In der öffentlichen Diskussion tauchen neben den Ingenieuren immer wieder die Ärzte auf, wenn es um die Illustration eines (angeblichen bzw. tatsächlichen) Fachkräftemangels geht. Teilweise muss man den Eindruck bekommen, ganze Landstriche in Deutschland sind ärztefreie Zonen geworden, folgt man der vielerorts dominierenden Medienberichterstattung. Schon ein erster alltagsbezogener Blick auf die komplexe Thematik eröffnet den Blick für die erheblichen Differenzen, die sich bei genauerem Hinschauen offenbaren. Da gibt es tatsächlich zahlreiche eher ländlich strukturierte Regionen, in denen demnächst die letzten Praxen niedergelassener Ärzte, vor allem er so wichtigen Hausärzte, schließen werden, weil die Praxisinhaber in den Ruhestand übertreten. Und selten werden diese Praxen neu besetzt. Auf der anderen Seite gibt es einen verschwenderisch daherkommenden Überschuss vor allem an Fachärzten, die sich in den Groß- und attraktiven Mittelstädten zuweilen stapeln und auf die Gunst der Kunden hoffen. Die Landschaft ist also gekennzeichnet von einer erheblichen Heterogenität der Versorgungslage. Diese massive Ungleichverteilung sollte man im Hinterkopf behalten, wenn dann gleichzeitig die trocken daherkommende Ärztestatistik einen kontinuierlichen Anstieg der Zahl der berufstätigen Ärztinnen und Ärzte offenlegt. Das muss kein Widerspruch sein, ist aber erst einmal für viele irritierend. „Etwas mehr und doch zu wenig“, so bilanziert Frank Ulrich Montgomery, Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), die Ergebnisse der Ärztestatistik für das Jahr 2014. Die Zahl der ärztlich tätigen Mediziner ist im vergangenen Jahr um 2,2 Prozent auf 365.247 weiter angestiegen – und gleichzeitig wird teilweise der Zusammenbruch der ärztlichen Versorgung an die Wand gemalt. Aber die Wirklichkeit ist – wie so oft – wesentlich bunter als der große Blick von weit oben auf die Zahlen.
Mit einer den Krisenmodus der Bundesärztekammer ablehnenden Haltung formuliert Hartmut Reiners seine Sicht der Dinge in seinem Beitrag Menetekel Ärztemangel so: »Frank-Ulrich Montgomery sieht einen Ärztemangel heraufziehen. Doch hier wird mal wieder ein Popanz aufgebaut. Es gibt keinen allgemeinen Ärztemangel, sondern ein Nebeneinander von Defiziten und Überfluss.« Und er weist darauf hin: »Vor 20 Jahren warnte Frank-Ulrich Montgomery als Vorsitzender der Ärztegewerkschaft Marburger Bund vor einer Ärzteschwemme. Heute sieht er als Präsident der Bundesärztekammer einen Ärztemangel heraufziehen, obwohl sich die Arztdichte zwischen 1995 und 2014 um 35 Prozent erhöht hat.«
Auch die Ärzte Zeitung packt das Nebeneinander von Überfluss und Mangel gleich in die Überschrift ihres Artikels über die neuen Zahlen: Gleichzeitig Ärzte-Boom und Ärztemangel. Für die scheinbare Diskrepanz zwischen dem neuen Höchststand an ärztlich tätigen Medizinern und der Debatte über Versorgungsengpässe gibt es nicht nur einen, sondern zahlreiche Gründe: »Ursächlich dafür seien einerseits die alternde Bevölkerung, mehr Morbidität und steigende Behandlungsmöglichkeiten. Andererseits verschöben sich die Prioritäten jüngerer Ärzte: zu mehr Teilzeitarbeit und einer Tätigkeit als angestellter Mediziner.« Man könnte und müsste an dieser Stelle dann differenzierte Betrachtungen der einzelnen Versorgungsbereiche anstellen, vor allem der niedergelassenen Haus- und Fachärzte sowie der Krankenhäuser. Umfragen zufolge planen 23 Prozent der niedergelassenen Ärzte, bis zum Jahr 2020 ihre Praxis aufzugeben, berichtet die Bundesärztekammer und allein der Ersatz der altersbedingt ausscheidenden Ärzte in der ambulanten Versorgung wird rein rechnerisch nicht funktionieren, geschweige denn unter Berücksichtigung der Tatsache, dass immer mehr junge Mediziner Frauen sind, die beispielsweise vor dem Hintergrund der Vereinbarkeit von Beruf und Familie nicht bereits sein werden, eine ärztliche Einzelpraxis mit einer 60-Stunden-Woche zu übernehmen.
