Reale Ausformungen der Programmitis in der Arbeitsmarktpolitik. Die einen haben sehr viele Plätze, aber keine Teilnehmer, die anderen wenige Plätze, aber die fast alle in Hamburg

Es ist wirklich ein Kreuz mit diesen Modell-, Sonder- und sonstigen Programmen in der Arbeitsmarktpolitik. Für alles und jeden werden irgendwelche Programme aufgelegt, nicht selten zur Aktivitätssimulation seitens der politisch Verantwortlichen, da die Voraussetzungen für die Ansprüche der Mittel aus den Programmen derart anspruchsvoll bzw. lebensfern sind, dass man Mühe haben muss, überhaupt lebende Teilnehmer gewinnen zu können (vgl. dazu auch grundsätzlich die Beiträge Die fortschreitende Programmitis in der Arbeitsmarktpolitik und ein sich selbst verkomplizierendes Förderrecht im SGB II vom 28. Juni 2016 sowie Programmitis als Krankheitsbild in der Arbeitsmarktpolitik: Wenn das „Wir tun was“ für die Langzeitarbeitslosen verloren geht im hyperkomplexen Raum der Sonderprogramme, die in der Realität scheitern müssen vom 12. März 2016). Leider muss hier nun von der unendlich daherkommenden Fortsetzungsgeschichte dieser wahrhaft pathologischen Entwicklung der Arbeitsmarktpolitik in Deutschland berichtet werden.

Nehmen wir als erstes Beispiel die Flüchtlinge. Als sich alles um dieses Thema gedreht hat, musste die Politik Tatkräftigkeit signalisieren. Also hat die Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) ein gewaltiges Programm aufgelegt, um die frohe Botschaft unter die Leute zu bringen: Wir beschäftigen die. Dann wird es allerdings bei genauerem Hinsehen schon komplizierter. Denn bei „die“ geht es um die Flüchtlinge im Niemandsland zwischen einerseits da und andererseits noch nicht anerkannt sein. Denn solange „die“ noch nicht als Asylberechtigte bestätigt oder mit subsidiären Schutz ausgestattet sind, fallen sie in die Obhut der Kommunen und des Asylbewerberleistungsgesetzes.

Nun gibt es im  im § 5 Asylbewerberleistungsgesetz einen Paragrafen, der die Überschrift trägt: Arbeitsgelegenheiten. Also das an sich gleiche Instrument, das man im SGB II (für das die Bundesarbeitsministerin zuständig ist) unter dem Paragrafen 16 d SGB II finden kann, umgangssprachlich auch als „Ein-Euro-Jobs“ bezeichnet. Nur müssen die Arbeitsgelegenheiten nach dem Asylbewerberleistungsgesetz von den Kommunen bzw. den Ländern finanziert werden, während die „normalen“ Arbeitsgelegenheiten nach dem SGB II aus Bundesmitteln bedient werden. Man ahnt schon mit etwas Erfahrung, wohin das geführt hat. Der Bund nimmt den Kommunen den Finanzierungsanteil ab, allerdings geht man nicht den für den einen oder anderen naheliegenden Weg und gibt den Kommunen einfach die Kohle und sagt: Macht mal. Sondern man kreiert eben ein Sonderprogramm. Und das nennt man dann „Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen“ (FIM). Und davon wurden mal eben 100.000 Plätze in Aussicht gestellt. Man muss diese Zahl „nur“ für Flüchtlinge auch vor dem Hintergrund sehen und bewerten, dass derzeit etwas über 80.000 Ein-Euro-Jobber aus der Grundgesamtheit aller Hartz IV-Empfänger in Deutschland unterwegs sind – also sollte für die Gruppe der Flüchtlinge eine mehr als ansehnliche Zahl an Arbeitsgelegenheiten geschaffen werden. Die ja auch noch eingerichtet, betreut und begleitet werden müssen.

Ein grundlegendes Problem dieser 100.000 „Bundes-AGH-Teilnehmer“ ist nun, dass die
a) für eine Klientel geplant werden müssen, die es eigentlich nicht oder zumindest immer weniger geben wird (aufgrund der Beschleunigung der Anerkennungsverfahren beim BAMF) und
b) dass mit der Durchführung nicht die Kommunen bzw. die Jobcenter (also die zuständigen Institutionen für die heute schon bestehenden AGHs) beauftragt werden sollen, sondern die Bundesagentur für Arbeit (BA) soll das machen. Darauf wurde frühzeitig aufmerksam gemacht.

Egal, das Programm wurde auf die Schiene gesetzt – aber manchmal führen Schienen eben auch in die Irre. Der Bundestag hat das „Arbeitsmarktprogramm Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen“ zum 1. August 2016 beschlossen. Und wie sieht es an der Front aus? So, wie man es erwarten musste – tote Hose. Andreas Hammer berichtet:

„Im November 2016 waren rund 4.400 der geplanten 100.000 FIM (4,4%) besetzt“.

Die Insider wird der – nun ja – nicht wirklich überzeugende Stand der Umsetzung nicht überraschen: Schon frühzeitig wurde auf die Fragwürdigkeit des ganzen Ansatzes hingewiesen, beispielsweise in diesen Beiträgen: „Nirwana-Arbeitsgelegenheiten“ zwischen Asylbewerberleistungsgesetz und SGB II. Eine dritte Dimension der „Ein-Euro-Jobs“ und die dann auch noch 20 Cent günstiger? vom 12. Juni 2016 sowie am 23. Dezember 2016: „80-Cent-Jobs“ für Flüchtlinge – billiger geht’s nun wirklich nicht. Und dennoch: Sie werden kaum genutzt.

Und noch ein zweites Beispiel aus den Untiefen der arbeitsmarktpolitischen Prorammitis wird uns in diesen Tagen gemeldet: Job-Programm: Zu viele Plätze für Hamburg?, so die noch höfliche Betitelung.

Auch hier geht es – neben grundsätzlich zulässiger Infragestellung des Ansatzes an sich – um ein Verteilungsproblem. Konkret geht es um das neue Modellprogramm STAFFEL – das steht für „Soziale Teilhabe durch Arbeit für junge erwachsene Flüchtlinge und erwerbsfähige Leistungsberechtigte“. Das Bundesarbeitsministerium teilte uns dazu im Juli des vergangenen Jahres mit:

»Ziel des Programms „Staffel“ ist die Förderung von sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnissen für junge anerkannte Flüchtlinge sowie junge erwerbsfähige Leistungsberechtigte im SGB II, die auf Grund ihrer individuellen Vermittlungshemmnisse erst an die Anforderung des allgemeinen Arbeits- und Ausbildungsmarkes herangeführt werden müssen. Das Bundesprogramm soll dazu beitragen, das mit- und voneinander Lernen beider Zielgruppen zu stärken.«

Das hört sich doch gut an. Aber der bereits erwähnte Bericht des NDR – Job-Programm: Zu viele Plätze für Hamburg? – klärt uns dahingehend auf: »Das Programm mit dem Namen STAFFEL soll mit 21 Millionen Euro vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales Projekte in ganz Deutschland fördern. Die Idee für das Programm hatten zwei Hamburger SPD-Bundestagsabgeordnete. Bei der Vergabe gingen 75 Prozent der Plätze nach Hamburg. Kritiker glauben nicht an einen Zufall.«
Die Initiatoren des Projekts im SPD-geführten Arbeitsministerium in Berlin waren die beiden Hamburger SPD-Bundestagsabgeordneten Matthias Bartke und Johannes Kahrs.

Und vor diesem Hintergrund werden wir Zeugen einer wundersamen Beglückung:

»Der erfahrene Geschäftsführer eines Hamburger Beschäftigungsträgers, Peter Bakker, selbst SPD-Mitglied, schloss sich dafür mit einem anderen Hamburger Träger in der neuen Tochtergesellschaft FIT zusammen, besorgte zusätzliche Förderzusagen der Hamburger Sozialbehörde, beantragte 400 Plätze. „Wir waren nachher ein bisschen überrascht, dass wir die kompletten 400 Plätze bekommen, weil in der Praxis eher runtergestaffelt wird und man nicht alles das bekommt, was man haben möchte“, erklärt Bakker. Ein kleinerer Hamburger Bewerber bekam die Zusage für 20 Förderplätze. Damit gingen 75 Prozent aller Plätze nach Hamburg, 67 weitere Träger aus ganz Deutschland gingen dagegen leer aus. Der Grund dafür: Das Ministerium vergab die Mittel nach Antragseingang. Sprich: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.«

Die Genossen in Hamburg haben das Programm selbst initiiert. Und dann seien 70 Prozent der Plätze nach Hamburg gegangen – „an einen Träger, der sehr SPD nah ist und den es vorher gar nicht gab, sondern ja sozusagen seine Einrichtung für dieses Programm erst noch mal gegründet hat. Ich finde, dass ist doch ein bisschen sehr viel Zufall“, so wird die arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, Brigitte Pothmer, zitiert.

