Sie wächst und wird weiter wachsen – die Altersarmut. Neue bedrückende Zahlen am Anfang einer bitteren Wegstrecke

Fast genau eine halbe Million Menschen sind es, die in den Statistiken auftauchen als Empfänger von Leistungen der Grundsicherung für Ältere nach SGB XII, also dem „Hartz IV“ eigener Art für ältere Menschen. Die Bundesstatistiker erfüllen ihre Berichtspflicht ordnungsgemäß mit einem Tabellenwerk und einer knappen Pressemitteilung dazu: 2013: Zahl der Empfänger/-innen von Grund­sicherung ab 65 Jah­ren um 7,4 % gestiegen. Ergänzend kann man den Zahlenangaben zu den Älteren noch entnehmen: »Neben den rund 499.000 Empfängerinnen und Empfängern von Grundsicherung im Alter ab 65 Jahren gab es am Jahresende 2013 deutschlandweit rund 463.000 Empfängerinnen und Empfänger von Grundsicherung wegen dauerhafter Erwerbsminderung im Alter von 18 bis unter 65 Jahren. Damit bezogen am Jahresende 2013 rund 962.000 volljährige Menschen in Deutschland Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem SGB XII.« Diese fast eine Millionen Menschen, die sich im SGB XII befinden, müssen also noch zu den derzeit 6.012.781 Menschen hinzugezählt werden, die aktuell Leistungen aus dem eigentlichen „Hartz IV“-System beziehen, also dem SGB II.

Die Abbildung zeigt den Anstieg der Empfänger-Zahlen in der Grundsicherung für Ältere seit 2003. Innerhalb der vergangenen zehn Jahre hat sich die Zahl der älteren Grundsicherungsempfänger schlichtweg verdoppelt. Und man muss an dieser Stelle sogleich anfügen: Es handelt sich hier um die Älteren, die auch tatsächlich Leistungen beziehen – wenn es um das Thema Altersarmut geht, dann müsste man natürlich noch die älteren Menschen hinzuzählen, die eigentlich Anspruch hätten auf die Grundsicherungsleistungen, diese aber aus ganz unterschiedlichen Gründen faktisch nicht in Anspruch nehmen. Dabei handelt es sich um keine kleine Gruppe.

Es geht hierbei um das Problem der „verdeckten Armut“. Die Verteilungsforscherin Irene Becker hat dazu 2012 einen Beitrag publiziert, in dem sie die Ergebnisse einer Untersuchung vorgestellt hat, die der Frage nachgegangen ist, wie sich die verdeckte Armut unter Älteren seit der 2003 erfolgten Einführung der „Grundsicherung im Alter“ entwickelt hat (vgl. Irene Becker: Finanzielle Mindestsicherung und Bedürftigkeit im Alter. In: Zeitschrift für Sozialreform, Heft 2, 2012, S. 123-148). Man muss hier erinnern: Das „Grundsicherungsgesetz“ (für Ältere wie auch für dauerhaft Erwerbsgeminderte, 2005 dann in das SGB XII übernommen) muss als ein Antwortversuch verstanden werden auf den lange vorher beklagten Tatbestand der erheblichen „verdeckten Armut“ unter den älteren Menschen. Bereits in den 1990er-Jahren war nach den damals vorliegenden empirischen Studien deutlich geworden:

»Auf jeden Sozialhilfeempfänger könnte ein Sozialhilfeberechtigter kommen, der seine Ansprüche nicht einlöst. Und unter Älteren war die verdeckte Armut besonders verbreitet. Deshalb wurde 2003 die „Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung“ eingeführt. Sozialhilfeempfänger im Rentenalter brauchen nun in der Regel nicht mehr zu fürchten, dass das Amt sich das Geld bei ihren Kindern zurückholen könnte. Und die Rentenversicherung wurde verpflichtet, Kleinrentner auf ihren potenziellen Grundsicherungsanspruch aufmerksam zu machen«, so die Erläuterungen in einem Artikel über die Ergebnisse der Untersuchung von Irene Becker.

Ihre damaligen Berechnungen beruhen auf Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) für das Jahr 2007. Aus den Zahlen der repräsentativen Befragung ergibt sich: Von gut einer Million Menschen ab 65 Jahren, denen damals Grundsicherung zustand, bezogen nur 340.000 tatsächlich Leistungen. Die „Quote der Nichtinanspruchnahme“, so der technische Begriff für die Dunkelziffer der Armut, betrug 68 Prozent (vgl. auch die Abbildung „Verdeckte Armut oft bei Älteren“).

Nun haben sich die Verhältnisse – möglicherweise – seit damals geändert. Wir wissen darüber aber nichts genaues und es ist durchaus plausibel, immer noch von einer nicht unerheblichen Dunkelziffer auszugehen, gerade bei den älteren Menschen, bei denen beispielsweise Scham-Faktoren eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen. Auf alle Fälle sollte nicht vergessen werden, dass die – auch jetzt wieder – in der öffentlichen Wahrnehmung stehende Zahl an Grundsicherungsempfängern bei den Älteren nur als eine Untergrenze anzusehen ist.

Zurück zu den aktuellen Daten. Die Berichterstattung greift die Zahlen auf und ordnet sie ein in das Thema wachsende Altersarmut: Die Alten werden immer ärmer, so Thomas Öchsner in der Süddeutschen Zeitung oder Altersarmut nimmt in Deutschland zu. Öchsner schreibt zu den (möglichen) Gründen: »Für die wachsende Menge der hilfebedürftigen alten Menschen gibt es mehrere Gründe: Einerseits nimmt die Zahl der Alten schlicht zu – und damit auch die Gruppe derjenigen, deren Einkünfte nicht zur Deckung des Existenzminimums reichen. Zudem haben Frauen in Westdeutschland häufig nur Anspruch auf eine Mini-Rente, weil sie zu wenig gearbeitet und verdient haben. Auch reichen bei vielen der sogenannten etwa 1,6 Millionen Erwerbsminderungsrentner, die wegen einer Krankheit vorzeitig mit dem Arbeiten aufhören mussten, die eingezahlten Beiträge für eine auskömmliche Rente nicht aus.«

Der entscheidende Punkt aber ist: Wenn wir die Systeme so weiterlaufen lassen, wie sie mittlerweile aufgestellt sind, dann wird es in den vor uns liegenden Jahren nicht nur einen weiteren Anstieg der Altersarmut aus den bereits ins Feld geführten Gründen geben, sondern auch Menschen, die unter alten Bedingungen eine Rente bekommen hätten, die oberhalb des Grundsicherungssystems liegt, werden unter diese Schwelle rutschen. Das ist nun von vielen und an vielen Stellen und schon seit längerem nachgewiesen worden (vgl. dazu nur beispielhaft für das vergangene Jahr den Blog-Beitrag Altersarmut?! Von einer „Tabelle der Schande“ über halbe Wahrheiten bis hin zu einer Sau, die durch das Rentendorf getrieben wird vom 11.06.2013 oder auch Altersarmut von unten und von denen, die früher mal oben gewesen wäre vom 08.07.2013). Zur Debatte über die vor uns liegende Entwicklung vgl. auch die Übersichtsarbeit Zukünftige Altersarmut vom DIW.

