Das sind Überschriften, mit denen man in der Normalwelt punkten kann: Ein Blick ins Innere der Bettlermafia, so ist ein Artikel aus Österreich überschrieben: »In Wien hat das Bundeskriminalamt ein Jahr lang die Strukturen durchleuchtet. Entdeckt wurde ein System voller Ausbeutung, Folter und Menschenverachtung«, folgt man Andreas Wetz in seinem Beitrag. Aufhänger ist die Geschichte eines 33-jährigen Rumänen, der durch einen Unfall zum Krüppel wurde, und den Kriminelle mitten in Wien jahrelang zum Betteln zwangen. Haben wir es also mit einem „Geschäftsmodell“ zu tun? Müssen wir uns verabschieden von der zuweilen fast schon romantisch daherkommenden Verklärung des bemitleidenswerten Einzelschicksals in der Fußgängerzone, das uns immer auch daran erinnert, dass wir es besser haben und nicht so enden möchten? Andere hingegen sehen in der Bettelei lediglich eine Störung ihrer Entfaltung in den Konsumzonen der Städte, ein (ästhetisches) Ärgernis, ein ordnungsrechtliches Problem, um das sich die zuständigen Stellen zu kümmern haben im Sinne einer Entfernung aus dem öffentlichen Raum.
Aber zurück nach Wien, Österreich: »Seit Juli 2013 durchleuchtet eine Arbeitsgruppe des Bundeskriminalamts die Wiener Bettlerszene. Die Beamten unterscheiden zwischen selbstbestimmtem Betteln auf Grund von Armut (legal), organisiertem Betteln zur Profitmaximierung (Verwaltungsübertretung) sowie der Ausbeutung von Bettlern durch Menschenhändler (eine Straftat).« Auf der Basis ihrer Grundlagenrecherche behauptet das österreichische Bundeskriminalamt, »dass der organisierte und der strafrechtlich relevante Teil der Bettler zusammen in Wien bereits den halben „Markt“ besetzt haben dürfte. Die betroffenen Personen stammen fast ausschließlich aus den ärmsten Regionen der Europäischen Union, konkret aus den Ländern Slowakei, Bulgarien und Rumänien.«
Andreas Wetz beschreibt das „Geschäftsmodell“ so:
»Meistens beginnt es in den Heimatländern, wo die Bosse Mittellose, Behinderte und Arbeitslose zu regelrechten Bewerbungsgesprächen laden. In den betroffenen Regionen spricht sich herum, dass durch gemeinsames Betteln im wohlhabenden Österreich für den Einzelnen pro Monat zwischen 100 und 200 Euro „Einkommen“ bleiben. Eine Summe, die in diesen Ländern einiges wert ist. Noch mehr jedoch verdienen die Banden.
Diese betreiben zwischen Bukarest und Wien eine Art Linienverkehr, der die Bettler transportiert. Hier angekommen, werden sie nach festgelegten Dienstplänen an zuvor zugewiesene Standorte gebracht. Die Nacht verbringen sie in Massenquartieren, wo sie 130 Euro pro Monat und Matratze bezahlen.
Aus den Ermittlungen geht auch hervor, welch gutes Geschäft die Vermieter dieser Wohnen machen. Bei Razzien wurden 50 Quadratmeter große Substandardwohnungen mit 40 eingemieteten Bettlern entdeckt. Ein anderes Mal besuchten Polizisten ein Haus, in dem offiziell 47 Personen gemeldet waren. Letztendlich hielten sich dort 220 Personen auf. Im Visier haben die Beamten auch einen Vermieter, der in Wien 70 entsprechende Quartiere betreiben soll.«
Von dem 33-jährigen Rumänen, der als Kronzeuge fungieren soll, erfährt man ganz erstaunliche „Umsätze“, der der körperlich schwer behinderte Mensch angeblich realisiert hat, denn es »stellte sich heraus, dass dieser im Durchschnitt 300 Euro am Tag einnahm, von denen er alles abgeben musste. In der Vorweihnachtszeit erreichte er Spitzenwerte von 1.000 Euro. Wurde das Tagespensum einmal nicht erreicht, setzte es brutale Schläge und Essensentzug.« Auf die Frage, warum er in Österreich gelandet ist, antwortet der rumänische Mann: „Hier regnet es Geld“.