Aber in dem Artikel wird auch auf einen hier besonders interessierenden Aspekt hingewiesen, der mit dazu beiträgt, dass gerade im Krankenhauswesen vor allem, aber nicht nur in den ländlichen Regionen die Versorgung noch aufrecht erhalten werden kann:
»Entlastung erfahren die deutschen Ärzte durch immer mehr ausländische Kollegen: Ihre Zahl stieg im vergangenen Jahr um 11,1 Prozent auf 34.706. Rund zwei Drittel davon stammen aus der EU, überwiegend aus armen Ländern. Allein im vergangenen Jahr sind 3.768 Ärzte aus dem Ausland zugewandert. Hingegen haben 2.364 Ärzte Deutschland den Rücken gekehrt. Das ist ein positiver Migrationssaldo von 1.404 Ärzten.«
Seit Jahren geht das so – Deutschland importiert immer mehr Ärzte aus anderen Ländern, bislang vor allem aus den ärmeren ost- und südosteuropäischen Ländern, in denen – das wird oftmals völlig aus den Augen verloren – massive Versorgungslücken gerissen werden durch die Abwanderung der dort ebenfalls knappen Ärzte.
Die Abbildung verdeutlicht den stetigen und in den vergangenen stark steigenden Zuwachs an ausländischen Ärzten, die in Deutschland berufstätig sind. Das ist nicht nur für die „exportierenden“ Länder ein echtes Problem, es führt auch zu zahlreichen Problemen bei uns, denn natürlich haben die zu uns kommenden Mediziner teilweise ganz andere Ausbildungen absolviert und vor allem stehen sie vor einer großen Hürde, mit der jeder Ausländer konfrontiert ist, die aber bei den Ärzten im wahrsten Sinne des Wortes eine existentielle Bedeutung hat: Gemeint ist hier die Sprachbarriere. Und über erschreckende Ergebnisse aus diesem Bereich berichtet Matthias Korfmann in seinem Artikel Jeder dritte ausländische Arzt in NRW spricht kaum Deutsch. »Immer mehr Kliniken in NRW sind auf Fachkräfte aus dem Ausland angewiesen – deren Deutschkenntnisse sind jedoch oft mangelhaft. Das birgt Gefahren.« Inzwischen hat jeder vierte Arzt im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen keinen deutschen Pass. Wir reden hier also über eine mittlerweile tragende Säule der ärztlichen Versorgung.
Man muss das einfach mal wirken lassen, was Korfmann darlegt: Erst im Jahr 2014 wurde für Mediziner aus dem Ausland eine „Fachsprachenprüfung“ eingeführt. Im Schnitt bestanden bisher 35 bis 40 Prozent der ausländischen Mediziner diese Prüfung nicht. Beispiel Ärztekammer Westfalen-Lippe, die im vergangenen Jahr 501 Sprachprüfungen für ausländische Ärzte durchgeführt hat: „Etwa ein Drittel kam gut durch, ein Drittel nur mit Anstrengungen, ein Drittel gar nicht“, so wird der Sprecher der Ärztekammer,Volker Heiliger, zitiert. Im benachbarten Bundesland Rheinland-Pfalz liegt die Durchfallquote bei 40 Prozent. Die Sprachprüfung kann unbegrenzt wiederholt werden.
Über und aus den Prüfungen wird folgendes berichtet:
»60 Minuten dauert die „Fachsprachenprüfung“ bei den Ärztekammern Westfalen-Lippe und Nordrhein. Im Mittelpunkt stehen Situationen aus dem Krankenhausalltag: Ein Gespräch zwischen Arzt und Patient, die schriftliche Zusammenfassung dieses Gesprächs und ein Informationsaustausch mit einem weiteren Arzt. Die Ärztekammer Westfalen-Lippe hat festgestellt, dass es dabei zuweilen zu haarsträubenden Verwechslungen kommt: „Aus dem gehörten ,Bauchspeicheldrüdenkrebs’ wird auf dem Notizblatt der ,Bauchkrebs’ und im Dokumentationsbogen ein ,Magenkarzinom“. Ein Patient erzählt von „Hodenkrebs“, der Prüfling versteht aber „Morbus Hodgkin“ – eine andere Krebserkrankung.« Nicht wirklich beruhigend.
