Pflegestreik! Ist da was? Nicht nur mediale Resonanzschwächen. Die Streikenden an der Charité in Berlin könnten in die GDL-Falle getrieben werden

Eine zugegeben sehr zugespitzte Zusammenfassung der jüngeren deutschen Streikgeschichte könnte so aufgebaut sein:

Streik der Lufhansa-Piloten? Die wollen sich doch nur ihren Ruhestand weiter vergolden lassen und die Passagiere hängen am Boden fest.

Lokführer-Streik? Ein größenwahnsinnig gewordener sächsischer Möchtegern-Arbeiterführer nimmt Millionen Bahnkunden in tagelange Geiselhaft und vergewaltigt unser Grundrecht auf Mobilität.

Kita-Streik? Auch wenn man grundsätzlich schon irgendwie Verständnis hat – aber unbefristete Streikaktionen? Die armen Kinder und ihre Eltern werden zu bedauernswerten Opfern des Streiks der Erzieher/innen, während die Arbeitgeber irgendwie auf Tauchstation waren und aus dem Blickfeld der Berichterstattung verschwunden sind.

Pflegestreik? Äh, wie bitte? Nächstes Thema.

Es ist schon mehr als auffällig, wie gedämpft die Berichterstattung über den unbefristeten Streik des Pflegepersonals an der Berliner Charité abläuft. Dabei ist dieser Arbeitskampf so irritierend anders als das, was man ansonsten so vorgesetzt bekommt: Die Pflegekräfte wagen mit einem Streik einen Schritt, vor dem bislang zurückgeschreckt wurde, denn sie haben sogar noch weitaus heftiger als die Erzieher/innen in den Kitas ein strukturelles Streikproblem: Sie legen nicht die Produktion von irgendwelchen Sachen eines Unternehmens lahm oder blockieren die Dienstleistung eines anderen (wie beispielsweise beim gerade laufenden Streik der Brief- und Paketzusteller der Deutschen Post), sondern von ihrer Nicht-Arbeit werden zuallerst einmal (potenzielle) Patienten getroffen, bei denen beispielsweise eine vorgesehene OP verschoben werden muss oder gar ausfällt. Was aber bei diesem Streik noch weitaus wichtiger ist – er hat seine ganz eigene „moralische Ökonomie“, denn die Streikenden fordern nicht (scheinbar) egoistisch mehr Geld, sondern sie wollen mehr Personal erkämpfen, weil sie sich überlastet fühlen und es oftmals auch sind. Und das müsste doch auch im Interesse der (potenziellen) Patienten sein. Gab es nicht in den letzten Jahren immer wieder Berichte über die mehr als kritische Personalsituation in den deutschen Krankenhäusern, mit denen letztendlich auch existenzielle Gefahren für die Patienten verbunden sein können? Das müssten doch alles Ingredienzien sein für eine breite Sympathiewelle den streikenden Pflegekräften gegenüber. Doch die derzeitige Lage ist eine andere, man kann es drehen und wenden, wie man will. Und demnächst könnte den Pflegekräften an der Charité ein perfide inszenierter „GDL- oder Weselsky-Effekt“ ins Haus stehen – im Hintergrund vorangetrieben von der Gegenseite.

Beim Lokführer-Streik war es überaus erfolgreich gelungen, große Teile der Bevölkerung gegen die Gewerkschaft GDL aufzubringen und eine grandiose negative Personalisierung in Gestalt des Herrn Weselsky aufzubauen. Das ist nicht von alleine gekommen, sondern der Vorstand des in Bundesbesitz befindlichen Unternehmens Deutsche Bahn hatte sich dafür professioneller Hilfe bedient. Darüber hat Werner Rügemer im März dieses Jahres in seinem Beitrag DB im GdL-Streik: „Bewusst eine Sackgasse herbeiführen“ berichtet. Und dabei spielt ein bestimmter Name eine wichtige Rolle:

»Wenn der Bahn-Vorstand mit Gewerkschaften verhandelt, ist Werner Bayreuther dabei. Er ist Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverband der Mobilitäts- und Verkehrsdienstleister (Agv-MoVe). Er gehört aber auch zum Team des Schranner Negotiation Institute (SNI) in Zürich.«

Das muss man jetzt erst einmal sortieren: Werner Bayreuther war Richter für Arbeitsrechter. Er ist aus dieser Position ausgeschieden, um eine andere Karriere zu beginnen. »Er baute für den privatisierten Bahn-Konzern den eigenen Arbeitgeberverband auf, in dem die zahlreichen Tochter-Holdings Mitglied sind: DB Schenker, DB Regio, DB Netz usw.« Es handelt sich um den Arbeitgeber- und Wirtschaftsverband der Mobilitäts- und Verkehrsdienstleister (Agv MoVe), dessen Hauptgeschäftsführer er ist. Zugleich ist er verwandelt mit dem Schranner Negotiations Institute (SNI) in Zürich. Jetzt wird es richtig bunt. Werner Rügemer schreibt zum SNI:

»Das SNI arbeitet weltweit im Auftrag von Unternehmen und Regierungen, nach dem Motto „Wenn Verhandlungen schwierig werden“. Die Berater sind allgegenwärtig, bleiben aber unsichtbar: „Wir unterstützen Sie im Hintergrund vor, während und nach Ihren Verhandlungen.“
SNI versteht sich nicht als Schlichter. Der Kunde soll am Ende als „Sieger“ und die andere Seite als „Verlierer“ dastehen: „Mit unserer Unterstützung werden Sie Verhandlungssieger.“ Intern heißt es „Es gibt bei Verhandlungen keine win-win-Situation“.«

Offensichtlich handelt es sich um ein überaus buntscheckig zusammengesetztes Beratungsunternehmen für Konzerne und Regierungen: »SNI preist seinen Trainer Leo Martin so an: Er war „10 Jahre lang für einen großen deutschen Nachrichtendienst im Einsatz.“ Sein Spezialgebiet war das Anwerben und Führen von V-Leuten … Zum SNI-Angebot gehören auch „Verhandlungstaktiken von Polizei und FBI“. Der langjährige Chef der Münchener Mordkommission Josef Wilfing ist ebenso dabei wie Gary Noesner vom FBI. SNI-Chef Matthias Schranner präsentiert sich als ehemaliger Verhandlungsführer der Polizei bei Geiselnahmen und Banküberfällen«, so Rügemer in seinem Artikel.

Wer Interesse an einer direkten Konfrontation mit dem SNI-Chef und seiner Denke hat, der sei auf diese Gesprächssendung des Bayerischen Rundfunks mit ihm hingewiesen: Matthias Schranner, Verhandlungsexperte (19.03.2015).

Werner Rügemer zählt die SNI mit Sitz in Zürich zur Dienstleistungsbranche „Union Busting“. Union Busting heißt „Gewerkschaften zerstören“. Diese Tätigkeit ist in den USA als professionelle Dienstleistungsbranche etabliert. Sie besteht aus Anwälten, Detektiven, Psychologen, Management-Trainern, Lobbyisten, gelben Gewerkschaften, die mit der Unternehmensleitung zusammenarbeiten.