Die Kinder und die Armut ihrer Eltern. Natürlich auch Hartz IV, aber nicht nur. Sowie die Frage: Was tun und bei wem?

Kinderarmut nimmt in Deutschland wieder zu. Unter dieser Überschrift berichtet Thomas Öchsner, dass die »Zahl der armen Kinder in Deutschland wächst: Mehr als 1,6 Millionen Jungen und Mädchen unter 15 Jahren leben von Hartz IV.« Das wurde sofort aufgegriffen: In einem der reichsten Länder der Welt steigt die Zahl von Kindern in Armut, berichtet Spiegel Online in einem Beitrag, der die gleiche Überschrift trägt wie der Artikel von Öchsner. Die FAZ hingegen scheint etwas verschnupft ob der neuen Zahlen: »Jahrelang lebten in Deutschland immer weniger Kinder von Hartz IV, weil ihre Eltern Arbeit fanden. Doch dieser Trend ist jetzt gestoppt« und stellt das unter die Überschrift Etwas mehr Kinder in Hartz IV, irgendwie etwas beleidigt daherkommend und zugleich mit der Aussage, bislang sei die Zahl der Kinder mit Hartz IV-Bezug gesunken, weil ihre Eltern eine Arbeit gefunden hätten, eine These aufstellend, die einfach in den Raum gestellt wird, denn es kann dafür auch noch andere Gründe geben.

Zwei Vorbemerkungen sind besonders relevant für eine Einordnung dessen, was hier diskutiert wird:

1. Zum einen wird „Kinderarmut“ fokussiert auf den Tatbestand des Hartz IV-Bezugs. Das kann man, wenn einem an einer Beschwichtigung des Themas gelegen wäre, damit relativieren, dass es sich beim Grundsicherungsbezug doch um „bekämpfte Armut“ handelt, denn angeblich werde hier das soziokulturelle Existenzminimum der Menschen gesichert. Aber eine andere Perspektive ist viel wichtiger: Die tatsächliche Dimension der Einkommensarmut, von der Kinder betroffen sind, ist weitaus größer als es die Zahl der Kinder in Hartz IV-Haushalten nahelegt, beispielsweise wenn man die Einkommensarmutsschwellen der EU zugrundelegt. An einem Beispiel kann man das aufzeigen: In Deutschland gibt es das Instrument des Kinderzuschlags, dass Eltern bekommen können, um zu vermeiden, dass sie ansonsten durch die Existenz des Kindes bzw. der Kinder zu Hartz IV-Empfänger werden würden. Man vermeidet also temporär den offiziellen Status Grundsicherungsempfänger, insofern tauchen die Kinder auch nicht in den Zahlen auf, die jetzt diskutiert werden, trotzdem sind diese Kinder knapp oberhalb der gegebenen Hartz IV-Sätze von Einkommensarmut betroffen, wenn man das nach den etablierten Standards der Armutsforschung bemessen würde.

2. Es ist keine Begriffsakrobatik, wenn man darauf insistiert, dass es „Kinderarmut“ eigentlich nicht gibt, sondern die Einkommensarmut, denen die Kinder ausgesetzt sind, ist eine „abgeleitete“ Armut der Eltern. Die Kinder sind – im positiven wie im negativen Sinne – immer eingebettet in den familialen Kontext und insofern ist es richtig und notwendig, wenn man über die gleichsam „vorgelagerte“ Einkommensarmut der Eltern spricht, wenn es um die Kinder gehen soll.

Und letztendlich geht es bei der aktuellen Debatte um die Eltern, denn die Zahlen, die von Öchsner berichtet werden, stammen aus einer neuen Analyse des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), »die der DGB-Arbeitsmarktexperte Wilhelm Adamy vorgelegt hat. Darin schlägt der DGB ein Aktionsprogramm für Eltern vor, die zusammen mit ihren Kindern schon länger von Hartz IV leben müssen.«

Laut der DGB-Studie erhalten derzeit mehr als 1,2 Millionen unter 15-Jährige seit mindestens einem Jahr Hartz IV. 642 000 dieser Kinder sind sogar seit vier Jahren oder länger auf die staatliche Hilfe angewiesen. Vor allem bei den Jüngeren sei davon auszugehen, „dass sie direkt in Hartz-IV-Verhältnisse hineingeboren wurden. Damit ist das Risiko einer dauerhaften, quasi vererbten Hilfsbedürftigkeit hoch“.

Und dann wird der DGB deutlicher, wo jetzt angesetzt werden sollte:

»Die Gefahr sei auch erheblich, dass die Eltern als Vorbilder ausfallen, schreibt DGB-Experte Adamy. Keine Arbeit zu haben, könne „eine Abwärtsspirale von sinkendem Selbstwertgefühl, Sinnkrise und mangelnder sozialer Teilhabe in Gang setzen“. Viele Eltern schaffen es dann nicht mehr, sich um die Kinder ausreichend zu kümmern.«

Aber was kann bzw. soll man tun? Hierzu findet man in dem Artikel von Öchsner Hinweise, was zumindest der DGB fordert:

»Der DGB fordert deshalb ein Sonderprogramm gegen Kinder- und Familienarmut. Es soll sich zunächst auf die 450.000 Eltern konzentrieren, die arbeitslos gemeldet sind, Kinder im Haushalt haben, Hartz IV nicht mit einem Zusatzjob aufstocken und an keiner Maßnahme eines Jobcenters teilnehmen.
Solche Eltern müssten „eine neue berufliche Perspektive erhalten, auch um ihre Vorbildrolle gegenüber ihren Kindern zu stärken“, verlangte Buntenbach. Dem DGB schwebt dabei vor, mehr geförderte Arbeitsplätze zu schaffen, „sofern eine Beschäftigung anders nicht möglich ist“. Das Programm müssten Jobcenter, Kommunen, der Bund, Wohlfahrtsverbände und Vereine gemeinsam tragen.«

Die vom DGB genannte Größenordnung von 450.000 deckt sich erstaunlich gut mit dem Ergebnis einer Quantifizierung des „harten“ Kerns an Langzeitarbeitslosen im Grundsicherungssystem, die potenziell für eine öffentlich geförderte Beschäftigung in Frage kommen und die im vergangenen Jahr vom Institut für Bildungs- und Sozialpolitik der Hochschule Koblenz (IBUS) in einer Studie veröffentlicht wurde. Bei dieser Studie ging es darum, die Größenordnung derjenigen abzuschätzen, die seit langem keiner Erwerbsarbeit mehr nachgehen konnten und die mehrere so genannte „Vermittlungshemmnisse“ aufweisen, wie sie von der BA definiert werden – ungeachtet der immer gebotenen Infragestellung und kritischen Diskussion solcher Konstruktionen ging es darum, potenzielle Kandidaten für eine öffentlich geförderte Beschäftigung zu identifizieren, bei denen man mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit vorhersagen kann, dass sie mittel- und auch langfristig so gute wie keine „normale“ Chance auf Vermittlung in irgendeine Erwerbsarbeit haben werden. Die Studie kam zu den folgenden Ergebnissen hinsichtlich der Größenordnung:

»Über 609.000 beschäftigungslose Menschen in Deutschland haben mindestens vier Vermittlungshemmnisse.
Als „arbeitsmarktfern“ stufen wir die Menschen ein, die 2011 beschäftigungslos und in den letzten 36 Monaten mehr als 90 Prozent der Zeit ohne Beschäfti- gung waren und zudem mindestens vier „Vermittlungshemmnisse“ aufweisen.
Nach unserem Messkonzept zählen 435.178 Menschen zu den arbeitsmarktfernen Personen, die für Maßnahmen der öffentlich geförderten Beschäftigung in Frage kommen – auf Grundlage der restriktiven Bestimmung der möglichen Zielgruppe, wie sie der Gesetzgeber vorgegeben hat. In den Haushalten mit diesen 435.178 Personen leben über 305.000 Kinder unter 15 Jahren, die besonders von der Situation ihrer Eltern betroffen sind und die von einer teilhabeorientierten öffentlich geförderten Beschäftigung ihrer Eltern unmittelbar und mittelbar profitieren würden, was angesichts der bekannten zerstörerischen Effekte von Langzeitarbeitslosigkeit auch und gerade auf das System Familie einen eigenen Wert darstellt, der für die Nutzung des Instruments öffentlich geförderte Beschäftigung spricht.« (Obermeier/Sell/Tiedemann 2013: 3)

Die gesamte Studie hier im Original:

Obermeier, Tim; Sell, Stefan und Tiedemann, Birte: Messkonzept zur Bestimmung der Zielgruppe für eine öffentlich geförderte Beschäftigung. Methodisches Vorgehen und Ergebnisse der quantitativen Abschätzung (= Remagener Beiträge zur Sozialpolitik 14-2013), Remagen, 2013).

Nun muss man allerdings anmerken, dass gerade die Angebote öffentlich geförderter Beschäftigung in den Jahren seit 2010 massiv zurückgefahren worden sind, schon bei einer rein quantitativen Betrachtung. Wir sprechen hier von Rückgängen von 50% und mehr in wenigen Jahren. Zugleich aber wurde auch die (mögliche) Qualität der öffentlich geförderten Beschäftigung nach unten gedrückt, da der Gesetzgeber das Förderrecht in den vergangenen Jahren systematisch derart verengt hat, dass nunmehr im Wesentlichen nur noch die Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung (umgangssprachlich als „Ein-Euro-Jobs“) bezeichnet, übrig geblieben sind und zugleich müssen die Tätigkeiten, um angebliche Konkurrenzen zum ersten Arbeitsmarkt zu verhindern, so künstlich ausgestaltet werden, dass man erhebliche Zweifel an der Sinnhaftigkeit vieler dieser Tätigkeiten haben muss.

Wenn also die an sich schlüssige Forderung des DGB wirklich mit sinnvollen Leben gefüllt werden soll, dann müsste ein solches „Sonderprogramm gegen Kinder- und Familienarmut“ voraussetzen, dass a) nicht nur mehr Gelder zur Verfügung gestellt werden, b) die Teilnahme an einem solchen Programm für die Betroffenen auf dem Prinzip der Freiwilligkeit basieren sollte, sondern c) vor allem bei der anstehenden SGB II-Reform dafür Sorge getragen wird, dass das völlig kontraproduktive Förderrecht hinsichtlich der öffentlich geförderten Beschäftigung derart umfassend entschlackt und neu ausgerichtet wird, dass man überhaupt sinnvolle Beschäftigungsangebote organisieren könnte. Das ist derzeit nicht gegeben.

Wenn diese Rahmenbedingungen geschaffen bzw. ermöglicht werden, dann ist das im Grunde ein Ansatz von zentraler Bedeutung, die weit über die Einkommensfrage hinausgeht. Denn tatsächlich ist es so, dass man gar nicht unterschätzen kann, was für eine gesellschaftspolitisch verheerende Wirkung lang andauernde Arbeitslosigkeit auf die betroffenen Menschen wie auch auf die Gesellschaft insgesamt hat. Und auf die Kinder sowieso.

Aber die Signale aus der Politik stimmen angesichts der Größenordnung des Problems nicht gerade vielversprechend. Für den Herbst dieses Jahres hat die Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles ein neues Programm für die öffentlich geförderte Beschäftigung von Langzeitarbeitslosen in Aussicht gestellt. » Das Arbeitsministerium will Langzeitarbeitslose mit einem neuen ESF-Bundesprogramm in Betrieben unterbringen, die hierfür Lohnkostenzuschüsse erhalten. Betriebsakquisiteure sollen geeignete Arbeitgeber finden und Coaches die Teilnehmer sozialpädagogisch betreuen. Die Arbeitsmarktfernsten könnten aber kaum profitieren. Das geht aus einem Entwurf der Förderbedingungen hervor«, so der Artikel Arbeitsmarktpolitik für Langzeitarbeitslose: Details zum neuen ESF-Bundesprogramm auf O-Ton Arbeitsmarkt. Die Kritik richtet sich vor allem gegen zwei Punkte: Zum einen soll das neue Programm 30.000 Teilnehmer erreichen (wenn die denn überhaupt erreicht werden) – viel zu gering dimensioniert angesichts der quantitativen Herausforderungen. Darüber hinaus sind die Förderstrukturen des geplanten Programms so schlecht, dass man sich eher auf ein Scheitern in der Praxis einstellen sollte:

»Neu ist die Idee, Langzeitarbeitslose mittels Lohnkostenzuschüssen in der Privatwirtschaft unterzubringen, nicht. Mit dem Beschäftigungszuschuss (BEZ) bzw. dem Nachfolgeinstrument der Förderung von Arbeitsverhältnissen (FAV) gibt es seit Jahren die Möglichkeit, Löhne für schwer vermittelbare Arbeitslose staatlich zu subventionieren. Hinzu kommt: Bei der FAV ist ein Zuschuss von 75 Prozent für die gesamte bis zu 24-monatige Förderdauer möglich. Beim neuen Bundesprogramm hingegen erhalten die Arbeitgeber umgerechnet auf die gesamte Förderdauer etwas mehr als 40 Prozent Zuschüsse für die regulär geförderten und 63 Prozent für die intensiv geförderten Teilnehmer (bei einer dreijährigen Förderung).«

Wieder einmal beschleicht einen das Gefühl, dass hier seitens der Politik Aktivitätssimulation betrieben werden soll. Wenn man wirklich in die Richtung marschieren wollte, wie sie der DGB anmahnt, dann muss da noch einiges an Substanz nachgereicht werden.

