Gut gemeint: Ein Vorstoß in den Kernbereich der verhärteten Langzeitarbeitslosigkeit über die unschuldigen Kinder. Aber auch gut gemacht?

Da muss man schon ein wenig um die Ecke denken: „Wer die Verhärtung von Armut bekämpfen will, muss möglichst früh ansetzen – also bei den Kindern“. Und um das zu schaffen will man bei den Eltern ansetzen, die als Voraussetzung mitbringen müssen, dass beide Elternteile im Hartz IV-Bezug (also im Regelfall seit längerem in dieser prekären Situation) sind und von denen keiner irgendeine ergänzende Beschäftigung, nicht einmal einen Minijob, ausübt und auch keiner an irgendeiner arbeitsmarktpolitischen Fördermaßnahme teilnimmt und deren Kind bzw. Kinder nicht jünger sein dürfen als sechs Jahre. Wir können begründet annehmen, dass man mit dieser Definition der – da kommt er, der deutsche Folterbegriff – „Zielgruppe“ wirklich auch die „harten Fälle“ erreichen wird, also Menschen, von denen wahrscheinlich sehr viele seit Jahren im Leistungsbezug sind.
Aber beginnen wir lieber mit der guten Absicht: Sozialpartner verbünden sich gegen Hartz-IV-Karrieren, meldet beispielsweise die FAZ unter der Rubrik „Kinderarmut“.

Dietrich Creutzburg beschreibt den Ausgangspunkt für den gemeinsamen Vorstoß von DGB und BDA: »Von den gut 6 Millionen Menschen im Hartz-IV-System leben allein 2,8 Millionen schon seit mindestens vier Jahren von der staatlichen Grundsicherung. Unter ihnen sind 640.000 Kinder. Vor allem eine Gruppe fällt dabei nach gemeinsamer Überzeugung von Arbeitgebern und Gewerkschaften bisher zu oft durch das Raster der Aufmerksamkeit und auch der Förderpolitik: Es gibt darunter 112.000 Familien, deren Kinder das schulpflichtige Alter erreicht haben und bei denen dennoch keiner der beiden Elternteile arbeiten geht. Die Kinder wachsen dann mit der Erfahrung auf, dass Hartz-IV-Bezug und Arbeitslosigkeit normal sind (…).« Die beiden Spitzenverbände der Gewerkschaften und Arbeitgeber haben vor diesem Hintergrund einen „Aktionsplan gegen Kinderarmut“ ausgearbeitet, der es den Jobcentern ermöglichen soll, solche Familien gezielter auf dem Weg in Arbeit voranzubringen und damit Kinder vor sogenannten Hartz-IV-Karrieren zu bewahren. Dieser Vorschlag für einen Aktionsplan trägt den Titel „Zukunft für Kinder – Perspektiven für Eltern im SGB II“. Die dazu gehörende Pressemitteilung ist überschrieben mit DGB und BDA stellen Aktionsplan gegen Kinderarmut vor. Das verdeutlicht sowohl den Handlungsauftrag wie auch das Problem des Ansatzes, denn „Kinderarmut“ als Singularität gibt es nun mal nicht, es handelt sich immer um eine abgeleitete Armut der Kinder von der ihrer Eltern. An denen kommt man partout nicht vorbei, wenn man die Situation der Kinder verbessern möchte, zugleich aber verdeutlicht das Herausstellen der Bekämpfung der Kinderarmut, dass sich dieses Anliegen irgendwie besser „verkaufen“ lässt als wenn man gleich offen diejenigen adressieren würde, um die es auch bei diesem Vorschlag wieder geht: eben die Eltern.

Den Erläuterungen von DGB und BDA kann man den folgenden Ansatz entnehmen:

»Qualifizierte Fallmanager würden gemeinsam mit den Hilfesuchenden eine individuelle Eingliederungsstrategie entwickeln und vereinbaren. Ergänzende Leistungen, wie Kinderbetreuung und psychosoziale Beratung, würden von den Kommunen bereitgestellt.
Sollte es nach etwa einem Jahr nicht gelungen sein, zumindest ein Elternteil in den Arbeitsmarkt zu integrieren – und das hat stets Vorrang -, schlagen BDA und DGB eine zeitlich befristete, öffentlich geförderte und sozialversicherungspflichtige Beschäftigung vor. Als gezielte finanzielle Anreize für Jobcenter, die sich engagieren wollen, schlagen die Sozialpartner 280 Mio. Euro vor. Das Programm soll zunächst auf drei Jahre angelegt sein und wissenschaftlich begleitet werden.«

An dieser Stelle werden nicht wenige Insider der Arbeitsmarktpolitik unter Schmerzen aufstöhnen. Nicht schon wieder ein Sonderprogramm. Denn Programmitis und Modellprojektionitis sind bekanntlich zumindest aus Sicht der meisten Praktiker zwei der Grundübel (nicht nur) in der Arbeitsmarktpolitik, die oftmals, von einzelnen sinnvollen Ergebnissen abgesehen, enorme Ressourcen verschlingen, zu einer Anpassung der real existierenden Menschen an die Zielgruppenvorgaben der Programme zwingen und letztendlich – aufgrund der zeitlichen Befristung – kaum bis gar nicht „nachhaltig“ wirken (können). Außerdem sind wir hier konfrontiert mit einer systemischen Eigendynamik dergestalt, dass je genauer und abgrenzender die Zielgruppen der einzelnen Programme und Maßnahmen gestrickt werden, um so größer wird der Expansionsbedarf zur Abdeckung der anderen, davon nicht erfassten, aber weiter existenten Fälle, die man nun auch irgendwie bedienen müsste und sollte. Ein Teufelskreis.

Schauen wir einmal genauer in den „Aktionsplan“ hinein – und man muss konzedieren, dass man die angesprochene Problematik zwar nicht wirklich aufzulösen, sie aber zumindest etwas abzumildern versucht. Neben dem im Rechtskreis SGB II mit seinen vielen Sanktionstatbeständen wichtigen Hinweis, dass die Teilnahme seitens der Betroffenen freiwillig sein sollte, kommt mit Blick auf diejenigen, die das hauptsächlich und federführend machen müssen, also die Jobcenter, der folgende Passus:

»Jobcenter, die sich an dem vorgeschlagenen Aktionsplan beteiligen, sollen dies ebenfalls freiwillig tun. Es ist nicht unsere Absicht, deren Arbeit durch ein aufgezwungenes Sonderprogramm zu verkomplizieren.« (DGB/BDA 2015: 3)

Stattdessen soll es es Anreize geben, sich daran zu beteiligen – eben der Zugang zu zusätzlichen Mitteln: »Für zusätzliche Aktivitäten der Jobcenter im Rahmen des hier vorgeschlagenen Aktionsplans „Zukunft für Kinder – Perspektiven für Eltern im SGB II“ sollte der Bund mittels eines Sonderprogramms zusätzlich zum regulären Eingliederungsbudget (EGT) ein Finanzvolumen von ca. 280 Mio. Euro zur Verfügung stellen … Zusätzliche finanzielle Mittel aus dem Sonderprogramm erhalten nur jene Jobcenter, die zusätzliche Anstrengungen gegen Kinderarmut unternehmen.« (DGB/BDA 2015: 4). Was natürlich dazu führen muss, dass in den Jobcentern, die sich beteiligen, entsprechende Anstrengungen notwendig werden, den Vorgaben des zusätzlichen Programms zu folgen und diese in der täglichen Arbeit auch abzubilden. Dazu der „Aktionsplan“: »Das Jobcenter sollte in eigener Verantwortung überlegen, ob gesonderte Strukturen, z.B. spezielle Teams, sinnvoll sind. Eine gesonderte Organisationseinheit würde den Charakter des vorgeschlagenen Aktionsplans auch mit Blick auf das Zielsystem betonen. Es kann aber auch örtlich sinnvoll sein, vorhandene Strukturen und Aktivitäten „nur“ gezielt zu verstärken.«

Die Durchsicht der weiteren Elemente der inhaltlichen Ausgestaltung verdeutlicht, dass hier die als erfolgreich oder wenigstens als irgendwie wirksam erkannten Bausteine aus anderen Modellversuchen und praktischen Erfahrungen vor Ort zusammengestückelt werden:

