 Euro) und knapp ein Drittel über dem Überschuss der Ersatz- und Innungskrankenkassen (21 und 23 Euro). Dabei sind nur 37 Prozent der 55,8 Millionen Beitragszahler bei einer AOK versichert und zahlen absolut bei den Ortskrankenkassen deutlich geringere Zusatzbeiträge. Die Mitglieder der Ortskrankenkassen zahlten einen Zusatzbeitrag von durchschnittlich nur 118 Euro. Bei Betriebskrankenkassen mussten die Mitglieder im ersten Halbjahr durchschnittlich 137 Euro von ihrem Nettoeinkommen zusätzlich zum allgemeinen Beitragssatz überweisen, die Mitglieder der Ersatzkassen wie Barmer und DAK zahlten 139 Euro zusätzlich und die der Innungskrankenkassen sogar 150 Euro.«

Das hat Folgen: »Mit über acht Milliarden Euro entfällt fast die Hälfte der 17,2 Milliarden Euro Rücklagen im gesetzlichen Krankenversicherungssystem auf die Ortskrankenkassen.«

Der AOK-Verband »führt die überdurchschnittlich gute Finanzlage darauf zurück, dass die Kassen in jüngster Zeit vor allem viele junge Mitglieder neu gewonnen hätten. Auch die Leistungsausgaben entwickelten sich günstiger als bei anderen Krankenkassen.«

Daran zweifeln allerdings viele Kritiker. Sie argumentieren, dass es der „Morbi-RSA“ in seiner gegenwärtigen Ausgestaltung sei, der das Ungleichgewicht verursacht – und dabei vor allem die 80 Krankheiten, deren Kosten ausgeglichen werden (vgl. die Übersicht des Bundesversicherungsamtes, welche Krankheiten im Morbi-RSA berücksichtigt werden).

Die Musik für Krankenkassen wie der AOK spielt bei den Zuweisungen vor allem im krankheitsorientierten Teil des Finanzausgleichs – denn Alter, Geschlecht oder der Bezug von Erwerbsminderungsrenten, was auch berücksichtigt wird im RSA, lassen sich nun kaum bis gar nicht „gestalten“.

Peter Thelen zitiert in seinem Artikel den Bremer Gesundheitsökonomen Gerd Glaeske, der nach 2001 Vorsitzender des Beirats war, der seinerzeit die Entwicklung des neuen Finanzausgleichs wissenschaftlich begleitet hat.

„Die Gretchenfrage lautete damals: Welche 80 Krankheiten nehmen wir, um einen neuen stärkeren Finanzausgleich zu erreichen, der für die Kassen möglichst faire Wettbewerbsbedingungen schafft und nicht manipulationsanfällig ist?“

»Der Beirat war dafür, vor allem besonders teure Krankheiten auszugleichen. Der entsprechende Gesetzentwurf sah vor, dass diese Krankheiten „eng abgrenzbar, schwerwiegend und chronisch“ sein und eine „besonders Bedeutung für das Versorgungsgeschehen“ haben müssten. Vor allem aber sollten die durchschnittlichen Behandlungskosten je Patient die durchschnittlichen Leistungsausgaben für alle Versicherten um mindestens 50 Prozent übersteigen … Der Beirat hatte bewusst Erkrankungen wie Rheuma, einfache Diabetes, Asthma oder Depressionen ohne schweres Krankheitsbild nicht in die Liste aufgenommen, weil sie zwar häufig vorkommen, aber keine hohen Behandlungskosten auslösen und oft auch schwer abgrenzbar und zu diagnostizieren sind.«

Aber es kam anders. Das Bundesgesundheitsministerium folgte dem Vorschlag des Beirats hinsichtlich einer engen Abgrenzung der Krankheiten nicht. Warum nicht, lässt sich, so die These von Thelen, nur politisch verstehen:

»Es stellte sich schnell heraus, dass die strenge Krankheitsauswahl den damals eindeutig benachteiligten Ortskrankenkassen nicht die Zusatzeinnahmen bringen würde, die politisch erwünscht waren. Das unausgesprochene Hauptziel der Reform war, den chronisch notleidenden Ortskrankenkassen durch den verstärkten Finanzausgleich finanziell wieder auf die Beine zu helfen.«

Glaeske warnte damals vor der Manipulationsanfälligkeit einer zu weiten Berücksichtigung und sah sogar die Gefahr einer Morbidisierung der Gesellschaft am Horizont. Der Beirat, vor vollendete Tatsachen gestellt, trat geschlossen zurück.

Im weiteren Verlauf des Artikels von Thelen wird es sehr persönlich – hinsichtlich einer zentralen Figur der gesundheitspolitischen Beratung in Deutschland: Prof. Dr. Jürgen Wasem, denn der  Inhaber des Lehrstuhls für Medizinmanagement an der Universität Duisburg Essen wurde Glaeskes Nachfolger im neuen Beirat.

Wasem »hatte sich für die neue Position in besonderer Weise empfohlen: Er hatte die sogenannte „Essener Liste“ verfasst.* Eine Zusammenstellung, auf der die meisten Krankheiten schon vermerkt waren, die die AOK sich wünschte.«

Aber hat der Gesetzgeber nicht zwischenzeitlich reagiert, was die mögliche Gestaltung der Diagnosen im Sinne der Anreize aus dem Morbi-RSA angeht? Und haben nicht auch die Kassen selbst erklärt, von einer direkten Beeinflussung der Ärzte abzulesen? Inzwischen haben sich beispielsweise die Ortskrankenkassen in einer gemeinsamen Erklärung verpflichtet, Ärzten nur noch besondere Leistungen, nicht aber das Stellen bestimmter Diagnosen zu vergüten. Aber auch hier muss man wieder genauer hinschauen:

»Betreuungsstrukturverträge und Hausarztverträge gibt es immer noch – und sie sind völlig legal. Formal versprechen sie den Ärzten nämlich nur Zusatzentgelte, wenn sie bestimmte Patientengruppen intensiver betreuen. Aber auch heute fließt das Geld nur für Patienten mit einer „gesicherten Diagnose“. Und dabei gilt häufig nach wie vor: Je kränker der Patient, umso höher das Zusatzhonorar.«

Und das bereits angesprochene Grunddilemma hinsichtlich der Breite des Spektrums an Finanzströme generierenden Krankheiten bleibt ja weiterhin bestehen.

Bundesgesundheitsminister Hermann Größe (CDU) hat bereits Ende 2016 reagiert – und ein Gutachten in Auftrag gegeben. Unter anderem soll auch evaluiert werden, wie eine Manipulationsanfälligkeit des Finanzausgleichs in Zukunft verhindert werden kann. Braucht man dazu wirklich ein Gutachten? Gerd Glaeske, so Thelen in seinem Artikel, hätte da natürlich einen Vorschlag: »Die Krankheitsauswahl müsste von den Volkskrankheiten wie Diabetes und Bluthochdruck wieder in Richtung teurer und schwerer, und daher auch diagnostisch viel leichter abgrenzbarer Krankheiten verändert werden. Manipulationen würden so schwerer und der Finanzausgleich fairer werden.«

Aber der Gutachtenauftrag war und ist in der Welt. Und wer macht das? »Der wissenschaftliche Beirat unter Führung von Jürgen Wasem wurde mit der Bewertung des Ausgleichs und seiner Manipulationsanfälligkeit beauftragt. Für die Evaluation wurden ihm zwei Wissenschaftler an die Seite gestellt: Der mit Wasem aus früherer Zusammenarbeit eng verbundene niederländische Finanzausgleichsexperte Wynand van de Ven und der Wettbewerbsökonom und Chef der Monopolkommission Achim Wambach.«

