Das Kreuz mit der Praxis vor Ort und dem Nicht-Lernen aus vergangenen Desastern. Flüchtlingsunterkünfte und ihr „Sicherheitspersonal“

Beamen wir uns zurück in den September des vergangenen Jahres. Am Ende dieses Monats wurde in diesem Blog der Beitrag Schutzlos gegenüber denen, die schützen sollen? Vorwürfe gegen private Flüchtlingsheimbetreiber. Und bodenloser Zynismus eines Bürokraten veröffentlicht. Der Hintergrund: Über Vorwürfe, dass es Übergriffe seitens derjenigen, die eigentlich zum Schutz der Menschen da sein sollen, gegeben hat, berichtet das Politikmagazin „Westpol“ (WDR-Fernsehen) in seinem Beitrag Misshandlungen und zu wenig Personal: Vorwürfe gegen privaten Flüchtlingsheimbetreiber in der Sendung am 28.09.2014. Zum Sachverhalt:

»In nordrhein-westfälischen Flüchtlingsheimen soll es zu gewalttätigen Übergriffen des Wachdienstes gekommen sein. Asylbewerber aus einem Flüchtlingsheim in Essen berichten gegenüber Westpol von Prügelattacken und Demütigungen. Westpol liegt außerdem ein ärztliches Attest eines Flüchtlings vor, in dem Verletzungen dokumentiert werden. Auch in einer Unterkunft in Burbach soll es zu Übergriffen des Wachdienstes auf Flüchtlinge gekommen sein. Beide Flüchtlingsunterkünfte werden von der Firma European Homecare betrieben. Das Unternehmen ist einer der größten Betreiber von Flüchtlingsunterkünften in Deutschland. Allein in Nordrhein-Westfalen betreibt es sechs der zentralen landesweiten Erstaufnahmeeinrichtungen.«

Das Unternehmen European Homecare hat seinen Sitz in Essen und wurde 1989 für den Betrieb von Wohnheimen für Asylbewerber und Flüchtlinge gegründet.

Zu diesem Unternehmen berichtete damals das Politikmagazin Westpol weiter:

European Homecare hält sich nach WESTPOL-Recherchen außerdem nicht an die vom Land geforderten und vertraglich vereinbarten Standards für den Betrieb von Flüchtlingswohnheimen. In der Erstaufnahmeeinrichtung in Schöppingen gibt es zu wenig qualifiziertes Personal vor. Es fehlt an Psychologen, Erziehern und Sozialpädagogen. Das räumt European Homecare selbst gegenüber WESTPOL ein, und verweist auf den Anstieg der Flüchtlingszahlen. Auf die Frage, ob European Homecare die vorgeschrieben Standards und den Personalschlüssel im Moment einhalten kann, antwortet Renate Walkenhorst, Pressesprecherin von European Homecare, gegenüber WESTPOL: „Nein, klares Nein. In dieser Notsituation können wir das nicht.“

»Die Übergriffe auf Flüchtlinge wurden nun aber nicht direkt von Mitarbeitern des Unternehmens European Homecare verübt, sondern von Mitarbeitern der privaten Wachfirma SKI, die als Subunternehmen eingesetzt wurde. Doch European Homecare fällt nicht zum ersten Mal auf. Im Jahr 2003 geriet das Unternehmen in Österreich in die Schlagzeilen, durch Übergriffe im Flüchtlingslager Traiskirchen bei Wien. Der Traiskirchener Bürgermeister Fritz Knotzer kritisierte die Zustände in der Flüchtlingsunterkunft scharf: „Seit der Privatisierung der Flüchtlingsbetreuung im Lager sind Gewalt, Totschlag, Vergewaltigung und Korruption an der Tagesordnung. Es ist ein einziges Chaos.“ Deutlicher geht es nicht«, so die Darstellung in dem Beitrag Überforderte Kommunen, überbelegte Unterkünfte, ein Staat, der sich betroffen zeigt von den erwartbaren Folgen der eigenen Abmagerung, aber auch Beispiele, dass es anders gehen kann vom 29.09.2014 in diesem Blog.