»Die zuständigen Fallmanager/innen oder Vermittler/innen brauchen flexible Handlungsmöglichkeiten im Rahmen eines Budgets, um den Elternteilen sinnvolle Angebote machen zu können. Wir schlagen eine Ausweitung der Möglichkeiten vor, die § 44 f. SGB III (Vermittlungsbudget, Aktivierungs- und Eingliederungsmaßnahmen) den Vermittler/innen einräumt. So könnte Langzeitarbeitslosen ein Coach an die Seite gestellt werden, der die Jobsuche und den Beginn einer neuen Erwerbstätigkeit begleitend unterstützt. Die in einzelnen Arbeitsagenturen und Jobcentern durchgeführten Modellprojekte („INA“) zum Coaching waren erfolgreich. Dieser Ansatz sollte im vorgeschlagenen Aktionsprogramm genutzt werden können. Die Teilnahme an Qualifizierungsmaßnahmen könnte dort, wo dies sinnvoll und nötig erscheint, durch einen finanziellen Anreiz im Sinne einer Erfolgs- oder Durchhalteprämie stimuliert werden. Diese Hilfen und Anreize sollen gezielt mit Blick auf den Einzelfall eingesetzt werden, als Teil des zwischen Vermittler/in und Elternteil vereinbarten Vorgehens.« (DGB/BDA 2015: 5)

Im weiteren Gang der Beschreibung werden dann alle irgendwie relevanten Partner der Jobcenter bei der Integrationsarbeit aufgezählt und mitverhaftet – von den Kommunen mit ihren Angeboten natürlich bis hin zu den Krankenkassen, örtliche „Paten“ aus der „Zivilgesellschaft“ und in besonderen Fällen auch »eine familienbegleitende Betreuung durch eine/n Familiencoach/in«.
Nun sind Gewerkschaften und Arbeitgeber keine Traumtänzer und sie formulieren in ihrem Papier (S. 5) selbst das zentrale Problem: »Die Integration von arbeitslosen Eltern kann nur gelingen, wenn entsprechende geeignete Arbeitsplätze gefunden werden.«

Und was, wenn das trotz aller Netzwerke und Anstrengungen nicht gelingt? Dann taucht sie auf, die „öffentlich geförderte Beschäftigung“ – oder sagen wir an dieser Stelle schon: das, was von ihr überhaupt noch übrig geblieben ist, nach Jahren nicht nur der budgetären, sondern vor allem der förderrechtlichen Verstümmelung:

»Gelingt es innerhalb eines bestimmten Zeitraums (z.B. ein Jahr) nicht, zumindest ein Elternteil zu integrieren, wird – ultima ratio – eine zeitlich befristete öffentlich geförderte Beschäftigung in sozialversicherungspflichtiger Form im Rahmen der bestehenden gesetzlichen Fördermöglichkeiten angestrebt … Den Sozialpartnern in den Beiräten der Jobcenter sollte die Aufgabe zukommen, die Einsatzfelder öffentlich geförderter Beschäftigung vorab zu prüfen, ob eine Verdrängung regulärer Beschäftigung zu erwarten ist.«

Kein Wort dazu, dass man nun wirklich neue Wege der öffentlich geförderten Beschäftigung gehen müsste, um halbwegs vernünftig arbeiten zu können. Wenigstens ein Hinweis auf den desaströsen rechtlichen Zustand hätte man sich gewünscht. Alles wird irgendwie passungsfähig gemacht zu dem, was da ist. Egal, ob das, was da ist, von vielen Praktikern und Experten als untauglich und sogar in vielerlei Hinsicht als kontraproduktiv bewertet wird.

Damit das nicht missverstanden wird – den neuen Vorstoß der Gewerkschaften und der Arbeitgeber sollte man als eine wirklich gute Absicht bewerten, einer der vielen Teilgruppen im Hartz IV-System zu helfen, die bislang entweder durch den Rost gefallen oder die aus ganz unterschiedlichen Gründen mit den vorhandenen Instrumenten nicht zu erreichen sind.

Aber irgendwie erinnert das Vorgehen an den höchst problematischen „Windows-Effekt“. Damit ist gemeint, dass man das bestehende Betriebssystem mit immer neuen zusätzlichen und anderen Funktionen angereichert hat, in dem man diese „add-on“ gepackt hat, bis irgendwann zahlreiche Schnittstellen-Fehler auftreten mussten, weil sich unten immer mehr Müll angesammelt hat, der nicht beseitigt worden ist. Bildlich gesprochen stehen wir in der Arbeitsmarktpolitik vor einem ähnlichen Problem. Man packt oben immer mehr drauf und weigert sich aber, zu einem bestimmten Zeitpunkt einfach mal einen Schnitt zu machen und eine Generalrevision vorzunehmen.

Für die Arbeitsmarktpolitik würde das bedeuten – was übrigens seit Jahren gefordert wird -, dass man das Förderrecht radikal entschlackt und den Profis vor Ort ein Instrumentarium an die Hand gibt, das sie flexibel einsetzen können. Wenn man dann noch berücksichtigt, dass gerade eine sich verhärtende Langzeitarbeitslosigkeit auch bei einem wesentlich flexibleren Förderrecht nicht bekämpft werden kann, wenn man gleichzeitig die Fördermittel bei – wie gesagt – zunehmender Problemschwere zusammenstreicht, dann hätte man die beiden zentralen Ansatzpunkte für eine echte Reform, die ihren Namen verdienen würde.

Diesseits und jenseits von Armutsgefährdungsquoten für alle und für besondere Fälle. Ein Schlaglicht auf ein wachsendes Strukturproblem

Das Statistische Bundesamt hat mal wieder „Armutsgefährdungsquoten“ veröffentlicht. Das löst erwartungsgemäß Reflexe auf allen Seiten aus. Die einen beklagen das, was damit ausgesagt werden soll, die anderen bestreiten, dass diese Quoten überhaupt irgendeine Aussagefähigkeit hinsichtlich des höchst aufgeladenen Begriffs „Armut“ haben. Immer ganz vorne dabei Ulrich Schneider, der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, der sich auch diesmal zu Wort gemeldet hat: Armut verharrt auf hohem Niveau – Paritätischer warnt vor neuer Rentnerarmut und fordert offensive Armutsbekämpfung, so ist die Pressemitteilung des Wohlfahrtsverbandes überschrieben worden. Darin wird er mit diesen Worten zitiert: „Das Bild, wonach es den Rentnerhaushalten in Deutschland im Vergleich zum Durchschnitt der Bevölkerung doch noch sehr gut ginge, hat sich mit den neuen Zahlen endgültig erledigt.“ Und weiter: „Die Quote der altersarmen Rentenrinnen und Rentner hat seit 2006 mit 51 Prozent so stark zugelegt wie bei keiner anderen Bevölkerungsgruppe. Politik und Öffentlichkeit müssen sich endlich der Tatsache stellen, dass eine Lawine der Altersarmut auf uns zurollt. Es sind Menschen, deren Einkommen häufig nur knapp über der Sozialhilfeschwelle liegt. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch die Zahlen derer, die in Altersgrundsicherung fallen, auf ein hohes Niveau nachziehen.“

Die andere Seite reagiert natürlich ebenfalls entsprechend und stellt den ganzen Ansatz in Frage, wie schon im April dieses Jahres, als der Paritätische seinen neuen Armutsbericht auf Basis der offiziellen Daten veröffentlicht hat (vgl. hierzu ausführlicher den Blog-Beitrag Das doppelte Kreuz mit der Armut und der Herkunft: Die (angeblichen) Armutskonstrukteure schlägt man und die Ständegesellschaft 2.0 wird nur angeleuchtet vom 3. April 2015). Doch mit Blick auf die neuen Zahlen des Bundesstatistiker soll es nicht um die leidige Grundsatzfrage gehen und auch nicht um den besonderen Fall der Altersarmut (vgl. dazu an anderer Stelle beispielsweise meinen Blog-Beitrag Diesseits und jenseits der Grundsicherung im Alter: Die Legende von der massenhaften Rentner-Armut. Das ist (nicht) richtig vom 7. August 2015). Die Daten des Statistischen Bundesamtes werfen nämlich ein interessantes Schlaglicht auf ein leider zunehmendes Strukturproblem unterhalb der allgemeinen Durchschnittsquoten: Gemeint ist die Lage der „Geringqualifizierten“. Und die hat sich in den vergangenen Jahren erkennbar (weiter) verschlechtert.