Man kann es schon kritisch sehen – wie das Glaeske tut -, »dass der Erfinder des Finanzausgleichs, der auch für seine Weiterentwicklung seit 2009 die Verantwortung trägt, nun quasi federführend die eigene Arbeit evaluiert.«

Hinzu kommt: »Eigentlich sollten Wasem, van de Ven und Wambach ihre Evaluation bis Ende dieses Monats abgeschlossen haben. Doch daraus wird nichts werden, heißt es in Krankenkassenkreisen. Vor dem Jahresende seien keine Ergebnisse zu erwarten.«

Was das nun vor dem Hintergrund der Bundestagswahl am 24. September 2017 und der anschließenden Koalitionsverhandlungen bedeutet? Na klar: »Das könnte bedeuten, dass das Streitthema Finanzausgleich bei den Koalitionsverhandlungen einfach ausgespart werden wird.«

David und Goliath in der Welt der Krankenversicherungsleistungen. Teilweise erhebliche Unterschiede bei Leistungsbewilligungen und -ablehnungen

Es ist ein Wesensmerkmal der meisten sozialpolitischen Bereiche, dass es eine große Asymmetrie gibt zwischen denen, die auf Leistungen angewiesen sind und diese in Anspruch nehmen wollen bzw. müssen, und den großen Sozialleistungsträgern, die eben nicht nur als Dienstleistungsscharnier fungieren, sondern nach ganz eigenen und seit vielen Jahren zunehmend auch betriebswirtschaftlichen Steuerungsvorgaben arbeiten (müssen). Und neben der berechtigten Abwehr von Leistungsmissbrauch (und damit Schädigung der Solidargemeinschaft) kann es gerade dann, wenn die Träger im Wettbewerb stehen und Kosten „drücken“ müssen, dazu kommen, dass man versucht ist, auch berechtigte Leistungserwartungen der Mitglieder oder „Kunden“, wie die heute so oft genant werden, zu verweigern oder zumindest den Zugang zu erschweren. Nun wird sich das angedeutete Spannungsverhältnis zwischen den beiden Seiten niemals vollständig auflösen lassen, aber gerade bei sozialpolitischen Leistungen, die ja oftmals von existenzieller Bedeutung sind, ist es wichtig, dass man genau hinschaut, wenn David (der einzelne Versicherte, Patient, Klient) auf Goliath (die großen Krankenkassen, die Jobcenter, die Jugendämter usw.) trifft, denn die Kräfteverhältnisse sind hier immer ungleich verteilt und die vielen Kleinen benötigen Schutz vor immer möglicher administrativer Willkür.

Im Bereich der Krankenkassen geht es nicht nur um das laut Umfragen „höchste Gut“ der Menschen, also Gesundheit bzw. dessen Infragestellung durch Unfall oder Erkrankung, sondern auch um eine wahrhaft unüberschaubare Vielzahl von Leistungen. Im Krankenhaus operiert zu werden oder vom niedergelassenen Vertragsarzt Medikamente verordnet zu bekommen – das fällt den meisten Menschen sicher sofort ein, wenn es um das Leistungsspektrum der Krankenkassen geht. Aber da gibt es noch zahlreiche andere Leistungen – von den Heil- und Hilfsmitteln, den Vorsorge- und Rehamaßnahmen, häusliche Krankenpflege und vieles mehr. Und gerade in diesen Bereichen wird immer wieder auch in den Medien von Ablehnungen, Verweigerungen, Hinhalte-Taktiken der Krankenkassen gegenüber einzelnen Versicherten berichtet. Nur stellt sich dann immer auch die Frage, ob es sich hierbei um bedauernswerte Einzelfälle handelt oder ob das öfter vorkommt und vielleicht sogar einem Muster folgt.