Der Geschäftsführer der eigens für das neue Programm gegründeten Tochtergesellschaft FIT, Peter Bakker, beteuert, keinen Wettbewerbsvorteil bei der Initiative der Hamburger Politiker gehabt zu haben: „Wir haben davon erfahren, wie alle anderen auch, als dieses Programm am 6. Juni veröffentlicht worden ist.“

Das kann man bezweifeln:

»Bemerkenswert ist, dass der Gesellschaftsvertrag für FIT laut Handelsregister schon am 31. Mai unterschrieben worden ist – also sechs Tage vor der Ausschreibung und nur auf eine vage Ankündigung des Programms im April hin.«

Vielleicht werden wir hier erneut Zeugen der Hinterzimmergeschäfte, die es schon immer gegeben hat. Auf alle Fälle ist das alles entnervend vor dem Hintergrund, dass wir endlich eine umfassende Aufräumaktion im hyperkomplexen SGB II-Förderrecht im Sinne einer positiven Deregulierung bräuchten. Das wird seit Jahren zu Recht gefordert – und von den Verantwortlichen in der Politik mit Arbeitsverweigerung beantwortet. Man spielt dann lieber mit Modell-, Sonder- und sonstigen Programmen.

Wohin nur mit dem Geld? 4,9 Mrd. Euro. Die Bundesagentur für Arbeit „erwirtschaftet“ einen Milliardenüberschuss in der Arbeitslosenversicherung

Es wird ja immer über „zu wenig“ Geld und rote Zahlen geklagt. Da kommt so eine Meldung doch wirklich wie eine erfreuliche Ausnahmeerscheinung daher: »Der Überschuss für das abgeschlossene Jahr liege bei 4,9 Milliarden Euro, sagte BA-Chef Frank-Jürgen Weise der Deutschen Presse-Agentur. Die Nürnberger Bundesbehörde hatte ursprünglich nur mit 1,8 Milliarden Euro gerechnet. Die Rücklagen … erhöhten sich damit auf 10,96 Milliarden Euro. Die Bundesagentur, die sich mit Beiträgen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern finanziert, kommt damit – anders als in früheren Jahrzehnten – weiterhin ohne staatliche Zuschüsse aus. „Die Zahlen zeigen, dass wir gut gewirtschaftet haben“, meinte Weise.« So jedenfalls der Artikel Bundesagentur für Arbeit erwirtschaftet Milliarden-Überschuss, wobei in der Artikelüberschrift das „erwirtschaftet“ nicht in Anführungszeichen gesetzt wurde, wie man es hätte tun müssen. Das Bild bleibt hängen: Frank-Jürgen Weise, der demnächst den Chefsessel der Bundesagentur für Arbeit verlassen wird, hatte wieder einmal vollen „Erfolg“ und kann mit dem Nimbus des hoch effizienten Verwaltungsmanagers in den Ruhestand oder was auch immer abtreten.

Wie erklärt Weise den hohen Überschuss von fast 5 Mrd. Euro in der Arbeitslosenversicherung (SGB III)? Er wird so zitiert:

»Der hohe Jahresüberschuss ist nach seinen Angaben vor allem auf die gesunkenen Ausgaben für Arbeitslosengeld zurückzuführen. Diese hätten im abgelaufenen Jahr um 1,4 Milliarden Euro unter Plan gelegen. Die Ausgaben für Kurzarbeitergeld und andere Pflichtleistungen sowie die Kosten zur Aus- und Fortbildung von Arbeitslosen seien jeweils um 700 Millionen Euro geringer ausgefallen. „Die Arbeitsagentur-Mitarbeiter haben den guten Arbeitsmarkt genutzt, um viele Leute in Arbeit zu bringen, ohne dass Lohnkosten an die Arbeitgeber oder Maßnahmen zur beruflichen Förderung Arbeitsloser nötig wurden“, erklärte der BA-Chef.«

Auch hier lohnt wie immer ein genauerer Blick auf die Zahlen, der zumindest einige Fragen aufwirft, ob die Story so stimmt. Der in Fragen der Arbeitsmarktstatistik überaus penible Paul M. Schröder vom Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe (BIAJ) hat das getan und am 2. Januar 2017 diese Mitteilung herausgegeben: Anmerkung zu den Meldungen (dpa) zum Überschuss der Bundesagentur für Arbeit in 2016. Darin findet man auch die Abbildung vom Anfang dieses Beitrags.

Bereits am 22. Oktober hatte sich Schröder zu Wort gemeldet: Überschuss der Bundesagentur für Arbeit steigt auf über 5 Milliarden Euro – Rück- und Ausblick:

»In den letzten 12 Monaten, von Oktober 2015 bis September 2016, hat die Bundesagentur für Arbeit (BA) im sogenannten „Beitragshaushalt SGB III“ nach Berechnung des Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe (BIAJ) insgesamt nahezu 5,1 Milliarden Euro mehr eingenommen als ausgegeben. Den Einnahmen in Höhe von insgesamt 35,9 Milliarden Euro, darunter Beitragseinnahmen in Höhe von 30,8 Milliarden Euro, standen Ausgaben in Höhe von 30,8 Milliarden Euro gegenüber, darunter Ausgaben für das beitragsfinanzierte Arbeitslosengeld in Höhe von 14,5 Milliarden Euro und für Leistungen der „aktiven Arbeitsförderung“ in Höhe von 8,0 Milliarden Euro. Der in diesen 12 Monaten gebuchte Überschuss ist der höchste Überschuss in einem 12-Monatszeitraum seit Anfang 2008. Für den Abschluss des Haushaltsjahres 2016 ist im Haushalt der Bundesagentur für Arbeit ein positiver Finanzierungsaldo (Überschuss) von deutlich über 5,0 Milliarden Euro zu erwarten.«

Aber bereits am 18.11.2017 meldete sich das BIAJ mit einer Korrektur der Überschusserwartung zu Wort (Der Haushalt der Bundesagentur für Arbeit in den Jahren 2013 bis 2017 – Soll- und Ist-Vergleich), wo schon sehr punktgenau das nun verkündete offizielle Ergebnis vorhergesagt wurde: Die Schätzung des Überschusses wurde auf 5,0 Mrd. Euro nach unten korrigiert.

»Der Grund: Bis dahin war dem BIAJ nicht bekannt, dass aus den erwarteten Überschüssen in 2016 (und 2017) eine Sonderzuweisung in den Versorgungsfonds der BA erfolgen soll. (2016: 502 Mio. Euro; 2017: 703 Mio. Euro) Diese Sonderzuweisung mindert den positiven Finanzierungssaldo.«

Diese Sonderzuweisung an den Versorgungsfonds – aus dem die Pensionen für die (ehemaligen) Beamten der BA mitfinanziert werden sollen – war im Haushalt 2016 nicht geplant gewesen. Ende 2015 wurde für den im Anfang 2008 eingerichtete Versorgungsfonds der BA Ende 2015 ein Mittelbestand in Höhe von 5,04 Milliarden Euro ausgewiesen.

Aber wieder zurück zu der Aussage von Weise, dass die BA die Überschüsse „erwirtschaftet“ habe. „Die Arbeitsagentur-Mitarbeiter haben den guten Arbeitsmarkt genutzt, um viele Leute in Arbeit zu bringen, ohne dass Lohnkosten an die Arbeitgeber oder Maßnahmen zur beruflichen Förderung Arbeitsloser nötig wurden“, so wurde er bereits zitiert sowie sein Hinweis, dass weniger Arbeitslosengeld I-Zahlungen angefallen seien und auch »und andere Pflichtleistungen sowie die Kosten zur Aus- und Fortbildung von Arbeitslosen seien jeweils um 700 Millionen Euro geringer ausgefallen.« Dazu Paul M. Schröder:

»Besonders mit Blick auf die Ausgaben der BA für die „aktive Arbeitsförderung“ … verwundern die Erläuterungen des Vorstandsvorsitzenden: Immerhin war 2016 das erste Haushaltsjahr nach 2009 in dem die BA für „Leistungen der aktiven Arbeitsförderung“ (geringfügig) mehr ausgegeben hat als im jeweiligen Vorjahr. Von 2009 bis 2015 waren die Ausgaben für die „aktive Arbeitsförderung“ von Jahr zu Jahr gesunken.« (vgl. dazu auch die Abb. 3 in Schröder 2016)

Und noch eine Ungereimtheit: Der von Weise erwähnte Anstieg der Beitragseinnahmen – „um rund 155 Millionen Euro“ – stellt sich deutlich anders dar, wenn man die Beitragseinnahmen in 2016 (über 31 Milliarden Euro) mit den Beitragsinnahmen in 2015 (29,9 Milliarden Euro) vergleicht.