»Das Schranner Negotiations Institute SNI gehört ebenso zur Branche wie Arbeitsrechts-Anwälte, die grundsätzlich nur die Arbeitgeberseite vertreten. In Deutschland sind das etwa die Rambo-Anwälte der Kanzleien Helmut Naujoks und Schreiner + Partner, aber auch die diskreten Anwälte von US-Kanzleien wie Freshfields und Hogan Lovells. Als Staranwalt für die Verhinderung von Streiks in Deutschland gilt Thomas Ubber von der Kanzlei Allen & Overy: Er vertrat Fraport gegen die Gewerkschaft der Fluglotsen (GdF) und die Lufthansa gegen die Vereinigung Cockpit (VC). Der Bahn-Konzern beauftragt ihn jedesmal gegen die GdL wie zuletzt im November 2014.«

Übrigens – das SNI überlässt nichts dem Zufall, man hat für alle Perspektiven geeignete Fachkräfte an Bord: Auch »Stefan Schneider (gehört) zum SNI-Team. Schneider war lange Jahre Betriebsrat bei Daimler und Verhandlungsführer der IG Metall. Danach wechselte er die Seite und stieg zum Personalleiter auf. Jetzt ist er als selbständiger Manager-Berater tätig. Seine Qualifikation: Er „kennt die Motivlage von Betriebsräten und Gewerkschaften“.«

Und zu dieser illustren Runde gehört nach Rügemer eben auch Werner Bayreuther: Auf der Website des SNI wird Bayreuther angepriesen: „Er hat die Deutsche Bahn in der Verhandlung mit der GdL beraten und aktiv unterstützt.“ Und der eine oder andere wird gewisse Analogien zur jüngeren Streikgeschichte herstellen können, wenn man beispielsweise die folgende Beschreibung der SNI-Methodik liest:

»Eine strategisch angelegte Verhandlung hat nach SNI-Prinzipien auch das mögliche Ziel, den Gegenüber „bewusst in eine Sackgasse“ zu manövrieren. Zum Beispiel: Man macht einige Zugeständnisse, der Streik wird abgebrochen, aber die eigentlichen Verhandlungen stehen noch aus. Nach zwei Monaten, wenn die Verhandlungen wieder beginnen, wird die frühere Vereinbarung widerrufen. Die Gewerkschaft muss überlegen, ob sie neu streiken soll.«

Nun wird der eine oder die andere sagen, gut, interessant, schlimme Sache für die Arbeitnehmer, wenn sie bzw. deren Repräsentanten es mit dieser Liga zu tun bekommen, aber was hat das nun mit dem Pflegestreik an der Charité zu tun? Man wird sehen – die Welt ist klein.
Dazu werfen wir einen Blick in diesen Artikel: Charité-Streik: Ein Mann für gewisse Verhandlungen. Dort finden wir den folgenden Passus:

»Schon lange verhandeln die Vertreter von ver.di über die dringend notwendige Einstellung von Personal an der Charité. Ihnen gegenüber sitzen Leute wie der ärztliche Direktor Prof. Ulrich Frei, zuvor Arzt für Innere Medizin. Doch geleitet werden die Verhandlungen von einem Mann, der nie in einem Krankenhaus gearbeitet hat: Der Charité-Vorstand hat als Verhandlungsführer für viel Geld den früheren Richter Werner Bayreuther angeworben.«

Da ist er wieder. Und die Verfasser des Artikels erkennen sehr wohl, welchen Zusammenhang es geben könnte zwischen Bayreuthers Rolle beim GDL-Streik und der möglicherweise von ihm erhofften Dienstleistung seitens der Unternehmensleitung der Charité:

»Im Konflikt mit der GDL benutzte die Deutsche Bahn unter Bayreuthers Verhandlungsführung im Dezember 2014 einen besonders miesen Trick: Sie veröffentlichte eine Erklärung, in der sie das Recht der GDL anerkannte, für alle Arbeitnehmergruppen Tarifverträge abzuschließen. Genau das war monatelang eine zentrale Forderung der GDL. Die Gewerkschaft will die Erfolge, die sie für Lokführer erstreikt hatte, auch für Zugbegleiter und andere erreichen. Doch das Zugeständnis war gar keines: Eine einseitig abgegebene Erklärung ist juristisch kein Vertrag zwischen beiden Tarifparteien und damit rechtlich bedeutungslos. Während die Beschäftigten ihren Sieg feierten, bereiteten Bayreuther und die Deutsche Bahn ihre nächsten Schritte vor: Ab Januar nahmen sie sämtliche Punkte ihrer Erklärung Schritt für Schritt zurück und sprachen der GDL wieder das Recht ab, Tarifverträge für Zugbegleiter auszuhandeln. Als die Gewerkschaft schließlich erneut streikte, behauptete die Deutsche Bahn wiederum, sie hätte schon große Zugeständnisse gemacht und die GDL streike nur, weil ihr Vorsitzender Claus Weselsky ein eingebildeter Wichtigtuer sei.«

Nun muss man eigentlich nur noch eins und eins addieren, um eine mögliche Strategie des Unternehmens zu erkennen: Auf einmal sind die Repräsentanten, vor allem der Vorstandvorsitzende der Charité, Karl Max Einhäupl, überall, wo sich ihnen die Gelegenheit bietet, unterwegs mit dem besorgten Hinweis auf das gefährdete „Patientenwohl“ und dass die Streikenden das jetzt elementar gefährden würden (wobei dann gerne „vergessen“ wird, dass diese Positionierungen in den vergangenen Jahren bei den vielen Überlastungsanzeigen der eigenen Beschäftigten „natürlich“ nicht zu vernehmen waren). Die Bevölkerung muss gegen den Streik aufgebracht werden und dabei muss die „Schuldfrage“ einseitig an die Streikenden zugewiesen werden. Man kann sich eine Adaption des GDL-Musters gut vorstellen, „leider“ fehlt den Strategen hier noch so eine „mediengängige“ Anti-Figur wie Weselsky.

Man muss an dieser Stelle wieder einmal darauf hinweisen, dass es sich die Pflegekräfte wahrlich nicht leicht gemacht haben, bevor sie in den Arbeitskampf gegangen sind. Die Gewerkschaft Verdi hat seit mehr als zweieinhalb Jahren mit der Klinikleitung über eine Mindestbesetzung verhandelt, die die Gewerkschaft in einem Tarifvertrag festhalten will. Kein Ergebnis. Und aus dem jetzt vorgetragenen Argument mit einer Gefährdung des „Patientenwohls“ wird ein Schuh. So schreibt Claudia Wrobel in ihrem Artikel unter der bezeichnenden Überschrift Patientengefährdung:

»Die Pflegekräfte sehen durch den schlechten Personalschlüssel und den hohen Einsatz von Leiharbeitern die Standards nicht mehr eingehalten und deshalb die Sicherheit der Patienten gefährdet. Deshalb verhandelt ver.di seit mehr als zweieinhalb Jahren mit der Klinikleitung über eine Mindestbesetzung, die die Gewerkschaft in einem Tarifvertrag festhalten will. Unter anderem fordern sie, dass nachts auf jeder Station mindestens zwei Kollegen Dienst tun und für Intensivstationen einen Betreuungsschlüssel von einer Fachkraft für zwei Patienten. Damit orientiert sich ver.di an Empfehlungen der Fachgesellschaften. Außerdem möchte die Gewerkschaft verbindliche Verfahren zum Erfassen von Überlastungssituationen.«

Das nun sind keine wie auch immer geartete revolutionäre Forderungen, sondern im Grunde fordern die Streikenden hier die Einhaltung einer Schutzgrenze nach unten – und die hätte, wenn es denn wirklich um „Patientenwohl“ gehen würde, schon längst von Klinik wie auch verantwortlicher Politik sichergestellt werden müssen. Offensichtlich versuchen die Streikenden, ein Systemversagen zu kompensieren. Das muss man sich immer wieder vor Augen führen.