Von der fortschreitenden „Vertafelung“ der unteren Etagen unserer Gesellschaft und warum die Zahl derjenigen, die nicht in Urlaub fahren können, kein geeigneter Maßstab ist

Immer wieder wird darüber berichtet, diskutiert und gestritten, ob die soziale Ungleichheit in unserer Gesellschaft in den vergangenen Jahren – deutlich? – Zugenommen hat oder nicht. Ein erster flüchtiger Blick auf die Frontberichterstattung scheint eine eindeutige Botschaft zu vermitteln. So veröffentlichte der Bundesverband Deutsche Tafel seinen Jahresbericht 2013 mit einigen erschreckenden Erkenntnissen hinsichtlich der Menschen, die in den vielen Ausgabestellen der insgesamt 916 Tafeln, die es derzeit in Deutschland gibt, ihren Lebensmittelbedarf teilweise decken (müssen). Immer mehr, darunter auch immer mehr Menschen, die eine Arbeit haben, immer mehr Rentner und nun auch noch Studenten – so lassen sich einige Befunde zusammenfassen. Gleichzeitig geistern neue Zahlen des Statistischen Bundesamtes durch die Medien, die mit solchen Überschriften auf den Punkt gebracht werden sollen: Jeder fünfte Deutsche kann sich keinen Urlaub leisten. Fazit: Es scheint so zu sein, dass die Verarmung in unserer Gesellschaft kontinuierlich weiter voranschreitet. Aber auch hier macht es Sinn, einen differenzierten Blick nicht nur auf die Zahlen, sondern auch auf die Relationen und die dahinter stehenden Verhältnisse zu werfen.

»Als im Jahr 1993 die ersten Tafeln damit anfingen, übrig gebliebene Lebensmittel an Bedürftige zu verteilen, standen in den Schlangen vor der Essensausgabe vor allem Obdachlose. Eine Nothilfe sollten die Tafeln sein, eine Anlaufstelle für Menschen in Ausnahmesituationen«, schreibt Kathleen Hildebrand in ihrem Artikel „Armutszeugnis“, der in der Print-Ausgabe der „Süddeutschen Zeitung“ am 27.05.2014 veröffentlicht wurde. Und dann zitiert sie Jochen Brühl, den Vorsitzenden des Bundesverbands Deutsche Tafel anlässlich der Vorstellung des Jahresberichts 2013 der Organisation mit den Worten: „Wir beobachten schon seit längerem die Tendenz, dass neben ALG-II-Empfängern auch Menschen zu uns kommen, die Arbeit haben“. Und weiter schreibt sie: »Die Jahresbilanz für 2013, die der Verband am Montag in Berlin vorgestellt hat, erhärtet diese Beobachtung: Alleinerziehende und deren Kinder, prekär Beschäftigte und Teilzeitkräfte reihen sich mit in die Schlangen ein. Neue Zahlen zu den regelmäßigen Nutzern der Tafeln wird der Bundesverband im Herbst vorlegen – im Jahr 2012 kamen 1,5 Millionen Menschen. Da die Nutzerzahlen vielerorts stärker steigen als die Lebensmittelspenden, konnten die Tafeln pro bedürftigem Empfänger oft weniger verteilen als in den Jahren zuvor.« Ergänzend weist der Bundesverband darauf hin, dass auch die Zahl der Asylbewerber und EU-Zuwanderer, die zu den Tafeln kommen, angestiegen sei. Ebenso trifft dies auf Studenten zu. Jeder dritte Tafel-Nutzer ist ein Kind.

Es gibt seit langem Kritik an der Arbeit der Tafeln. Diese stellt vor allem darauf ab, dass die Tafeln den Staat von seiner Verantwortung und Fürsorgepflicht entlasten und die moderne Variante der „Armenspeisung“ zu einem „selbstverständlichen“ Element der materiellen Versorgung der Einkommensarmen mutiert ist. Immer wieder gibt es Berichte, dass Jobcenter Hartz IV-Empfänger auf die „Versorgungsangebote“ der Tafeln verweisen. Kritische Stimmen und entsprechende Analysen findet man beispielsweise auf der Seite Tafelforum.

Aber der Bundesverband der Tafeln setzt sich selbst kritisch mit der eigenen Arbeit auseinander. Auf der Jahrespressekonferenz wurde beispielsweise mit Blick auf die zunehmende Zahl der Flüchtlinge, Asylbewerber und EU-Zuwanderer, die in die Tafeln kommen, angemerkt: »Es kann nicht sein, dass die Politik sich darauf verlässt, dass die Tafeln die Not der Geflüchteten und Zugewanderten auffangen. Es ist eine staatliche Aufgabe und eine humanitäre Pflicht, für einen menschenwürdigen Aufenthalt in Deutschland zu sorgen. Die Tafeln können und wollen nur ein ergänzendes Angebot sein, sie sind keine Vollversorger.« Und auf einen weiteren Punkt wird verwiesen: Die 919 Tafeln, die es in Deutschland gibt, verteilen deshalb ausschließlich übrig gebliebene Lebensmittel. Einen Zukauf von Essen aus Geldspenden – 2013 erhielt der Bundesverband 4,6 Millionen Euro – schließt der Verband in seiner Satzung aus, so Kathleen Hildebrand in ihrem Artikel.

Vor dem Hintergrund der neuen „Umsatzzahlen“ aus den Lebensmittelverteilzentren für die Einkommensarmen scheint die folgende Meldung nahtlos den Befund eines zunehmenden Armutsproblems in unserer Gesellschaft zu ergänzen: Ein Drittel der Bevölkerung kann sich unerwartete größere Anschaffungen nicht leisten, so ist eine Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes überschrieben.

»Ein Drittel der Bevölkerung in Deutschland (33,4 %) lebte 2012 in privaten Haushalten, die nach eigener Einschätzung nicht in der Lage waren, unerwartet anfallende Ausgaben aus eigenen Finanzmitteln zu bestreiten. Dabei handelt es sich zum Beispiel um Ausgaben für größere Anschaffungen oder Reparaturen. Auf  Urlaubsreisen mussten knapp 22 % der Bevölkerung aus finanziellen Gründen verzichten. Das sind Ergebnisse aus der EU-weit vergleichbaren Erhebung über Einkommen und Lebensbedingungen (EU-SILC) 2012«, so die Bundesstatistiker.