Das Unternehmen European Homecare geriet nach der Berichterstattungswelle in den Medien unter erheblichen Druck. Und man sollte meinen, dass die politischen Verantwortungsträger daraus gelernt haben. Aber das war im September und Anfang Oktober 2014. Heute befinden wir uns am Ende des Monats April 2015 und die Welt sieht dann etwas anders aus.

»Nach dem Skandal um von Wachmännern misshandelte Asylbewerber ist Essen die neue Sicherheitsfirma zu teuer. Pikant: Das Unternehmen gehört der Stadt«, so beginnt ein Artikel von Helke Ellersiek unter der Überschrift Essen ist sich selbst zu teuer. Und das alles hat zu tun mit – European Homeacre, der Protagonist aus dem vergangenen Jahr. Wir werden, wenn man den Beitrag liest, Zeuge des Mechanismus, schnell irgendwie reagieren und dann wieder zurückzufallen auf Start. Zum Sachverhalt:

»Nicht einmal ein Jahr nach dem Skandal um die Asylheime in NRW sind der Stadt Essen die Sicherheitskosten für die Bewohner nun zu teuer geworden. Die Stadt forderte den privaten Betreiber European Homecare Anfang des Jahres auf, sich eine günstigere Sicherheitsfirma für ihre Behelfsunterkünfte zu suchen. Homecare will deshalb den aktuellen Dienstleister RGE im Mai durch die billigere Stölting Holding ersetzen und hat bereits die Kündigungen verschickt.«

Das hat deswegen eine pikante Note, weil man wissen muss, dass die RGE gänzlich der Stadt Essen selbst gehört: Damit ist der Stadt ihr eigener Dienstleister zu teuer. Bis zu 60 Mitarbeitern der RGE droht nun die Kündigung zum 30. April 2015.
Und es gibt schon erhebliche Unterschiede zwischen der städtischen Tochter RGE und der Ersatzlösung Stölting:

»RGE bildet seine Mitarbeiter drei Jahre zur Fachkraft für Schutz und Sicherheit aus, sie erhalten einen Stundenlohn von 11,84 Euro. Die Mitarbeiter der Stölting hingegen absolvieren nur eine kurze Sachkundeprüfung. Ihr Lohn beträgt 9,35 Euro.«

Und wir erfahren noch einiges mehr:

»Die zuletzt von European Homecare beauftragte Wachfirma SKI stand im Oktober vergangenen Jahres wegen Misshandlungen der Bewohner in der Kritik. Die seither zuständige RGE war bisher nie negativ aufgefallen – im Gegensatz zur privaten Nachfolgerin Stölting Holding, die von Verdi wegen unregelmäßiger Lohnabrechnungen kritisiert wird. Außerdem verhindere sie die Bildung von Betriebsräten.«

Auch der Bundesverband der Sicherheitswirtschaft kritisiert die Kündigung, berichtet Helke Ellersiek in ihrem Artikel. Die aktuellen Vorgänge in Essen würden zeigen, dass „besonders öffentliche Auftraggeber nichts aus den Geschehnissen gelernt“ hätten. Der Verband hatte in der Vergangenheit schon betont, dass eine qualifizierte Betreuung, wie sie in Asylbewerberheimen nötig ist, „nicht zum Mindestlohn“ erfolgen könne. Der Kostenaspekt dürfe nicht maßgeblich bei der Vergabe der Aufträge sein: Sicherheit sei keine Ware wie jede andere.

Wohl wahr.