Wenn man an dieser Stelle den Blick auf den Sachverhalt etwas weitet, dann muss man hinsichtlich der enormen Überschüsse im BA-Haushalt berücksichtigen, dass das auch als ein Versagen der Arbeitslosenversicherung als Teil der Sozialversicherung gewertet werden kann. Verdeutlichen kann man das an den aktuellen Arbeitslosenzahlen:

Für den November 2016 hat die BA insgesamt 2.531.975 offiziell registrierte Arbeitslose ausgewiesen (nicht in dieser offiziellen Arbeitslosenzahl enthalten sind allerdings 960.000 ebenfalls faktisch Arbeitslose, die in der Zahl der „Unterbeschäftigten“ auftauchen, im November 2016 lag die bei 3.491.569). Nun gibt es zwei Rechtskreise, in denen die Arbeitslosen abgesichert sein können – also das SGB III (Arbeitslosenversicherung) und das SGB II (Grundsicherung). Und die Verteilung der registrierten offiziellen Arbeitslosen verdeutlicht das Problem: 756.094 befanden sich unter dem Dach der Arbeitslosenversicherung, hingegen 1.775.881 im Hartz IV-System, das als steuerfinanziertes und bedürftigkeitsabhängiges Leistungssystem ganz anderen Prinzipien folgt als die beitragsfinanzierte Arbeitslosenversicherung. Mit anderen Worten: Mit nur noch 29,9 Prozent ist nicht einmal mehr jeder dritte offiziell registrierte Arbeitslose in dem System, das eigentlich für die Absicherung der Arbeitslosigkeit zuständig sein sollte. 70 Prozent der Arbeitslosen befinden sich in der Grundsicherung. Das ist die zahlenmäßige Abbildung der These vom Scheitern der Arbeitslosenversicherung, in den Kategorien des alten deutschen Sozialstaatsmodells mit seiner Vorrangigkeit der Sozialversicherungen kommt das einer Kapitulation gleich.

Die massiven Veränderungen der Sicherungsfunktionalität werden schon seit Jahren im Fachdiskurs beschrieben und problematisiert, vgl. nur als ein Beispiel die Studie Der Bedeutungsverlust der Arbeitslosenversicherung von Peer Rosenthal (2012: 3):

»Ein Blick zurück: Bis zum Jahr 2005 gab es in der Bundesrepublik für Arbeitslose zum einen das ‚klassische‘ Arbeitslosengeld, das als Lohnersatzleistung aus der Arbeitslosenversicherung über Beiträge finanziert wird. Die daran anschließende steuerfinanzierte Arbeitslosenhilfe sollte den Erhalt des individuellen Lebensstandards auf niedrigerem Niveau ermöglichen. Für Personen ohne Ansprüche auf Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe wurde Sozialhilfe gezahlt. Im Zuge der Reformen nach dem ‚Hartz‘-Konzept wurde die Arbeitslosenhilfe als Bestandteil der Arbeitslosenversicherung abgeschafft. Neu eingeführt wurde das Arbeitslosengeld II, umgangssprachlich ‚Hartz IV‘ genannt. Das Arbeitslosengeld II soll im Unterschied zur alten Arbeitslosenhilfe nur noch das Existenzminimum sichern. Das ‚klassische‘ Arbeitslosengeld – also der Lohnersatz als Leistung der Arbeitslosenversicherung – wird seitdem als Arbeitslosengeld I bezeichnet.

Bis zur Abschaffung der Arbeitslosenhilfe haben rund 70 Prozent der Bezieherinnen und Bezieher Leistungen erhalten, die auf ihr vorheriges Einkommen bezogen waren – also entweder Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe. Aktuell können bundesweit nur noch 28 Prozent der Arbeitslosen Ansprüche auf das beitragsfinanzierte Arbeitslosengeld I geltend machen. Im Land Bremen trifft dies sogar nur noch auf 18 Prozent der Arbeitslosen zu. Das bis 2005 leitende Prinzip der Lebensstandardsicherung hat demnach mit der Einführung von ‚Hartz IV‘ eine massive Schwächung erfahren – zugunsten des Mindestsicherungssystems ‚Hartz IV‘. Die Arbeitslosenversicherung kann im Grunde nur noch als Sonderfall der Risikoabsicherung gegen das soziale Risiko Arbeitslosigkeit gelten.«

Dieser Tatbestand ist zum einen begründet in der Grundlogik einer Arbeitslosenversicherung, die eben nur einen temporären Einkommensausfall durch Erwerbslosigkeit auffangen kann (und soll), was dann zu einem Problem wird, wenn ein Teil der Arbeitslosen mit lang anhaltender Erwerbslosigkeit konfrontiert ist. Zum anderen aber auch durch restriktive Zugangsvoraussetzungen in der Arbeitslosenversicherung (konkret wären hier Rahmenfrist und Anwartschaftszeit zu nennen). Die können von einem nicht geringen Teil der Arbeitslosen schon beim Zugang aus einer Beschäftigung nicht erfüllt werden, so dass sie direkt „durchgereicht“ werden in das Hartz IV-System (und dort nicht erst nach einem Arbeitslosengeld I-Bezug landen).

Beispiel: Im Oktober 2016 sind 204.442 Personen aus Beschäftigung am ersten Arbeitsmarkt in Arbeitslosigkeit gegangen, davon 49.132 direkt in das SGB II. Das entspricht 24 Prozent. Jeder vierte neue Arbeitslose landet also direkt im Hartz IV-System.

Genau an dieser Stelle könnte man ansetzen, wenn es um die Frage geht: Was tun mit den Überschüssen in der Arbeitslosenversicherung?

Wie immer gibt es mehrere Möglichkeiten. Eine erste Übersicht ergibt folgende Optionen:

  1. Man könnte angesichts der finanziellen Lage und mit Blick auf den eigentlichen sozialpolitischen Auftrag die Sicherungsfunktionalität der Arbeitslosenversicherung (wieder) ausbauen, in dem man die Zugangsvoraussetzungen weniger restriktiv ausgestaltet. 
  2. Man könnte die Ausgaben erhöhen für neue Aufgaben, die von der beitragsfinanzierten Arbeitslosenversicherung übernommen werden.
  3. Und man könnte natürlich die Beiträge der Versicherten an die Arbeitslosenversicherung senken und damit eine monetäre Entlastung bei den Beitragszahlern herbeiführen.

Alle drei Optionen werden diskutiert bzw. befinden sich schon in der Umsetzung.

Die Variante Entlastung auf der Beitragsseite wird beispielsweise in diesem Artikel thematisiert: Milliardenüberschüsse am Arbeitsmarkt. Dort findet man diesen Passus:

»Die hervorragende Beschäftigungs- und Kassenlage lässt die Rufe nach Entlastung der Beitragszahler lauter werden. Der Bund der Steuerzahler forderte am Montag eine Senkung des Beitragssatzes zur Arbeitslosenversicherung von 3 auf 2,5 Prozent für 2017, was zwischen 3 und 4 Milliarden Euro im Jahr kosten würde. Der aktuelle Satz gilt seit 2011. Zuvor war er mehrfach gesenkt worden, 2007 hatte er noch bei 6,5 Prozent gelegen. „Seitdem hat die Bundesagentur eine Milliarden-Rücklage aufgebaut, die sie in diesem Umfang gar nicht benötigt“, kritisiert Steuerzahler-Präsident Reiner Holznagel. Kürzlich hat die Arbeitsagentur selbst gemeldet, dass das Risiko für Beschäftigte, arbeitslos zu werden, derzeit so niedrig ist wie seit 2009 nicht mehr.«

Aber in dem Artikel werden auch eher skeptische Stimmen zitiert: »Etwas vorsichtiger äußerte sich IZA-Direktor Schneider. Während ein zu geringer Finanzpuffer in Abschwungphasen zu einer Erhöhung der Beiträge und damit einer Verschärfung der Probleme am Arbeitsmarkt beitrage, wecke ein zu großes Finanzpolster die Versuchungen der Politik, „die vorhandenen Mittel für sachfremde Wohltaten zu verwenden“. Deshalb könne man über Beitragssenkungen erst nachdenken, wenn das finanzielle Polster größer sei als das, was man im Abschwung brauche. Aus dem Verwaltungsrat der Arbeitsagentur ist zu vernehmen, dass noch deutlich mehr als die bislang gesparten 11 Milliarden Euro nötig seien, damit die Arbeitslosenversicherung ähnlich autonom durch künftige Krisen komme wie durch die Rezession 2008/2009.«

Wie dem auch sei, die Diskussion über eine Beitragssatzsenkung nimmt derzeit Fahrt auf: »Angesichts hohe Überschüsse bei der Bundesagentur für Arbeit plädieren Politiker von SPD und Union für eine Entlastung der Beschäftigten«, berichtet die FAZ: Koalition prüft Beitragssenkung bei Arbeitslosenversicherung.