Entsprechend lautet die Überschrift der Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes: Höhere Armuts­gefährdung von gering Qualifi­zierten als 2005.

Einige Hinweise zu den Daten: Die stammen aus dem Mikrozensus. Der Mikrozensus ist die größte jährliche Haushaltsbefragung in Europa; er bietet aufgrund seiner Stichprobengröße die Möglichkeit, für alle Bundesländer verlässliche Indikatoren zu ermitteln und zu vergleichen. Die Armutsgefährdungsquote ist ein Indikator zur Messung relativer Einkommensarmut und wird – entsprechend dem EU-Standard – definiert als der Anteil der Personen, deren Äquivalenzeinkommen weniger als 60 % des Medians der Äquivalenzeinkommen der Bevölkerung (in Privathaushalten) beträgt. In Deutschland trifft das etwa auf Einpersonenhaushalte mit einem monatlichen Einkommen von weniger als 917 Euro zu. Das Äquivalenzeinkommen ist ein auf der Basis des Haushaltsnettoeinkommens berechnetes bedarfsgewichtetes Pro-Kopf-Einkommen je Haushaltsmitglied. Das bedarfsgewichtete Einkommen (Äquivalenzeinkommen) wird auf Basis der 1994 entwickelten neuen OECD-Skala berechnet. Nach dieser wird der ersten erwachsenen Person im Haushalt das Bedarfsgewicht 1 zugeordnet, für die weiteren Haushaltsmitglieder werden kleinere Gewichte eingesetzt (0,5 für weitere Personen im Alter von 14 und mehr Jahren und 0,3 für jedes Kind im Alter von unter 14 Jahren), weil angenommen wird, dass sich durch gemeinsames Wirtschaften Einsparungen erreichen lassen. Die Werte des Statistischen Bundesamtes, die in der Abbildung zusammengefasst sind, basieren auf der Armutsgefährdungsschwelle auf Bundesebene (Bundesmedian), die für Bund und Länder einheitlich ist und somit einen regionalen Vergleich ermöglicht. Detaillierte Ergebnisse zur Armutsgefährdung, zum Teil in tiefer regionaler Gliederung, sowie genaue Erläuterungen zu den Datenquellen und den angewandten Berechnungsverfahren stehen im Internetangebot der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder zur Verfügung. Dort finden sich auch Armutsgefährdungsquoten, die auf Basis regional unterschiedlicher Armutsgefährdungsschwellen ermittelt wurden. Zu den Geringqualifizierten gehören Personen, die ausschließlich einen Hauptschul- oder Realschulabschluss beziehungsweise keinen Hauptschulabschluss sowie keinen beruflichen Bildungsabschluss besitzen.

Die Abbildung mit den Armutsgefährdungsquoten im Vergleich der Jahre 2005 und 2014 verdeutlicht generell, dass es keine Abnahme in den zurückliegenden Jahren gegeben hat, sondern der Anteil ist bundesweit sogar leicht von 14,7 auf 15,4 Prozent angestiegen, wobei sich das aus zwei gegenläufigen Entwicklungen speist, in Westdeutschland ist der Anteil etwas gesunken, während in Ostdeutschland die Quote angestiegen ist.

Besonders relevant ist aber der Befund hinsichtlich der spezifischen Armutsgefährdungsquote der „Geringqualifizierten“. Die Süddeutsche Zeitung fasst das in dem Artikel Ausbildung verhindert Armut kompakt so zusammen: »Geringqualifizierten droht in Deutschland heute häufiger ein Leben in Not als noch vor zehn Jahren.« Auch Spiegel Online schließt sich diesem Tenor an: Armutsgefährdung in Deutschland steigt. Natürlich gibt es auch die anderen, denen solche Daten gar nicht passen, aber man kann ja die Berichterstattung „gewichten“. Ein Beispiel dafür ist der Artikel Den Geringqualifizierten geht es doch nicht so schlecht von Dietrich Creutzburg in der FAZ. Schon die Überschrift irritiert vor dem Hintergrund der Ausgangsmeldung des Statistischen Bundesamtes und der Rezeption in anderen Medien. Wie kann es dazu kommen? Dazu erfahren wir: »Das Armutsrisiko der Geringqualifizierten ist gestiegen … Doch es lohnt sich ein genauerer Blick auf die Zahlen. Die Einkommen der Geringqualifizierten etwa sind keineswegs gesunken.« Creutzburg versucht es so:

»Aus dem gestiegenen Armutsrisiko der Geringqualifizierten folgt nicht, dass die absolute Höhe ihrer Einkommen gesunken ist. Ihre Einkommen sind nur langsamer gestiegen als die mittleren Einkommen in der Gesellschaft – welche nun von mehr Höherqualifizierten getragen werden.«

Na ja, netter Versuch, ändert aber nichts an dem Befund, den alle anderen auch erkannt haben. Man muss schon ein wenig dem Motto „Frechheit siegt“ verfallen sein, um so zu argumentieren. Die absoluten Einkommen sind nicht gesunken – bei einem relativen Maß, dass sich als Anteilswert am Einkommensdurchschnitt der Gesellschaft bemisst. Auf welch tönernen Füßen das steht, kann man sich an einem einfachen Gedankenspiel verdeutlichen: Wenn alle in der Gesellschaft oberhalb der Ebene der Geringqualifizierten bei den Einkommen ordentlich zulegen und nach ein paar Jahren in absoluten Euro-Beträgen 100 Prozent mehr haben, die Geringqualifizierten aber nur sagen wir mal 10 Prozent mehr haben gemessen an den absoluten Euro-Beträgen, dann wurde Creutzburg zu dem Ergebnis kommen: Den Geringqualifizierten geht es doch nicht so schlecht. Jeder andere würde natürlich erkennen, dass wir es mit einer gewaltigen Abkoppelung der Geringqualifizierten zu tun hätten (und auch haben), denn auch wenn deren absolute Euro-Beträge nicht gesunken, aber auch kaum gestiegen sind – selbst ein Nicht-Ökonom müsste sich nun wirklich vorstellen können, was es bedeutet, wenn die anderen zwei Drittel der Gesellschaft ihre Einkommen um 100 Prozent oder wie viel auch immer gesteigert haben – beispielsweise hinsichtlich des Preisniveaus dieser Volkswirtschaft, in der die Menschen leben.

Na ja, da ging es wohl um etwas anderes. In Wirklichkeit geht es dabei um den Kampf gegen die durchaus breite und fundierte Kritik an der Entwicklung wie vor allem auch an den Folgen der zunehmenden Ungleichheit. Zur Höchstform bei der grundsätzlichen Infragestellung eines kritischen Blicks auf Ungleichheit (nachdem man in einem ersten Schritt die „Armut“ bei uns „wegdefiniert“ hat) läuft Rainer Hanke, der verantwortliche Redakteur für Wirtschaft und „Geld & Mehr“ der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, auf: Warum soll Ungleichheit ein Übel sein?, so hat er seinen Artikel in der FAS überschrieben und legt gleich im Untertitel nach: »Gleichheit wird maßlos überschätzt. Das meinen jetzt auch ein paar häretische Linke.« Es gibt aber auch nichts Schöneres als wenn ein paar Abtrünnige aus dem anderen Lager die eigene Meinung unterstützen oder man das so verkaufen kann.

Sozialpolitisch, aber auch volkswirtschaftlich wesentlich relevanter als diese ideologischen Verrenkungen derjenigen, die sich die Welt so malen wollen, wie sie gefälligst zu sein hat, damit keiner an den bestehenden Zuständen zweifelt, ist die Frage, was denn aus diesen erst einmal sehr trockenen Zahlen resultiert.

Das eine ist der Befund an sich, die zunehmende Abkoppelung der Geringqualifizierten von der allgemeinen Einkommensentwicklung. Wohlgemerkt mit Blick zurück auf Jahre, in denen wir in Deutschland eine insgesamt gesehen positive Arbeitsmarktentwicklung gehabt haben, in der es eigentlich bei entsprechenden Verteilungsstrukturen auch für die da unten hätte besser werden müssen. Was aber offensichtlich nicht der Fall war. Das hängt zusammen mit einer generellen Polarisierung gerade auf den Arbeitsmärkten und das betrifft eben nicht nur die Geringqualifizierten in der Abgrenzung des Statistischen Bundesamtes.