Vom Sparen am falschen Ende und einer „vorsätzlichen Gesellschaftsgefährdung“. Es geht um Sprach- und Integrationskurse für Asylbewerber und „Menschen mit einem dauerhaften oder befristeten Aufenthaltstitel“

Wer kennt das nicht, den Widerspruch zwischen Theorie und Praxis? Wir haben zahlreiche Menschen, die zu uns gekommen sind und von den viele auch längere Zeit, vielleicht sogar für immer hier bleiben werden. Und wir nehmen nicht erst seit einem Jahr Flüchtlinge auf, wir haben jahrzehntelange Erfahrungen mit der Zuwanderung von Menschen aus anderen Ländern, mit einer anderen Sprache, aus anderen Kulturen und teilweise auch ganz anderen religiösen Prägungen. Und wenn man in vielen Dingen unterschiedlicher Auffassung sein kann – eines haben diese Erfahrungen doch teilweise sehr schmerzhaft ans Tageslicht gefördert: Ein Schlüssel für einen möglichst konfliktarmen Umgang mit größeren Zuwanderungswellen ist eine möglichst gelingende Integration in das lokale Gemeinwesen und in den Arbeitsmarkt. Gerade hier hat sich die ehemals primär auf Abschreckung ausgerichtete „Ausländerpolitik“ in den vergangenen Jahren Schritt für Schritt hin zu einer Öffnung im Sinne der gut begründeten Leitlinie einer möglichst schnellen Integration der Asylsuchenden in den Arbeitsmarkt – statt ihre teilweise jahrelange Exklusion wie in der Vergangenheit – bewegt. Seit November 2014 dürfen Asylsuchende unter bestimmten Voraussetzung schon nach drei Monaten Aufenthalt in Deutschland arbeiten (allerdings gibt es in der Praxis ganz erhebliche Schwierigkeiten bei der Umsetzung der grundsätzlichen Arbeitserlaubnis, denn die bildet lediglich einen „nachrangigen Arbeitsmarktzugang“ für Flüchtlinge ab, vgl. hierzu beispielsweise den Artikel über die Situation in Berlin: Asylbewerber und Firmen verzweifeln gemeinsam am Gesetz). Unabhängig von diesen Querelen: Halbwegs ausreichende Sprachkenntnisse gelten als zentrale „Eintrittskarte“ in den Arbeitsmarkt.

Selbstverständlich ist es unabdingbar, dass die Betroffenen in der Lage sind, sich auch sprachlich in unserer Gesellschaft zu bewegen, mit den Menschen aus dem Aufnahmeland zu kommunizieren und einen Job anzunehmen. Wer kann das heute noch bestreiten? Aber das Lernen der deutschen Sprache fällt nicht vom Himmel, sondern man muss das – wie auch die gesellschaftlichen Werte und die Umgangsformen in unserer Gesellschaft – vermittelt bekommen. Genau dazu gibt es Sprach- und Integrationskurse. Also eigentlich.

Denn unter der trockenen Überschrift Geld für Deutschkurse fehlt berichtet Thomas Öchsner in der Süddeutschen Zeitung, »obwohl die Zahl der Asylsuchenden steigt, steht für entsprechende Sprachkurse immer weniger Geld zur Verfügung. Auch bei Integrationskursen für in Deutschland lebende Ausländer sieht die Bundesagentur für Arbeit … erhebliche Finanzierungslücken.«

Um wen geht es hier besonders? Sie kommen aus Syrien, Afghanistan oder dem Irak und dürfen hier bleiben, obwohl ihr Asylantrag vergeblich war. Ende 2014 lebten 533.000 abgelehnte Asylsuchende in Deutschland, 85 Prozent von ihnen haben „einen dauerhaften oder zumindest befristeten Aufenthaltstitel“, so die Bundesregierung. Und in Zukunft dürften es noch weit mehr werden. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) rechnet für das laufende Jahr mit 300.000 neuen Asylsuchenden, einige Bundesländer halten das für eine Untertreibung und gehen von bis zu 500.000 neuen Asylbewerbern aus. »Trotzdem gibt es für Deutschkurse, von denen auch Flüchtlinge profitieren können, derzeit nicht mehr, sondern weniger Geld.«
Faktisch wird gegenwärtig der Zugang von Flüchtlingen zu Deutschkursen erschwert – und wie immer muss man auch hier konstatieren: Am Gelde hängt’s:

»Erst hat die Europäische Kommission ihre Mittel aus dem Europäischen Sozialfonds (ESF) für Deutschland gekürzt. Dann hat die Bundesregierung ihr ESF-Budget für Sprachkurse von 310 auf 180 Millionen Euro für 2015 bis 2017 reduziert, ohne dass es bislang einen Ersatz aus nationalen Mitteln gibt. Geld für sogenannte „Vorschaltkurse“, der erste Schritt auf dem Weg zu Deutsch-Kenntnissen bis zur Stufe A1, ist aus diesem Topf deshalb keines mehr da. Die ESF-Mittel wolle die Bundesregierung „auf die Personen konzentrieren, die für eine Förderung berufsbezogener Sprachkenntnisse erforderlichen Grundkenntnisse der deutschen Sprache besitzen“ … Asylbewerber dürften dabei meist leer ausgehen.«

Und eine weitere beliebte Frage in unserer Geld-Gesellschaft lautet bekanntlich: Was würde es denn kosten? Die Bundesagentur für Arbeit (BA) schätzt hier die nötigen zusätzlichen Mittel in einem internen Papier auf 100 Millionen Euro pro Jahr, „um den Bedarf von allen Zugangsberechtigten sowie den Asylbewerbern und Geduldeten mit einer hohen Bleiberechtsquote zu decken“, so Öchsner in seinem Artikel.

Und nicht nur bei den Sprachkursen klemmt es:

»Auch bei den Integrationskursen für in Deutschland lebende Ausländer sieht die BA in ihrer internen Analyse, die der Süddeutschen Zeitung vorliegt, erhebliche Finanzierungslücken: Die Mittel in Höhe von 244 Millionen Euro reichten für 150.000 Teilnehmer. Zusätzlich nötig seien jährlich aber mindestens 300 Millionen Euro, um 80.000 Geduldete und 130.000 Asylbewerber mitaufzunehmen.«

Es ist vollkommen richtig, was die grüne Bundestagsabgeordnete Ekin Deligöz dazu sagt: „Es ist absurd, die Tür zum Arbeitsmarkt zu öffnen, dann aber unerlässliche Sprach- und Integrationskurse unterfinanziert zu lassen.“ Und weiter: „Wir sollten nicht die Fehler der Gastarbeiterzeit wiederholen.“

Die Bundesagentur für Arbeit bringt es in ihrer Bewertung auf den Punkt, vor allem für die, die es gerne in Geldeinheiten brauchen:

»Die Bundesagentur fürchtet enorme Folgeausgaben, wenn nichts passiert: Gebe es hier keine Lösungen, „drohen hohe Kosten für die Allgemeinheit, die Beitrags- und die Steuerzahler.“ Gelinge auf Grund fehlender Sprachkenntnisse nicht der Einstieg in den Arbeitsmarkt, sei die Alternative „häufig dauerhafter Bezug von Arbeitslosengeld II“.«

Und dann gibt es ganz sicher wieder eine Debatte über die  Asylbewerber, die eine große finanzielle „Last“ darstellen, die man den steuer- und beitragszahlenden Bürger/innen nicht mehr zumuten könne.

Fazit: Möglicherweise hat sich der Apparat verstrickt in die eigenen unübersichtlichen Finanzierungstöpfe, von denen einige gerade leer sind. Das ist aber keine Entschuldigung für ein Verhalten, das im Ergebnis nur als eine „vorsätzliche Gesellschaftsschädigung“ bezeichnet werden kann und muss. Das wird sich ohne schnelle Korrektur bald bitter rächen und wieder einmal mehr wünscht man sich ein Haftungsprinzip für Entscheidungen, die sehenden Auges gemacht werden (bzw. die man unterlässt), also wohl wissend, was man damit mittel- und langfristig anrichten wird. Aber vielleicht kommt ja noch der heilige Geist der Erkenntnis über die, die Verantwortung tragen in unserem Land.