Auch den Patientenbeauftragten der Bundesregierung bewegt dieses Thema – schon allein deshalb, weil bei ihm natürlich viele Fälle landen, wo ein David aus der Masse der Versicherten Beschwerde führt gegen einen Goliath der Krankenversicherungswelt. Also wollte man von dort aus mehr wissen.

»Das Thema Leistungsbewilligungen und -ablehnungen durch gesetzliche Krankenkassen steht immer wieder im Fokus der öffentlichen Diskussion. Aus den Beschwerden von Versicherten bei der Geschäftsstelle des Patientenbeauftragten geht hervor, dass viele Betroffene eine Leistungsablehnung oftmals nicht nachvollziehen können, auch wenn sich die Entscheidungen der Krankenkassen im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften des SGB V begründen lassen. Des Weiteren wird vielfach – insbesondere von Seiten der Patientenorganisationen – kritisiert, dass Krankenkassen die beantragten Leistungen von Patientinnen und Patienten verspätet, pauschal und ohne Einzelfallprüfung ablehnen würden«, so heißt es in der Ausgangsbeschreibung für eine Studie, die man dann in Auftrag gegeben hat.
Da bezüglich der Anzahl der Leistungsbewilligungen und -ablehnungen – mit der Ausnahme der sog. KG 5- Statistik des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) für den Bereich der Vorsorge- und Rehabilitationsmaßnahmen – keine amtlichen Statistiken zu Verfügung stehen, sollte anhand einer empirischen Analyse ein neutraler und sachlicher Überblick über die Leistungsbewilligungen und -ablehnungen der gesetzlichen Krankenkassen erstellt werden.

Dabei geht es um diese wichtigen Fragen:

1) Wie häufig werden Leistungsanträge von den Krankenkassen bewilligt bzw. abgelehnt? Welche Leistungsbereiche sind häufig von Ablehnungen betroffen?
2) Wie und in welchem Umfang werden die Versicherten über die Gründe für eine Bewilligung bzw. Ablehnung eines Leistungsantrags informiert? Wie verständlich sind diese Informationen für die Versicherten?
3) Wie häufig kommt es zu Fristüberschreitungen nach § 13 Abs. 3a SGB V? Wie sind die Versicherten über die Regelungen des § 13 Abs. 3a SGB V informiert?
4) Wie häufig kommt es zu Widersprüchen oder Klagen? Wie erfolgreich sind Widersprüche und Klagen?

Herausgekommen ist diese Ausarbeitung:

Monika Sander, Martin Albrecht, Verena Stengel, Meilin Möllenkamp, Stefan Loos und Gerhard Igl (2017): Leistungsbewilligungen und -ablehnungen durch Krankenkassen. Studie für den Beauftragten der Bundesregierung für die Belange der Patientinnen und Patienten sowie Bevollmächtigten für Pflege, Berlin: IGES Institut, Juni 2017.

Es gibt auch eine Kurzfassung der Studie.

Susanne Werner hat ihren Artikel zu den Ergebnissen der Studie so überschrieben: Rätselhafte Vielfalt bei den Leistungen: Ob eine Leistung bewilligt wird oder nicht, hängt laut einer aktuellen Studie ganz erheblich von der Kasse ab. Über alle Leistungsbereiche hinweg lehnen die Kassen im Durchschnitt 5,2 Prozent der beantragten Leistungen ab. Einzelne Leistungsbereiche aber fallen durch besonders viele Absagen auf. Beispielsweise zeigen sich die Kassen auch bei den stationären Präventionsleistungen wie etwa Vorsorgekuren oder Mutter-Vater-Kind-Angeboten zugeknöpft. Etwa jedem dritten Antrag auf eine entsprechende präventive Maßnahme wurde 2015 eine Absage erteilt.