In den Medien wurde dann daraus beispielsweise der Beitrag Jeder fünfte Deutsche kann sich keinen Urlaub leisten. Dabei – das arbeitet der Artikel selbst heraus – handelt es sich bei den knapp 22%, die in der Befragung angegeben haben, dass sie sich wegen Geldmangel keinen Urlaub leisten können, um einen Durchschnittswert über die gesamte Bevölkerung. Schaut man sich die entsprechenden Zahlen für die Menschen an, die im statistischen Sinne als „armutsgefährdet“ etikettiert werden (als armutsgefährdet gilt, wer über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung verfügt. 2011 lag der Schwellenwert für eine allein lebende Person in Deutschland bei 980 Euro im Monat, für zwei Erwachsene mit zwei Kindern unter 14 Jahren bei 2.058 Euro), dann verdüstert sich die Befundlage weiter:

»Unter der armutsgefährdeten Bevölkerung in Deutschland waren die finanziellen Schwierigkeiten den Statistikern zufolge besonders groß. So musste rund ein Viertel (24,8 Prozent) aus finanziellen Gründen häufiger auf vollwertige Mahlzeiten verzichten. Fast drei Viertel (73,2 Prozent) der Armutsgefährdeten konnten unerwartet auftretende Ausgaben nicht aus eigener Kraft finanziell bewältigen. Mehr als die Hälfte von ihnen (57,6 Prozent) konnten aus finanziellen Gründen nicht einmal für eine Woche in Urlaub fahren.«

 Von vielen Medien und in vielen Kommentaren wurden diese Daten aufgegriffen, um den Eindruck zu erwecken, dass die Verarmung weiter vorangeschritten sei. Das nun aber kann man aus den Daten zum einen deshalb nicht ableiten, weil hier mit Querschnittsdaten aus einem Jahr gearbeitet wird, die aus einer Befragung stammen. In diesem Kontext muss man die kritischen Anmerkungen sehen, die man dem Artikel „Und es war Sommer“ (Print-Ausgabe der „Süddeutschen Zeitung“ vom 27.05.2014) von Harald Freiberger entnehmen kann:

»Auf den ersten Blick scheinen die Daten eine bedenkliche gesellschaftliche Entwicklung zu bestätigen, die statistisch belegt und aktuell Gegenstand mehrerer erfolgreicher Bücher ist: Dass in den Industriestaaten die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer wird. Offenbar spiegelt sich das jetzt in den Urlaubsreisen: Auf der einen Seite eine große Anzahl von Menschen, die nicht einmal eine Woche im Jahr wegfahren können – auf der anderen Seite der Trend zu immer teurerem Ferntourismus in Hotels mit immer mehr Sternen … Doch ganz taugen die Daten nicht, um die These von der auseinander gehenden Schere zwischen Arm und Reich in Deutschland zu bestätigen. Zum einen: In europäischen Durchschnitt liegt die Zahl jener, die keine Urlaubsreise unternehmen, doppelt so hoch – bei 40 Prozent. Und da ist die Vergleichszahl aus der letzten Befragung im Jahr 2008: Damals gaben 25 Prozent der Deutschen an, sich keine Urlaubsreise leisten zu können. Ihr Anteil ist demnach in den vergangenen vier Jahren gesunken und nicht gestiegen.«

An dieser Stelle soll eine gleichsam grundsätzliche Frage aufgeworfen werden – gerade vor dem Hintergrund der Tatsache, dass immer wieder und aus guten Gründen gegen Armut und Ausgrenzung argumentiert wird, auch in diesem Blog: Ist es wirklich ein geeigneter Maßstab für Exklusion oder gar Verarmung, wenn man sich keinen Urlaub leisten kann? Es soll hier gar nicht die Frage gestellt werden, wie das denn in den 1960er und auch in den von vielen heute sozialstaatlich verklärten 1970er Jahren war. Wie viele Arbeitnehmer-Haushalte haben sich denn damals jährlich einen Urlaub leisten können? Zugespitzt gefragt: Ist es denn „selbstverständlich“, dass auch Studierende, die sich während des Studiums oftmals in einer statistischen Einkommensarmutslage befinden, ein „Recht“ haben, in die Türkei oder an die spanische Mittelmeerküste zu fliegen, um dort Urlaub zu machen? Die Antwort, die nur eine normative sein kann, soll nicht verborgen bleiben (und sie kann bei anderen anders ausfallen): Nein, ein solches Anrecht kann es nicht geben und es ist keine wirklich hilfreiche Kategorie bei dem notwendigen Diskurs über soziale Ungleichheit.

Für den bitter notwendigen Diskurs über soziale Ungleichheit und Exklusion sollte man sich eher die Daten und Erkenntnisse aus der Arbeit der Tafeln anschauen. Hier liegt genügend Sprengstoff. Und von hier aus lassen sich grundsätzliche und letztendlich weiterführende Anfragen an das sozialstaatliche System, aber auch an die „Ökonomie der mildtätigen Hilfe“ stellen.

„Hier regnet es Geld“: Von „guten“ und „schlechten“ Bettlern. Sogar bei denen gibt es eine Unter- und Mittelschicht. Und „Luxusverdiener“

Das sind Überschriften, mit denen man in der Normalwelt punkten kann: Ein Blick ins Innere der Bettlermafia, so ist ein Artikel aus Österreich überschrieben: »In Wien hat das Bundeskriminalamt ein Jahr lang die Strukturen durchleuchtet. Entdeckt wurde ein System voller Ausbeutung, Folter und Menschenverachtung«, folgt man Andreas Wetz in seinem Beitrag. Aufhänger ist die Geschichte eines 33-jährigen Rumänen, der durch einen Unfall zum Krüppel wurde, und den Kriminelle mitten in Wien jahrelang zum Betteln zwangen. Haben wir es also mit einem „Geschäftsmodell“ zu tun? Müssen wir uns verabschieden von der zuweilen fast schon romantisch daherkommenden Verklärung des bemitleidenswerten Einzelschicksals in der Fußgängerzone, das uns immer auch daran erinnert, dass wir es besser haben und nicht so enden möchten? Andere hingegen sehen in der Bettelei lediglich eine Störung ihrer Entfaltung in den Konsumzonen der Städte, ein (ästhetisches) Ärgernis, ein ordnungsrechtliches Problem, um das sich die zuständigen Stellen zu kümmern haben im Sinne einer Entfernung aus dem öffentlichen Raum.

Aber zurück nach Wien, Österreich: »Seit Juli 2013 durchleuchtet eine Arbeitsgruppe des Bundeskriminalamts die Wiener Bettlerszene. Die Beamten unterscheiden zwischen selbstbestimmtem Betteln auf Grund von Armut (legal), organisiertem Betteln zur Profitmaximierung (Verwaltungsübertretung) sowie der Ausbeutung von Bettlern durch Menschenhändler (eine Straftat).« Auf der Basis ihrer Grundlagenrecherche behauptet das österreichische Bundeskriminalamt, »dass der organisierte und der strafrechtlich relevante Teil der Bettler zusammen in Wien bereits den halben „Markt“ besetzt haben dürfte. Die betroffenen Personen stammen fast ausschließlich aus den ärmsten Regionen der Europäischen Union, konkret aus den Ländern Slowakei, Bulgarien und Rumänien.«

Andreas Wetz beschreibt das „Geschäftsmodell“ so:

»Meistens beginnt es in den Heimatländern, wo die Bosse Mittellose, Behinderte und Arbeitslose zu regelrechten Bewerbungsgesprächen laden. In den betroffenen Regionen spricht sich herum, dass durch gemeinsames Betteln im wohlhabenden Österreich für den Einzelnen pro Monat zwischen 100 und 200 Euro „Einkommen“ bleiben. Eine Summe, die in diesen Ländern einiges wert ist. Noch mehr jedoch verdienen die Banden.
Diese betreiben zwischen Bukarest und Wien eine Art Linienverkehr, der die Bettler transportiert. Hier angekommen, werden sie nach festgelegten Dienstplänen an zuvor zugewiesene Standorte gebracht. Die Nacht verbringen sie in Massenquartieren, wo sie 130 Euro pro Monat und Matratze bezahlen.
Aus den Ermittlungen geht auch hervor, welch gutes Geschäft die Vermieter dieser Wohnen machen. Bei Razzien wurden 50 Quadratmeter große Substandardwohnungen mit 40 eingemieteten Bettlern entdeckt. Ein anderes Mal besuchten Polizisten ein Haus, in dem offiziell 47 Personen gemeldet waren. Letztendlich hielten sich dort 220 Personen auf. Im Visier haben die Beamten auch einen Vermieter, der in Wien 70 entsprechende Quartiere betreiben soll.«

Von dem 33-jährigen Rumänen, der als Kronzeuge fungieren soll, erfährt man ganz erstaunliche „Umsätze“, der der körperlich schwer behinderte Mensch angeblich realisiert hat, denn es »stellte sich heraus, dass dieser im Durchschnitt 300 Euro am Tag einnahm, von denen er alles abgeben musste. In der Vorweihnachtszeit erreichte er Spitzenwerte von 1.000 Euro. Wurde das Tagespensum einmal nicht erreicht, setzte es brutale Schläge und Essensentzug.« Auf die Frage, warum er in Österreich gelandet ist, antwortet der rumänische Mann: „Hier regnet es Geld“.
Nun wird man sich an dieser Stelle sofort die Frage stellen (müssen): Ist das jetzt von eher anekdotischer Evidenz? Oder steht der Mann stellvertretend für eine „Branche“?

Zumindest sind die genannten Beträge – die wohlgemerkt von einem Einzelfall berichtet werden – Gegenstand einer heftigen Distanzierung seitens der österreichischen Caritas: Bettler: Caritas-Kritik an Bundeskriminalamt, so ist die Stellungnahme überschrieben.
Klaus Schwertner, Generalsekretär der Caritas der Erzdiözese Wien, zitiert eine Studie:

»Laut einer Studie würden Bettler zwischen 20 und 30 Euro pro Tag erhalten, Menschen mit Behinderung etwas mehr. Dass das … in die Höhe von 300 Euro im Schnitt und 1.000 Euro zu Spitzenzeiten gehen könne, wies Schwertner zurück.«

Insgesamt kommt die Stellungnahme sehr forsch daher: Wenn man von einem „Geschäftsmodell Bettelei“ spricht, dann hätte man von der Realität keine Ahnung. »Menschen, die betteln, geben ihr Wissen weiter, bilden Fahrgemeinschaften, nehmen Sammeltaxis in Anspruch oder teilen sich Wohnungen, weil sie sich die Mieten sonst nicht leisten können. An diesem Verhalten lässt sich nichts Verwerfliches erkennen, es wird aber derzeit als ‚organisiertes‘ Betteln bestraft“, betonte Schwertner.« Die Botschaft ist eindeutig: „Vom Betteln wird niemand reich. Hören Sie auf die Bevölkerung zu verunsichern und Bettler zu kriminalisieren!“, so wird Schwerter zitiert. Dem einen oder der anderen wird dieses Statement als einer dieser typischen Reflexreaktionen vorkommen, nach dem Muster wenn du eine bestimmte Personengruppe negativ etikettierst, dann werde ich generell Absolution erteilen und das herausgestellte Problem zu einem Nicht-Problem erklären. Wie so oft bewegen wir uns faktisch in einem Kontinuum der unterschiedlichen Formen der Bettelei und beide Pole des Geschehens sind vorfindbar, also der „alteingesessene, normale“, nicht-aufdringlich daherkommende Bettler existiert neben den von wem auch immer organisierten Bettlergruppen vor allem aus Osteuropa. Es kann an dieser Stelle nur darauf hingewiesen werden, dass die hier erkennbarer unterkomplexe Polarisierung nicht nur, aber auch einer defizitären bzw. sogar fehlenden empirischen Durchdringung des Phänomens geschuldet sein könnte. Dabei hätten gerade die Österreicher die Möglichkeit, auf eine der wenigen wissenschaftlich fundierten Versuche der Ausleuchtung des Themenfeldes zurückzugreifen: Im Jahr 2012 wurde der von Ferdinand Koller herausgegebene Sammelband „Betteln in Wien. Fakten und Analysen aus unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen“ veröffentlicht.

Offensichtlich bewegen wir uns hier in einem Spannungsfeld der bewusst-unbewusst vorgenommenen Unterscheidung zwischen „guten“ und „schlechten“ Bettlern – ein generell im Diskurs über Armut und Arme immer wieder auftauchender Strukturierungsversuch. Das findet man beispielsweise auch prominent platziert im Vorspann der Diskussionssendung Warum betteln Menschen im Sozialstaat? Mitleid als Geschäftsmodell, die vom SWR2 ausgestrahlt wurde (Audio-Datei der Sendung):

»Heute ist das Betteln teilweise zu einem professionellen Geschäftsmodell krimineller Organisationen geworden, die ihre Mitleids-Strategien immer weiter verfeinern. Und doch gibt es daneben ebenso die Einzelkämpfer, die durch einen persönlichen Schicksalsschlag auf der Straße gelandet sind.«

In dieser Sendung haben Stefan Gillich von Evangelische Obdachlosenhilfe, Diakonisches Werk in Frankfurt, Hans-Jörg Longen vom Ordnungsamt der Stadt Stuttgart sowie Dr. Iulia-Karin Patrut, Kulturwissenschaftlerin von der Universität Trier miteinander diskutiert über Bettler und Bettelei – übrigens wohltuend  differenziert und viele unterschiedliche Aspekte ansprechend.

Die Verwendung des Terminus „Bettlermafia“ ist übrigens keine österreichische Besonderheit, auch in Deutschland zieht sich das seit längerem durch die Medienberichterstattung und immer wieder gab es in der Vergangenheit Berichte etwa aus Berlin, Köln und München, wonach dort Gruppen Einwanderer aus Osteuropa „organisiert“ betteln und durch die „Bettelmafia“ ausgenutzt würden: Wie die Bettelmafia aus Mitleid Geld macht, Die rumänische Bettelmafia von Köln oder bereits vor einem Jahr in der Berliner Zeitung der Artikel Die Bettelmafia schnorrt jetzt mit Hunden, ein Phänomen, was gerade diese Tage von der BILD-Zeitung als „Neuigkeit“ verkauft wird, wenn sie mit ihren großen Buchstaben die Frage abfeuert: Warum haben so viele Bettler Luxus-Hunde?