Übrigens: Auch die aktuelle Berichterstattung ist nicht wirklich neu, schon seit längerem kann man, wenn man denn will, zur Kenntnis nehmen, was hier durch „unterlassenes Tun“ passiert und in welche Probleme wir sehenden Auges hineinlaufen. Vgl. nur als ein Beispiel meinen Blog-Beitrag Integration wollen alle. Und Integrationskurse für Migrantinnen werden gekürzt. Das passt nicht. Das gilt auch für die Existenz der pädagogischen Tagelöhner vom 27. Februar 2015. Es steht zu befürchten, dass wir es hier mit einer Fortsetzungsgeschichte zu tun haben. Leider.

Die Entsorgung der Flüchtlinge. Über das Arbeiten an einem Asyl als Fata Morgana

In Deutschland streitet man wieder – über Zahlen, Zuständigkeiten für hinter den Zahlen stehende Menschen und natürlich eigentlich über Finanzen: Bundesregierung lehnt mehr Geld für Flüchtlinge ab, so eine der vielen Überschriften aus dem föderalen Gerangel:

»Die Appelle von Ländern, Kommunen und der Opposition haben nichts gebracht: Die Bundesregierung will nicht mehr Geld ausgeben, um Flüchtlinge besser zu versorgen … Über die für 2015 und 2016 zugesagte eine Milliarde Euro hinaus werde es keine finanzielle Unterstützung geben.«

Die Bundesländer befürchten, dass der Zustrom von Flüchtlingen in diesem Jahr wegen der Krisen und Kriege in der Welt wesentlich größer wird als vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) prognostiziert. Das BAMF geht bislang für 2015 von 300.000 Asylanträgen aus. Schleswig-Holstein rechnet 2015 bundesweit mit mehr als einer halben Million Asylanträgen. Die Bundesländer wiederum stehen unter Druck ihrer Kommunen. So fordert der Deutsche Städte- und Gemeindebund: »Die Länder müssten „sofort die Zahl ihrer Erstaufnahmeeinrichtungen weiter erhöhen“, damit eine ordnungsgemäße spätere Verteilung auf die Kommunen möglich sei.« Das alles kostet Geld.

Aber die hier zum Ausbruch kommenden Verteilungskonflikte sollen gar nicht im Mittelpunkt dieses Beitrags stehen. Es geht um etwas anderes, um eine grundsätzliche, ja, um eine zivilisatorische Grundfrage der Flüchtlingspolitik. Es geht um eine – zuspitzend formuliert – „Entsorgung der Flüchtlinge“ weit vor den europäischen Festungsmauern. Und wie so oft in der Geschichte gibt es zahlreiche funktional wirkende Aspekte, die das zu einer wahrscheinlichen Variante werden lassen, wenn auch über einen längeren Prozess. Der aber schon begonnen hat und sich immer mehr in das Gebilde der Flüchtlingspolitik Europas hineinfrisst. Dabei geht es auch (aber letztendlich nicht nur, weil nur instrumentell zu verstehen) um Lagerbildung, deren erste Ausformungen bereits erkennbar sind und für deren nächsten Entwicklungsschub derzeit geworben wird auf der Sonnenseite der Welt, also bei uns. Heribert Prantl hat das, was hier zum Thema gemacht werden muss, hart, aber treffend in seinem Kommentar Asyl als Fata Morgana so formuliert: »Man wünschte, es wäre eine sarkastische Glosse. Doch die EU will tatsächlich Staaten wie Ägypten und Tunesien als Abschrecker anheuern. Sie sollen Bootsflüchtlinge abfangen, bevor diese Europa erreichen. Es ist die Globalisierung einer elenden Politik.«

Was Prantl in seinem Kommentar umtreibt, ist aus einer anderen, zynisch-funktionalen Perspektive eine logische, mithin notwendige Konsequenz aus dem Scheitern des Bisherigen an den Grenzen und in der EU:

»Sie will jetzt „einen echten Abschreckungseffekt produzieren“: Nachdem Radar- und Satellitenüberwachungssysteme, nachdem Grenzsicherungsmaßnahmen an den Außengrenzen die Flüchtlinge nicht abhalten konnten, nachdem auch die schäbige Behandlung vieler Flüchtlinge, die die Flucht ins Innere der EU geschafft hatten, nicht abschreckend genug war, will die EU nun Abschrecker anheuern: Staaten wie Ägypten und Tunesien, die nicht gerade für Rechtsstaatlichkeit bekannt sind, sollen dafür bezahlt werden, dass sie die Bootsflüchtlinge abfangen und in ihre eigenen Häfen transportieren.«

Und wie immer bei den besonders zynisch daherkommenden Abwehr- und Abstoßungsaktionen im gesellschaftlichen Bereich versucht man das Ganze dann auch noch a) semantisch einzupudern und b)   die Drangsalierung der Betroffenen im Ergebnis als besonders liebevolle Tat erscheinen zu lassen:

»Man nennt diese Auftragsabschreckung „stellvertretenden Flüchtlingsschutz“. Und das ganze Unterfangen läuft unter der Überschrift „praktizierte Humanität“ – weil die Flüchtlinge davon abgehalten würden, „den gefahrvollen Weg über das Mittelmeer zu riskieren“, wie es immer wieder heißt.«

Und wenn Prantl anmerkt, dass die EU dafür zahlt, dass das Asyl (oder das, was davon übrig bleibt) dort hinkommt, wo der Flüchtling herkommt, dann soll Asyl in Europa zu einer Fata Morgana werden: schön, aber unerreichbar. Und das passt dann auch zu den seit längerem zirkulierenden Vorschlägen, in den nordafrikanischen Staaten „Auffanglager“, sorry: „Asylzentren“ zu schaffen, wo die Flüchtlinge Asyl in Europa beantragen können sollen. Angeblich. Auch Prantl sieht diese mögliche Linie, wenn er schreibt: »Womöglich lässt man die Flüchtlinge von den ägyptischen oder tunesischen Sicherheitsorganen in die nordafrikanischen „Flüchtlingslager“ transportieren, über deren Errichtung jüngst wieder diskutiert worden ist.«

Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) ist ein bekennender Anhänger dieses Ansatzes (so hat er – auch wieder so ein Orwellsches Neusprech in diesem Kontext – sogenannte „Willkommenszentren“ in Nordafrika, die vom völlig unterfinanzierten Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) betrieben werden sollen, ins Spiel gebracht) und er ist zugleich ein erklärter Gegner des Kirchenasyls in Deutschland (und wenn man einen Moment nachdenkt, dann kann man durchaus nachvollziehen, dass zwischen diesen beiden scheinbar unabhängigen Punkten ein innerer Zusammenhang besteht).

Für Prantl ist der Vorschlag Ausdruck für eine Globalisierung einer elenden Politik: »Aus den Augen, aus dem Sinn. Aus den alten Kolonialländern werden nun neue. Sie werden eingespannt zur Flüchtlingsentsorgung … Die Europäer finanzieren, die anderen sollen parieren.«

Und auch seine abschließende Bewertung muss an dieser Stelle wortwörtlich zitiert werden, drücken sie doch in aller Prägnanz aus, was da ablaufen würde, wenn es denn so kommt:

»Erst werden die Flüchtlinge Opfer von Schleppern, die ihnen das Geld abnehmen; dann werden sie Opfer von europäischen Rechtsstaaten, die ihnen kein Recht gewähren – und schließlich Opfer von nordafrikanischen Staaten, die für Europa die Drecksarbeit erledigen. Das ist die Flüchtlingspolitik des Friedensnobelpreisträgers EU.«

Das alles ordnet sich ein in eine überaus wirkkräftige Logik in Richtung Lagerbildung. Nun wird der eine oder die andere an dieser Stelle stirnrunzelnd einwenden, ob das nicht zu weit geht, eine Phase der Lagerbildung vorherzusehen bzw. Teilen der Politik vorzuwerfen, dass sie in diese Richtung zu marschieren gedenken. Diesem Zweifel kann man zumindest die ersten Ausformungen einer lagerbasierten Flüchtlingspolitik gleichsam als Indiz entgegenhalten.