Dazu gibt es eine neue Studie des Instituts für Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen: Die Mittelschicht in Deutschland unter Druck, so haben Gerhard Bosch und Thorsten Kalina ihre Studie überschrieben (vgl. als Beispiel für die Berichterstattung darüber beispielsweise den Artikel von Michael Kohlstadt: Mittelschicht schrumpft trotz Rekordbeschäftigung zusammen). Einige Befunde aus der Studie von Bosch und Kalina:

»Seit Mitte der 1990er Jahre hat in Deutschland die Einkommensungleichheit stärker als in vielen anderen europäischen Ländern zugenommen. Der Anteil der Haushalte mit einem mittleren Markteinkommen (60 bis 200% des Medianeinkommens) ging um gut acht Prozentpunkte von 56,4% im Jahre 1992 auf 48% im Jahre 2013 zurück. Der Sozialstaat hat die wachsende Ungleichheit der Markteinkommen nur zum Teil auffangen können. In der Sekundärverteilung, also nach Steuern, Sozialabgaben und Sozialtransfers, schrumpfte der Anteil der Mittelschicht von 83% im Jahre 2000 auf knapp 78% im Jahre 2013 … Die Abstände in der bezahlten Arbeitszeit zwischen den Schichten sind in den letzten 20 Jahren gestiegen und haben die Ungleichheit vergrößert. Immer weniger Haushalte der Unterschicht und der unteren Mittelschicht können von ihren Erwerbseinkünften leben. Unter ihnen gibt es vermehrt Singlehaushalte und Haushalte mit nur geringer Erwerbstätigkeit, in vielen Branchen haben sie oft nur noch Zugang zu Minijobs und kurzer Teilzeitarbeit.«

Wenn man zwei zentrale und notwendigerweise holzschnittartige Schlussfolgerungen aus den Erkenntnissen der IAQ-Studie wie auch anlässlich der Daten des Statistischen Bundesamtes zu der besonderen Entwicklung bei den Geringqualifizierten ziehen soll, dann könnte man folgendes formulieren:

Zum einen sind es nicht nur generell niedrige Löhne, die ein Problem darstellen, sondern diese vor allem auch in Verbindung mit wenigen Arbeitsstunden, am ausgeprägtesten in Form der geringfügigen Beschäftigung, aber auch bei vielen „normalen“, also sozialversicherungspflichtigen Teilzeitbeschäftigungsverhältnissen bis 20 Stunden in der Woche. Es geht also um eine Stabilisierung und Aufwertung der niedrigen Löhne an sich (passende Stichworte mögen hier Mindestlöhne und die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen sein), sondern zugleich muss es auch gelingen, die Zahl der bezahlten Arbeitsstunden nach oben zu bringen.

Zum anderen und mit dem Blick auf die besondere Gruppe der „Geringqualifizierten“ in der Abgrenzung des Statistischen Bundesamtes (als ohne Berufsabschluss unter 25 Jahr und älter): Hierbei handelt es sich wenigstens zum Teil auch um die Opfer eines Ausbildungsstellenmarktes der Vergangenheit, in der es zu wenige Ausbildungsplatzangebote und eine zu große Nachfrage gab, also Jahre, in denen viele jungen Menschen leer ausgegangen sind bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz. Die sich dann irgendwann verabschiedet haben in das Geld verdienen als un- und angelernte Arbeitskräfte in der Industrie oder auf Servicejobs im Dienstleistungsbereich.

Wenn es uns gelingen würde – wie seit Jahren übrigens gefordert und von Berlin nicht wirklich ge-, geschweige denn erhört -, nur einen Teil dieser Menschen, die heute als Geringqualifizierte etikettiert werden und realen Verschlechterungen ausgesetzt sind, in Form von Umschulungen bzw. Erstausbildungen in die Bereiche des Handwerks und der Facharbeit hinein zu qualifizieren, wo wir absehbar und definitiv einen erheblichen Personalbedarf in den kommenden Jahren bekommen werden, dann wäre das ein individueller Ausweg für viele Betroffene und volkswirtschaftlich gesehen eine mehr als lohnende Investition. Dazu müsste man aber die Bereitschaft für und die Realisierung einer Ausbildung monetär bei diesem erwachsenen Personenkreis ganz anders fördern als das, was bislang passiert. Das bislang nicht endlich auf die Schiene gesetzt zu haben, ist ein Armutszeugnis für die Arbeitsmarktpolitik in Deutschland und vor allem für die, die diese zu verantworten haben.
Man könnte aber auch optimistisch enden, mit einem gewissen zynischen Unterton: Vielleicht wird ja jetzt endlich die Blockade dieser sinnvollen Nachqualifizierung (derjenigen, die das auch wollen) fallen, weil im Zuge der Arbeitsmarkt- und Ausbildungsintegration der vielen Flüchtlinge, die bei uns bleiben werden, klar werden wird, dass man angesichts der ungeheuren Aufgaben und Anstrengungen für die Flüchtlinge diejenigen nicht vergessen darf und sollte, die das „Pech“ (oder auch das selbstgewählte Schicksal) erfahren haben, vor einigen Jahren durch die Löcher unserer Schul- und Ausbildungssystems zu fallen. Ihnen gehört eine zweite, vielleicht auch dritte und vierte Chance gegeben.

Falsche Daten? Egal. Untiefen der Statistik über arbeitsmarktpolitische Maßnahmen und das Prinzip des Aussitzens

Bekanntlich sind Statistiken – bei aller Kritik im Einzelfall – eine absolut notwendige, unverzichtbare Basis für politische Entscheidungen. Das gilt gerade in der Arbeitsmarktpolitik. Wie viele Arbeitslose erhalten beispielsweise eine Fördermaßnahme? Und wie hat sich die Zahl wie auch die konkrete Art und Weise der Förderung in den vergangenen Monaten und Jahren entwickelt? Hierzu gibt es eine an sich sehr ausdifferenzierte Förderstatistik der Bundesagentur für Arbeit. So weit, so gut.
Wenn da nicht die Lebenswirklichkeit wäre, in der es nie ideal zu geht und auch nicht gehen kann. Natürlich werden Fehler gemacht, wo Daten produziert werden müssen. Auch das ist an sich nicht problematisch. Aber problematisch wird es dann, wenn man fehlerhafte Daten erkennt, sie aber nicht korrigiert. Und wenn es sich dann nicht um vernachlässigbar kleine Fehler handelt, dann ist das nicht nur begründungsdürftig, sondern nicht akzeptabel.

O-Ton Arbeitsmarkt hat sich dieses Themas angenommen – mit einigen wirklich erschreckenden Ergebnissen: Statistik über arbeitsmarktpolitische Maßnahmen: Falsche Daten? Egal!, so ist der Artikel vom 18. Juli 2015 überschrieben. Die regionalen Statistiken der Bundesagentur für Arbeit zu arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen enthalten immer wieder falsche Daten einzelner Jobcenter. Liefern diese nicht innerhalb von drei Monaten die richtigen Werte nach, bleiben sie unkorrigiert. Das verfälscht die gesamte Bundesstatistik, so die Kritik.

Ein besonders krasser Fall, der in dem Artikel beschrieben wird:

»Beispiel Groß-Gerau in Hessen: Bei der Förderung von Arbeitsverhältnissen, einer Maßnahme der öffentlich geförderten Beschäftigung, meldete das dortige Jobcenter im Mai und Juni 2013 einen Anstieg der Teilnehmerzahlen von 16 auf rund 1.000 Personen! In allen übrigen Monaten nahmen im Mittel 15 Personen teil. Die zuständige Regionaldirektion bestätigte, dass die beiden Werte fehlerhaft seien. Die Maßnahme hatte zu diesem Zeitpunkt bundesweit etwa 6.000 Teilnehmer. Ein Plus von 1.000 Teilnehmern, die es tatsächlich gar nicht gibt, fällt da deutlich ins Gewicht. Entsprechend stieg auch die bundesweite Teilnehmerzahl im Mai auffällig. Korrigiert wurden diese stark fehlerhaften Daten auch nach Hinweis der Hochschule Koblenz bis heute nicht.«

Also man muss jetzt nicht wirklich weiter nachdenken – aber eine Differenz von 1.000 zu in Wirklichkeit 16 Personen ist an sich schon nicht akzeptabel und hat enorme Auswirkungen bis hinauf in die Bundesstatistik denn so viele Förderung der Arbeitsverhältnisse-Fälle gibt es gar nicht, so dass eine solche Verzerrung erheblich zu Buche schlägt. »Der Statistikservice der Bundesagentur für Arbeit bestätigte … den Fehler – hält ihn aber für tolerierbar. Der Fall Groß-Gerau sei zwar problematisch, die Regel sei dies aber nicht. Grundsätzlich gebe es Über- und Untererfassungen, die sich auf Bundesebene wieder ausglichen.« Nun muss man keine Zahlenkunde studiert haben, um zu erkennen, dass dies eine sehr eigenwillige Interpretation darstellt. Wenn bundesweit 6.000 Förderfälle ausgewiesen werden und darunter aber 1.000-16 Förderfälle aus einem Jobcenter sind, die es gar nicht gibt, dann ist das kein Problem, sondern eine statistische Katastrophe!