Vielleicht steht das ganze Problem, das hier mehr schlecht als recht mit fragwürdigen Begriffen wie „Bettlermafia“ etikettiert wird, in der Traditionslinie von Stellvertreter-Themen. Damit ist gemeint, dass es eigentlich um etwas anderes geht, als das, worüber man scheinbar spricht. Da wäre auf der einen Seite der ordnungspolitische, sich auf die Anwendung von Ordnungsrecht bis hin zur Exklusionsversuchen des Problems kaprizierende Ansatz, nach dem das Problem primär eines der Störung der öffentlichen Ordnung ist, das man beseitigen möchte. Bei dieser Gruppe besteht die Gefahr, die Vielgestaltigkeit der Bettelei und der sie betreffenden Menschen aus den Augen zu verlieren und die Betroffenen zum Problem zu verengen. Auf der anderen Seite stehen die, die advokatorisch und praktisch helfend für die Menschen arbeiten (wollen) und die sich schützend vor diese stellen, dabei aber ebenfalls in die Gefahrenzone der Verengung geraten, in dem sie alle problematischen Fallkonstallationen wie die Strukturen und Prozesse einer organisierten Ausbeutungs-Bettelei als übertrieben oder gar nicht existent bewerten, oftmals weil sie Angst haben, das ansonsten alle anderen unter die Räder der von den Medien natürlich gerne, weil mit Skandalisierungspotenzial ausgestatteten Berichterstattung über diese eine Variante der Bettelei geraten werden.

Nicht selten hilft es, sich bei einem Thema, dass von den Medien als Neuigkeit in der immer flüchtiger werdenden Aufmerksamkeitsökonomie hochgespielt wird, klar zu machen, dass schon vor Jahren darüber diskutiert wurde und die Gesellschaft seitdem immer noch existiert. Ein Beispiel ist der Beitrag Bettelei ist schließlich kein Verbrechen von Patrick Bernau in der FAZ aus dem Jahr 2009 am Beispiel der Stadt Köln. Er versucht sich dem Thema aus einer distanziert-ökonomischen Sicht zu nähern. So zitiert er ein junge Bettlerin mit den folgenden Worten, die sich wie eine zielgruppengerechte Beschreibung der Tätigkeitsanforderungen liest: „Schnorren ist ein Knochenjob. Du musst bei jedem Wetter draußen stehen, immer nett sein und immer ’nen neuen guten Spruch auf den Lippen haben. Wenn du schlechte Laune kriegst, hast du schon verschissen.“ Offensichtlich kann man das nicht nur als einen „Job“ ansehen, sondern hier wirken ähnliche Grundmuster wie in der „normalen“ Wirtschaft: »Zehn Euro in der Stunde schaffen nur wenige. Denn Bettler müssen investieren, wollen sie gut verdienen. Ein Hund, eine Quetschkommode, eine Krücke verbessern den Umsatz.« Und auch sonst reproduzieren sich die gesellschaftlichen Strukturen, so dass sich auch bei den Underdogs eine Unter-, Mittel- und Oberschicht herausgebildet hat:

»… selbst bei denen, die in der Gesellschaft ganz unten sind, gibt es Abstufungen und Schichten. Das muss man sich ganz konkret und im Wortsinn vorstellen: Am schlechtesten geht es jenen Bettlern, die still auf dem Boden sitzen. Sie sind die Unterschicht.
Die Mittelschicht besteht aus Leuten, die aufstehen und aktiv andere ansprechen. Und zur Oberschicht der Bettler gehört, wer Programm macht – auf einer Geige spielt oder mit einer Krücke daherkommt. Wie in der großen Gesellschaft bezieht die Oberschicht am meisten Einkommen und Prestige. Doch wer aufsteigen will, muss investieren.«

Auch eine nüchterne Analyse der historischen Entwicklung des Bettlerwesens kann einige Aufschlüsse geben über das auch hier wirkende Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage. Dazu Bernau:

»Im Mittelalter bevölkerten noch viel mehr Bettler die Städte. Sie standen zwar damals schon am Rand der Gesellschaft, waren aber besser gelitten als heute. Armut galt als gottgegeben, und wer einem Bettler ein Almosen gab, sicherte sich sein Seelenheil – die Bettler nahmen also nicht nur, sondern lieferten dafür eine Leistung: Sie beteten, dass dem Spender seine Sünden vergeben werden. Kein Wunder, dass Bettler gut verdienten und das Gewerbe regen Zulauf bekam. Immer mehr Gauner mischten sich darunter, und am Ende verloren die Bettler die Akzeptanz. Im Bayern des 16. Jahrhunderts wurde mancher Bettler sogar hingerichtet.«

Der heute von dem einen oder dem anderen wahrgenommen „Aufschwung“ der Bettelei – wobei angemerkt werden muss, dass es hierzu keine auch nur halbwegs gesicherte Datenlage gibt – hat seine strukturelle Basis wie so vieles andere auch in den 1970er Jahren, konkret in der Herausnahme des Bettelverbots aus dem Strafgesetzbuch im Kontext der Strafrechtsreformen dieser Zeit.
Und auch in dem Beitrag von Bernau aus dem Jahr 2009 taucht der Mafia-Terminus schon auf, allerdings im Vergleich zur heutigen Debatte in einer gleichsam wohltuend differenzierte Art und Weise, wenn er auf die „Luxusverdiener“ unter den Bettlern zu sprechen kommt:

»Das sind die wenigen organisierten Bettler, die „Schnorrermafia“,wie sie von den anderen genannt werden. Seit ein paar Jahren gibt es sie in vielen Städten: Oft sind das Gruppen von Osteuropäerinnen, die morgens mit dem Kleinbus gemeinsam in die Stadt gebracht und abends wieder abgeholt werden. Manchmal tragen sie Babys auf dem Arm, die nicht ihre sind. Sie stützen sich auf eine Krücke, obwohl sie gut laufen können. Oder sie sitzen in einem Rollstuhl, aus dem sie abends wieder aufstehen … Dass diese Leute eine richtige Mafia sind, glauben allerdings weder die Polizei noch Forscher, die die Szene untersucht haben. Meistens arbeiten da einfach ein paar Leute zusammen, die miteinander verwandt sind oder einander aus dem Heimatdorf kennen. Das ist effektiv. Die Bettlerbanden ziehen mit Krücken und Babys genügend Aufmerksamkeit auf sich. Umso mehr erbost das die „normalen“ Bettler. Denn was die Banden tun, passt nicht zu dem rücksichtsvollen Umgang, den die Bettler sonst untereinander pflegen.«

Na ja – und dass die Zahl der bettelnden Menschen gerade aus osteuropäischen Ländern in unseren Städten zugenommen hat und – da kann man sehr sicher sein – weiter ansteigen wird, hängt auch mit Angebot und Nachfrage zusammen. Wenn man sich nur einmal das gewaltige Wohlstandsgefälle zwischen den Armenhäusern und den Reichtumsinseln innerhalb der EU, also bei Personenfreizügigkeit, anschaut, dann wird verständlich, warum bei dieser Konfiguration der Nachschub für die Bettelei aus dem Ausland sicher ist. Hinzu kommen die Inländer, die aus welchen biografischen Gründen auch immer bei uns durch alle Roste fallen und auf der Straße landen.