Kritisch wird vorgetragen, dass zwar viele Kliniken aktiv Mediziner im Ausland anwerben, sich aber anschließend nicht oder nur wenig um die sprachliche Ausbildung kümmern.
Aber auch hier werden wir wieder mit den Unzulänglichkeiten des deutschen Föderalismus konfrontiert, denn das alles ist Ländersache, also auch die Überprüfung der Sprachfähigkeiten:
»Die deutschen Gesundheitsminister haben sich zwar auf ein gemeinsames Verfahren zur Überprüfung der medizinischen Fachsprache geeinigt. Aber nur wenige Länder – darunter Rheinland-Pfalz und NRW – haben diese Ziele bisher umgesetzt.«
Allerdings muss man sehen, dass die Krankenversorgung in vielen Regionen Deutschlands schlichtweg zusammenbrechen oder zumindest schwer beeinträchtigt wäre, wenn es nicht die ausländischen Ärzte gerade in den Klinken geben würde:
»Ohne die vielen zugewanderten Mediziner wäre die Krankenversorgung in den Kliniken längst zusammengebrochen … Inzwischen hat jeder vierte Krankenhausarzt in NRW keinen deutschen Pass. Viele dieser Mediziner stammen aus Rumänien, Griechenland, Polen, zuletzt kamen mehrere hundert Ärzte aus Syrien und Ägypten nach Deutschland.«
Wir leben also – zugespitzt formuliert – von der Substanz der anderen. Dabei profitieren wir von dem teilweise enormen Wohlstandsgefälle. Aber das sollte Deutschland nicht entlasten, seine eigenen Hausaufgaben zu machen. Und zu denen würde gehören, dass man endlich die Zahl der Studienplätze für Medizin erhöht – und das nicht nur vor dem offensichtlichen Hintergrund, dass wir auf den Import von Ärzten aus dem Ausland angewiesen sind. Wenn immer mehr Ärzte Ärztinnen sind, bei den Studienanfänger reden wir hier teilweise über Werte von 70%, dann wird eine gleich bleibende Zahl an Absolventen schlichtweg durch geringere Arbeitszeitvolumina nach unten gedrückt. In diesem Zusammenhang sei an dieser Stelle nur beispielhaft auf die Forderung des Marburger Bundes verwiesen, die Zahl der Medizin-Studienplätze um 10 Prozent zu erhöhen: Zehn Prozent mehr Medizinstudienplätze gefordert, so die Ärzte Zeitung. Derzeit gibt es in Deutschland 10.600 verfügbare Studienplätze – und fünfmal so viele Bewerber wie Plätze.“Vor 25 Jahren hatten wir in der kleinen Bundesrepublik genauso viele Studienplätze wie heute im wiedervereinigten Deutschland“, so wird Andreas Botzlar, der stellvertretende Vorsitzende des Marburger Bundes, zitiert.
»Im Jahre 1990 gab es allein in den alten Bundesländern im Studiengang Humanmedizin 12.000 Studienplätze. Diese wurden seitdem kontinuierlich reduziert. Statt 16.000 Plätzen, die es nach der Wiedervereinigung aufgrund der acht hinzugekommenen Fakultäten eigentlich geben müsste, sind es aktuell nur noch rund 10.000«, so der Marburger Bund in der Pressemitteilung Zahl der Medizinstudienplätze um mindestens 10 Prozent erhöhen aus dem vergangenen Jahr.
Da stellt sich natürlich die Frage, warum sich hier noch nichts bewegt hat. Die Antwort muss so ausfallen wie so oft: Am Gelde hängt’s. Denn die Finanzierung von Studienplätze ist überwiegend eine Aufgabe der Bundesländer und die haben bekanntlich kaum bis gar keine Luft für kostenträchtige Operationen. Und kein Studienplatz ist so teuer wie einer in der Medizin. Da schafft man doch lieber massenhaft Studienplätze in den Wirtschafts- und sonstigen Billigwissenschaften, wo die Studierenden sogar ihr Arbeitsmaterial selbst mitbringen und man die Räume maximal überbelegen kann.
Aber das wird nichts daran ändern – wenn man irgendwann feststellen sollte, dass man zu wenig Mediziner ausgebildet hat, dann wird man das nicht per Knopfdruck heilen können. So eine Ausbildung muss organisiert werden und sie dauert einige Jahre.