Dazu past dann beispielsweise eine solche Meldung aus der Berliner Zeitung vom 27.06.2015: Patientenschützer kritisieren Sparkurs in der Krankenpflege: »An Berliner Krankenhäusern wird nach Einschätzung von Patientenschützern immer mehr auf Kosten des Pflegepersonals gespart. Zwischen Ärzten und Pflegern habe sich ein Missverhältnis entwickelt: Von 1991 bis 2013 stieg die Zahl der Ärzte an Kliniken um 14 Prozent. Dagegen gab es bei den Pflegern im gleichen Zeitraum einen Rückgang um rund ein Drittel. Dabei lägen inzwischen mehr alte und pflegebedürftige Menschen auf den Stationen … Der Pfleger-Schwund von rund 19.700 auf 12.900 Kräfte ist in Berlin … so ausgeprägt wie in keinem anderen Bundesland. Ein deutschlandweit verbindlicher Personalschlüssel würde diese Entwicklung stoppen, so die Stiftung. Solche festen Quoten will die Gewerkschaft Verdi mit dem Streik an der Charité durchsetzen.« Vgl. dazu auch Statistik: Krise in Kliniken ist hausgemacht – bundesweiter Personalschlüssel nötig, dort kann man die Übersicht über alle Bundesländer als Datei abrufen.

Aber was sind schon Fakten – wir werden möglicherweise bald schon gewisse Elemente der SNI-Methoden zu sehen, hören und lesen bekommen. Und wenn man nicht aufpasst, werden die Pflegekräfte auf die GDL-Rutschbahn geschoben. Das muss verhindert werden, nicht nur im Interesse der Streikenden, sondern auch der (potenziellen) Patienten. Dafür braucht es Solidarität mit dem Pflegepersonal, das sich traut, nicht mehr nur zu schlucken und zu funktionieren, bis sich die Folgen der strukturellen Überbelastung als individuelle Schicksale atomisieren lassen.

Mehr, sie brauchen und wollen mehr. Mehr Personal. Ein Streik, der das Gesundheitssystem erschüttern könnte. Der Arbeitskampf des Pflegepersonals an der Charité in Berlin

Jetzt hat er also begonnen – der unbefristet angelegte Streik der Pflegekräfte an der Charité in Berlin. Die Charité gehört zu den größten Universitätskliniken Europas. In der Selbstdarstellung liest sich das so: »Die Charité verteilt sich auf vier Standorte, zu denen rund 100 Kliniken und Institute, gebündelt in 17 CharitéCentren, gehören. Mit 13.100 Mitarbeitern erwirtschaftet die Charité 1,5 Milliarden Euro Gesamteinnahmen pro Jahr und ist damit einer der größten Arbeitgeber Berlins. Im Jahr 2010 konnte die Charité auf eine 300-jährige Geschichte zurückblicken.« Es gibt insgesamt 3.000 Betten – von denen werden in den kommenden Tagen fast 1.000 nicht mehr belegbar und 200 Operationen werden pro Tag ausfallen, weil die Pflegekräfte in den Arbeitskampf ziehen. Nicht für mehr Geld oder weniger Arbeitszeit – sie kämpfen für mehr Personal. Mehr Leute sollen an Bord der Pflege.

Es ist sicherlich keine Übertreibung zu sagen, dass wir es mit einem historischen Ereignis zu tun haben – mit allen Unwägbarkeiten und Risiken, die damit verbunden sind. Es wird auf der einen Seite verdammt schwer, diesen Streik als überzogenes Verhalten irgendeiner kleinen Beschäftigtengruppe, die sich die Taschen voll machen wollen, zu desavouieren. Das spricht dafür, dass es eine breite Sympathiebewegung geben wird. Auf der anderen Seite muss man sehen, dass das Pflegepersonal vor einem Problem stehen, das bereits im Erzieher/innen-Streik der vergangenen Wochen zu beobachten war: Bestreikt werden können sowohl in den Kitas wie auch in den Krankenhäusern nicht die Arbeitgeber direkt, wie beispielsweise in der Automobilindustrie oder anderen „normalen“ Unternehmen, sondern getroffen werden können diese nur indirekt, über die Kinder bzw. Eltern oder eben die Patienten. Und das ruft nach kurzer Zeit erhebliche Widerstände in Teilen der betroffenen Bevölkerung hervor. Das alles haben wir beobachten müssen mit zunehmender Dauer des Kita-Streiks und das wird wesentlicher heftiger ausfallen, wenn sich das im Gesundheitswesen zuspitzt. Allerdings – das muss man hervorheben – wird ein Krankenhaus weitaus schneller und wesentlich härter ökonomisch von einem Arbeitskampf getroffen als eine Kita. Das ist auch eine Folge des Finanzierungssystems auf Basis von Fallpauschalen, mit denen nur erbrachte Leistungen vergütet werden. Und wenn pro Tag 200 OPs ausfallen müssen, dann kann man sich vorstellen, um welche Verlustgrößen in Euro es hier für die Charité gehen wird.

Anfang Juni 2015 berichtete die Berliner Zeitung in dem Artikel Charité-Mitarbeiter wollen unbefristet streiken:

»Charité-Mitarbeiter wollen unbefristet streiken … Nach langen, aber ergebnislosen Verhandlungen steht der Charité ein unbefristeter Ausstand bevor. Am 22. Juni soll es losgehen. Nicht der Streik, sondern der Normalzustand an der Klinik gefährde die Patienten, erklärt die Gewerkschaft … In dem Konflikt geht es vor allem um die Situation der Pflegekräfte: Sie beklagen eine zu dünne Personaldecke und eine sehr hohe Arbeitsbelastung. Bemühungen um einen Tarifvertrag, der etwa Forderungen nach Mindestbesetzungen auf Stationen Rechnung trägt, laufen seit 2013. Die Charité-Leitung sieht jedoch Hindernisse: Die geforderten 600 Zusatz-Pfleger seien nicht verfügbar und die Kosten dafür zu hoch.«

Nunmehr ist diese Ankündigung Wirklichkeit geworden. »Die in Verdi organisierten Charité-Beschäftigten fordern mehr Personal, auch um stressbedingte Versorgungsfehler am Krankenbett zu vermeiden. Konkret hieße das, zu den mehr als 4.000 Charité-Pflegekräften kämen Hunderte neue Stellen. Die Gewerkschaft hatte fast drei Jahre mit dem Vorstand verhandelt, der wiederholt erklärte, der Charité fehle dafür das Geld, vielmehr seien die Krankenkassen und die Bundespolitik zuständig«, kann man dem Artikel Wenn die Krankenbetten leer bleiben von Hannes Heine und Juliane Fiegler entnehmen.

An dieser Stelle sei der Hinweis darauf erlaubt, dass wir hier mit einer durchaus vergleichbaren Problematik konfrontiert werden, die bereits beim Streik der Erzieher/innen eine wichtige Rolle gespielt hat bzw. spielt: Viele Kommunen argumentieren dort, dass sie ja gerne die Fachkräfte in den Kindertageseinrichtungen besser bezahlen möchten, dazu finanziell aber nicht in der Lage sind, weil sie bereits heute mit der Umsetzung des vom Bundesgesetzgeber vorgeschriebenen Rechtsanspruchs auf einen Betreuungsplatz ab dem vollendeten ersten Lebensjahr überfordert seien. Wenn man die Fachkräfte besser bezahlen möchte, dann seien an dieser Stelle die Bundesländer und der Bund in der Verantwortung – was durchaus richtig ist, für die betroffenen Arbeitnehmer aber dazu führen kann, dass sie im Niemandsland der Nicht-Zuständigkeit der drei föderalen Ebenen hängen bleiben. Durchaus vergleichbar könnte das sein, was jetzt den Pflegekräften im aktuellen Arbeitskampf droht. Die Charité wird argumentieren, dass das Anliegen der Streikenden ja durchaus nachvollziehbar sei, hierzu aber eine bundeseinheitliche Regelung angestrebt werden müsse, weil sich das vor Ort in den einzelnen Krankenhäuser gar nicht realisieren lässt.