Apropos Menschen – die unglaubliche Heterogenität der Gründe, warum Menschen auf der Straße landen und welche Geschichten in ihnen stecken, kann man sich auf der Facebook-Seite Streets of Berlin anschauen. Ein beeindruckendes Projekt.

Armutsspiele? Viele Arme suchen ihr Glück im Glücksspiel und die Anbieter des Glücksversprechens aus dem Automaten suchen sich die Armen

Auch wir hier in Deutschland kennen das Bild von Innenstädten, in denen sich zahlreiche Spielhallen aneinanderreihen. Und sporadisch wird in den Medien auch von Menschen berichtet, die nicht nur hin und wieder die Automaten mit Euro-Münzen füttern, sondern die regelrecht abhängig geworden sind von ihrer zumisst unerfüllten Sehnsucht nach dem Gewinn. »19 .500 Menschen wandten sich im vergangenen Jahr an die Suchthilfeberatungsstellen, gut 16 Prozent mehr als im Vorjahr. Rund drei Viertel der Hilfesuchenden führten ihre Probleme auf das Spielen an Automaten in Spielhallen und Gaststätten zurück«, konnte man im vergangenen Jahr einer kleinen Meldung im SPIEGEL entnehmen. Die Automatenindustrie mit dem Branchenprimus Paul Gauselmann hart in der Vergangenheit immer wieder für Schlagzeilen gesorgt, von großzügigen Parteispenden bis hin zu einer erfolgreichen Lobbyarbeit gegen eine schärfere Regulierung ihrer Branche (hierzu beispielsweise „Zockerlobby entschärft Geldwäschegesetz„).

Auch in anderen Ländern gibt es zunehmende Probleme mit der Spielsucht und der Expansion der Spielautomaten. Für England wurde diese Tage eine interessante Studie veröffentlicht, die der Frage nachgegangen ist, ob es eine ungleiche Verteilung des für jede Sucht notwendigen Angebots in Abhängigkeit von der sozialen Lage der Menschen gibt. Die Befunde sind eindeutig: Das ärmste Viertel der Bevölkerung hat mehr als 13 Mrd. Pfund (15,7 Mrd. Euro) mit „high-speed, high-stakes gambling machines“ verspielt – das ist doppelt so viel wie in den reichsten Gebieten, berichtet Randes Ramesh in seinem Artikel „England’s poorest bet £13bn on gambling machines„.

In den 55 ärmsten Bezirken, überwiegend in nordenglischen Städten und im Großraum London gelegen, wurden 2.691 Wettbüros und Spielhallen gezählt, in denen 13 Mrd. Pfund umgesetzt wurden, während in den 115 reichsten Bezirken des Landes mit dem gleichen Anteil an der Bevölkerung 1.258 Anbieter einen Umsatz in Höhe von 6,5 Mrd. Pfund generiert haben. Die Daten stammen von der „Campaign for Fairer Gambling„. Offensichtlich, so die Studie, haben die Anbieter „the poorest areas with the highest unemployment, lowest income levels and higher crime rates“ ins Visier genommen für ihre Spielhallen-Expansion. Die Folgen in den betroffenen Gebieten sind desaströs, wie das folgende Zitat verdeutlicht: »Nick Small, who represents Liverpool city centre, said millions of pounds that should be used to pay rent or for food was being „sucked into the machines“.« Und weiter führt er aus:

»We are seeing horrific reports of family breakdown caused by gambling debts, problems with loan sharks. We are pretty sure organised crime is using the machines to launder money. It’s out of control in a city like ours, where there are a lot of poorer people.“«

Fünf große Unternehmen beherrschen den Markt der Spielhallen in Großbritannien mit einem Anteil von 92%. Sie machen einen Gewinn in Höhe von 1,6 Mrd. Pfund.

Über die Zahl der Menschen, die ein „problematisches Spielverhalten“ an den Tag legen oder gar als „spielsüchtig“ einzuschätzen sind, gibt es naturgemäß nur Schätzungen, die immer wieder Gegenstand der Diskussion sind.

»A study published in December by the Health and Social Care Information Centre, a government body, found “problem gambling” much less prevalent than a similar survey two years ago. It said 0.8% of English men were gambling addicts, compared with 1.5% in 2010 (women rarely gamble to excess)«, so der Beitrag „A risky business. Gambling machines are controversial—and increasingly unpopular„, der im Economist veröffentlicht wurde.

Und wie sieht es in Deutschland aus?

»Laut einer aktuellen Studie nehmen Deutsche zwar insgesamt seltener an Glücksspielen teil als früher. Doch nach wie vor sind mehr als 400.000 Personen spielsüchtig. Männer sind deutlich häufiger betroffen als Frauen«, kann man einem neuen Artikel entnehmen, der sich auf eine neue Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) bezieht (vgl. BZgA: Glücksspielverhalten und Glücksspielsucht in Deutschland 2013. Ergebnisbericht, Köln, Februar 2014). 2013 hat die BZgA 11.501 Menschen im Alter von 16 bis 65 Jahren zu ihrem Spielverhalten befragt. Die Befragung findet seit 2007 alle zwei Jahre statt. Die Studie quantifiziert die Ausmaße der Betroffenheit:

»Bei rund 1,2 Prozent der Männer und 0,2 Prozent der Frauen liegt ein problematisches Spielverhalten vor, das als Vorstufe zur Spielsucht gilt. Rund 1,3 Prozent der Männer sowie 0,3 Prozent der Frauen werden als glücksspielsüchtig eingeschätzt – insgesamt sind etwa 438.000 Deutsche davon betroffen … Problematisches Spielverhalten und Spielsucht sind vor allem Probleme junger Männer; von den 18- bis 20-jährigen Männern fielen gut neun Prozent in diese Kategorien. Arbeitslosigkeit und Migrationshintergrund sind weitere Risikofaktoren, so die BZgA.«

Während insgesamt eher rückläufige Werte hinsichtlich der Teilnahme an Glücksspielen konstatiert werden, gibt es eine hier bedeutsame Abweichung:

»Fürs Zocken an Geldspielautomaten geht der Trend in eine andere Richtung: 3,7 Prozent hatten die Geräte genutzt. Bei der Befragung 2007 waren es 2,2 Prozent gewesen.«

Eine vergleichbare Untersuchung wie die hier skizzierte aus England hinsichtlich der Verteilung der Angebote fehlt meines Wissens für Deutschland.