Hartz IV als Teil einer „Angstspirale“ im Sozialstaat – eine bekannte These, diesmal aus dem sozialdemokratischen Umfeld

Immer wieder wird man mit zwei völlig unterschiedlichen Interpretationen der Folgen dessen konfrontiert, was als „Hartz-Reformen“ und vor allem als „Hartz IV“ bezeichnet wird. Die eine Seite sieht einen Großteil der von oben betrachtet positiven Arbeitsmarktentwicklung in Deutschland ursächlich damit verbunden und erklärt den rot-grünen Paradigmenwechsel hin zu einem „Grundsicherungsstaat“ (mittlerweile sind 70 Prozent der Arbeitslosen nicht über die Arbeitslosenversicherung abgesichert, sondern befinden sich im Hartz IV-System) als zentralen Wirkungskanal des angeblichen deutschen Jobwunders.

Und die andere Welt sieht in dem Grundsicherungssystem des SGB II die Wurzel des Üblen, eine Entrechtung und Verarmung der Menschen – und es sind derzeit sechs Millionen Menschen, die am Tropf der Hartz IV-Leistungen hängen müssen. Hartz IV ist hier weit mehr als nur eine Chiffre für den Sozialabbau in Deutschland.

Eines kann man an dieser Stelle mit Sicherheit sagen – die Sozialdemokratie, unter deren Kanzlerschaft die „Hartz-Gesetze“ verabschiedet worden sind, hat sich bis heute nicht von diesem sozialpolitischen Paradigmenwechsel erholen können. Nicht nur zahlreiche damalige Mitglieder, auch viele Wähler haben es der SPD bis heute nicht verziehen, was unter dem Dach der „Agenda 2010“ an einschneidenden Maßnahmen vollzogen wurde. Dieser Hintergrund und der mittlerweile in harten Wählerzahlen beobachtbare Niedergang der Sozialdemokratie in Verbindung mit dem Aufstieg der AfD sensibilisiert für solche Meldungen: Hartz IV muss weg, so Susanne Bonath: »SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung fordert Abkehr vom Sanktionsregime. Agenda 2010 habe Aufstieg der Rechten befördert.«

Bonath führt in ihrem Artikel aus: »Laut Befragungen wählten bei der Bundestagswahl im vergangenen Jahr 21 Prozent der Arbeiter und sogar 22 Prozent der Erwerbslosen die AfD. Dazu zog jüngst die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in einer Publikation unter dem Titel »Angst im Sozialstaat« Bilanz. Das Ende 2017 vorgestellte und medial weitgehend unbeachtet gebliebene Papier hat es in sich: Die Agenda 2010 gleiche einer »institutionellen Angstmobilisierung«. Sie habe massiv minderheitenfeindliche Tendenzen und den Aufstieg rechtspopulistischer Kräfte befördert, konstatieren die Autoren Sigrid Betzelt und Ingo Bode.

Mit Hartz IV habe die Politik systemische Risiken individualisiert, heißt es. Das System bedrohe Lohnabhängige bis weit in die Mitte der Gesellschaft. Der Verlust des Arbeitsplatzes oder Krankheit gefährdeten den gesamten bis dahin erarbeiteten Lebensstandard. Betroffene passten sich einerseits vermehrt an. Andererseits entstehe Kontrollverlust und Wut … Betzelt und Bode schlagen eine Abkehr von Hartz IV und ein Zurück zur »kollektiven Absicherung« vor.«

Das lässt aufhorchen und es bietet sich an, einen Blick in das Original zu werfen. Dabei handelt es sich um diese Veröffentlichung:

Sigrid Betzelt und Ingo Bode (2017): Angst im Sozialstaat – Hintergründe und Konsequenzen, Bonn: Friedrich-Ebert-Stiftung, 2017

Die beiden Autoren illustrieren ihre These von einer „Angstspirale“ beispielhaft an der doppelten Dynamik der Angstmobilisierung durch „Reformen“ am Arbeitsmarkt und in der Alterssicherung. Hier interessieren natürlich besonders die Ausführungen zum Thema „Hartz IV“:

Zunächst weisen die beiden darauf hin, dass die damaligen öffentlichen Diskurse mit Drohungen durchsetzt waren: »Symptomatisch ist die berühmte Agenda-Rede von Kanzler Schröder im Bundestag: „Entweder wir modernisieren oder wir werden modernisiert, und zwar von den ungebremsten Kräften des Marktes, die das Soziale beiseite drängen“ (Schröder, 14.3.2003). Die Drohkulisse bestand in künftig noch größeren Wohlstandsverlusten im Fall von Reformverweigerung. Dies wurde durch eine Medienkampagne begleitet, die Leistungsmissbrauch anprangerte und durch die damit verbundene (verschärfte) Delegitimierung des Arbeitslosigkeitsstatus letzteren besonders bedrohlich gemacht hat. Stigmatisierung wird hier zu einem zusätzlichen „Angstfaktor“.«

Betzelt und Bode identifizieren eine „institutionelle Angstmobilisierung“ in mehrfacher Hinsicht:

  • Die Abkehr von der Statussicherung durch ein schnelleres Verwiesensein auf bedarfsgeprüfte Leistungen nach Sozialgesetzbuch II (SGB II – „Hartz IV“) und eine verschärfte Zumutbarkeit von Jobs provozieren Ängste vor einem schneller als bislang eintretenden Absturz in ein Dasein auf dem Existenzminimum. Diese Gefahr wird bei hoher Arbeitslosigkeit akuter und ist damit teils konjunkturell beeinflusst – gleichwohl erfasst sie auch vergleichsweise gut gesicherte Normalbeschäftigte …
  • Die Grundsicherung nach SGB II ist verbunden mit starken Eingriffen in die Privatsphäre, bezüglich der Offenlegung aller Einkommen und Vermögen, der privaten Lebensumstände, der Größe und Kosten für die Wohnung, bis hin zur Zuweisung (potenziell) aller Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft in Maßnahmen oder Beschäftigungsverhältnisse – und zwar ohne (verbriefte) Mitspracherechte. Das hohe Maß an Fremdbestimmung ist mit Kontrollverlust verbunden und daher potenziell angstauslösend.
  • Wechselnde Zuständigkeiten im Jobcenter oder der Arbeitsagentur und weite, von den „Kund_innen“ undurchschaubare Ermessensspielräume der Sachbearbeiter_innen bergen das Risiko willkürlicher Entscheidungen. Dies verstärkt das (bedrohliche) Gefühl von Kontrollverlust bei bestehendem Anpassungsdruck an (ggf. wechselnde) Erwartungen.
  • Ein deregulierter Arbeitsmarkt setzt „atypisch“ Beschäftigte permanent unter Druck, im Hamsterrad wechselnder, niedrig entlohnter Jobs mitzuhalten, oft ohne Aussicht auf einen Aufstieg in bessere Beschäftigung. Dabei kann die Angst vor dem stigmatisierten Grundsicherungsbezug zum ständigen Begleiter werden – was angesichts allgemein volatilerer Arbeitsmärkte auch für viele Normalbeschäftigte gilt …

Betzelt und Bode weisen darauf hin, dass die Befunde hinsichtlich der subjektiven Verarbeitung überwiegend auf „Konformismus und Lethargie, aber auch … negative Emotionen gegenüber Dritten“ hinweisen:

  • Arbeitslose und „Hartzer“ verarbeiten Angstmobilisierung teils durch Selbststigmatisierung und Scham, teils auch durch die Nichtinanspruchnahme von Leistungen: Lieber schlägt man sich ohne ggf. erniedrigende Interventionen eines Jobcenters durch und nimmt dafür ökonomische Härten in Kauf …
  • Normalbeschäftigte passen sich stärker an vorgefundene Arbeitsbedingungen an, ihre Konzessionsbereitschaft hat zugenommen; zugleich grenzen sich nicht Wenige gegen Menschen mit niedrigerem Sozialstatus (wie Arbeitslose) ab.
  • Im „Prekariat“ dominiert das Treten im Hamsterrad, um den Absturz nach „ganz unten“ zu vermeiden; hier erscheinen Abgrenzungstendenzen nach unten, z.B. gegenüber den „Hartzern“, besonders markant.