»Der Charité-Ausstand ist im Kern ein politischer Streik – er fordert nicht nur die Universitätsklinik, sondern das Gesundheitswesen heraus. Zu Recht«, so Hannes Heine in seinem Kommentar Ein krankes System, der schon vom 28. April 2015 datiert und über den damaligen zweitägigen Streik an der Charité berichtet hat. »Weil es den überraschend zahlreichen Streikenden nicht um die Löhne geht, sondern darum, die Spitze der Universitätsklinik zu einer anderen Personalpolitik zu zwingen, ist dieser Arbeitskampf im Kern das, was in Deutschland gar nicht erlaubt ist: ein politischer Streik«, so Heine und er findet das auch gut so. Denn ansonsten wird sich kaum etwas bewegen auf der politischen Bühne, die sich bislang darauf verlassen konnte, dass das Pflegepersonal schon nicht streiken wird und man sich weiterhin arrangieren kann bzw. die Interessen anderer Gruppen, beispielsweise der Ärzte, eher verfolgt als die der Pflege, die – wenn überhaupt – nur vor sich hin meckert.

Aber die Pflegekräfte an der Charité haben sich entschlossen, den harten, steinigen Weg eines Arbeitskampfes einzuschlagen. Vielleicht wird sich das einmal als der entscheidende Arbeitskampf im deutschen Gesundheitswesen erweisen. Noch nie wurde für mehr Kollegen gestreikt, statt für mehr Lohn. Erst einmal handelt es sich um einen lokalen Streik – die Charité behandelt etwa 20 Prozent der Berliner Patienten, Vivantes beispielsweise 30 Prozent.  Vielleicht rührt daher die derzeit beobachtbare Interaktivität der Berliner Politik, die die Charité in den Streik hinein laufen lässt, ohne irgendwelche Aktivitäten erkennen zu lassen. Vielleicht ist es die Hoffnung, dass sich die Patienten eben auf die anderen Krankenhäuser verteilt werden, irgendwie, und man das ganze aussitzen kann. unsicher werden genau deswegen auch zahlreiche Zweifler ihre Bedenken vortragen, ob dieser Weg denn der richtige und vor allem der erfolgreicher sein kann.

Auch hier kann der Blick in die Vergangenheit helfen. Hannes Heine hat darauf hingewiesen:

»Führen lokale Arbeitskämpfe zu neuen Bundesgesetzen? Historisch gesehen, ja. Heute ist die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall üblich, Millionen nehmen sie in Anspruch. In den 50ern galt dieses Recht nur für Angestellte. Im Winter 1956/57 streikten die Werftarbeiter in Schleswig-Holstein heute unvorstellbare 16 Wochen lang, um die Lohnfortzahlung für Arbeiter durchzusetzen. Weil man in der Bundespolitik fürchtete, solche Tarifverträge würden bald alle wollen, fand sich bald eine Bundestagsmehrheit für eine erste Gesetzesnovelle. Volle Gleichstellung gab es dann 1970.«

Ein solches Unterfangen lebt immer von den handelnden Akteuren, die bereit sind, den steinigen Weg auch zu gehen – Hannes Heine porträtiert einen davon in seinem Artikel Von Bett zu Bett hetzen – bis einer was vergisst: Carsten Becker, 49 Jahre alt, Personalrat in der landeseigenen Charité. Und Becker kann den Streik gut begründen:

»Pro Schicht betreut eine Schwester auf der Normalstation zehn, elf, zwölf Patienten. Hetzt von Bett zu Bett. Bis sie womöglich etwas vergisst, eine Patientenakte, vielleicht aber auch das Desinfizieren der Hände. Nachts betreut eine Schwester 25 Patienten, oft sind Schwergewichtige dabei, die sie ohne Hilfe kaum umdrehen kann. Druckgeschwüre drohen. Nachts keine Schicht allein, fordern die Streikenden, tagsüber fünf Patienten pro Pflegekraft.«

„Wir brauchen mehr Leute“, sagt Becker. „Der Vorstand weiß das.“ Damit direkt angesprochen ist Karl Max Einhäupl, 68 Jahre, Neurologe. Er ist Chef der Charité.

»Einhäupl wollte den Streik vom Arbeitsgericht verbieten lassen, das Patientenwohl sei gefährdet, die Forderungen seien kaum tariffähig. Selbstverständlich, erklärte der Richter, dürfe man für mehr Personal streiken. Und mit Verdi ist vereinbart worden, Notfälle auch während des Streiks zu versorgen. Einhäupl versucht es nun beim Landesarbeitsgericht.« Aber der Streik hat erst einmal begonnen, die Karawane hat sich in Bewegung gesetzt. Und pro Streiktag verliert die Charité mindestens 500.000 Euro.

Nur für alle potenziellen Kritiker der Streikaktionen sei an dieser Stelle nochmals darauf hingewiesen: Der Arbeitskampf ist nicht vom Himmel gefallen, sondern steht am Ende einer längeren Geschichte:

»Die Pflegekräfte sehen durch den schlechten Personalschlüssel und den hohen Einsatz von Leiharbeitern die Standards nicht mehr eingehalten und deshalb die Sicherheit der Patienten gefährdet. Deshalb verhandelt ver.di seit mehr als zweieinhalb Jahren mit der Klinikleitung über eine Mindestbesetzung, die die Gewerkschaft in einem Tarifvertrag festhalten will. Unter anderem fordern sie, dass nachts auf jeder Station mindestens zwei Kollegen Dienst tun und für Intensivstationen einen Betreuungsschlüssel von einer Fachkraft für zwei Patienten. Damit orientiert sich ver.di an Empfehlungen der Fachgesellschaften. Außerdem möchte die Gewerkschaft verbindliche Verfahren zum Erfassen von Überlastungssituationen. Allein seit Beginn der Gespräche haben Beschäftigte laut ver.di mehr als 800 Gefährdungsanzeigen bei der Klinikleitung vorgebracht, um dieser die prekäre Personalsituation vor Augen zu führen und auf die Konsequenzen aufmerksam zu machen. Doch auf eine Reaktion warten sie in den meisten Fällen vergeblich«, so Claudia Wrobel in ihrem Artikel Patientengefährdung.

Auch in diesem Blog wurde bereits mehrfach über das Thema berichtet, so beispielsweise im Zusammenhang mit Erkenntnissen über die desaströse Situation bei den Nachtdiensten: Man kann sich auch zu Tode sparen. Die alles überlagernde Kostensenkungslogik trifft in der Pflege beide Seiten der Medaille hart, die Patienten und die Pflegekräfte, so beispielsweise die Überschrift eines Beitrags vom 07. 03.2015.

Letztendlich geht es um die Frage von Personal(mindest)standards. Denn die sind entgegen der Annahme vieler „normaler“ Bürger im Krankenhausbereich gerade nicht vereinbart, geschweige denn, dass ihre tatsächliche Ausprägung vor Ort entsprechend überprüft wird. Bereits am 08.09.2014 wurde dies in dem Beitrag Pflegenotstand – und nun? Notwendigkeit und Möglichkeit von Mindeststandards für die Ausstattung der Krankenhäuser mit Pflegepersonal entfaltet. Dabei handelt es sich um eine sehr lange, gleichsam unendliche Geschichte. Man kann die mit einem Kürzel belegen: PPR. Das steht für „Pflege-Personalregelung“. Die gab es schon mal – und wurde dann ganz schnell wieder eingestampft.

Die Pflege-Personalregelung wurde 1993 eingeführt, um die Leistungen der Pflege transparenter zu machen und eine Berechnungsgrundlage für den Personalbedarf zu haben. Experten gingen damals davon aus, dass sich durch konsequente Anwendung der PPR bundesweit ein Personalmehrbedarf im fünfstelligen Bereich ergeben würde.  Als sich abzeichnete, dass die daraus resultierenden Mehrkosten nicht zu tragen sind, wurde die Pflege-Personalregelung schnell wieder ausgesetzt.