Noch ein Beispiel?

»Beispiel Halberstadt in Sachsen-Anhalt: Bei mehreren Maßnahmen tauchen im Januar 2015 sehr hohe und von den Vormonaten stark abweichende Werte bei den Zugängen in arbeitsmarktpolitische Maßnahmen auf. Die Gesamtzahl der Neuzugänge in arbeitsmarktpolitische Maßnahmen im dortigen Jobcenter Harz stieg deshalb zwischen Dezember 2014 und Januar 2015 von 675 auf über 4.600. Auch hier bestätigte die zuständige Regionaldirektion, das Jobcenter habe das gesamte bisherige Jahr falsche Werte geliefert.«

Das ist alles nicht in Ordnung. Entsprechend meine kritische Einordnung des Sachverhalts in dem Artikel von O-Ton Arbeitsmarkt: »Man muss sich offenbar Monat für Monat fragen, ob die Bundesstatistik Teilnehmer an arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen enthält, die es tatsächlich nie gegeben hat. Das ist keine Lappalie, denn auf Basis dieser Daten werden arbeitsmarktpolitische Entscheidungen getroffen. Wenn falsche Daten die Bundesstatistik teils massiv verzerren, kann das zu falschen Schlüssen auf politischer Ebene führen, die zahlreiche Langezeitarbeitslose betreffen.«

Arbeitsmarktpolitik: Neue Förderprogramme fressen alte auf. Kannibalisierung in der Förderpolitik der Jobcenter für Langzeitarbeitslose und wieder die Grundsatzfrage: Was hilft wem wie?

»Die Arbeitsministerin hat neue Programme für Langzeitarbeitslose aufgelegt – und muss nun an anderer Stelle kürzen. Die Folge: Den Jobcentern fehlen Millionen Euro. Junge Arbeitslose gehen leer aus«, berichtet Stefan von Borstel in seinem Artikel Andrea Nahles stürzt Jobcenter ins Förderchaos.

Im November des vergangenen Jahres wurde wieder einmal ein neues Förderprogramm der Öffentlichkeit präsentiert. Mit Lohnkostenzuschüssen will die Bundesarbeitsministerin 43.000 schwer vermittelbare Arbeitslose ohne Berufsabschluss wieder zu einem regulären Job verhelfen. Eine Milliarde Euro, so kündigte die Ministerin an, würden dafür ausgegeben. So weit, so schön, wenn … Ja, wenn das zusätzliche Mittel wären. Oder wenn Maßnahmen gestrichen werden, die nachweislich keine Wirkung haben und mit denen man bislang Geld verschwendet hat, denn dann würde ein Wegfall dieser Maßnahmen keine negativen Auswirkungen haben auf die betroffenen Langzeitarbeitslosen. Zugleich müssten die neuen Fördermaßnahmen effektiver sein als das, was man bislang angestellt hat mit den Hartz IV-Empfängern. Diese Punkte werden in dem zitierten Artikel von Borstel nicht direkt thematisiert, müssten aber für eine vollständige Bewertung berücksichtigt werden.

Dem Artikel kann man entnehmen: »Um die neuen Spezialmaßnahmen für Langzeitarbeitslose zu finanzieren, muss Nahles an anderer Stelle in ihrem Etat sparen. Mitte März bekamen die Jobcenter Post aus dem Arbeitsministerium: Sie wurden darüber informiert, dass sie in den nächsten Jahren weit weniger Fördermittel abrufen können als bislang zugesagt. Allein in den nächsten drei Jahren sind es rund 750 Millionen Euro weniger.«

„Beabsichtigte Maßnahmen wurden damit von heute auf morgen infrage gestellt, zum Teil mussten bereits veröffentlichte Ausschreibungen zurückgezogen werden.“ Mit diesen Worten wird die arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, Brigitte Pothmer, zitiert. Sie hat die Zahlen über eine Anfrage an die Bundesregierung öffentlich gemacht. Die hatte sich schon im April zu Wort gemeldet mit einer Stellungnahme das neue Programm betreffend: Nahles-Programm für Langzeitarbeitslose bleibt weit hinter den Erwartungen zurück. Darin heißt es: »Statt mit angestrebten 33.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer planen die Jobcenter lediglich mit etwas mehr als 24.000 Plätzen … Angesichts von mehr als einer Million Langzeitarbeitslosen werden von dem Programm nach dem jetzigen Stand gerade einmal 2,4 Prozent der Betroffenen erreicht.« Und bereits in dieser Stellungnahme aus dem April weist Pothmer darauf hin:

»Auf die Teilnahme am Nahles-Programm können viele Jobcenter trotz inhaltlicher Bedenken und trotz des hohen Aufwands nicht verzichten, da ihnen sonst noch weniger Fördermittel als ohnehin zur Verfügung stünden. Nicht nur die steigenden Verwaltungskosten zehren Jahr für Jahr am Topf für die aktive Arbeitsmarktpolitik. Auch das Bundesprogramm wird teilweise aus diesen Mitteln finanziert. Dabei handelt es sich allein im Jahr 2015 um 117 Millionen Euro, für 2016 werden 204 Millionen Euro veranschlagt. Dieses Geld steht den Jobcentern nicht zur freien Verfügung, sondern ist an das Bundesprogramm gebunden.«

Es wurde am Anfang dieses Beitrags schon erwähnt, dass ein wichtiges Kriterium wäre, ob der Wegfall der alten Förderung unsinnige Maßnahmen betrifft. Denn dann müsste eine Bewertung anders ausfallen, als wenn durchaus sinnvolle Maßnahmen aus haushaltstechnischen Gründen zum Verdrängungsopfer werden. Einen Hinweis, dass der letzte Punkt nicht auszuschließen ist, kann man dem folgenden Beispiel aus Nordrhein-Westfalen entnehmen, mit dem konkretisiert wird, was denn gestrichen oder erschwert wird:

»Zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen, dem bevölkerungsreichsten Bundesland. Dort können Jobcenter keine mehrjährigen Ausbildungsmaßnahmen für junge Menschen mehr finanzieren, weil Nahles die Verpflichtungsermächtigungen für die folgenden Jahre zusammengestrichen hat. Für das kommende Jahr wurden die Mittel um zehn Prozent, für die Jahre danach um 40 bis 50 Prozent gekürzt. „Planung und Ausschreibung von Ausbildungsplätzen für die Zielgruppe der benachteiligten jungen Menschen im Rechtskreis SGB II (Hartz IV) wird hierdurch unmöglich gemacht“, heißt es in einem Schreiben der Landesarbeitsgemeinschaft Jugendsozialarbeit an die Ministerin in Berlin.
Damit erhielten viele junge Menschen, die derzeit in Jugendwerkstätten, Produktionsschulen oder berufsvorbereitenden Maßnahmen fit für eine Ausbildung gemacht würden, keinen Anschluss und Übergang in ein weiteres Förderangebot.«

Auf die Situation der jungen Arbeitslosen in Nordrhein-Westfalen wurde schon an anderer Stelle kritisch hingewiesen und das sollte man wissen, um die neuere Verengung der Fördermöglichkeiten richtig einordnen zu können:

»40 Prozent der Hartz IV-Empfänger unter 25 Jahren sind schon seit mehr als vier Jahren hilfebedürftig. Dennoch erhalten sie immer weniger arbeitsmarktpolitische Fördermaßnahmen und stattdessen mehr Sanktionen und Leistungskürzungen. Das kritisiert die Freie Wohlfahrtspflege Nordrhein-Westfalen in der aktuellen Ausgabe des Arbeitslosenreports«, so O-Ton Arbeitsmarkt in dem Artikel Arbeitslosenreport der Freien Wohlfahrtspflege NRW: Jugendliche werden nicht ausreichend gefördert.