Soweit die Diagnostik, die auch aus vielen anderen Studien bekannt und vielfach belegt ist – man denke hier nur beispielhaft an die hohen Werte der „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ gegenüber Langzeitarbeitslosen, die in den Studien von Heitmeyer et al. dokumentiert sind, obgleich man bei Befragungsstudien wie immer aufpassen muss, was da wie gemessen wird, vgl. als ein Beispiel für eine kritische Sichtweise Ein Begriff macht Karriere: „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“.

Was tun? Hierzu finden wir bei Betzelt und Bode (2017) die folgenden Hinweise:

»Zunächst ist unwahrscheinlich, dass die skizzierten Angstdynamiken durch eine Korrektur der „schlimmsten Grausamkeiten“, z. B. durch ein paar Monate längere Bezugsdauer von Arbeitslosengeld oder „verbesserte“ Anreize bei der kapitalgedeckten Altersvorsorge, verschwinden.« Diese These ist ein echtes Problem für die Kräfte in der SPD, die glauben, durch eine Politik der kleinen und kleinsten Verbesserungen am und im bestehenden System könnte man bei den Menschen (wieder) Punkte sammeln.

Und auch gegenüber einem weiteren Lieblingskind innerhalb der Sozialdemokratie werden Vorbehalte vorgetragen:
»Auch ergibt sich Zukunftssicherheit nicht automatisch aus (sozialen) Investitionen in Bildung und Infrastruktur, so wünschenswert diese auch sein mögen. Wer das Engagement des Sozialstaats ökonomisch verkürzend als „Investitionen“ verkauft, befeuert die Unsicherheitsgefühle jener, die als nicht förderungswürdig (weil unrentabel) erscheinen oder antizipieren, dass sie, nachdem die „Investition“ getätigt ist, dem freien (und zusehends raueren!) Spiel der Marktkräfte ungeschützt ausgesetzt werden.«

Wie also lautet die Empfehlung der beiden Wissenschaftler?

»Nur eine konsequente Abkehr vom Prinzip des individuellen Risikomanagements mit all seinen verängstigenden Folgen (eines möglichen Scheiterns) kann die Angstspirale durchbrechen. Anstatt nur auf der Klaviatur der „Angebotssozialpolitik“ zu spielen, bedarf es also des politischen Muts, für „traditionelle“ kollektive Absicherungen und nachhaltige Armutsbekämpfung einzutreten, u.a. durch Maßnahmen, die systematisch für eine egalitärere (auch Primär-)Einkommensverteilung sowie die Eindämmung prekärer Beschäftigung sorgen. Mit anderen Worten: Die im neoliberalen Zeit- alter angezogenen Daumenschrauben der Re-Kommodifizierung wären zu lockern, die Bürger_innen stärker von Marktzwängen zu entlasten.«

Dann hört der Text auf. »Über sozialpolitische Konsequenzen kann an dieser Stelle nur kursorisch reflektiert werden«, so die vorsorgliche Entschuldigung der beiden Verfasser in ihrem Papier. Aber richtig spannend würde es natürlich werden, wenn man der Frage nachgeht, wie das denn wenigstens etwas genauer aussehen könnte.

Die beiden plädieren »für „traditionelle“ kollektive Absicherungen und nachhaltige Armutsbekämpfung einzutreten«. Vielleicht soll damit a) eine Abgrenzung von modern daherkommenden Konzepten wie dem bedingungslosen Grundeinkommen semantisch angedeutet werden und b) möglicherweise meinen die beiden solche Vorstöße wie die Ausführungen von Dierk Hirschel von der Gewerkschaft Verdi: Der deutsche Irrweg. Die Ursachen der Lohnschwäche sind Deregulierung und Sozialabbau: »In den letzten Jahrzehnten gerieten die Gewerkschaften immer mehr unter Druck. Heute ist nicht einmal jeder fünfte Arbeitnehmer organisiert. Verdi, IG Metall & Co. verhandeln nur noch für drei von fünf Beschäftigten … Die Schröder-Regierung entwertete und entgrenzte mit der Agenda 2010 menschliche Arbeit. Die Deregulierung des Arbeitsmarktes und der Umbau der sozialen Sicherungssysteme fluteten das Land mit billigen und unsicheren Jobs. Die Drohung mit dem Hartz-IV-Armutskeller machte die Belegschaften erpressbar. Dieser größte Sozialabbau der Nachkriegsgeschichte unterhöhlte die Tarifverträge und entkräftete die Gewerkschaften.« Soweit die Diagnose, die sicher anschlussfähig ist an die Ausführungen von Batzelt und Bode. Und was schlussfolgert Hirschel nun daraus?

