Das deutsche „Jobwunder“ zwischen glücksuchenden Zuwanderern, tollen Kopfzahlen und der eigenen Realität an den Rändern, die immer weiter in die Mitte wachsen

Immer mehr Menschen aus dem Ausland suchen ihr Glück im wirtschaftlich stabilen Deutschland. Mehr als eine halbe Million Menschen kamen im ersten Halbjahr 2013. Viele sind gut ausgebildet  und auf dem Arbeitsmarkt gesucht – so die positiv daherkommende Botschaft in dem Artikel „Krise zieht mehr Zuwanderer nach Deutschland“ in der Online-Ausgabe der FAZ. Grundlage sind neue Zahlen des Statistischen Bundesamtes: „Zuwanderung nach Deutschland steigt im 1. Halbjahr 2013 um 11 %„. Dem kann man entnehmen, dass im ersten Halbjahr des laufenden Jahres 555.000 Personen nach Deutschland zugezogen sind, 55.000 (oder + 11 %) mehr als im ersten Halbjahr 2012. Damit gab es zum dritten Mal in Folge eine zweistellige Zuwachsrate bei den Zuwanderungen in einem ersten Halbjahr. Gleichzeitig zogen im ersten Halbjahr 2013 rund 349.000 Personen aus Deutschland fort (+ 10 %). Insgesamt hat sich dadurch der Wanderungssaldo von 182.000 auf 206.000 Personen erhöht (+ 13 %). In dem FAZ-Artikel wird bemerkt, dass die Zuwanderer vor allem aus Osteuropa und den Euro-Krisenländern kommen: »Die Mehrzahl der ausländischen Zuwanderer kam abermals aus Polen (93.000), gefolgt von Rumänien (67.000) und Bulgarien (29.000). Auch aus den Krisenländern des Euroraums – die unter hoher Arbeitslosigkeit leiden – zog es viele Menschen nach Deutschland: Aus Spanien wanderten 39 Prozent mehr ein als im Vorjahr, aus Portugal 26 Prozent und aus Italien 41 Prozent mehr.«

Und dann kommt mit Blick auf den Arbeitsmarkt oder sagen wir besser und korrekter auf die vielen Arbeitsmärkte ein interessantes Zitat:

»Die kräftige Zuwanderung hat die Zahl der Beschäftigten in Deutschland im September erstmals über die Marke von 42 Millionen steigen lassen. „Die Firmen finden die benötigten Arbeitskräfte zunehmend nicht mehr im Pool der verbliebenen Arbeitslosen, sondern im Ausland“, sagte Ökonom Christian Schulz von der Berenberg Bank.«

Der Satz des Ökonomen von der Berenberg Bank bringt eine zunehmende und sehr beunruhigende Problematik auf den Punkt: Auf der einen Seite steigt die Beschäftigung, wenn man sie vor allem an den Köpfen misst, zum anderen müssen wir beobachten, dass das kaum bis gar keine Effekte hat auf die Arbeitslosigkeit der heute vor allem im Hartz IV-System konzentrierten erwerbsfähigen Menschen. Die können einfach nicht profitieren von diesem „Jobwunder“. Dies hängt auch damit zusammen, dass sich für viele Unternehmen erfreulicherweise das Arbeitsangebot nicht nur im Bereich der niedrig qualifizierten Tätigkeiten durch die Zuwanderung ausweitet, sondern: »Die Einwanderer in die Bundesrepublik verfügen inzwischen über ein höheres Bildungs- und Qualifikationsniveau als die deutsche Stammbevölkerung. Die Neuzuwanderer haben häufiger einen Techniker-, Meister- oder Hochschulabschluss als die Deutschen«, so die FAZ mit Bezug auf eine Studie im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung aus dem Frühjahr dieses Jahres (Herbert Brücker: Auswirkungen der Einwanderung auf Arbeitsmarkt und Sozialstaat: Neue Erkenntnisse und Schlussfolgerungen für die Einwanderungspolitik, Gütersloh 2013; vgl. dazu auch den Artikel: Zuwanderer besser ausgebildet als Deutsche).

Aber es lohnt sich, einen genaueren Blick auf diese derzeit vielzitierte und sich in den Medien auch verselbständigende Erfolgsstory zu werfen.