Wie gesagt, das war Anfang der 1990er Jahre. Heute schreiben wir das Jahr 2015. Und im Interview mit Sylvia Bühler, Bundesvorstandsmitglied bei der Gewerkschaft ver.di und Leiterin des Fachbereichs Gesundheit und soziale Dienste, unter der Überschrift „Alarmsignale in den Kliniken werden ignoriert“ muss man lesen: 162.000 Stellen fehlen in deutschen Krankenhäusern, davon allein 70.000 in der Pflege. Gegen die Personalnot fordert ver.di eine gesetzliche Regelung. Eva Quadbeck zitiert in ihrem Artikel Die Not der Klinikpfleger Andreas Westerfellhaus, den Vorsitzenden des Deutschen Pflegerats: „Seit 2007 wurden 50.000 Pflegestellen in Krankenhäusern abgebaut. Oft genug sind nur eine Krankenschwester und eine Schwersternschülerin für rund 30 Patienten zuständig“. Die Arbeitsbelastung hat nach Daten des Statistischen Bundesamtes in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. Während im Jahr 2000 eine Vollzeit-Pflegekraft auf 100 Krankenhausfälle kam, musste sich diese Kraft im Jahr 2013 um 115 Fälle kümmern.

Man kann nur hoffen, dass die Pflegekräfte an der Charité Erfolg haben, nicht ausgehungert werden an der langen Leine des Tot-Stellens, wie wir es von der Arbeitgeber-Seite beispielsweise im Kita-Streik haben zur Kenntnis nehmen müssen. Es ist Zeit für einen Aufbruch der Pflegekräfte. Wenn nicht jetzt, wann dann?

Ärztemangel und Ärzteimport: Immer mehr und doch zu wenig. Und dann das Kreuz mit der deutschen Sprache

In der öffentlichen Diskussion tauchen neben den Ingenieuren immer wieder die Ärzte auf, wenn es um die Illustration eines (angeblichen bzw. tatsächlichen) Fachkräftemangels geht. Teilweise muss man den Eindruck bekommen, ganze Landstriche in Deutschland sind ärztefreie Zonen geworden, folgt man der vielerorts dominierenden Medienberichterstattung. Schon ein erster alltagsbezogener Blick auf die komplexe Thematik eröffnet den Blick für die erheblichen Differenzen, die sich bei genauerem Hinschauen offenbaren. Da gibt es tatsächlich zahlreiche eher ländlich strukturierte Regionen, in denen demnächst die letzten Praxen niedergelassener Ärzte, vor allem er so wichtigen Hausärzte, schließen werden, weil die Praxisinhaber in den Ruhestand übertreten. Und selten werden diese Praxen neu besetzt. Auf der anderen Seite gibt es einen verschwenderisch daherkommenden Überschuss vor allem an Fachärzten, die sich in den Groß- und attraktiven Mittelstädten zuweilen stapeln und auf die Gunst der Kunden hoffen. Die Landschaft ist also gekennzeichnet von einer erheblichen Heterogenität der Versorgungslage. Diese massive Ungleichverteilung sollte man im Hinterkopf behalten, wenn dann gleichzeitig die trocken daherkommende Ärztestatistik einen kontinuierlichen Anstieg der Zahl der berufstätigen Ärztinnen und Ärzte offenlegt. Das muss kein Widerspruch sein, ist aber erst einmal für viele irritierend. „Etwas mehr und doch zu wenig“, so bilanziert Frank Ulrich Montgomery, Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), die Ergebnisse der Ärztestatistik für das Jahr 2014. Die Zahl der ärztlich tätigen Mediziner ist im vergangenen Jahr um 2,2 Prozent auf 365.247 weiter angestiegen – und gleichzeitig wird teilweise der Zusammenbruch der ärztlichen Versorgung an die Wand gemalt. Aber die Wirklichkeit ist – wie so oft – wesentlich bunter als der große Blick von weit oben auf die Zahlen. 

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Man kann sich auch zu Tode sparen. Die alles überlagernde Kostensenkungslogik trifft in der Pflege beide Seiten der Medaille hart, die Patienten und die Pflegekräfte

Es geht – wieder einmal – um die Folgen des ungebrochenen Kostensenkungswahnsinns in der Pflege. Um es gleich voranzustellen: Nichts ist einzuwenden, wenn man Abläufe und Strukturen so organisiert, dass sie effizienter werden, wie das immer heißt. Allerdings gibt es – darüber sollte man sich bewusst sein – ein letztendlich unauflösbares Dilemma zwischen Effizienz und Effektivität, also die Wirksamkeit des Handelns wird ab einem bestimmten Punkt von Maßnahmen zur Steigerung der Wirtschaftlichkeit negativ tangiert. Das ist schon in der auf Optimalabläufe ausgerichteten Industrie so und das gilt erst recht für personenbezogene  Dienstleistungen, zu denen die Pflege gehört. Und gerade die Pflege zeichnet sich aus betriebswirtschaftlicher Sicht aus durch „unangenehme“ Strukturmerkmale dieses Handlungsfeldes, aus strukturellen Gründen unabweisbar muss es hier grundsätzlich nicht-optimierbare Leerkosten geben, denn ein Krankenhaus oder ein Pflegeheim sind keine durchrationalisierbaren Produktionsstätten. Und sie sollten es auch nicht sein. Sie werden aber immer öfter als solche in einen Krieg getrieben, den die dort arbeitenden Menschen wie auch die den dortigen Verhältnissen ausgelieferten Patienten nur verlieren können. Und das hat viel zu tun mit dem aus der alles überlagernden Kostenssenkungslogik resultierenden Rationalisierungsdruck beim Personal.

Wieder einmal bekommen wir Anschauungsmaterial für die realen Verhältnisse in der Pflege geliefert: »Deutschlands Krankenhäuser sind während der Nacht personell zum Teil gefährlich unterbesetzt. In mehr als der Hälfte aller Fälle (55 Prozent) muss eine Pflegekraft allein 25 Patienten betreuen. Das ist das Ergebnis einer bundesweit erhobenen Stichprobe der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) in 225 Krankenhäusern in der Nacht vom Donnerstag auf Freitag, 6. März 2015«, teilt uns die Gewerkschaft ver.di unter der Überschrift Bundesweiter Nachtdienstcheck: Deutsche Krankenhäuser zum Teil gefährlich unterbesetzt mit. Johannes Suppe schreibt in seinem Artikel Allein auf Station dazu: »Von Donnerstag auf Freitag haben 700 haupt- und ehrenamtliche ver.di-Mitarbeiter 237 Kliniken hinsichtlich ihrer Besetzung unter die Lupe genommen – gegen Widerstände von Seiten der Betreiber. Die warfen der Gewerkschaft eine »unseriöse Nacht- und Nebelaktion« vor.« Da muss man schon schmunzeln – offensichtlich wäre es den Verantwortlichen sicher lieber gewesen, wenn man das einen Monat vorher angemeldet hätte.

»Auf 55,8 Prozent der von ver.di untersuchten Stationen muss sich eine Fachkraft alleine um die Patienten kümmern, lautet der zentrale Befund. Im Durchschnitt seien das 25 Kranke. In einzelnen Fällen traf die Gewerkschaft auf Stationen mit einem Verhältnis von Fachkräften zu Patienten von eins zu 34.«

Und dann wird ein nur als absolut skandalös zu bezeichnender Befund aus dem ver.di-Nachtdienstcheck referiert – und der betrifft die Intensivstationen:

Dramatisch sei auch die Situation auf den Intensivstationen. Insgesamt wurden 419 solcher Einrichtungen besucht, doch nur auf 7,9 Prozent von ihnen wird der Fachstandard, der eine Intensivpflegefachkraft für maximal zwei Patienten vorsieht, eingehalten. Im Durchschnitt war eine Pflegerin jedoch für 3,3 Kranke zuständig. In nicht wenigen Fällen waren es laut Bühler noch deutlich mehr: »Auf 42 Intensivstationen musste sich eine Fachkraft um sechs und mehr Patienten kümmern.«

Die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin verlange dagegen ein Pflegekraft-Patienten-Verhältnis von eins zu zwei auf der Intensivstation, die Deutsche Gesellschaft für Fachkrankenpflege und Funktionsdienste sogar von eins zu eins bei beatmeten Patienten.
Aber selbst der deutsche Referenzwert von 1 : max. 2 Patienten wird in nicht unerheblichem Umfang erheblich verfehlt. Und das ist nicht nur hoch problematisch für die unter diesen Bedingungen arbeitenden Fachkräfte, sondern es kann lebensgefährlich werden für die Patienten.