»Wenn die Löhne stärker steigen sollen, muss sich die Machtbalance in der Arbeitswelt verändern. Hier sind zuerst die Gewerkschaften am Zug. Sie müssen gewerkschaftsfreie Zonen erschließen und die Ränder des Arbeitsmarktes besser organisieren, um ihre Macht auszubauen.

Sehr große Verantwortung trägt die Politik. Die nächste Regierung muss den Arbeitsmarkt neu ordnen. Zunächst sollte das Tarifsystem gestärkt werden. Tarifverträge müssen so lange nachwirken, bis ein neuer Vertrag an ihre Stelle tritt. Zudem sollten Tarifverträge leichter allgemein verbindlich erklärt werden können. Ferner muss reguläre Beschäftigung gefördert, prekäre Jobs diskriminiert und gleiche Arbeit gleich bezahlt werden. Der Mindestlohn sollte vorübergehend stärker erhöht werden als die Tariflöhne. Der Arbeitszwang muss durch eine Reform der Hartz-Gesetze abgeschwächt werden.«

Über diese Forderungen kann man streiten – aber man könnte wenigstens streiten. Man wird abwarten müssen, was die nun doch scheinbar auf die Schiene gesetzte Neuauflage der (mit nur etwas über 50 Prozent gar nicht mehr so großen) Große Koalition in diesem Feld vereinbaren wird und ob überhaupt.

Österreich auf der Hartz IV-Rutsche: Aus der befürchteten wird eine reale schiefe Ebene und die Beruhigungspillen werden wieder eingesammelt

Die neue österreichische Bundesregierung beginnt mit der Demontage des Sicherungssystems bei Arbeitslosigkeit. Im letzten Beitrag des Jahres 2017 in diesem Blog wurde das bereits beschrieben: Go Austria, Hartz. Was für eine Bescherung: Kurz IV (31.12.2017). »ÖVP und FPÖ planen bei Arbeitslosen einen Paradigmenwechsel. Es sieht danach aus, dass ein System wie Hartz IV in Deutschland eingeführt wird«, so Christian Höller in seinem Artikel ÖVP und FPÖ: Jetzt kommt Hartz IV. Wir haben eine mit der deutschen Situation vor den „Hartz-Reformen“ durchaus vergleichbare Situation: Derzeit erhalten Menschen in Österreich, die arbeitslos werden und bestimmte Voraussetzungen erfüllen, für mindestens 20 Wochen Arbeitslosengeld. Der Grundbetrag macht 55 Prozent des früheren Nettoeinkommens aus, eventuell erhöht durch Familienzuschlag und Ergänzungsbeitrag. Wer nach Auslaufen des Arbeitslosengeldes noch keinen Job hat, kann die Notstandshilfe beantragen. Diese beträgt maximal 95 Prozent des vorher bezogenen Grundbetrags des Arbeitslosengeldes. Die Notstandshilfe wird grundsätzlich ein Jahr lang gewährt, kann aber immer wieder verlängert werden. Langzeitarbeislose können die Notstandshilfe sehr lang beziehen. Genau das soll künftig nicht mehr möglich sein.
Die „Notstandshilfe“ soll nun gestrichen werden – und die Betroffenen wären dann auf die bedarfsorientierte Mindestsicherung (BMS) verwiesen, die aber deutlich restriktiver ausgestaltet ist.

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Go Austria, Hartz. Was für eine Bescherung: Kurz IV