Den Finger auf eine grundsätzliche Wunde der deutschen Arbeitsmarktpolitik legt der Deutsche Landkreistag: „Die Handlungsmöglichkeiten der Jobcenter sollten nicht durch immer neue Bundesprogramme für kleine Personengruppen eingeschränkt werden“, fordern die Landkreise in ihrer Stellungnahme zu einer Anhörung zum Thema Langzeitarbeitslosigkeit vor dem Bundestagsausschuss für Arbeit und Soziales am Montag, dem 18. Mai 2015.

Bereits im Februar 2015 berichtete O-Ton Arbeitsmarkt über die ernüchternden Ergebnisse einer Befragung hessischer Jobcenter zu dem neuen Förderprogramm: Bundesprogramm für Langzeitarbeitslose: Viel Aufwand, wenig Nutzen. »Nicht durchdacht, zu viel Aufwand, zu wenig Nutzen. So denken hessische Jobcenter über das ESF-Förderprogramm für Langzeitarbeitslose von Arbeitsministerin Nahles. Dennoch werden zwei Drittel der Jobcenter am Programm teilnehmen.« Und der Vorwurf wird auch konkretisiert:

»Das Programm sei wenig durchdacht und mit hohem Aufwand verbunden. So könne die spezielle Zielgruppe nicht automatisch aus der Fachsoftware ermittelt werden, sondern müsse aufwändig im Einzelfall überprüft werden. Man gehe davon aus, dass für die geringe Teilnehmerzahl von 60 Personen in Hessen (nicht mal ein Prozent der dort grundsätzlich für die Förderung infrage kommenden Klientel) etwa 1.300 Gespräche zu führen seien.«

Man muss sich an dieser Stelle klar machen, dass das neue Förderprogramm aus dem Bundesarbeitsministerium ein Lohnkostenzuschuss-Programm für besonders beeinträchtige Langzeitarbeitslose ist. Dazu die hessischen Jobcenter aus der Befragung des Städtetags:

»Ohnehin mache es wenig Sinn, die besonders arbeitsmarktferne Zielgruppe direkt mit Lohnkostenzuschüssen in den ersten Arbeitsmarkt integrieren zu wollen. Die Vorbereitung auf den Arbeitsmarkt müsse vor und nicht nach dem Abschluss des Arbeitsverhältnisses stattfinden … Ansonsten seien die geförderten Verhältnisse nicht nachhaltig und auf den Zeitraum der Förderung beschränkt.
Die Erfahrungen mit anderen Lohnkostenzuschüssen (nach § 16e SGB II) zeigten zudem, dass die Zielgruppe so kaum zu integrieren sei. Arbeitgeber hätten grundsätzlich ein geringes Interesse an Lohnkostenzuschüssen und suchten nach direkt einsetzbaren, motivierten und qualifizierten Fachkräften.«

Ein weiterer wichtiger Aspekt zur Einordnung des Sachverhalts muss hier aufgerufen werden. Die haushaltstechnischen Kapriolen, die jetzt wieder einmal geschlagen werden müssen, weil man ansonsten das neue Förderprogramm nicht auf die Bühne heben kann, finden nicht im luftleeren Raum statt, sondern ganz im Gegenteil in einem Umfeld, in dem immer weniger Fördermittel für Langzeitarbeitslose um Grundsicherungssystem zur Verfügung stehen, auch deshalb, weil die Jobcenter selbst erheblich unterfinanziert sind und eine gegenseitige Deckungsfähigkeit zwischen den Fördermittel und den Verwaltungsausgaben besteht (vgl. beispielsweise den Beitrag Jobcenter: Weniger Geld für arbeitsmarktpolitische Maßnahmen, mehr für die Verwaltung), was dann auch praktisch genutzt wird. Zu dieser Problematik der Beitrag Unterfinanzierte Jobcenter: Von flexibler Nutzung zur Plünderung der Fördergelder für arbeitsmarktpolitische Maßnahmen vom 10. April 2015:

»Mehr als 520 Millionen Euro nutzten die Jobcenter 2014 nicht wie vorgesehen für arbeitsmarktpolitische Maßnahmen, sondern stopften damit Löcher in ihrem Verwaltungshaushalt. Einzelne Jobcenter zweckentfremdeten sogar zwei Drittel der Fördergelder. 2014 wanderten so mehr als 520 Millionen Euro aus dem Eingliederungs- in den Verwaltungsetat der Jobcenter, ganze 15 Prozent der insgesamt 3,5 Milliarden Euro für arbeitsmarktpolitische Maßnahmen. Und die Einzelfälle sind häufig deutlich dramatischer. Manche Jobcenter bedienen sich bei bis zu zwei Dritteln der Fördergelder, darunter das Jobcenter Ansbach (Landkreis) mit einer 66-prozentigen Umschichtung aus dem Eingliederungs- in den Verwaltungsetat, das Jobcenter Memmingen mit einer 63-prozentigen Umschichtung und das Jobcenter Lichtenfels, das 61 Prozent der Eingliederungsmittel nutzte, um seine Verwaltungskosten zu decken.«

Abschließend muss an dieser Stelle erneut die nicht nur grundsätzlich ungelöste, sondern durch die Ausgestaltung der Arbeitsmarktpolitik in den vergangenen Jahren deutlich verschärfte Grundsatzfrage aufgeworfen werden: Was hilft wem wie?

Das Förderrecht im SGB III und im SGB II, vor allem mit Blick auf die besonderen Probleme der überaus heterogenen Gruppe der langzeitarbeitslosen Menschen, ist in den vergangenen Jahren zahlreichen Veränderungen unterworfen worden,  die sich summa summarum dahingehend zusammenfassen lassen, dass die Fördermöglichkeiten – man denke hier insbesondere an den Bereich der öffentlich geförderten Beschäftigung – immer restriktiver ausgestaltet worden sind. Das hat dann zum Beispiel dazu geführt, dass die förderrrechtlichen Rahmenbedingungen im Bereich der im wesentlichen auf die Billigvariante der Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung („Ein-Euro-Jobs“) eingegrenzten öffentlich geförderten Beschäftigungsmöglichkeiten es mit sich bringen, dass man im Grunde nur noch völlig arbeitsmarktferne Maßnahmen durchführen kann, die dann aber gemessen werden an der (Nicht-) Integration in den ersten Arbeitsmarkt.

Den meisten Praktikern und Experten, die vorurteilsfrei auf die Arbeitsmarktpolitik schauen, ist eines seit langem klar: Wir brauchen nicht noch mehr einzelne Förderprogramme, die dann auch noch hoch selektiv ausgestaltet werden, so dass ihr Scheitern in der Lebensrealität vorprogrammiert ist, Sondern unabdingbar ist eine grundsätzliche Flexibilisierung und Erweiterung des Förderrechts  innerhalb des SGB II, die es überhaupt erst möglich machen würde, das vor Ort mit Blick auf den einzelnen Langzeitarbeitslosen individuelle Maßnahmen gestaltet werden könnten, die unterm Strich wesentlich effektiver sein würden. Dazu gehört eben auch die Möglichkeit, bestimmten Menschen, die mittelfristig bis langfristig keine wirklich realistischen Perspektiven auf eine Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt haben, dennoch eine Teilhabe an einer dann öffentlich organisierten Erwerbsarbeit zu ermöglichen. Unabhängig von der dann zu konkretisierenden Frage, wer das sie finanziert, muss man gegenwärtig schlichtweg zu dem Ergebnis kommen, dass auch wenn man wollte, dieser Ansatz einer Kombination ganz unterschiedlicher Fördermaßnahmen schlichtweg vor dem Hintergrund der gesetzgeberischen Ausgestaltung des SGB II gar nicht realisierbar wäre. Insofern – aber das wäre ein eigenes, sehr umfängliches Thema – hätte der Bundestag die zentrale Aufgabe, eine umfassende Reform im Sinne einer erheblichen Entschlackung des bestehenden Förderrechts vorzunehmen. Vorschläge aus den Reihen der Praktiker und der Experten, die sich mit diesem Thema seit langem beschäftigen, gibt es viele. Wie so oft fehlt derzeit der politische Wille, diesen an sich notwendigen Weg auch zu gehen. Stattdessen fokussiert man erneut auf die scheinbar öffentlichkeitswirksame Installierung neuer Förderprogramme nach dem Motto: Seht ihr, wir tun doch was für Langzeitarbeitslose. Auch wenn das wieder einmal ein großes Chaos und zahlreiche Verwüstungen vor Ort anrichtet. Aber das müssen ja andere ausbaden.