Mit der Personalsituation auf den Intensivstationen in deutschen Krankenhäusern hatte sich auch das Deutsche Institut für angewandte Pflegeforschung (dip) bereits im Jahr 2012 auseinandergesetzt: Pflege-Thermometer 2012. Eine bundesweite Befragung von Leitungskräften zur Situation der Pflege und Patientenversorgung auf Intensivstationen im Krankenhaus, so heißt die damals veröffentlichte Studie der Pflegeforscher. Die Ergebnisse der Studie lassen sich mit diesem Dreiklang abbilden: Steigende Versorgungsleistungen auf den Intensivstationen, Probleme bei der Personalausstattung der Intensivstationen sowie Gesundheitsrisiken für Patienten nehmen zu. Wie fast immer in der Pflege haben wir kein Erkenntnisproblem, sondern eines der Umsetzung dessen, was wir teilweise schon seit langem wissen.

»Knapp 60 Prozent der in dieser Nacht befragten Pflegekräfte gaben an, dass es in den letzten Wochen gefährliche Situationen gegeben habe, die durch mehr Personal hätten verhindert werden können. Die Mehrheit beklagte, dass sie „nie“ oder „selten“ ihre Arbeit in der erforderlichen Qualität erledigen könne … Die Folgen: Hygienestandards greifen nicht mehr, Schwerstkranke und Sterbende können oft nicht ausreichend betreut werden, Schmerzen müssen unnötig lange ertragen werden, Patienten liegen länger als zumutbar in ihre Ausscheidungen, so Julia Emmrich in ihrem Artikel Ein Pfleger, 25 Patienten: Nachtschichten oft unterbesetzt, in dem sie über die ver.di-Ergebnisse berichtet. Und weiter: »Laut Verdi fehlen bundesweit in den Krankenhäusern rund 70.000 Pflegekräfte. Die Gewerkschaft fordert eine gesetzliche Regelung, um die Personalstärke auf den Stationen einheitlich festzuschreiben. Die Bundesregierung will bis 2017 prüfen, wie das Personalproblem in den Kliniken gelöst werden kann.«

Man könnte jetzt an dieser Stelle nahtlos weitermachen und darauf hinweisen, dass die Ergebnisse einer solchen Aktion, wie ver.di sie hier im Krankenhaus-Bereich durchgeführt hat, in den Pflegeheimen noch schlimmer ausfallen würden.

Aber stattdessen soll der Blick auf ein zweites Fallbeispiel für konkrete Folgen des Kostensenkungswahnsinns gerichtet werden. Es geht hier um die Pflege kranker, behinderter und betagter Menschen, die auf Windeln angewiesen sind. Und hier zeigen einige Krankenkassen, was die Herrschaft der Controller und Kostensenker in praxi bedeuten kann. Thematisiert wird das Problem in dem bezeichnenderweise als „Sparwahn mit System“ überschriebenen Artikel von Peter Müller, Susanne Petersohn und Cornelia Schmergal, der in der heute veröffentlichten Print-Ausgabe des SPIEGEL (Heft 11/2015, S. 47) zu finden ist.

Die Autoren berichten zum Einstieg von einem konkreten Fall, der sicher stellvertretend für viele aufgerufen werden kann: Die 83-jährige Irmgard Weiß pflegt ihren erblindeten Mann zu Hause selbst, der vor allem in der Nacht nicht rechtzeitig merkt, dass er zur Toilette muss. »Seit 64 Jahren sind die beiden verheiratet – und viel hat sich geändert. In der Nacht steht die Rentnerin nun auf, um ihrem Mann die Windeln zu wechseln … Über Jahre ist Irmgard Weiß gut mit den Windelhöschen zurechtgekommen, die ihre Krankenkasse DAK ins Haus liefern ließ.« Seit einiger Zeit aber hat sie ein Problem, denn die Windeln erfüllen ihren Zweck nicht mehr. Und das hat einen Grund:

»Seit dem vergangenen Jahr hat sich die DAK in vielen Regionen von ihren Lieferanten getrennt und für andere Anbieter entschieden – des günstigeren Preises wegen. Doch die Windeln, die das Ehepaar Weiß nun erhält, „sind viel dünner und laufen ständig aus“, wie die Seniorin erzählt. Ihre Nächte sind jetzt noch anstrengender: Mit Baumwollvlies aus der Drogerie polstert sie die Klebehöschen aus, um Missgeschicke zu verhindern.«

Stefan Süß, Vorstand beim Selbsthilfeverband Inkontinenz, wird in dem Artikel zitiert mit dem Hinweis, dass sich die Beschwerden der Patienten in letzter Zeit vervielfacht hätten: Immer häufiger kämen die Kassen ihrem gesetzlichen Auftrag nicht nach, „eine ausreichende Versorgung mit Inkontinenzprodukten sicherzustellen“.

Es geht hier um etwa 1,5 Millionen Menschen, die derzeit Windeln oder Einlagen auf Rezept bekommen. »Hochbetagte Pflegefälle sind darunter oder Menschen mit Behinderungen. Versicherte, die sich auf das Solidarsystem verlassen müssen.« Aber das tickt immer stärker nach den Spielregeln der Kostensenkungslogik.

»Doch hinter dem Sparwahn steckt System. Kassen sind zu wirtschaftlichem Verhalten verpflichtet, seit einigen Jahren können sie mit Herstellern von Inkontinenzprodukten oder Sanitätshäusern eigene Verträge abschließen, um Versicherte kostengünstiger zu beliefern.« Und wie immer im Leben kann zu kostengünstig auch bedeuten zu schlechte Qualität, die dann die letzten Glieder in der Kette, also die Betroffenen, im wahrsten Sinne des Wortes hautnah zu spüren bekommen. Und die Preisspanne ist offensichtlich erheblich, wenn man dem SPIEGEL-Artikel folgt:

»Während sich die IKK Classic die Windeln eines Versicherten noch rund 29 Euro netto im Monat kosten lässt, sparen finanzklamme Kassen häufiger. Wie Ausschreibungsunterlagen belegen, zahlt die DAK ihren Lieferanten nur eine Pauschale von knapp 13 Euro monatlich.«

Bislang bleibt für die Patienten oft nur ein Ausweg: Sie zahlen aus der eigenen Geldbörse drauf. Wenn sie sich das denn leisten können. Die ganz unten, die diese Möglichkeit nicht haben, sind mal wieder am meisten getroffen.