Als die Ergebnisse der Studie veröffentlicht wurden, fand der Patientenbeauftragte – mittlerweile als Gesundheits- und Arbeitsminister in die neue nordrhein-westfälische Landesregierung gewechselt – deutliche Worte: Neue Studie zur Bewilligung von Leistungsanträgen. Staatssekretär Laumann kritisiert gravierende Unterschiede zwischen Leistungsbereichen und Krankenkassen:

»Die Studie zeigt insbesondere, dass es bei der Bewilligung und Ablehnung von Leistungsanträgen teils erhebliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Leistungsbereichen und den unterschiedlichen gesetzlichen Krankenkassen gibt. Nach Ansicht von Staatssekretär Laumann sind diese Unterschiede größtenteils nicht nachvollziehbar und gehören unverzüglich abgestellt.«

 Das muss man mit Zahlen belegen können, also lesen wir weiter:

»So wird beispielsweise bei den Leistungen im Bereich der Vorsorge und Rehabilitation im Durchschnitt fast jeder fünfte Antrag (18,4 Prozent) von den Krankenkassen abgelehnt. Die Spannbreite der Ablehnungsquoten der einzelnen Krankenkassenarten liegt dabei zwischen 8,4 und 19,4 Prozent. Gegen rund jede vierte Leistungsablehnung in dem Versorgungsbereich wird Widerspruch eingelegt (24,7 Prozent). Und weit mehr als jeder zweite eingelegte Widerspruch (56,4 Prozent) ist erfolgreich oder zumindest teilweise erfolgreich, indem der Antrag schließlich doch wie beantragt oder mit anderer Leistung bewilligt wird. Bei der medizinischen Vorsorge für Mütter und Väter trifft das sogar auf sage und schreibe fast drei von vier Widersprüchen zu (72,0 Prozent).«
Man sollte an dieser Stelle mit Blick auf den Klageweg zur Sozialgerichtsbarkeit auf die Größenordnung hinweisen: 46.000 Streitfälle aus dem Bereich der Krankenversicherung wurden von deutschen Sozialgerichten verhandelt. Dabei hatte jede vierte Klage Erfolg.

Die Schlussfolgerungen von Laumann aus den nun vorliegenden Studienergebnissen werden von ihm so auf den Punkt gebracht:

„Wenn – wie bei den Leistungsanträgen zur Vorsorge und Rehabilitation – weit mehr als jeder zweite Widerspruch erfolgreich ist, kann bei der Bewilligungspraxis etwas nicht stimmen. Es ist auch nicht zu erklären, wieso die Ablehnungsquoten bei Anträgen auf Hilfsmittel für chronische Wunden zwischen den einzelnen Krankenkassen zwischen 3,8 und 54,7 Prozent regelrecht auseinanderklaffen. Die Krankenkassen dürfen erst gar nicht den Verdacht aufkommen lassen, dass sie bestimmte Leistungen zunächst einmal systematisch ablehnen, obwohl die Menschen einen klaren gesetzlichen Anspruch darauf haben. Das untergräbt massiv das Vertrauen in die Krankenkassen.“

Kritik ist das eine – und sie ist offensichtlich angebracht. Aber welche gesundheitspolitischen Schlussfolgerungen kann und muss man daraus ziehen? Dazu der bisherige Patientenbeauftragte der Bundesregierung, Karl-Josef Laumann, durchaus konkret:

„Vor allem müssen die Krankenkassen in Zukunft verpflichtet werden, die Daten zu den Leistungsbewilligungen und –ablehnungen zu veröffentlichen. Außerdem müssen sie die Patienten besser über das Verfahren der Leistungsbeantragung und das Widerspruchsverfahren informieren sowie die Gründe für eine Ablehnung verständlicher als bisher darlegen. Damit würde die Wahlfreiheit der Bürger gestärkt, sich ganz bewusst für oder gegen eine Krankenkasse zu entscheiden“, sagt Laumann. Er wiederholt zudem seine Forderung, dass Patienten bei Leistungsanträgen nach Ablauf der Entscheidungsfrist nicht nur einen Kostenerstattungsanspruch, sondern einen Anspruch auf die Sache selbst haben und die Krankenkassen diesen bezahlen müssen.