Der bereits wertende Hinweis von Hilmar Schneider, dass die Politik versucht sein könnte, „die vorhandenen Mittel für sachfremde Wohltaten zu verwenden“ kann als Überleitung genutzt werden für die Option einer Ausgabenerhöhung für neue Aufgaben der Bundesagentur für Arbeit als Trägerin der Arbeitslosenversicherung. Man müsste aber richtigerweise ergänzen, dass nicht nur „die“ Politik möglicherweise ein Interesse haben könnte, mit dem (bekannten) Griff in volle Beitragskassen bestimmte Maßnahmen oder Leistungen zu finanzieren, die eigentlich – bei ordnungspolitisch korrekter Verhaltensweise – nicht aus Versicherungs-, sondern aus Steuermitteln zu finanzieren wären, sondern die Bundesagentur für Arbeit selbst hat derzeit im gegebenem institutionellen Gefüge ein sehr großes Eigeninteresse an neuen Aufgaben. Und zwar mit dem Ziel der Existenzsicherung. Das hängt zusammen mit der tektonischen Verschiebung der Absicherung des Risikos Arbeitslosigkeit in das Grundsicherungssystem im Zusammenspiel mit einer deutlichen Verbesserung der Arbeitsmarktlage für die „guten“ Arbeitslosen im Rechtskreis SGB III, die dazu geführt hat, dass – zugespitzt formuliert – den Agenturen für Arbeit die Arbeitslosen „ausgehen“, während die Jobcenter, die für das SGB II zuständig sind, im wahrsten Sinne des Wortes absaufen unter den vielen „Kunden“, wie das heutzutage so heißt. Und die nicht nur mit einer erheblich verfestigten Langzeitarbeitslosigkeit und vielen anderen Leistungsbeziehern konfrontiert sind, die in den offiziellen Arbeitslosenzahlen gar nicht auftauchen (man muss hier darauf hinweisen, dass im Jahr 2016 rund 4.310.000 erwerbsfähige Leistungsberechtigte im Rechtskreis SGB II von einem Jobcenter betreut wurden, wie die BA im neuen Arbeitsmarktbericht für den Dezember 2016 mitgeteilt hat), sondern auch viele neue „Kunden“ bekommen dadurch, dass die Flüchtlinge nun sukzessive in das Hartz IV-System einmünden.

Das führt zu der nur scheinbar widersprüchlichen Situation, dass es im SGB III-Bereich „zu viel“ Personal und in den Jobcentern für die SGB II-Aufgaben „zu wenig“ Personal und das auch noch in Verbindung mit zu wenig Geld gibt. Natürlich könnte der unbedarfte Beobachter der Szenerie auf den an sich ja auch naheliegenden Gedanken einer Umverteilung vom SGB III hin zum Hartz IV-System kommen, aber aufgrund der Trennung der Rechtskreise ist das nicht so einfach bis gar nicht zu realisieren.

Also liegt es aus einer für die BA institutionenegoistisch durchaus verständlichen Perspektive nahe, neue Aufgaben an Bord zu ziehen, mit denen man die eigene Existenz und vor allem den eigenen Personalbestand legitimieren kann. Das ist bereits erfolgt – man denke hier nur an die Teilübertragung von Aufgaben der Jobcenter und aus dem SGB II-System an die Arbeitsagenturen im Gefolge der letzten SGB II-Änderungen:
Personen, die aufstockend zum Arbeitslosengeld I auch Hartz IV-Leistungen beziehen (müssen), werden ab Januar 2017 von den Arbeitsagenturen vermittlerisch betreut, so die BA bereits am 01.08.2016: Kunden der Jobcenter profitieren von Rechtsvereinfachungen. Damit nicht genug.
Unter der Überschrift Neues Programm soll Hartz-IV-Karrieren beenden berichtet Thomas Öchsner: »Ein neues Programm soll Kinder von Hartz-IV-Empfängern davor schützen, ebenfalls den Einstieg in den Arbeitsmarkt zu verpassen. Es soll mit Mitteln der Arbeitslosenversicherung bezahlt werden … Normalerweise werden Steuergelder für solche Belange verwendet.« Der Grundgedanke ist ja nicht verkehrt. Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit (BA) haben in der Altersgruppe der unter 25-jährigen Arbeitslosen etwa 65 Prozent keine abgeschlossene Berufsausbildung. Arbeitgeber und Gewerkschaften im Verwaltungsrat der Nürnberger BA haben ein neues Programm vorgelegt, um Hartz-IV-Karrieren zu stoppen.

»Bislang gibt es bei der Förderung von Jugendlichen mit Ausbildungsdefiziten ein großes Problem: Beziehen ihre Eltern Hartz IV, sind für sie die steuerfinanzierten Jobcenter zuständig. Ist dies nicht der Fall, sind die etwa 150 Arbeitsagenturen ihr Ansprechpartner. Dies gilt auch für bestimmte Förderhilfen oder die Berufsberatung … Die Arbeitgeber … und die Gewerkschaften schlagen nun vor, dass die etwa 150 Arbeitsagenturen künftig grundsätzlich alle jungen Menschen unter 25 Jahren ohne Erstausbildung betreuen und die Arbeitslosenversicherung dies bezahlt … Die Kosten belaufen sich in den nächsten fünf Jahren auf insgesamt mehr als eine Milliarde Euro … Deutlich teurer ist der zweite Teil des neuen Programms: Dabei geht es um Reha-Maßnahmen für Arbeitslose, um den Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt zu befördern. Auch hier gibt es ein Wirrwarr an Zuständigkeiten. Hartz-IV-Empfänger bekommen eine Rehabilitation deutlich seltener als Arbeitslose, die eine Arbeitsagentur betreut. Arbeitgeber und Gewerkschaften plädieren daher dafür, diese Aufgabe komplett die Bundesagentur übernehmen und für zunächst fünf Jahre finanzieren zu lassen. Der Bundesrechnungshof hatte Defizite bei den Reha-Maßnahmen kritisiert. Die Kosten belaufen sich auf vier Milliarden Euro binnen fünf Jahren.«

Und bereits angeschoben ist die nächste, deutlich weiter ausgreifende Stufe der Aufgabenbeschaffung für die Arbeitsagenturen – und hier trifft sich die Arbeitsuche der BA mit den Interessen der Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD), die im Kontext der von ihr vorangetriebenen Debatte über „Arbeit 4.0“ auch die Bundesagentur für Arbeit umbauen möchte hin zu einer Agentur für Qualifizierung. Das nimmt langsam Gestalt an. Und wieder lassen wir den Noch-BA-Chef Weise zu Wort kommen:

»Derzeit würden im Rahmen eines Modellprojekts Bundesagentur-Mitarbeiter darauf vorbereitet, künftig Menschen bei ihrer Berufsplanung in Bezug auf die Wirtschaft 4.0 fundiert beraten zu können. „Eine solche Beratung würde dann beispielsweise auch der 50-Jährige bekommen, der als Aufzugsmonteur in einem Maschinenbau-Unternehmen arbeitet und dessen Arbeit sich gewaltig ändern wird.“ Das Projekt „Lebensbegleitende Berufsberatung“ solle von März 2017 an in drei Arbeitsagenturen in Deutschland erprobt werden … Dem Projekt liege die Annahme zugrunde, dass sich im Zuge der Digitalisierung Berufsbilder schneller verändern als früher. Berufs- und Weiterbildungsberatung müsse sich daher durch das gesamte Erwerbsleben ziehen«, kann man dem Artikel Weise: Spielt nicht, lernt entnehmen.