Dabei handelt es sich um kein Problem, das erst jetzt aus dem Nichts entstanden ist. Es ist unauflösbar verbunden mit der inneren Logik von Ausschreibungs- und Vergabeverfahren und den aus ihnen resultierenden enormen Preis- und Kostendruck, der früher oder später auf die Qualität durchschlagen muss. Mit den gleichen, hoch problematischen Mechanismen sind wir auch in anderen sozialen Handlungsfeldern konfrontiert, man denke hier nur als ein Beispiel an die Fördermaßnahmen in der Arbeitsmarktpolitik. Auch für die sozialgerichtliche Aufarbeitung gibt es schon zahlreiche Beispiele – wobei wir eben immer mitdenken müssen bei der Bewertung, dass es sich bei der Konstellation Pflegebedürftiger bzw. Kranker versus Krankenkasse um ein sehr asymmetrisches Verhältnis zuungunsten der Patienten handelt. Nur ein Beispiel, der Hinweis auf einen Artikel aus der Ärzte Zeitung, der auf den 09.07.2013 datiert: Windel undicht? Dann darf’s auch teurer sein, so ist er überschrieben. Sind die günstigeren Hilfsmittel, zu denen Windeln gehören, mangelhaft, muss die Kasse auch höherpreisige Produkte zahlen, urteilten die Richter vom Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg in Potsdam. Grundsätzlich hat das LSG entschieden: Krankenkassen dürfen ihre Versicherten bei der Hilfsmittelversorgung auch auf einen günstigen Vertragspartner verweisen, den sie über ihre Ausschreibungen gewonnen haben.

»Nehmen Versicherte teurere Anbieter in Anspruch, müssten sie dann grundsätzlich die Mehrkosten tragen. Das gelte allerdings nur, wenn die Krankenkassen auch mit günstigen Produkten ihres Vertragspartners eine „ausreichende Versorgung“ sicherstellen, betonten die Potsdamer Richter.«

Sind die Windeln mangelhaft, dann kann man von der Krankenkasse die Übernahme der Mehrkosten für die verwendeten besseren Windeln verlangen. So weit, so grundsätzlich gut für die Patienten. Aber seien wir ehrlich: Das ist nur eine – wenn überhaupt – „second best“-Lösung. Denn bei jedem, der sich mit Sozialrecht auskennt, leuchten alle Alarmlampen, wenn der Begriff „angemessen“ auftaucht, einer dieser „unbestimmten Rechtsbegriffe“, der für viel Ärger und für viele Prozesse sorgt. Man denke nur an die Problematik, dass im SGB II normiert wurde, dass „angemessene Unterkunftskosten“ übernommen werden. Eine Quelle vieler Konflikte und Klagen vor den Sozialgerichten. Man kann sich vorstellen, wie schwierig es sein kann, nachzuweisen, dass die Windeln, die man in Anspruch nehmen muss, gerade nicht mehr „angemessen“ sind.

Gerade in derart sensiblen Bereichen wie der Pflege sollte man auf ein System vertrauen können, dass über Mechanismen verfügt, die Interessen der ihm anvertrauten Hilfebedürftige wenn nicht vollständig, so doch aber wenigstens auf einem hohen Qualitätsniveau zu berücksichtigen. Wenn sich die – betriebswirtschaftlich durchaus konsequente und in sich schlüssige – Kostensenkungslogik als Hauptmotiv des unternehmerischen Handelns durchsetzt, dann wird es eng für die betroffenen Patienten. Wie wir gesehen haben.

Der eine oder die andere könnte jetzt auf die Idee kommen, ein Korrektiv in den Kostensenkungswahn einzubauen. Und zwar bei den Krankenkassen. Wie das aussehen könnte? Man könnte beispielsweise die Führungskräfte der Kassen mit den Produkten konfrontieren, über die sich ihre Versicherten beschweren – ein Wochenende lang. Nur mal so als Gedanke, um neue Wege zu gehen bei der Überbrückung des ewigen Spagats zwischen Theorie und Praxis.

Überlastet und unterfinanziert – die Notaufnahmen in vielen Krankenhäusern. Zugleich ein Lehrstück über versäulte Hilfesysteme. Und über einen ambivalenten Wertewandel

Das Gesundheitswesen in Deutschland ist a) in seiner faktischen Ausgestaltung nur historisch zu verstehen und b) nicht nur nach Einschätzung ausgewiesener Gesundheitspolitiker ein nicht-vergnügungssteuerpflichtiges „Haifischbecken“, im dem sich allerlei beißfreudige Interessengruppen tummeln, die ihre Reviere verteidigen. Man kann es auch so formulieren: Der Grad der „Versäulung“ der einzelnen Hilfesysteme ist im Gesundheitswesen immer noch sehr stark ausgeprägt und die Suche nach Ansatzpunkten für ein Aufbrechen der mit der Versäulung immer auch verbundenen Abschottung einzelner Leistungssegmente – man denke an dieser Stelle nur an die Versuche der Einführung einer „integrierten Versorgung“ an der Schnittstelle ambulant und stationär – füllt ganze Archive. Es wurde bereits angedeutet – die „Schnittstelle“ zwischen der ambulanten und stationären medizinischen Versorgung war und ist heftig umstritten.

In der Idealwelt geht das so: Die niedergelassenen Vertragsärzte sind für die ambulante, sowohl haus- wie auch fachärztliche Versorgung zuständig. Und dazu gehören eigentlich auch Hausbesuche und vor allem die Sicherstellung der ambulanten Versorgung an Wochenende oder an Feiertagen. Dafür gibt es dann einen – regional immer noch sehr unterschiedlich organisierten – ärztlichen Bereitschaftsdienst, den die niedergelassenen Ärzte bestücken müssen. Entweder selbst oder dadurch, dass die Dienste an Ärzte vergeben werden, die das auf Honorarbasis machen. Aber neben diesen Bereitschaftsdiensten der niedergelassenen Ärzte gibt es dann auch noch die Notaufnahmen der Krankenhäuser, die rund um die Uhr geöffnet sind. Nun könnte man auf die Idee kommen, dass die beiden Hilfesysteme eigentlich nichts miteinander zu tun haben und für die Idealwelt würde das auch gelten, denn die Notaufnahmen der Kliniken wären hier zuständig für Unfallopfer oder schwerere Erkrankungen, während alle leichten und mittelschweren Fälle zu den Niedergelassenen gehen. Aber bekanntlich leben wir nicht in einer Idealwelt.

Und in der Realwelt wird man dann mit solchen Aussagen konfrontiert: „Die Notaufnahmen der Krankenhäuser sind vielerorts stark überlastet und absolut unterfinanziert. Sie werden immer stärker zum Lückenbüßer für die eigentlich zuständigen Bereitschaftsdienste der Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) und dabei durch die Vergütungsregelungen der KVen und Krankenkassen sowie einen 10-prozentigen gesetzlichen Investitionsabschlag auch noch diskriminiert“, erklärte der Hauptgeschäftsführer der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG), Georg Baum, anlässlich der Veröffentlichung eines Gutachtens zur ambulanten Notfallversorgung im Krankenhaus. Das teilt uns die Deutsche Krankenhausgesellschaft in einer Pressemitteilung mit, unter der Überschrift Milliarden-Defizit bei ambulanter Notfallversorgung.

Das angesprochene Gutachten kann man hier im Original einsehen:

MCK/DGINA: Gutachten zur ambulanten Notfallversorgung im Krankenhaus – Fallkostenkalkulation und Strukturanalyse – der Management Consult Kestermann GmbH (MCK) erstellt in Kooperation mit der Deutsche Gesellschaft interdisziplinäre Notfall- und Akutmedizin e. V. (DGINA), Hamburg, 17.02.2015

»Bislang sei es bloße Fiktion, dass niedergelassene Ärzte alles regeln. Von den jährlich in Notaufnahmen der Kliniken versorgten 20 Millionen Patienten werden der DKG zufolge mehr als zehn Millionen ambulant versorgt. Ein Drittel der allgemeinen Notfallbehandlungen sei problemlos in ambulanten Praxen lösbar, so Baum. Allerdings gebe es offensichtlich Terminschwierigkeiten im KV-Bereich oder geeignete Anlaufstellen fehlten«, so Martina Merten in ihrem Artikel „Notaufnahmen werden zum Lückenbüßer“.