Der „kleine“, aber sehr bedeutsame Gesetzgeber im deutschen Gesundheitswesen als Objekt der Begierde von Lobbyisten

Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) ist eine mächtige Institution im deutschen Gesundheitswesen. Hier wird über zahlreiche Leistungen oder deren Verweigerung für 70 Millionen Kassenpatienten entschieden. Erst vor kurzem wurde über diese eigenartige Ausformung des deutschen Koporatismus kritisch berichtet: Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) als „kleiner“ Gesetzgeber im Gesundheitswesen. Sind seine Tage gezählt?, so ist der Beitrag vom 11. Mai 2017 überschrieben. Darin wurde mit Blick auf ein neues Urteil des Bundesverfassungsgerichts ausgeführt: Die Legitimationsfrage dieses den Staat und das komplexe Gesundheitssystem entlastenden Gremiums wird erneut und nunmehr durch das BVerfG als „Drohung“ aufgerufen, so dass man sich Gedanken machen sollte, wie man eine Weiterentwicklung hinbekommt bzw. ob man überhaupt angesichts der Bedeutung der Entscheidungen sowie der nicht gegebenen demokratischen Legitimation die eigenartige Konstruktion des G-BA überhaupt beibehalten sollte. Und gleichsam als Fortsetzungsgeschichte muss nun aus dem ansonsten im Schatten der öffentlichen Aufmerksamkeit vor sich hin werkelnden Innenleben dieses mächtigen Gremiums über mehr als pikante Personalien berichtet werden. Personalvorschlag sorgt für Wirbel, so hat Anno Fricke seinen Artikel dazu überschrieben. Ein Personalvorschlag für die Spitze des G-BA kommt im Bundestag – und bei Ärzten – nicht gut an.

Es geht um die Spitze des Gemeinsamen Bundesausschusses mit den drei „unparteiischen Mitgliedern“.  Im kommenden Jahr läuft die sechsjährige Amtszeit der drei unparteiischen Mitglieder im GBA ab. Sie sind in dem Gremium das Zünglein an der Waage, wenn es bei Abstimmungen zwischen Kassen und Leistungserbringern keine Mehrheit gibt.

„Wir haben mit Interesse zur Kenntnis genommen, dass der ärztliche Sachverstand im Gemeinsamen Bundesausschuss offensichtlich überhaupt nicht mehr gefragt ist“, so wird der Präsident der Bundesärztekammer, Frank Ulrich Montgomery, zitiert.

Hier erst einmal die Personalfragen, die derzeit für reichlich Unmut sorgen:

»Auslöser von Montgomerys Spitze war die Benennung des Juristen und ehemaligen FDP-Bundestagsabgeordneten Lars Lindemann (46) als stellvertretendes unparteiisches Mitglied des GBA. Er soll im Juli 2018 die Gynäkologin und frühere BÄK-Abteilungsleiterin Dr. Regina Klakow-Franck ablösen. Klakow-Franck hatte im Vorfeld signalisiert, weiter machen zu wollen.

Neu besetzt werden muss auch der Posten des dritten unparteiischen Mitglieds, nachdem Dr. Harald Deisler (68) nicht wieder antreten wollte. Für ihn soll nun Uwe Deh (50) nachrücken, der bis Juli 2015 Vorstand des AOK-Bundesverbands war. Professor Josef Hecken ist für eine weitere Amtszeit als unparteiischer Vorsitzender nominiert worden.«

Wenn das so durchkommen würde, dann hätte man drei Juristen an der Spitze des G-BA. An dieser Stelle geht es gar nicht so sehr um den Kritikpunkt aus den Reihen der Ärzteschaft, dass wenigstens ein Arzt oder eine Ärztin vertreten sein sollte, sondern vor allem um die Frage, was es denn mit der Unparteilichkeit auf sich hat oder haben soll.