Heike Göbel hat das unter der Überschrift Karriere vom Amt? entsprechend der solchen Ansätzen ablehnend gegenüberstehenden FAZ-Linie so kommentiert: »Sozialministerin Andrea Nahles hat … Großes mit der Behörde vor. Die soll ausgebaut werden zum Karriereamt für jedermann, zu einer „Arbeitsversicherung“, die nicht nur im Notfall hilft. Drei Agenturen testen die „lebensbegleitende Berufsberatung“ nun. Agentur-Chef Weise verkauft die Neuerung ganz im Sinn der SPD-Politikerin als notwendiges Projekt, um die Wirtschaft in der digitalen Zukunft mit passgenau qualifiziertem Personal zu versorgen und Arbeitslosigkeit vorzubeugen. Wirklich? Hier wird der öffentliche Bildungsauftrag gewaltig überdehnt in der falschen Annahme, der Berufsweg sei in planenden Beamtenhänden gut aufgehoben. Dem Tempo und der bunten Vielfalt der Bedürfnisse privater Unternehmen wird das nicht gerecht. In einer Marktwirtschaft kann es keine Arbeitsversicherung geben. Nahles sollte mit dem Etikettenschwindel aufhören.«

Unabhängig von der Tatsache, dass die (übrigens gerade hinsichtlich der den Qualifizierungsansatz mindestens ergänzenden materiellen Absicherung weitaus umfangreicher angelegte) Idee einer Weiterentwicklung der Arbeitslosenversicherung (im engeren Sinne) hin zu einer „Arbeits- bzw. Beschäftigungsversicherung“ schon seit vielen Jahren im Fachdiskurs hin und her gewälzt wird (vgl. hierzu nur das Gutachten von Günther Schmid: Von der Arbeitslosen- zur Beschäftigungsversicherung. Wege zu einer neuen Balance individueller Verantwortung und Solidarität durch eine lebenslauforientierte Arbeitsmarktpolitik, Berlin 2008), kann und muss man die Frage aufwerfen, ob die Arbeitsagenturen des Jahres 2017 wirklich der richtige Ort sein können für einen derart ambitionierten Ansatz, der vor allem ein arbeitsmarktlicht höchst qualifiziertes Beratungspersonal voraussetzen würde. Die BA hat sich seit den „Hartz-Gesetzen“ aber eher im Downgrading der eigenen beraterischen Qualitäten „ausgezeichnet“ und durch eine Industrialisierung des Vermittlungsprozesses, was alles nicht optimistisch stimmt, dass diese große Aufgabe dort in absehbarer Zeit auch realisiert werden könnte, selbst wenn man das wollte.

Bleibt noch die Variante, die Sicherungsfunktionalität der Arbeitslosenversicherung (wieder) auszubauen. Die wird schon seit langem diskutiert und gefordert. Und sie wäre natürlich auch gerade jetzt eine Option. Dabei geht es im engeren Sinne um die weniger restriktive Ausgestaltung der Zugangshürden zu den Leistungen der Arbeitslosenversicherung, die wie bereits angesprochen vor allem durch Rahmenfrist und Anwartschaftszeit determiniert werden. Oder konkreter den Grundsatz betreffend: Um einen Anspruch auf Arbeitslosengeld I zu erwerben, muss eine Person innerhalb der letzten 24 Mo­nate (Rahmenfrist) mindestens zwölf Monate (Anwartschaftszeit) beschäftigt gewesen sein.

Da der Anteil flexibler Erwerbsformen immer weiter steigt, ist die Absicherung der Kurzzeitbeschäftigten bei Arbeitslosigkeit in den Fokus der Politik gerückt. Mit Veränderungen bei den beiden Parametern haben sich schon 2012 Elke Jahn und Gesine Stephan in dieser IAB-Veröffentlichung beschäftigt: Leistungsansprüche bei kurzen Beschäftigungszeiten: Arbeitslosengeld – wie lange man dafür arbeiten muss. Die beiden Autorinnen diskutieren die möglichen Vor- wie auch Nachteile einer Veränderung von Rahmenfrist und/oder Anwartschaftszeit. Die Ergebnisse ihrer Berechnungen zeigen, dass es Verbesserungen geben kann, diese aber überschaubar sind. »Wäre im Jahr 2010 die Rahmenfrist von zwei auf drei Jahre verlän­gert worden, hätten etwa 50.000 Personen zusätzlich Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung erhalten. Bei einer Rahmenfrist von zwei Jahren in Kombination mit einer Verkürzung der Anwartschaftszeit von zwölf auf vier Monate hätten vermutlich etwa 250.000 Personen zusätzlich Leistungen bezogen – im Schnitt aber nur für kurze Zeit«, bilanzieren die Wissenschaftlerinnen.

Insofern nicht überraschend: »Die Arbeitslosenversicherung kann die soziale Absicherung von Randbelegschaften nur begrenzt gewährleisten. Ein beträchtlicher Anteil derjenigen Personen, die derzeit nach einer Beschäftigung Arbeitslosengeld II erhalten, hat schon zuvor Leistungen der Grundsicherung bezogen. Auch nach einer Reform, die die Anwartschaftsdauer verkürzt oder die Rahmenfrist verlängert, müsste ein Siebtel bis ein Drittel der zusätzlichen Arbeitslosengeld-I-Bezieher voraussichtlich mit Arbeitslosengeld II aufstocken« (Jahn/Stephan 2012: 8). Eine entsprechende Verbesserung der Rahmenbedingungen beim Zugang zu SGB III-Leistungen wäre übrigens nichts Neues, sondern teilweise lediglich die Rückkehr zu alten Regelungen im Arbeitslosenversicherungsrecht.

Letztendlich wird an dieser Stelle erkennbar, welche Folgen die Beseitigung der alten Arbeitslosenhilfe hatte und hat. Auch mit den seit langem diskutierten Verbesserungen bei den Zugangsregularien wird man das Grundproblem einer beitragsfinanzierten Arbeitslosenversicherung nicht wirklich aufheben können – sie kann (und soll) einen möglichst ausreichenden Schutz für eine bestimmte Zeit der Erwerbslosigkeit liefern, aber sie kann, wenn sie der Beitrags- und Versicherungslogik folgt, Probleme zu niedriger Erwerbseinkommen und/oder nur kurzzeitiger Erwerbsarbeits- und damit Beitragsphasen nicht wirklich befriedigend lösen. Damit wären wir dann wieder im alten System der Arbeitslosenhilfe bzw. nach deren Abschaffung im Hartz IV-System. Und dort würde man sich über „zu viel“ Personal und solche Überschüsse freuen.

Ein „neuer“ sozialer Arbeitsmarkt? Auf alle Fälle ein weiterer Vorstoß hin zu einer auf Dauer angelegten öffentlich geförderten Beschäftigung für einen Teil der Erwerbslosen

Nordrhein-Westfalen ist nicht nur das bevölkerungsreichste Bundesland in Deutschland, es leidet auch unter einer in manchen Regionen überdurchschnittlich hohen Arbeitslosigkeit, die sich dort dann oftmals in Form eines hohen Anteils langzeitarbeitsloser Menschen ausformt. Im Jahr 2015 lag der jahresdurchschnittliche Bestand aller Arbeitslosen in NRW bei 744.000 Menschen. 43,6 Prozent von ihnen wurden statistisch als Langzeitarbeitslose ausgewiesen, das waren 324.000. Nordrhein-Westfalen ist das Bundesland, das die meisten Kreise mit besonders hohen Anteilen an Langzeitarbeitslosen aufweist. Und: Fünf der zehn Kreise mit den bundesweit höchsten Anteilen Langzeitarbeitsloser lagen im vergangenen Jahr in Nordrhein- Westfalen.

Das alles und noch viel mehr kann man dieser gerade erst veröffentlichten Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit entnehmen:

Frank Bauer et al.: Langzeitarbeitslosigkeit in Nordrhein-Westfalen. Strukturen, Entwicklungen und Abgänge in Beschäftigung. (IAB-Regional. Berichte und Analysen aus dem Regionalen Forschungsnetz. IAB Nordrhein-Westfalen 02/2016), Nürnberg 2016

Und das, was in der Arbeitsmarktforschung und in der Praxis als „Verfestigung und Verhärtung“ der Langzeitarbeitslosigkeit beschrieben und beklagt wird, kann man gerade in Nordrhein-Westfalen in aller Schärfe beobachten. Vor allem in den Ruhrgebietsstädten und teilweise auch in der Rheinschiene hat sich dieses Problem förmlich versteinert.

Die neue IAB-Studie berichtet, dass im vergangenen Jahr »etwa die Hälfte aller Langzeitarbeitslosen zur Gruppe der „arbeitsmarktfernen“ Langzeitarbeitslosen (gehörte), auf die somit knapp ein Viertel aller Arbeitslosen in Nordrhein-Westfalen entfiel. Bei dieser Gruppe ist somit die Langzeitarbeitslosigkeit bereits ein lang andauernder Zustand« (S. 44 f.), wobei der Terminus „arbeitsmarktfern“ an den Maßstäben des gegebenen Arbeitsmarktes und den dort vorfindbaren Anforderungen ausgerichtet ist. Die hochgradige Verfestigung von Langzeitarbeitslosigkeit nimmt im Hinblick auf ihre quantitative Verbreitung in Nordrhein-Westfalen einen alarmierenden Stellenwert ein.

Die Diagnose ist das eine, die Frage „Was tun?“ das andere. Auch dazu findet man in der Studie von Frank Bauer et al. zwei zentrale Hinweise:

Zum einen: Arbeitslosigkeit möglichst frühzeitig nach ihrem Eintreten zu beenden – das muss ein zentrales arbeitsmarktpolitisches Ziel sein.