»Einem durchschnittlichen Erlös von 32 Euro pro ambulantem Notfall stünden Fallkosten von mehr als 120 Euro gegenüber. Mehr als 10 Millionen ambulante Notfälle mit einem Fehlbetrag von 88 Euro pro Fall führten zu 1 Milliarde Euro nicht gedeckter Kosten,« so die Deutsche Krankenhausgesellschaft auf der Basis der Erkenntnisse aus dem Gutachten. Wie sind die Gutachter zu diesen Werten gekommen?

»Für das Gutachten, das die Management Consult Kestermann GmbH erstellt hat, stellten 55 Krankenhäuser Kosten- und Leistungsdaten von 612.070 ambulanten Notfällen zur Auswertung bereit. 37 Krankenhäusern machten fallbezogene Angaben zu den Erlösen. Hiernach betrugen die Fallkosten für einen ambulanten Notfall im Schnitt 120 Euro. Dem stand ein durchschnittlicher Erlös von 32 Euro gegenüber«, so Martina Merten in ihrem Bericht über die Studie, der in der Online-Ausgabe der Ärzte Zeitung erschienen ist. Aus diesen Angaben hat man dann bundesweit hochgerechnet.

Interessant sind die Ausführungen zu der Struktur der Behandlungen in den Notfallaufnahmen der Krankenhäuser, die man der Studie entnehmen kann:

»Die Aufnahmequote, d. h. der Anteil der Patienten in den Notaufnahmen, der vollstationär aufgenommen wird, beträgt durchschnittlich 38%. Weitere 10% der Notfallpatienten entfallen auf vorstationäre oder andere Behandlungsformen. Durchschnittlich 52% der Patienten werden ambulant versorgt, davon werden 80% gegenüber der Kassenärztlichen Vereinigungen, 12% gegenüber den Berufsgenossenschaften und 8% privatärztlich abgerechnet. Die Notfallquote des gesamten Krankenhauses, d. h. der Anteil aller vollstationären Patienten des Krankenhauses, die über die Notaufnahmen aufgenommen werden, beträgt 51%. Im Vergleich zum Jahr 2012 verzeichneten die Notaufnahmen für das Jahr 2013 eine Fallzahlsteigerung von insgesamt 6%, die ambulanten Notfallbehandlungen gesetzlich versicherter Patienten nahmen sogar um 9% zu … Die Auswertung der Angaben zeigt, dass der allgemeine Kassenärztliche Bereitschaftsdienst nur eingeschränkt verfügbar ist. Mehr als zwei Drittel der Krankenhäuser geben an, dass die Öffnungszeiten der Notfallpraxen weniger als die Hälfte der sprechstundenfreien Zeiten abdecken. Ein fachspezifischer Bereitschaftsdienst wird vereinzelt zur Verfügung gestellt.« (MCK/DGINA 2015: 4-5)

Die Interessenvertretung der deutschen Krankenhäuser, die DKG, beklagt neben der „Kostenfalle“ auch die „Unterversorgung“ seitens des Bereitschaftsdienstes der niedergelassenen Ärzte: »Die ambulante Notfallversorgung werde schon lange nicht mehr durch die KVen sichergestellt, obwohl diese dafür zuständig seien. Selbst dort, wo Notfalldienste von den KVen organisiert seien, gingen die Patienten in die Ambulanzen der Krankenhäuser. Die Auswertung der Behandlungsfälle zeige, dass ein Drittel der Patienten von niedergelassenen Ärzten versorgt werden könnte. Viele Patienten suchten die Notaufnahmen der Krankenhäuser auf, weil im vertragsärztlichen Bereich kein geeignetes oder ausreichendes Versorgungsangebot für Notfälle vorhanden sei«, so die These der DKG in ihrer Pressemitteilung. Hier wird also die Überinanspruchnahme der Notfallaufnahmen der Kliniken auf eine defizitäre Ausgestaltung des eigentlich zuständigen Versorgungssystems zurückgeführt. Das kann und wird teilweise so sein – wobei die Ausgestaltung der Notdienste der Niedergelassenen sehr unterschiedlich ist. So gibt es Regionen, in denen die Bereitschaftsdienstzentralen nur an den Mittwoch Nachmittagen sowie an den Wochenenden ab Freitag Mittag besetzt sind, nicht aber unter der Woche nachts. In anderen Regionen ist das wieder anders organisiert.

Aber es gibt natürlich auch noch eine andere These, die es zu diskutieren lohnt und die abstellt auf den im Titel dieses Blog-Beitrags genannten „ambivalenten Wertewandel“. So könnte ein Aspekt des Wertewandels darin bestehen, dass die Ansprüche der Patienten deutlich gestiegen sind und sie die aus ihrer subjektiven Sicht optimale Behandlung haben wollen, die sie eher im Krankenhaus vermuten als beim ärztlichen Bereitschaftsdienst der Vertragsärzte, wo möglicherweise ein völlig fachfremder Arzt alle Patienten behandeln (oder dann doch weiterschicken) muss, während man im Krankenhaus die Erwartung haben kann, dass je nach Indikation gleich der „richtige“ Facharzt konsultierbar ist. Insofern würde die Nicht-Inanspruchnahme auch bei grundsätzlich vorhandener Infrastruktur stattfinden.

Die angesprochene Ambivalenz des Wertewandels bezieht sich darauf, dass es – folgt man vielen Berichten aus der Praxis – eine durchaus frag- oder zumindest diskussionswürdige Verschiebung der Inanspruchnahme einer Notfallaufnahmeeinrichtung bei einem Teil der Patienten gegeben hat hin zu einer Nutzung auch bei Beschwerden, die nun sehr weit weg sind von einem Notfall und wo man auch warten könnte auf die normalen Praxisöffnungszeiten. Teilweise kommen die Patienten in die Notfalleinrichtungen, um ansonsten aufzubringende Wartezeiten bei den normalerweise dafür zuständigen Haus- und Fachärzten zu umgehen. Und ebenfalls müsste man zu dieser problematischen Seite des Wertewandels auch die in letzter Zeit immer wieder vorgetragenen Berichte über völliges Fehlverhalten der Patienten und ihrer Angehörigen in den Notaufnahmen gegenüber dem dortigen Personal zählen (vgl. dazu nur als ein Beispiel aus der aktuellen Berichterstattung den Artikel Krankenhäuser klagen über Randale in Notaufnahmen). Allerdings soll dieser unangenehme Zweig hier nicht weiter verfolgt werden, auch weil es derzeit nicht erkennbar ist, ob es sich um lokale, punktuelle Phänomene handelt oder aber um ein tatsächlich zunehmendes Problem.

Was könnte man tun, um die beschriebenen Probleme zumindest zu verringern? In einigen Regionen gibt es das bereits seit längerem, was die Gutachter in ihrer Studie in den Schlussfolgerungen empfehlen: »Würden … regelmäßig Notfallpraxen der KV an Krankenhäusern eingerichtet und durch Vertragsärzte durchgehend außerhalb der regulären Sprechstundenzeiten besetzt, könnten sich somit schätzungsweise 33 % der ambulanten Notfallpatienten anstatt in den Notaufnahmen der Krankenhäuser in den am gleichen Ort befindlichen Notfallpraxen der KV vorstellen. In Abhängigkeit der Gebietsbezeichnungen, der am organisierten Notfalldienst teilnehmenden Vertragsärzte, eventuell sogar etwas mehr« (MCK/DGINA 2015: 76).

Man könnte natürlich auch so eine Position vertreten: »Nach Ansicht von Florian Lanz, Sprecher des GKV-Spitzenverbandes, müssen die teuren Überkapazitäten der Kliniken dringend abgebaut werden – dann sei die stationäre Versorgung auch finanzierbar«, so Martina Merten in ihrem Artikel. Na klar, die Notaufnahmen der Kliniken laufen über und man baut Kapazitäten ab, dann können die Patienten auch nicht mehr in die Notaufnahme gehen. Das hat schon seine eigene bestechende Logik.