Nun wird man sich an dieser Stelle sofort die Frage stellen (müssen): Ist das jetzt von eher anekdotischer Evidenz? Oder steht der Mann stellvertretend für eine „Branche“?
Zumindest sind die genannten Beträge – die wohlgemerkt von einem Einzelfall berichtet werden – Gegenstand einer heftigen Distanzierung seitens der österreichischen Caritas: Bettler: Caritas-Kritik an Bundeskriminalamt, so ist die Stellungnahme überschrieben.
Klaus Schwertner, Generalsekretär der Caritas der Erzdiözese Wien, zitiert eine Studie:
»Laut einer Studie würden Bettler zwischen 20 und 30 Euro pro Tag erhalten, Menschen mit Behinderung etwas mehr. Dass das … in die Höhe von 300 Euro im Schnitt und 1.000 Euro zu Spitzenzeiten gehen könne, wies Schwertner zurück.«
Insgesamt kommt die Stellungnahme sehr forsch daher: Wenn man von einem „Geschäftsmodell Bettelei“ spricht, dann hätte man von der Realität keine Ahnung. »Menschen, die betteln, geben ihr Wissen weiter, bilden Fahrgemeinschaften, nehmen Sammeltaxis in Anspruch oder teilen sich Wohnungen, weil sie sich die Mieten sonst nicht leisten können. An diesem Verhalten lässt sich nichts Verwerfliches erkennen, es wird aber derzeit als ‚organisiertes‘ Betteln bestraft“, betonte Schwertner.« Die Botschaft ist eindeutig: „Vom Betteln wird niemand reich. Hören Sie auf die Bevölkerung zu verunsichern und Bettler zu kriminalisieren!“, so wird Schwerter zitiert. Dem einen oder der anderen wird dieses Statement als einer dieser typischen Reflexreaktionen vorkommen, nach dem Muster wenn du eine bestimmte Personengruppe negativ etikettierst, dann werde ich generell Absolution erteilen und das herausgestellte Problem zu einem Nicht-Problem erklären. Wie so oft bewegen wir uns faktisch in einem Kontinuum der unterschiedlichen Formen der Bettelei und beide Pole des Geschehens sind vorfindbar, also der „alteingesessene, normale“, nicht-aufdringlich daherkommende Bettler existiert neben den von wem auch immer organisierten Bettlergruppen vor allem aus Osteuropa. Es kann an dieser Stelle nur darauf hingewiesen werden, dass die hier erkennbarer unterkomplexe Polarisierung nicht nur, aber auch einer defizitären bzw. sogar fehlenden empirischen Durchdringung des Phänomens geschuldet sein könnte. Dabei hätten gerade die Österreicher die Möglichkeit, auf eine der wenigen wissenschaftlich fundierten Versuche der Ausleuchtung des Themenfeldes zurückzugreifen: Im Jahr 2012 wurde der von Ferdinand Koller herausgegebene Sammelband „Betteln in Wien. Fakten und Analysen aus unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen“ veröffentlicht.
Offensichtlich bewegen wir uns hier in einem Spannungsfeld der bewusst-unbewusst vorgenommenen Unterscheidung zwischen „guten“ und „schlechten“ Bettlern – ein generell im Diskurs über Armut und Arme immer wieder auftauchender Strukturierungsversuch. Das findet man beispielsweise auch prominent platziert im Vorspann der Diskussionssendung Warum betteln Menschen im Sozialstaat? Mitleid als Geschäftsmodell, die vom SWR2 ausgestrahlt wurde (Audio-Datei der Sendung):
»Heute ist das Betteln teilweise zu einem professionellen Geschäftsmodell krimineller Organisationen geworden, die ihre Mitleids-Strategien immer weiter verfeinern. Und doch gibt es daneben ebenso die Einzelkämpfer, die durch einen persönlichen Schicksalsschlag auf der Straße gelandet sind.«
In dieser Sendung haben Stefan Gillich von Evangelische Obdachlosenhilfe, Diakonisches Werk in Frankfurt, Hans-Jörg Longen vom Ordnungsamt der Stadt Stuttgart sowie Dr. Iulia-Karin Patrut, Kulturwissenschaftlerin von der Universität Trier miteinander diskutiert über Bettler und Bettelei – übrigens wohltuend differenziert und viele unterschiedliche Aspekte ansprechend.