Während Deutschland noch auf den Beginn von irgendwelchen Koalitionsverhandlungen wartet und darüber nachdenken kann, welche Vorteile eine regierungslose Zeit hat (beispielsweise keine halbgaren oder sogar das bestehende Durcheinander potenzierende sozialpolitische Gesetzgebung erdulden zu müssen), haben die Nachbarn in Österreich nicht nur nach uns gewählt, sondern mittlerweile auch eine neue Regierungskoalition aus ÖVP und FPÖ bekommen. Wobei die alte Tante ÖVP für den Wahlkampf kurzerhand in „Liste Sebastian Kurz“ umgespritzt wurde und jetzt als „Neue Volkspartei“ firmiert. Namen werden halt immer beliebiger und auf das reduziert, was sie sind: Marketing-Instrumente. Nun soll es in diesem Beitrag nicht um eine generelle Einordnung der seit dem 18. Dezember 2017 im Amt befindlichen neuen Bundesregierung gehen, die von vielen Beobachtern vor allem angesichts der Regierungsbeteiligung der FPÖ mehr als kritisch gesehen wird. Sondern hier soll es um die Frage gehen, ob und in welcher Form die Österreicher ein Modell aus Deutschland importieren, dass hier bei uns mehr als umstritten ist, um das mal vorsichtig zu formulieren. Anders gesagt: Ist die österreichische Sozialpolitik auf dem Weg in einen Hartz IV-Staat? 

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Zwischen Verschiebebahnhof und einer der GKV fremden gruppenbezogenen Risikoäquivalenz: „Teure“ Hartz IV-Bezieher in der Krankenversicherung mit einer großen „Deckungslücke“

Wie so oft in der sozial- und hier besonders der gesundheitspolitischen Diskussion reden wir über Geld, über richtig viel Geld. Es geht um Milliarden, die man hat oder eben nicht. Und wenn man die nicht hat, vor allem dann nicht, wenn sie einem vorenthalten werden, gibt es große Anreize, diesen Tatbestand öffentlich zu machen, am besten nach dem etablierten Muster „Eine Studie hat ergeben …“, so dass man daraus und der sich anschließenden Berichterstattung Druck aufbauen kann, politische Weichenstellungen zu korrigieren. Diese Vorbemerkungen müssen sein, wenn man solche Schlagzeilen zur Kenntnis nehmen muss, deren Impulsgeber in dieser Meldung zu finden ist: Bund erstattet Krankenkassen Milliarden zu wenig, so die FAZ:

»Ein neues Gutachten zeigt, dass die Bundesregierung den Krankenkassen jedes Jahr fast zehn Milliarden Euro weniger zahlt, als diese für Hartz-IV-Bezieher ausgeben … Demnach decken die Überweisungen des Staates an die Kassen nur 38 Prozent der dort anfallenden Ausgaben für ALG-II-Bezieher, Aufstocker und Arbeitslose. Die Unterdeckung belaufe sich auf 9,6 Milliarden Euro im Jahr. Statt der bezahlten knapp 100 Euro sei eigentlich ein Betrag von bis zu 290 Euro je Hilfebezieher und Monat nötig, um deren Kosten auszugleichen.«

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Hartz IV-Empfänger und ihre Kinder zwischen Pfennigfuchserei und den wahren Kosten der Schulbücher. Aber nicht nur die

Es ist mehr als aufschlussreich für eine Bewertung der Verfasstheit des deutschen Grundsicherungssystems, wenn man sich die Fälle und die Entscheidungen der Sozialgerichte in diesem Land anschaut. Dann wird man regelmäßig Zeuge, um welche – scheinbaren – Kleinigkeiten dort teilweise erbittert gestritten wird. Dahin der stecken aber nicht selten fundamentale Probleme, die weit über einen konkreten Geldbetrag hinausreichen. Und zur fundamentalen Kritik am bestehenden Hartz IV-System gehört die seit langem vorgetragene Klage, dass gerade den Kindern und Jugendlichen keine ausreichende Leistungen gewährt werden. Das betrifft vor allem die Regelleistungen, die von denen der Erwachsenen abgeleitet werden sowie die zwischenzeitlich entstandene Landschaft an begrenzten Sonderleistungen. Dazu gehört das höchst fragwürdige „Bildungs- und Teilhabepaket“, aus dem dann beispielsweise Zuschüsse für Sportvereine oder den Musikunterricht gezahlt werden können (die berühmten 10 Euro pro Monat), wenn auch in sehr überschaubarer Größenordnung und verbunden mit einem abenteuerlichen Verwaltungsaufwand. Und ein Teil der „Bedarfe für Bildung und Teilhabe“ nach § 28 SGB II ist die sogenannte Schulbedarfspauschale (§ 28 Abs. 3 SGB II).