»Unter den Merkmalen, die Langzeitarbeitslosigkeit begünstigen und einen Übergang in Beschäftigung erschweren, ist insbesondere das Problem fehlender beruflicher Zertifikate schwerwiegend. Anders als z. B. das Alter oder die Nationalität, das Geschlecht oder eine Schwerbehinderung kann aber dieses Problem unmittelbar arbeitsmarktpolitisch bearbeitet werden. Gerade angesichts der für Nordrhein-Westfalen besonders auffälligen Problematik einer großen Zahl von jungen Langzeitarbeitslosen ohne abgeschlossene Berufsausbildung ist der Bedarf an zusätzlichen Möglichkeiten, hier zu qualifizieren, eindeutig.« (S. 46 f.)

Und zum anderen wird der Blick auf die Gruppe der „arbeitsmarktfernen Langzeitarbeitslosen“ gerichtet:

»Für einen Teil der Langzeitarbeitslosen, insbesondere die “arbeitsmarktfernen“ Arbeitslosen, dürfte ein Zustand prägend werden, der als „sekundärer Integrationsmodus“ … beschrieben wird. Hier ist ein Pendeln zwischen Arbeitslosigkeit und arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen und eine nur ausnahmsweise und kurzzeitige Beschäftigung prägend für die Erwerbsbiografie. Für Teile dieser Gruppe der „arbeitsmarktfernen“ Langzeitarbeitslosen, deren Erwerbsbiografie nachhaltig durch die Abwesenheit von Erwerbsarbeit geprägt ist, scheint die Einrichtung eines sozialen Arbeitsmarktes, der durch längere Förderketten öffentlich geförderter Beschäftigung gekennzeichnet ist, die einzige Lösung zu sein, um eine Erwerbsintegration noch gewährleisten zu können.« (S. 46).

Damit sind einzelne arbeitsmarktpolitische Förderkomponenten aufgerufen, die seit vielen Jahren unermüdlich sowohl aus der Wissenschaft wie auch der Praxis immer wieder gegenüber der Politik angemahnt werden, deren Realisierung aber nicht nur wegen fehlender finanzieller Ressourcen, sondern auch angesichts eines mit Blick auf diese Strategie völlig kontraproduktiven, restriktiven Förderrechts blockiert und verhindert wird (vgl. dazu ausführlicher und lösungsorientiert Stefan Sell: Hilfe zur Arbeit 2.0. Plädoyer für eine Wiederbelebung der §§ 18-20 BSHG (alt) in einem SGB II (neu). Remagener Beiträge zur Sozialpolitik 19-2016, Remagen 2016).

Nun wird der eine oder andere an dieser Stelle daran denken, dass doch gerade aus NRW immer wieder unterstützende Stimmen zu hören waren und sind, die Arbeitsmarktpolitik in Richtung auf die Ermöglichung eines „sozialen Arbeitsmarktes“ umzubauen. Und dass die Landesregierung seit 2013 „Modellprojekte öffentlich geförderter Beschäftigung in NRW“ auf den Weg gebracht hat. Diese Projekte basieren auf § 16e SGB II (Förderung von Arbeitsverhältnissen) und sie werden vorwiegend von gemeinnützigen Beschäftigungsträgern umgesetzt. Diese Modellprojekte ermöglichen eine sozialversicherungspflichtige (in der Regel) Vollzeitbeschäftigung. Die wird zudem durch Coaches begleitet, die überwiegend sozialpädagogisch qualifiziert sind, so dass eine zusätzliche Stabilisierung des Beschäftigungsverhältnisses und eine persönliche Unterstützung der Geförderten bei Bedarf gewährleistet sind.

Diese Modellprojekte sind wissenschaftlich begleitet und ausgewertet worden. 2016 wurde der IAB-Forschungsbericht Ergebnisse der Evaluation der Modellprojekte öffentlich geförderte Beschäftigung in Nordrhein-Westfalen veröffentlicht. Darin findet man diese Zusammenfassung:

»Will man ausgewählte Ergebnisse der Teilnahme an den Modellprojekten in den Fokus nehmen, so ist zunächst auf die deutlichen Teilhabeeffekte zu verweisen: Sozialversicherungspflichtige geförderte Beschäftigung, die sozialpädagogisch flankiert wird, erzielt starke Effekte der sozialen Teilhabe während der Teilnahme. Zusätzlich kann eine Verflechtung der geförderten Beschäftigung mit kommunalen Dienstleistungen nach § 16a SGB II über die Begleitung durch Jobcoaches implementiert werden, da hier eine Arbeitsbeziehung zwischen Begleiter und Klient entstehen kann, die überhaupt erst den Zugang zu Problemen schafft, die der professionellen Bearbeitung bedürfen. Für viele Geförderte ist die Aufnahme einer Beratung zugleich der Beginn einer Bearbeitung der persönlichen Probleme, die den Zugang zum allgemeinen Arbeitsmarkt beeinträchtigen. Mit der Teilnahme am Modellprojekt haben sich für viele Beschäftigte erwünschte Zustandsveränderungen ergeben, wie verbesserte Zukunftsaussichten, eine Erhöhung von Ausdauer, Kondition und Leistungsfähigkeit, eine verbesserte materielle Situation sowie ein erhöhter sozialer Status (…) Die Evaluation deutet darüber hinaus arbeitsmarktpolitische Desiderate an. Es gibt unter den Teilnehmenden an den Modellprojekten auch eine qualifizierte Minderheit, die nach eigenem Urteil und nach dem Urteil der Sozialpädagogen (noch) nicht für den Übergang in den allgemeinen Arbeitsmarkt gerüstet ist. Es gibt Personen, die Überforderungsgefühle artikuliert haben und bei denen keine nennenswerten Entwicklungen bewirkt oder beobachtet werden konnten. Das sind Indikatoren für den Bedarf nach einem sozialen Arbeitsmarkt für Personen, die länger brauchen als maximal 2 Jahre, um wieder in den allgemeinen Arbeitsmarkt einsteigen zu können. Neben den Personen, bei denen durch die gebotenen Unterstützungsleistungen Entwicklungen erzielt werden konnten, die optimistisch in die Zukunft am Arbeitsmarkt blicken lassen, enthält die Zielgruppe systematisch auch solche Personen, die solche kurz- und mittelfristigen Aussichten nicht haben, die aber dennoch erwerbsfähig und erwerbsorientiert sind. Für diese Untergruppen fehlen bislang Fördermöglichkeiten.« (S. 22 f.)

Und für die letztgenannte Gruppe unter den Arbeitslosen soll nun auch was angeboten werden, das über die wenigen bestehenden Möglichkeiten weit hinausreichen würde. Der DGB NRW plädiert für einen „neuen sozialen Arbeitsmarkt“. Und sicher mit Blick auf die anstehenden Landtagswahlen im Frühjahr 2017 wird die Landesregierung zum konkreten Handeln aufgefordert, auch hinsichtlich der Finanzierungsbeteiligung. Unter der Überschrift DGB NRW: Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanzieren hat der DGB sein Modell für die Öffentlichkeit skizziert und passenderweise gleich beim Landesparteitag der regierenden SPD präsentiert.

„Über 300.000 Menschen sind länger als ein Jahr arbeitslos und haben so gut wie keine Chance, auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen“, so wird der Vorsitzende des DGB NRW, Andreas Meyer-Lauber, zitiert. Grund dafür sei ein Mangel an Arbeitsplätzen für Un- oder Angelernte in der Privatwirtschaft. „Die Erfahrung der letzten Jahre zeigt: Diese Menschen profitieren kaum von der positiven Entwicklung des Arbeitsmarktes. Deshalb muss hier die öffentliche Hand einspringen.“
Was also schlägt der DGB NRW vor?

Der DGB NRW schlägt vor, zunächst 10.000 Plätze bei Kommunen bzw. kommunalen Betrieben und Gesellschaften zu schaffen. „Uns ist wichtig, dass diese Stellen sozialversicherungspflichtig sind und die gültigen Tarifverträge eingehalten werden“, erklärte Meyer-Lauber. „Damit für die Beschäftigten tatsächlich eine Perspektive entsteht, müssen die Arbeitsplätze unbefristet sein. Und wir möchten, dass sich jeder Langzeitarbeitslose freiwillig auf die Stellen bewerben kann. In einem Auswahlverfahren wird dann die Person ausgewählt, die sich am besten für die Tätigkeit eignet.“ Entstehen könnten die Beschäftigungsverhältnisse überall dort, wo notwendige Dienstleistungen in der Kommune nicht erbracht werden, weil es die Haushaltslage nicht zulässt. „Von der Parkpflege bis zum Vorlesen im Altersheim sind viele Tätigkeiten denkbar, die das Leben der Allgemeinheit verbessern.“

Natürlich stellt sich neben anderen Fragen sofort die nach der Finanzierung, also was „kostet“ das, was der DGB da vorschlägt. Dazu kann man der Pressemitteilung entnehmen:

»Finanziert werden solle der Neue soziale Arbeitsmarkt über einen Passiv-Aktiv-Transfer und Mittel des Landes. Nach groben Schätzungen würde dieser Landeszuschuss pro Arbeitsplatz und Monat etwa 1.100 Euro brutto betragen.«

Wie kommen die auf so einen Betrag? Und was hat es mit dem „Passiv-Aktiv-Transfer“ (PAT) auf sich?