Die faktische Kraft des Formalen auf dem Arbeitsmarkt und die notwendigen arbeitsmarktpolitischen Konsequenzen

Jeder, der sich nur ein wenig auskennt im Bereich der Arbeitsvermittlung, weiß um den Stellenwert des formalen Berufsabschlusses auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Die hier agierenden Arbeitgeber sind sehr stark abschlussorientiert, was bedeutet, dass das Vorhandensein eines, zuweilen irgendeines Berufsabschlusses als Flaschenhals beim Zugang zu einer, zuweilen irgendeiner Beschäftigung fungiert. Das ist dann nicht nur ein  Problem für die Arbeitsuchenden, die keinen solchen Abschluss haben, sondern auch für die, die beispielsweise während einer mehr oder weniger langen Zeit der Arbeitslosigkeit an Qualifizierungsmaßnahmen teilgenommen haben, die mit einem Zertifikat des Maßnahmeträgers abgeschlossen wurden, denn viele (potenzielle) Arbeitgeber werten diese Zertifikate unterhalb eines formalen Berufsabschlusses sehr niedrig. Insofern kann ein fehlender Berufsabschluss auf dem deutschen Arbeitsmarkt wie ein – notwendigerweise ungerecht wirkendes – statistisches Ausschlussmerkmal den Zugang zu einem neuen Job blockieren, selbst wenn der Betroffene eigentlich über die erforderlichen Kompetenzen verfügt. Aber er kommt gar nicht in die Nähe einer Chance, diese überhaupt zeigen zu können. Eine Studie aus dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) hat diesen an sich seit langem bekannten Sachverhalt neu aufgerufen und mit Daten zu belegen versucht.

»Eine Stelle findet leichter, wer einen formalen Abschluss vorweisen kann. Wie viel jemand tatsächlich kann, spielt dagegen oftmals eine überraschend geringe Rolle«, so die zutreffende Zusammenfassung des Hautergebnisses der neuen WZB-Studie  in dem Artikel Abschluss schlägt Können.

Die WZB-Studie im Original: Jan Paul Heisig und Heike Solga: Ohne Abschluss keine Chance. Höhere Kompetenzen zahlen sich für gering qualifizierte Männer kaum aus. WZBrief Arbeit 19, Berlin, Januar 2015

Amory Burchard beschreibt die Vorgehensweise und die wichtigsten Ergebnisse der neuen Studie in dem Artikel Rechnen gut, Jobaussichten schlecht so: Ausgangspunkt ist die 2013 veröffentlichte OECD-Studie PIAAC (Programme for the International Assessment of Adult Competencies), umgangssprachlich zuweilen als „PISA für Erwachsene“ bezeichnet. PIAAC »misst, wie gut weltweit Menschen im erwerbsfähigen Alter lesen, rechnen und mit digitalen Medien umgehen können. Getestet wurden alltägliche Fähigkeiten, wie man sie etwa beim Einkaufen braucht, zur Interpretation von Statistiken oder um sich im öffentlichen Nahverkehr zurechtzufinden.« Ob nun 15-jährige Schüler untersucht werden oder eben Erwachsene – immer greift die OECD auf das gleiche Kompetenzstufenmodell zurück:

»Wer nur auf der ersten von fünf Kompetenzstufen lesen oder rechnen kann, also nicht in der Lage ist, etwas komplexere Aufgaben zu lösen, gehört der „Risikogruppe“ an, die weder im Alltag noch im Berufsleben gut zurechtkommen kann. In Mathematik gehören aktuell knapp 17,7 Prozent der deutschen Schüler dieser Gruppe an, beim „Erwachsenen-Pisa“ waren es 18,5 Prozent.«

Dass die Zugehörigkeit zu der „Risikogruppe“, bei der elementare Fähigkeiten fehlen, oftmals mit einer sehr hohen und lang anhaltenden Arbeitslosigkeit korreliert, überrascht nicht wirklich, sind doch in den vergangenen Jahrzehnten vor allem die Arbeitsplätze wegrationalisiert worden, auf denen früher diese Menschen Arbeit gefunden haben. Dazu findet man in die Studie die folgenden allgemeinen Hinweise:

»Seit der Bildungsexpansion in den 1960er und 1970er Jahren ist der Anteil an formal gering qualifizierten Menschen ohne abgeschlossene Berufsausbildung oder Studium in der Bevölkerung stark gesunken: 1978 waren noch etwa 36 Prozent der 25- bis 55-Jährigen in Westdeutschland gering qualifiziert. 2012 traf dies nur noch auf 17 Prozent der gesamtdeutschen Bevölkerung in dieser Altersgruppe zu. Zugleich haben sich die Arbeitsmarktchancen von formal gering Qualifizierten seitdem dramatisch verschlechtert – in Deutschland wie in fast allen Industrieländern. In Westdeutschland erhöhte sich die Arbeitslosenquote von Erwachsenen ohne Berufsausbildung oder Hochschulabschluss zwischen 1980 und 2010 von 5,9 auf 19,1 Prozent. Im Vergleich dazu stieg die Arbeitslosenquote von Personen mit Berufsausbildung von 2,1 auf 4,5 Prozent, die von Menschen mit Studienabschluss von 1,8 auf 2,0 Prozent an.« (Heisig/Solga 2015: 2)

Die Wissenschaftler vom WZB haben nun einen ganz besonderen Ausschnitt aus der in PIAAC untersuchten Gruppe der Erwachsenen betrachtet und bei diesen dann einen besonderen Blick geworfen auf deren mathematische Kompetenzen. Die WZB-Forscher schauten nur auf die Erwachsene, die keinen Berufs- oder Hochschulabschluss haben und daher als formal gering qualifiziert gelten. Und dabei nur auf die Männer (zwischen 24 und 54 Jahren), denn die Arbeitsmarktchancen der Frauen ohne Berufsausbildung sind stark von ihrer familiären Situation beeinflusst und nicht nur bzw. weniger von der (formalen) Qualifikationsfrage. In dem Artikel Abschluss schlägt Können können wir lesen:

»Die formal Geringqualifizierten verfügen nicht alle zwangsläufig auch über geringe Kompetenzen in Mathematik. Im Durchschnitt erreichten sie in diesem PIAAC-Testbereich zwar schlechtere Ergebnisse, mit 17 Prozent kamen in dieser Gruppe der Geringqualifizierten jedoch relativ viele auf ein Kompetenzniveau, das eigentlich mit eher anspruchsvollen Tätigkeiten verbunden ist. Die Forscher erklären das unter anderem damit, dass sich in der Gruppe auch Studienabbrecher finden können, die keine Lehre angefangen haben.«

Wenn die Arbeitgeber kompetenzorientiert einstellen würden, dann müsste zumindest diese Untergruppe der formal Geringqualifizierten bessere Jobchancen haben, verfügen sie doch mit der Zuordnung zur Kompetenzstufe 3 über Fähigkeiten auf einem Kompetenzniveau, das nach allgemeiner Auffassung zur Ausübung durchaus anspruchsvollerer Tätigkeiten ausreicht (Stufe 3 bedeutet, dass sie damit ein ausgeprägtes Zahlenverständnis und räumliches Vorstellungsvermögen haben, sie können etwa Daten und Statistiken in Texten, Tabellen und Grafiken interpretieren und analysieren).

Die Realität sieht aber anders aus – zumindest in Deutschland: Denn »das Risiko der mathematisch Kompetenten, arbeitslos zu sein, (ist) mit 30 Prozent ebenso hoch wie bei den anderen Gruppen. International seien Deutschland und auch die USA damit Sonderfälle, betonen die Forscher. In allen anderen 22 Ländern, die an PIAAC teilgenommen haben, hätten Männer mit niedriger Qualifikation, aber besseren alltagsmathematischen Fähigkeiten, mehr Erfolg auf dem Arbeitsmarkt«, so Amory Burchard in seinem Artikel. Wer keinen Berufs- oder Studienabschluss vorweisen kann, hat in Deutschland offenbar kaum Chancen, das mit seinem Können aufzuwiegen.