Schaut man sich den entsprechenden Gesetzestext an, dann stößt man auf diese Formulierung:

»Für die Ausstattung mit persönlichem Schulbedarf werden bei Schülerinnen und Schülern 70 Euro zum 1. August und 30 Euro zum 1. Februar eines jeden Jahres berücksichtigt. Abweichend von Satz 1 werden bei Schülerinnen und Schülern, die im jeweiligen Schuljahr nach den in Satz 1 genannten Stichtagen erstmalig oder aufgrund einer Unterbrechung ihres Schulbesuches erneut in eine Schule aufgenommen werden, für den Monat, in dem der erste Schultag liegt, 70 Euro berücksichtigt, wenn dieser Tag in den Zeitraum von August bis Januar des Schuljahres fällt, oder 100 Euro berücksichtigt, wenn dieser Tag in den Zeitraum von Februar bis Juli des Schuljahres fällt.«

Es geht also um 100 Euro pro Schuljahr. Das Deutsche Institut für Jugendhilfe und Familienrecht (DIJuF) hatte dazu 2013 in der Stellungnahme Bildung und Teilhabe für Kinder und Jugendliche nach SGB II: eine Strukturkritik ausgeführt:

»Ebenfalls keine neue Leistung ist die Ausstattung mit persönlichem Schulbedarf nach Abs. 3 dieser Vorschrift. Sie wurde als Einmalleistung bereits im Jahr 2008 eingeführt (§ 24a SGB II aF). Hierzu werden für die Schüler/innen 70 EUR zum 1. August und 30 EUR zum 1. Februar eines jeden Jahres finanziell berücksichtigt. Die Pauschale für Kosten für den persönlichen Schulbedarf wird zusammen mit dem Regelsatz an die Berechtigten überwiesen (§ 29 Abs. 1 S. 2 SGB II). Das Verfahren ist im Verhältnis zu den anderen Leistungen des § 28 SGB II als unbürokratisch zu loben; Überschneidungen mit anderen Systemen bestehen nicht. Kritisiert wird allerdings, dass die Höhe des Betrags nicht empirisch ermittelt ist und dass diese Pauschale in ihrer Höhe nicht an steigende Lebenshaltungskosten angepasst wird.«

Beide Kritikpunkte sind zutreffend. So ist die Leistung heute, am Ende des Jahres 2017, immer noch auf die zitierten Beträge begrenzt und die 100 Euro erscheinen nicht nur willkürlich, sie sind es auch. Diese Pauschale steht neben anderen Leistungen nach § 28 SGB II, wie die Erstattung der tatsächlichen Kosten für Schulausflüge und Klassenfahrten, die Schülerbeförderung, Leistungen zur „angemessenen“ Lernförderung sowie die Mittagsverpflegung.

Nun hat das niedersächsische Landessozialgericht in Celle eine wichtige Entscheidung getroffen: Schulmaterial-Kosten: Teilerfolg für Kläger, so ist ein Bericht des NDR dazu überschrieben:

»Jobcenter müssen für Familien, die Hartz IV beziehen, die Kosten für Schulbücher übernehmen. Das hat das Landessozialgericht in Celle am Montag entschieden. Es sei eine Pionierentscheidung, so ein Gerichtssprecher. Das Gericht habe festgestellt, dass die Kosten für Schulbücher nicht durch die sogenannte Schulbedarfs-Pauschale erfasst seien. Betroffene müssten jahrelang sparen, um sich die Schulbücher für ein Schuljahr leisten zu können. Sie seien daher als separate Leistung von Jobcenter zu tragen. Damit haben drei Oberstufen-Schülerinnen und ihre Eltern aus den Landkreisen Lüneburg, Nienburg und Hildesheim einen Teilerfolg erzielt.«

Warum Teilerfolg? »Die Schülerinnen hatten außerdem geklagt, weil die Jobcenter die Kosten für grafiktaugliche Taschenrechner nicht tragen. In diesen Fällen urteilte das Landessozialgericht aber anders: Die Taschenrechner müssten nicht jedes Jahr neu gekauft werden. Die Ausgaben dafür decke die Pauschale deshalb ab.«

Hintergrund der Klage war, dass die Schülerinnen für Materialien insgesamt bis zu 330 Euro hatten ausgeben müssen. Aus dem Schulbedarfspaket stehen Familien aber lediglich 100 Euro pro Schuljahr und Kind zu.