Die Grundidee, die hinter dem „Passiv-Aktiv-Transfer“ steht, ist die einer (aktiven) Finanzierung von Arbeit statt der (passiven) Erwerbslosigkeit. Man nimmt die sowieso zu zahlenden (passiven) Leistungen und verwendet diese für die Mitfinanzierung einer „normalen“ Erwerbsarbeit – das „normal“ bezieht sich auf den Tatbestand, dass es sich nicht um eine Arbeitsgelegenheit („Ein-Euro-Job“) handelt, sondern um eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung, die mindestens nach dem gesetzlichen Mindestlohn vergütet werden muss. An diesem Punkt ist der Vorschlag des DGB NRW dahingehend abweichend, dass für eine Entlohnung nach den Tarifvertragsbestimmungen für den öffentlichen Dienst plädiert wird.

Die Abbildung am Anfang dieses Beitrags verdeutlicht den PAT in einem Rechenmodell:
So könnte mit dem Geld, das jeder Langzeitarbeitslose automatisch erhält, bereits gut 50% einer regulären Vollzeitanstellung mit 39 Stunden pro Woche finanziert werden, wenn diese nach dem gesetzlichen Mindestlohn in Höhe von derzeit 8,50 Euro pro Stunde vergütet wird. Bei einer Teilzeitstelle mit 30 Stunden pro Woche läge der Anteil bereits bei fast 70%. In dem Modell, das in der Abbildung dargestellt ist, wurde mit gerundeten Bundesdurchschnittswerten gerechnet.

Für den Vorschlag des DGB NRW kann man folgende überschlägige Kostenkalkulation aufstellen:
Ausgangspunkt ist die Forderung, 10.000 Plätze zu schaffen und diese nicht nach dem gesetzlichen Mindestlohn (der im allgemeinen Rechenmodell zum PAT in der Abbildung verwendet wurde), sondern die Beschäftigten in der untersten Tarifgruppe für den öffentlichen Dienst einzustufen, was einen höheren Betrag für den Arbeitnehmer (und damit natürlich auch für den Arbeitgeber) zur Folge hat. In der Kalkulation wird mit TV-L 1 gerechnet.

Das Arbeitgeberbrutto bei TV-L 1 beträgt 2.009,05 Euro, das sind 317 Euro mehr als bei einer Vollzeitstelle mit Bezahlung nach dem gesetzlichen Mindestlohn (zur Info: Arbeitnehmerbrutto wäre 1.681 Euro ohne Jahressonderzahlung, netto käme der oder die Beschäftigte auf 1.063 Euro). Der in der Abbildung zum PAT errechnete notwendige Markterlös bzw. der über einen öffentlichen Zuschuss zu finanzierende Betrag von 783,33 Euro steigt also auf 1.100 Euro (weil eine höhere Vergütung als bei Anwendung des gesetzlichen Mindestlohns wie in der allgemeinen Modellrechnung zum PAT unterstellt angesetzt wird).

Bei 10.000 Plätzen bedeutet das: Zusätzlich zu den einzubringenden Hartz-IV-Leistungen von 910 Euro pro Platz und Monat (= 9,1 Millionen Euro passive Leistungen) müssten noch 11 Millionen Euro pro Monat aufgebracht werden. Hierbei handelt es sich um die anfallenden Brutto-Kosten.
Hinsichtlich der Gesamtkosten (brutto) ergeben sich pro Jahr Brutto-Kosten in Höhe von 132 Mio. Euro für 10.000 Plätze. Man muss an dieser Stelle anmerken, dass diese Kosten und damit auch das ausgewiesene Kostendifferential zwischen den aktivierten Hartz IV-Leistungen und dem Arbeitgeberbrutto in Höhe von 1.100 Euro pro Monat und Platz ausschließlich auf die Personalkosten der so Beschäftigten bezogen sind. Weitere mögliche Kosten, beispielsweise für Anleiter oder Betreuer, sind in diesem Betrag nicht enthalten, müssten aber ggfs. mit kalkuliert werden.

Allerdings sollte unbedingt darauf hingewiesen werden, dass für eine faire Beurteilung des notwendigen finanziellen Einsatzes nicht nur die Brutto-Kosten betrachtet werden dürfen, sondern die Netto-Kosten müssen ins Blickfeld genommen werden. Und gerade im vorliegenden Fall ist der Unterschied zwischen Brutto- und Nettokosten eben nicht trivial, sondern kann eine Bewertung maßgeblich verändern, wenn man volkswirtschaftlich an die Sache herangeht.
Für eine Berechnung der Netto-Kosten muss man wissen, um nur drei Punkte zu nennen:

  • Die Rückflüsse (wie in der PAT-Abbildung) in Form von Steuern und Sozialabgaben sind bei den 132 Mio. Euro Brutto-Kosten pro Jahr für 10.000 Plätze  im NRW-Fall noch nicht berücksichtigt.
  • Ebenfalls nicht berücksichtigt sind die kostensenkenden Effekte durch eine Erwerbsarbeit beispielsweise bei den Krankenkassen (die übrigens im PAT-Modell deutlich höhere Einnahmen haben als bei den passiven Leistungsempfängern, denn für die gibt es nur eine Pauschale, die (zu) niedrig angesetzt ist – damit profitieren auch die „normalen“ Versicherten, die ansonsten die Kassenausgaben, wenn sie höher sind als die Einnahmen, durch die nur von ihnen zu leistenden Zusatzbeiträge finanzieren müssen).
  • Auch nicht berücksichtigt sind natürlich die Wertschöpfungseffekte vor Ort durch die konkrete Beschäftigung der ehemaligen Langzeitarbeitslosen.

Wenn man das einberechnen würde, dann schmilzt der Brutto-Kostenbetrag bei einer Netto-Betrachtung ganz erheblich zusammen.

Wie nun ist die Erfolgswahrscheinlichkeit einer Realisierung des DGB NRW-Modells einzuschätzen und gibt es darüber hinaus kritische Anmerkungen aus Sicht der grundsätzlichen Befürworter einer Ausweitung der öffentlich geförderten Beschäftigung?
Hinsichtlich der Realisierungswahrscheinlichkeit kann man natürlich zwei kritische Punkte identifizieren:
  1. Zum einen ist es so, dass das Modell die Aktivierung der passiven Hartz IV-Leistungen für die anteilige Finanzierung der Erwerbsarbeit vorsieht. Das ist nicht nur in der Abbildung zum PAT-Modell leichter geschrieben als getan, denn alle bisherigen Anläufe zur Umsetzung des PAT-Gedankens waren und sind konfrontiert mit der Problematik, dass diese Mittel eben nicht aus einem Topf kommen, den man ausschütten kann für die beabsichtigte Beschäftigung, sondern wir haben es hier mit Bundesmitteln, aber auch – wenn wir an die Kosten für Unterkunft denken, mit kommunalen Mitteln zu tun. Grundvoraussetzung für eine Umsetzung des PAT-Modells wäre also vereinfacht gesagt die Bereitschaft aller beteiligten Akteuere, „ihre“ Mittel gleichsam in einen Fonds einzubringen, aus dem dann das Geld für die Mitfinanzierung entnommen werden kann. Der DGB NRW selbst weiß um diese Problemstelle, denn in der Pressemitteilung wird der Vorsitzende so zitiert: „Wenn sich die Bundesregierung beim Passiv-Aktiv-Transfer querstellt, appelliere ich an die Landesregierung, das Programm trotzdem zügig zu starten.“ Das würde den sowieso schon vom Land zu finanzierenden Anteil – siehe den nächsten Punkt – nochmals erhöhen.
  2. Zum anderen müsste das Land in dem vorgeschlagenen Modell das ausgewiesene (Brutto-)Kostendifferential in Höhe von 1.100 Euro pro Platz und Monat gegenfinanzierten. Hier hilft im engeren Sinne der Hinweis auf die enormen Rückflüsse und Einsparungen an anderer Stelle nicht wirklich, denn diese fallen ganz überwiegend in anderen Bereichen unseres versäulten Steuer- und Sozialversicherungssystems an. Vom Land wird hier also eine Art „Ausfallfinanzierung“ für andere Akteure erwartet – angesichts der Haushaltslage des Landes kann man die tatsächliche Bereitschaft des Landes dazu nüchtern als sehr unwahrscheinlich einschätzen.