So berichtete das Politikmagazin „Report Mainz“ in seiner Sendung am 17.02.2105 unter der Überschrift Asylhölle Ukraine. Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa verschwinden über Jahre in ukrainischen Gefängnissen:

»Seit Jahren unterstützt die EU die Ukraine mit Millionenbeträgen, um Gefängnisse für Migranten aus- und aufzubauen. Gleichzeitig schickt sie Flüchtlinge, die es doch über die Außengrenzen in die EU geschafft haben, einfach zurück. Damit soll die so genannte Ost-Transitroute in die EU dichtgemacht werden – auf Kosten der Schutzsuchenden.«

Dazu auch der Artikel Abschiebung zu Folterern von Jana Frielinghaus. Die Flüchtlinge werden in ukrainische Gefängnisse – die von der EU kofinanzert werden – bis zu einem Jahr unter unwürdigen Bedingungen interniert. Und teilweise auch gefoltert. Es handele sich um Tausende Menschen, die in der Ukraine mit Wissen und Unterstützung von EU-Verantwortlichen wie Gefangene behandelt würden. Und auch hier wieder die elenden sprachlichen Reinwaschungsversuche. Mit den Vorwürfen konfrontiert erklärte die EU-Kommission in Brüssel lediglich, »die Gelder dienten dazu, die „Standards“ in den Gefängnissen zu verbessern.« So kann man das auch ausdrücken.

Und auch an anderen Stellen und vor allem Grenzgegenden trifft man auf Lager. Dazu sei hier nur auf die multimediale Reportage Europas tödliche Grenzen hingewiesen: »Spanien-Marokko, Griechenland-Türkei, Ungarn-Serbien: Orte entlang dieser drei Grenzen zeigen, mit welch rabiaten Methoden sich Europa gegen Arme und Schutzsuchende abschottet. SPIEGEL-Reporter Maximilian Popp und Fotograf Carlos Spottorno reisten zu Schutzzäunen und in Auffanglager, sie begleiteten Patrouillen auf See und trafen Flüchtlinge, die alles riskieren für eine Zukunft in Europa.«

Und abrundend ein Blick auf die Entwicklungsgeschichte der neueren deutschen Flüchtlingspolitik, die bei grober Zuspitzung sehr wohl ein gewisses Muster, eine bestimmte Richtung erkennen lässt, was man auf diese Formel bringen kann:

Abschottung durch die Konstruktion „sicherer Drittstaaten“ um uns herum => Verlagerung der Abschottungsversuche gegen die neueren Flüchtlingswellen an die Außengrenzen der EU und Herausbildung von Frontex => möglicherweise als nächste Phase das Outsourcing der Abschottungsversuche in das Nirwana hinter den natürlichen Außengrenzen der EU, vor allem jenseits des Mittelmeers, einhergehend mit dortiger Lagerbildung und „Rückführungsaktionen“

Und wenn man studieren will, welche Ausformungen dieses Abstoßungsdenken und -handeln annehmen kann, dann sei an dieser Stelle auf Australien verwiesen, wo sich eine unglaubliche Verrohung hinsichtlich der Flüchtlingspolitik in breite Teile der Gesellschaft gefressen hat. Dazu beispielsweise mit aller Schärfe schon in der Überschrift der Artikel Australien – der Folterstaat: »Kein westliches Land geht mit Asylsuchenden härter um als Australien: Verstümmelungen und Selbstmorde sind in den Lagern Alltag. Selbst Kinder leben hinter Stacheldraht, dem Wahnsinn nahe. Und das Volk klatscht Beifall.« Oder der Artikel Für eine zivilisierte Nation völlig unwürdig: »Kinder von asylsuchenden Flüchtlingen werden auf dem Fünften Kontinent eingesperrt und misshandelt. Das Leben in den Lagern sei „durchaus bewusst unangenehm und brutal“. Eine Schande.«

Und Australien gehört bekanntlich zur westlichen „Wertegemeinschaft“.