Die faktische Kraft des (Nicht-)Abschlusses wird auch an diesem besonderen Befund deutlich, den die Wissenschaftler herausstellen:

»Die Nichtbeschäftigungsquote von Männern mit Berufsausbildung, die höchstens die Kompetenzstufe 1 erreichen, ist mit 24 Prozent ähnlich hoch wie die von gering qualifizierten Männern auf dieser Kompetenzstufe … Männer mit beruflichem Abschluss profitieren jedoch trotz ihrer geringen alltagsmathematischen Kompetenzen von ihren höheren Bildungsabschlüssen: Wenn sie erst den Einstieg in den Arbeitsmarkt geschafft haben, arbeiten sie deutlich seltener als Un- oder Angelernte als formal gering qualifizierte Männer mit gleichen oder sogar höheren allgemeinen Kompetenzen.« (Heisig/Solga 2015: 5 f.)

Zusammenfassend bilanzieren Heisig/Solga (2015: 6): »Die Befunde unterstreichen die Bedeutung formaler Qualifikationen auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Höhere alltagsmathematische Kompetenzen gehen für formal gering qualifizierte Männer in Deutschland – anders als in anderen Ländern – kaum mit besseren Arbeitsmarktchancen einher. Andererseits scheint auch der Nutzen von beruflichen Abschlüssen begrenzt zu sein, wenn die allgemeinen Kompetenzen sehr niedrig sind.«

Was folgt aus diesen Erkenntnissen? Lesen wir zuerst die Schlussfolgerungen der beiden Wissenschaftler vom WZB:

»Offensichtlich reicht es nicht, nur die allgemeinen Kompetenzen gering Qualifizierter zu erhöhen. Entscheidend ist, dass dies in Verbindung mit beruflichen Nachqualifizierungen (und dem Erwerb entsprechender Zertifikate) geschieht. Zugleich ist es sinnvoll, nicht ausschließlich auf den Erwerb beruflicher Abschlüsse zu achten, da deren Nutzen offenbar begrenzt ist, wenn die Grundkompetenzen sehr gering sind. Die Bekämpfung allgemeiner Kompetenzdefizite muss daher ebenfalls ein wichtiges Ziel von Weiterbildungsangeboten und -aktivitäten sein.«

Genau an diesen beiden Stellen zeigen sich erhebliche Defizite in der gegenwärtigen Ausgestaltung der Arbeitsmarktpolitik in Deutschland, denn diese ist vor allem mit Beginn der Umsetzung der so genannten „Hartz-Gesetze“ einem ganz anderen Entwicklungspfad gefolgt: „quick and dirty“, so könnte man zuspitzend die Ausgestaltung vieler „Aktivierungsbemühungen“ charakterisieren. Vor allem der Bereich der Förderung der beruflichen Weiterbildung war lange Zeit dadurch gekennzeichnet, dass man länger laufende und erst einmal kostspieligere Qualifizierungsmaßnahmen, die mit einem formalen Berufsabschluss enden, massiv nach unten gefahren hat zugunsten kurzer, billigerer Maßnahmen, die – wenn überhaupt – mit irgendeinem oftmals kaum oder gar nicht verwertbaren Zertifikat des Bildungsträgers abgeschlossen werden. Erst am aktuellen Rand beginnt auch die Bundesagentur für Arbeit, die Zahl der abschlussorientierten Maßnahmen langsam wieder nach oben zu treiben. Es stellen sich zwei zentrale arbeitsmarktpolitische Herausforderungen, deren derzeitige Nicht- oder Rudimentär-Bearbeitung auf das große schwarze Loch verweisen, mit dem wir hier konfrontiert sind:

  • Wir haben über eine Millionen Menschen im Alter zwischen 20 und 30 Jahren, die über keinen formalen Berufsabschluss verfügen. Hierbei handelt es sich oftmals um die, die am Anfang ihrer (Nicht)Erwerbsbiografie einen Ausbildungsplatz gesucht haben, damals aber aufgrund des Überangebots an Ausbildungsuchenden keinen Zugang haben finden können. Sie sind dann eben als Un- und Angelernte auf dem Arbeitsmarkt gelandet und pendeln oftmals zwischen irgendeiner Erwerbsarbeit und Phasen der Arbeitslosigkeit hin und her bzw. ein Teil von ihnen ist im Langleistungsbezug des Grundsicherungssystems gelandet. Hier müsste man – übrigens verstärkt durch den absehbaren Bedarf an Menschen auf der mittleren Qualifikationsebene – mit einem wirklich seinen Namen verdienenden Qualifizierungsprogramm ansetzen. Dafür muss man nur einmal den Blick zurück richten auf die Anfangsjahre des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG), denn bis Mitte der 1970er Jahre gab es ein im Vergleich zu heute traumhaft attraktives Qualifizierungsprogramm für Erwachsene mit einem Unterhaltsgeld von bis zu 90% des letzten Nettoentgelts, wenn die Betroffenen bereit waren, in einen als zukunftsträchtig wahrgenommenen Beruf umzuschulen bzw. einen ersten Abschluss zu erwerben. Genau diesen Mut zur Investition müsste die Politik jetzt auch wieder aufbringen und entsprechend Geld in die Hand nehmen. Denn volkswirtschaftlich (und gesellschaftspolitisch) würde sich eine solche Investitionsoffensive in das Humanvermögen der Menschen mehr als lohnen, es würde sich um ein Vielfaches auszahlen, wenn man auf dem Schirm hätte, was die zu Facharbeitern, Handwerkern usw. umgeschulten bzw. qualifizierten Menschen über Jahrzehnte an Steuern und Sozialbeiträgen leisten werden bzw. könnten. Allerdings verweist das auf die Notwendigkeit einer „richtigen“ volkswirtschaftlichen Perspektive, denn der „return on investment“ wird eben nicht im nächsten Haushaltsjahr realisiert, sondern wir sind hier mit time-lags von mehreren Jahren zwischen Investition und den Rückflüssen konfrontiert. Aber: Noch nie war die Zeit an sich so günstig für einen solchen Paradigmenwechsel, wenn man sich anschaut, mit welchen Verwerfungen beispielsweise der Ausbildungsmarkt derzeit aufgrund der Umkehrung der Angebots-Nachfrage-Relationen konfrontiert ist.
  • Darüber hinaus muss man aber auch angesichts der veränderten Zusammensetzung der Betroffenen inhaltliche Paradigmenwechsel bei der Qualifizierungsförderung vornehmen. Dies stellt vor allem auf den Faktor Zeit und auf den Faktor Lernarrangements ab. Viele der betroffenen Menschen brauchen – auch vor dem Hintergrund der in vielen Berufsausbildungen gestiegenen Anforderungen – mehr Zeit als bisher für die erfolgreiche Absolvierung der Ausbildung. Die muss man auch förderrechtlich ermöglichen. Und gerade mit Blick auf den „harten Kern“ der Langzeitarbeitslosen im SGB II benötigen wir eine Aufhebung der immer noch stark ausgeprägten Versäulung der Arbeitsmarktpolitik in entweder Beschäftigung oder Qualifizierung. Viele der hier Betroffenen können sehr wohl qualifiziert werden, allerdings nicht in den tradierten Lernsettings, de im Wesentlichen immer noch einer primär kognitiv, also schulisch determinierten Ausrichtung folgen. Qualifizierung durch echte Arbeit müsste irr der konzeptionelle Ansatzpunkt lauten. Dazu gibt es gerade aus der Praxis eine jahrzehntelange Evidenz, die allerdings gebrochen wird an der Realität des Förderrechts und der durch dieses bedingten Ausgestaltung der Maßnahmen. 

Summa summarum zwei richtig große Baustellen. Aber sie sind weitgehend leer, es sind derzeit keine größeren Aktivitäten erkennbar. Und wenn sich das nicht bald ändert, werden weiterhin viele Menschen aus dem bestehenden System ausgespuckt und auf Dauer auf ein Abstellgleis gestellt werden.