Aber selbst wenn es uns gelänge, das angesprochene bestehende Dilemma einer notwendigen Fondslösung aller Akteure für die Realisierung des PAT doch aufzulösen und die passiven Leistungen für die Mitfinanzierung der Arbeitsplätze verwenden zu können, muss man gerade aus Sicht der Befürworter einer umfassenden Weiterentwicklung der öffentlich geförderten Beschäftigung kritische Anfragen an den DGB NRW-Vorschlag stellen:

Vorgesehen ist in dem Modell, die geförderten Arbeitsplätze „bei Kommunen bzw. kommunalen Betrieben und Gesellschaften zu schaffen“ und mit Blick auf die Tätigkeitsfelder wird die kommunale Begrenzung des Modells weiter verstärkt, denn gefördert werden sollen Arbeitsplätze dort, »wo notwendige Dienstleistungen in der Kommune nicht erbracht werden, weil es die Haushaltslage nicht zulässt. „Von der Parkpflege bis zum Vorlesen im Altersheim sind viele Tätigkeiten denkbar, die das Leben der Allgemeinheit verbessern.“« An dieser Stelle ist die Fachdiskussion über eine notwendige Reform der öffentlich geförderten Beschäftigung schon seit Jahren wesentlich weiter entwickelt und gerade an dem Punkt der Frage, welche Tätigkeiten gefördert werden können, liegt ein substanzieller Unterschied zum DGB NRW-Modell. Nicht nur in meinem Vorschlag für eine Hilfe zur Arbeit 2.0 wird dafür plädiert, die Tätigkeitsfelder einer neuen öffentlich geförderten Beschäftigung gerade nicht zu begrenzen auf randständige Beschäftigungsfelder im kommunalen Raum (die durchaus für den einen oder anderen relevant und hilfreich sein können), sondern die öffentlich geförderte Beschäftigung am, mit und im „ersten Arbeitsmarkt“ zu realisieren.

Dazu sei beispielhaft Matthias Knuth vom IAQ zitiert aus seiner profunden Stellungnahme zur Anhörung des Ausschusses für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landtags Nordrhein-Westfalen am 26.8.2015 unter der Überschrift „Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanzieren“ – Förderung eines dauerhaften sozialen Arbeitsmarktes:

»Die öffentlich geförderte Beschäftigung als „Sozialen Arbeitsmarkt“ neu zu konzipieren, impliziert die Überwindung der bisherigen strikten ordnungspolitischen Trennung zwischen „erstem“ und „zweitem“ Arbeitsmarkt und die Einbeziehung privatwirtschaftlicher Arbeitgeber in die soziale Verantwortung für Menschen, die bisher vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind. Ein Sozialer Arbeitsmarkt würde bestehen aus (1) privaten erwerbswirtschaftlich orientierten Arbeitgebern, die Lohnkostenzuschüsse und bei Bedarf unterstützende Dienstleistungen (Qualifizierung, Coaching, Konfliktmoderation) für die Beschäftigung von einzelnen bisher Ausgegrenzten nutzen, die sie in ihre Belegschaften integrieren; (2) Sozialen Unternehmen, für die die Beschäftigung von andernfalls Ausgegrenzten ein vorrangiges Unternehmensziel darstellt, die aber gleichwohl strategisch auf Produkt- oder Dienstleistungsmärkten agieren1; und (3) traditionellen Beschäftigungsträgern, die Dienstleistungen für die Allgemeinheit erbringen, damit aber keine oder keine nennenswerten Markterlöse erzielen. Integrationsunternehmen i.S.v. §132 SGB IX könnten in der Kategorie (2) tätig werden, indem sie ihre Belegschaften um förderungsberechtigte Nichtbehinderte erweitern, oder sie könnten ihr know-how nutzen, um sich mit einem zusätzlichen Geschäftszweig im Sozialen Arbeitsmarkt zu diversifizieren … alle Arbeitgeber eines Sozialen Arbeitsmarktes (sind) auf ergänzende Kostendeckungsbeiträge in erheblicher Größenordnung angewiesen. Dieses sind für privatwirtschaftliche Arbeitgeber ebenso wie für Sozialunternehmen Erlöse in Produkt- oder Dienstleistungsmärkten; Beschäftigungsträger ohne Markterlöse sind auf ergänzende Förderungsquellen angewiesen, z.B. auf Zuwendungen des Landes oder von Kommunen im Zusammenhang mit unentgeltlich erbrachten Dienstleistungen.

Der Zwang zur Erzielung von Markterlösen und zum Umgang mit Kunden hat den positiven Effekt, dass die Arbeitsbedingungen im Sozialen Arbeitsmarkt denen im allgemeinen Arbeitsmarkt sehr ähnlich sein müssen. Dieses bietet die Chance, dass ein Teil der Beschäftigten in den ungeförderten Arbeitsmarkt hineinwächst. Sie werden von privaten Arbeitgebern dauerhaft übernommen, oder sie bekommen eine ungeförderte Dauerstellung als Stammkräfte bei Sozialen Unternehmen. Dadurch können die bisher stets zu beobachtenden „Einbindungseffekte“ der öffentlich geförderten Beschäftigung verringert werden. Man sollte diesbezüglich keine überzogenen Erwartungen haben, aber von einem Sozialen Arbeitsmarkt mit Anbindung an Produkt- und -dienstleistungsmärkte sind – bei gleicher Zusammensetzung der geförderten Personen – mehr Übergänge in den allgemeinen Arbeitsmarkt zu erwarten als von einer geförderten Beschäftigung in einem abgeschotteten „Zweiten Arbeitsmarkt“.« (Knuth 2015: 4)

Genau in die Richtung sollte und muss eine wirkliche Weiterentwicklung der öffentlich geförderten Beschäftigung gehen und daran sollten alle Vorstöße auch gemessen werden.
Wenn man diesen Maßstab anlegt, dann ist der Vorstoß des DGB NRW zwar zu begrüßen, setzt er das Thema doch wieder auf die politische Agenda, und auch Merkmale wie unbedingte Freiwilligkeit der zu beschäftigenden Personen und eine an tariflichen Maßstäben gebundene Vergütung sind positiv hervorzuheben. Auch die Tatsache, dass eine der Lebenslügen der deutschen Arbeitsmarktpolitik, die grundsätzliche und seit Jahren faktisch immer kürzer werdende Befristung der Förderung hier aufgehoben werden soll, ist als Pluspunkt zu vermerken.

Aber zu kurz gesprungen kommt das Modell rüber hinsichtlich der Ausgestaltung der Tätigkeitsfelder. Überhaupt nicht angesprochen werden in dem Vorschlag die eben auch notwendigen infrastrukturellen Voraussetzungen für eine wirkliche Weiterentwicklung der öffentlich geförderten Beschäftigung, denn die muss professionell organisiert und durchgeführt werden. Dazu auch der Hinweis von Matthias Knuth in seiner Stellungnahme für den nordrhein-westfälischen Landtag: »Der Stellenwert von Sozialunternehmen oder Sozialbetrieben in der Arbeitsmarktpolitik war in den 1990er Jahren schon einmal weiter entwickelt. Derartige unternehmerische Strukturen wieder aufzubauen und in geeigneten Märkten zu etablieren, wird auch strukturelle oder projektförmige Anschub- und Aufbaufinanzierung erfordern und ist allein mit Lohnkostenförderung für die Beschäftigten nicht zu erreichen.« (Knuth 2015: 6 f.)

Nicht vergessen werden sollte bei einer kritischen Analyse die Einordnung des DGB-Vorschlags die quantitativen Dimensionen: Bei mehr als 320.000 Langzeitarbeitslosen in NRW, darunter mehr als 160.000 sogenannte „arbeitsmarktferne“ Langzeitarbeitslose, wären selbst 10.000 Plätze nicht wirklich ein Durchbruch, sondern eher ein größerer Tropfen auf den heißen Stein.
Insgesamt kann man nur hoffen, dass der Vorstoß des DGB NRW einen weiteren Impuls setzen kann, über die dringend erforderliche grundsätzliche Weiterentwicklung der Arbeitsmarktpolitik überhaupt noch zu diskutieren. Notwendig wäre allerdings ein größerer Sprung nach vorn und die Überwindung des auch bei diesem Modell gegenüber der öffentlich geförderten Beschäftigung erkennbaren Angst des Torwarts vorm Elfmeter, um das mentale Hindernis mal allegorisch auszudrücken.