Die Verwendung des Terminus „Bettlermafia“ ist übrigens keine österreichische Besonderheit, auch in Deutschland zieht sich das seit längerem durch die Medienberichterstattung und immer wieder gab es in der Vergangenheit Berichte etwa aus Berlin, Köln und München, wonach dort Gruppen Einwanderer aus Osteuropa „organisiert“ betteln und durch die „Bettelmafia“ ausgenutzt würden: Wie die Bettelmafia aus Mitleid Geld macht, Die rumänische Bettelmafia von Köln oder bereits vor einem Jahr in der Berliner Zeitung der Artikel Die Bettelmafia schnorrt jetzt mit Hunden, ein Phänomen, was gerade diese Tage von der BILD-Zeitung als „Neuigkeit“ verkauft wird, wenn sie mit ihren großen Buchstaben die Frage abfeuert: Warum haben so viele Bettler Luxus-Hunde?
Vielleicht steht das ganze Problem, das hier mehr schlecht als recht mit fragwürdigen Begriffen wie „Bettlermafia“ etikettiert wird, in der Traditionslinie von Stellvertreter-Themen. Damit ist gemeint, dass es eigentlich um etwas anderes geht, als das, worüber man scheinbar spricht. Da wäre auf der einen Seite der ordnungspolitische, sich auf die Anwendung von Ordnungsrecht bis hin zur Exklusionsversuchen des Problems kaprizierende Ansatz, nach dem das Problem primär eines der Störung der öffentlichen Ordnung ist, das man beseitigen möchte. Bei dieser Gruppe besteht die Gefahr, die Vielgestaltigkeit der Bettelei und der sie betreffenden Menschen aus den Augen zu verlieren und die Betroffenen zum Problem zu verengen. Auf der anderen Seite stehen die, die advokatorisch und praktisch helfend für die Menschen arbeiten (wollen) und die sich schützend vor diese stellen, dabei aber ebenfalls in die Gefahrenzone der Verengung geraten, in dem sie alle problematischen Fallkonstallationen wie die Strukturen und Prozesse einer organisierten Ausbeutungs-Bettelei als übertrieben oder gar nicht existent bewerten, oftmals weil sie Angst haben, das ansonsten alle anderen unter die Räder der von den Medien natürlich gerne, weil mit Skandalisierungspotenzial ausgestatteten Berichterstattung über diese eine Variante der Bettelei geraten werden.
Nicht selten hilft es, sich bei einem Thema, dass von den Medien als Neuigkeit in der immer flüchtiger werdenden Aufmerksamkeitsökonomie hochgespielt wird, klar zu machen, dass schon vor Jahren darüber diskutiert wurde und die Gesellschaft seitdem immer noch existiert. Ein Beispiel ist der Beitrag Bettelei ist schließlich kein Verbrechen von Patrick Bernau in der FAZ aus dem Jahr 2009 am Beispiel der Stadt Köln. Er versucht sich dem Thema aus einer distanziert-ökonomischen Sicht zu nähern. So zitiert er ein junge Bettlerin mit den folgenden Worten, die sich wie eine zielgruppengerechte Beschreibung der Tätigkeitsanforderungen liest: „Schnorren ist ein Knochenjob. Du musst bei jedem Wetter draußen stehen, immer nett sein und immer ’nen neuen guten Spruch auf den Lippen haben. Wenn du schlechte Laune kriegst, hast du schon verschissen.“ Offensichtlich kann man das nicht nur als einen „Job“ ansehen, sondern hier wirken ähnliche Grundmuster wie in der „normalen“ Wirtschaft: »Zehn Euro in der Stunde schaffen nur wenige. Denn Bettler müssen investieren, wollen sie gut verdienen. Ein Hund, eine Quetschkommode, eine Krücke verbessern den Umsatz.« Und auch sonst reproduzieren sich die gesellschaftlichen Strukturen, so dass sich auch bei den Underdogs eine Unter-, Mittel- und Oberschicht herausgebildet hat:
»… selbst bei denen, die in der Gesellschaft ganz unten sind, gibt es Abstufungen und Schichten. Das muss man sich ganz konkret und im Wortsinn vorstellen: Am schlechtesten geht es jenen Bettlern, die still auf dem Boden sitzen. Sie sind die Unterschicht.