»Die einzige Ärztin soll einem Lobbyisten weichen«, so Rainer Woratschka in seinem Artikel Streit um Chefposten im wichtigsten Gesundheitsgremium. Man muss wissen, dass diesmal die Deutsche Krankenhausgesellschaft das Vorschlagsrecht hatte.  Das Vorschlagsrecht wechselt zwischen den Trägerorganisationen des GBA.
Die Kritik entzündet sich an den beiden neuen Personalvorschlägen neben dem Vorsitzenden des G-BA, der im Amt bestätigt werden soll. Und diese Kritik ist mehr als berechtigt.

Die völlig berechtigten Vorbehalte entspringen der Tatsache, dass die Klinikbetreiber die ohnehin schon einzige Medizinerin in der Dreierführung des Gremiums durch einen ehemaligen FDP-Abgeordneten und Klinikmanager ersetzen wollen. Der Gynäkologin Regina Klakow-Franck soll der gelernte Jurist und Betriebswirt Lars Lindemann folgen. Der 46-Jährige saß von 2009 bis 2013 im Bundestag und reüssierte danach als Hauptgeschäftsführer eines neu gegründeten Spitzenverbands der Fachärzte. Gleichzeitig ist er Geschäftsführer der Sanakey-Gruppe, die Fachärzten beim Abrechnen hilft.

Der Spitzenverband der Fachärzte Deutschlands (SpiFa) ist ein Lobbyverband allererster Güte. Dort wird als Hauptgeschäftsführer der Rechtsanwalt und Ex-FDP-MdB Lars F. Lindemann geführt.
Und wie praktisch – der Lobbyverband hat auch eine Wirtschaftsplattform – die angesprochene Sanakey-Gruppe, wo Lindemann ebenfalls als Geschäftsführer die Fäden zieht.
»Wegen der Vermischung von politischer Tätigkeit und Lobbyarbeit hat sich Lindemann zeitweise sogar in der FDP Kritik zugezogen … Und dass er sich als Facharzt-Lobbyist ungewohnt heftig mit der Kassenärztlichen Bundesvereinigung anlegte«, schreibt Woratschka in seinem Artikel.
Die Neutralität Lindemanns ist bei Politikern aller Fraktionen im Bundestag umstritten. „Ich frage mich, ob Personen, die einen großen Teil ihres Lebenswegs dem Lobbyismus gewidmet haben, auf der wichtigen Funktion eines unparteiischen Mitglieds des GBA richtig besetzt sind“, wird die gesundheitspolitische Sprecherin der Linken, Kathrin Vogler, in der „Ärzte Zeitung“ zitiert.
Auf den Punkt gebracht: Mit der Berufung von Lindemann würde man den Bock zum Gärtner machen.

»Der Personalvorschlag der Kassen ist ebenfalls nicht unumstritten. Mit Uwe Deh hoben sie für den aus Altersgründen scheidenden Harald Deisler einen Ex-AOK-Manager auf den Schild, der sich bisher auch nicht gerade als Mann des Ausgleichs empfohlen hat. Mit Jürgen Graalmann bildete er mehrere Jahre lang die Doppelspitze des AOK-Bundesverbandes, lieferte sich mit diesem aber einen derartigen Machtkampf, dass am Ende beide ihre Posten räumen mussten«, so Rainer Woratschka.

Wie geht’s jetzt weiter? Die Selbstverwaltung hat ihre Personalvorschläge bis Ende Juni dem Bundesgesundheitsminister vorzulegen, der sie dann dem Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages übergibt. Dort können die Personalien abgesegnet  – oder aber mit Zwei-Drittel-Mehrheit abgelehnt werden. Es bleibt zu hoffen, dass man das Kapern des G-BA durch Lobbyisten unterbindet, aber zugleich stellet sich immer dringlicher die Aufgabe, über ganz neue Wege politisch und damit in aller Öffentlichkeit zu diskutieren und zu streiten.