Marco Carini hat seinen Artikel zu dieser neuen Entscheidung so überschrieben: Hartz IV auf dem Prüfstand: Gericht muss tricksen. Denn das Urteil, das die Jobcenter dazu verpflichtet, die Kosten für Schulbücher zu übernehmen, steht auf tönernen Füßen. Es gäbe eine „Rechtslücke“, möglicherweise seien die entsprechenden Passagen des Sozialgesetzbuches (SGB) II, die die Ansprüche von Hartz-IV-Empfängern regeln, nicht verfassungskonform. Das LSG in Celle spricht von einer „offenkundigen Unterdeckung“ der Hartz-IV- und Schulpaketleistungen. „Schulbücher sind aus dem Regelsatz nicht zu bestreiten“, bringt es Gerichtssprecher Carsten Kreschel auf den Punkt. Die Teile des SGB II, die diesen Missstand zementieren, sind nach Auffassung der Celler Richter nicht verfassungsgemäß.

»Um eine verfassungsgemäße Auslegung möglicherweise verfassungswidriger Gesetzesvorschriften zu erreichen, musste das Gericht tricksen, die Schulbücher als „Mehrbedarf“ anerkennen, obwohl der Mehrbedarfs-Paragraf des SGB II juristisch auf den zu entscheidenden Fall nicht passt. Diese „Gesetzeslücke“ veranlasste die Richter dazu, den Beklagten dringend zu empfehlen, Revision vor dem Bundessozialgericht in Kassel einzulegen, um eine Grundsatzentscheidung herbeizuführen – ein Urteil, das dann möglicherweise Gesetzesänderungen nach sich zieht. Eventuell sei sogar eine Vorlage vor dem Bundesverfassungsgericht notwendig.«

Bei den angesprochenen Mehrbedarfs-Paragraf handelt es sich um den § 21 SGB II. Es wird spannend sein zu verfolgen, ob das bis ganz nach oben getrieben wird, wie sich das die Richter offensichtlich wünschen.

Hinsichtlich der festgestellten Unterdeckung durch die Schulbedarfspauschale können sich die Richter auf eine Studie aus dem Sozialwissenschaftlichen Institut der Evangelischen Kirche Deutschlands (SI) berufen (vgl. dazu Andreas Mayert: Schulbedarfskosten in Niedersachsen. Eine Studie des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD, Hannover 2016). Dort wurde bilanziert:

»Schlussfolgerung der Berechnungen ist …, dass die Leistung zur Ausstattung mit persönlichem Schulbedarf von 100 € in Niedersachsen nicht annähernd bedarfsdeckend ist. Die durchschnittliche Deckungslücke des Schulbedarfspakets beträgt pro Schuljahr unter Einbezug aller Schulformen 53 €. In Schuljahren mit besonderen Belastungen (Einschulung, Jahrgangsstufe 5) übersteigt sie 150 €.«

Man könnte jetzt auf die im System naheliegende Schlussfolgerung kommen, dass die Pauschalbeträge angepasst werden müssen – zur Not über den Zwang höchstrichterlicher Rechtsprechung. Die Diakonie Niedersachsen plant eine Musterklage gegen die bisherige Pauschale. Vier Familien hätten schon ihre Bereitschaft signalisiert.

Sofort aber stellen sich Folgefragen: Was ist denn mit den Eltern, die mit ihrem Einkommen knapp oberhalb der Hartz IV-Schwelle liegen? Warum müssen die alleine sehen, wie sie klar kommen? In diese Richtung wird dann auch der Landeseltenrat Niedersachsen zitiert, denn »nicht nur für Familien, die Sozialleistungen beziehen, wird es finanziell oft eng, wenn es darum geht, Schulmaterialien zu beschaffen. Auch Normal- und Geringverdiener könnten bei den mittlerweile anfallenden Kosten überfordert werden, warnt der Landeselternrat. Er geht davon aus, dass Eltern in manchen Schuljahren inzwischen mehr als 700 Euro etwa für Klassenfahrten, Taschenrechner und Theaterbesuche zahlen.«
Schulbildung ist eben doch nur relativ kostenlos.