Die Mittelschicht besteht aus Leuten, die aufstehen und aktiv andere ansprechen. Und zur Oberschicht der Bettler gehört, wer Programm macht – auf einer Geige spielt oder mit einer Krücke daherkommt. Wie in der großen Gesellschaft bezieht die Oberschicht am meisten Einkommen und Prestige. Doch wer aufsteigen will, muss investieren.«
Auch eine nüchterne Analyse der historischen Entwicklung des Bettlerwesens kann einige Aufschlüsse geben über das auch hier wirkende Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage. Dazu Bernau:
»Im Mittelalter bevölkerten noch viel mehr Bettler die Städte. Sie standen zwar damals schon am Rand der Gesellschaft, waren aber besser gelitten als heute. Armut galt als gottgegeben, und wer einem Bettler ein Almosen gab, sicherte sich sein Seelenheil – die Bettler nahmen also nicht nur, sondern lieferten dafür eine Leistung: Sie beteten, dass dem Spender seine Sünden vergeben werden. Kein Wunder, dass Bettler gut verdienten und das Gewerbe regen Zulauf bekam. Immer mehr Gauner mischten sich darunter, und am Ende verloren die Bettler die Akzeptanz. Im Bayern des 16. Jahrhunderts wurde mancher Bettler sogar hingerichtet.«
Der heute von dem einen oder dem anderen wahrgenommen „Aufschwung“ der Bettelei – wobei angemerkt werden muss, dass es hierzu keine auch nur halbwegs gesicherte Datenlage gibt – hat seine strukturelle Basis wie so vieles andere auch in den 1970er Jahren, konkret in der Herausnahme des Bettelverbots aus dem Strafgesetzbuch im Kontext der Strafrechtsreformen dieser Zeit.
Und auch in dem Beitrag von Bernau aus dem Jahr 2009 taucht der Mafia-Terminus schon auf, allerdings im Vergleich zur heutigen Debatte in einer gleichsam wohltuend differenzierte Art und Weise, wenn er auf die „Luxusverdiener“ unter den Bettlern zu sprechen kommt:
»Das sind die wenigen organisierten Bettler, die „Schnorrermafia“,wie sie von den anderen genannt werden. Seit ein paar Jahren gibt es sie in vielen Städten: Oft sind das Gruppen von Osteuropäerinnen, die morgens mit dem Kleinbus gemeinsam in die Stadt gebracht und abends wieder abgeholt werden. Manchmal tragen sie Babys auf dem Arm, die nicht ihre sind. Sie stützen sich auf eine Krücke, obwohl sie gut laufen können. Oder sie sitzen in einem Rollstuhl, aus dem sie abends wieder aufstehen … Dass diese Leute eine richtige Mafia sind, glauben allerdings weder die Polizei noch Forscher, die die Szene untersucht haben. Meistens arbeiten da einfach ein paar Leute zusammen, die miteinander verwandt sind oder einander aus dem Heimatdorf kennen. Das ist effektiv. Die Bettlerbanden ziehen mit Krücken und Babys genügend Aufmerksamkeit auf sich. Umso mehr erbost das die „normalen“ Bettler. Denn was die Banden tun, passt nicht zu dem rücksichtsvollen Umgang, den die Bettler sonst untereinander pflegen.«
Na ja – und dass die Zahl der bettelnden Menschen gerade aus osteuropäischen Ländern in unseren Städten zugenommen hat und – da kann man sehr sicher sein – weiter ansteigen wird, hängt auch mit Angebot und Nachfrage zusammen. Wenn man sich nur einmal das gewaltige Wohlstandsgefälle zwischen den Armenhäusern und den Reichtumsinseln innerhalb der EU, also bei Personenfreizügigkeit, anschaut, dann wird verständlich, warum bei dieser Konfiguration der Nachschub für die Bettelei aus dem Ausland sicher ist. Hinzu kommen die Inländer, die aus welchen biografischen Gründen auch immer bei uns durch alle Roste fallen und auf der Straße landen.
Apropos Menschen – die unglaubliche Heterogenität der Gründe, warum Menschen auf der Straße landen und welche Geschichten in ihnen stecken, kann man sich auf der Facebook-Seite Streets of Berlin anschauen. Ein beeindruckendes Projekt.