Denn zu dieser passt die folgende Überschrift so gar nicht: „Atypische und prekäre Beschäftigung weiterhin auf hohem Niveau„, meldet der DGB. Auch die Gewerkschaften nehmen sie zur Kenntnis: „Rekord bei der Beschäftigung“ und „mehr reguläre Jobs“, so lauten aktuelle Schlagzeilen zum Arbeitsmarkt. Aber sie haben genauer hingeschaut und kommen zu dem Ergebnis: den Wandel der Arbeitswelt begleitet ein schleichender Bedeutungsverlust des Normalarbeitsverhältnisses.
Der DGB weist völlig zu Recht auf eine interessante Auseinanderentwicklung von Erwerbstätigkeit gemessen an den Köpfen und dem Arbeitsvolumen hin.

Dieser Befund ist deshalb wichtig, weil viele Menschen ob bewusst oder unbewusst bei den Jubelmeldungen über „Rekordzahl an neuen Jobs“ an „richtige“ Jobs denken, also Vollzeit, unbefristet, halbwegs „normal“ entlohnt.

Massiv angestiegen ist die Zahl der erwerbstätigen Menschen, insbesondere seit Mitte des letzten Jahrzehnts und zwar um rd. 2,5 Millionen. Aber: Während die meisten Menschen bei Erwerbstätigen an sozialversicherungspflichtig, also „normal“ Beschäftigte denken, gilt zu beachten: »Dabei zählt auch die steigende Zahl von Minijobs, Selbständige (inkl. Scheinselbständige) und Ein-Euro-Jobber oder Ältere in der Freistellungsphase der Altersteilzeit zu den Erwerbstätigen. Als erwerbstätig zählt jede/r ab 15 Jahren, der/die in einem einwöchigen Zeitraum mindestens eine Stunde lang gegen Entgelt gearbeitet hat oder selbständig war. Allein 4,9 Millionen Erwerbstätige üben ausschließlich einen Minijob aus; gegenüber 1999 hat sich ihre Zahl um ein Drittel bzw. 1,2 Millionen erhöht. Selbst Erwerbstätige über 65 Jahre werden noch mitgezählt, die sich zu ihrer Altersrente noch etwas hinzuverdienen wollen und müssen.«

Im Ergebnis bleibt festzuhalten: »Zwar sind heute deutlich mehr Menschen erwerbstätig (inkl. Kleinstarbeitsverhältnisse), doch ein gestiegenes Sozialprodukt wird mit einem niedrigeren Arbeitsvolumen erwirtschaftet als 20 Jahre zuvor.«

Weitere interessante Befunde aus der DGB-Analyse:

  • Die (sozialversicherte) Beschäftigung bleibt weit hinter dem Zuwachs der Erwerbstätigkeit zurück. Absolut wurden Mitte 2013 rd. 29,2 Millionen sozialversicherte Beschäftigte gezählt, fast ebenso viele wie zuletzt Anfang der 90er Jahre. Dabei hat in den letzten 20 Jahren die sozialversicherte Teilzeit kontinuierlich zugenommen, während die Zahl der Vollzeitplätze rückläufig war. So haben sich die Teilzeitjobs mehr als verdoppelt, während etwa drei Millionen Vollzeitjobs in diesem Zeitraum per Saldo verloren gingen.  Aktuell üben lediglich 69,5 Prozent aller Erwerbsfähigen noch eine sozialversicherte Beschäftigung aus, gegenüber 76,8 Prozent vor 20 Jahren. Einen sozialversicherten Vollzeitjob übt nur noch gut die Hälfte aller Erwerbstätigen aus, gegenüber einem Anteil von gut zwei Dritteln 20 Jahre zuvor. 
  • Seriöse Untersuchungen wie vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit (vgl. genauer Rhein, Thomas: Erwerbseinkommen: Deutsche Geringverdiener im europäischen Vergleich, IAB-Kurzbericht 15/2013, Nürnberg 2013), Nürnberg zeigen, dass „die Lohnungleichheit in Deutschland deutlich gewachsen“ und der hiesige Niedriglohnsektor zwischenzeitlich zu den größten in der EU zählt. Danach bezogen fast ein Viertel aller deutschen Beschäftigten im Jahr 2010 einen Niedriglohn. Stärker als in anderen EU-Ländern erhalten auch Qualifizierte hierzulande einen Niedriglohn; mehr als vier von fünf Geringverdienern haben eine abgeschlossene Berufsausbildung. 

In einem Interview des DGB mit Karl Brenke vom DIW in Berlin („Beschäftigungsquote und Zahl der prekären Jobs nehmen gleichzeitig zu„) werden weitere wichtige Aspekte zur Einordnung der aktuellen Arbeitsmarktentwicklung angesprochen: Auch er hebt bereits angesprochenen Aspekte hervor: »Der Beschäftigungsaufbau pro Kopf betrachtet ging also mit vermehrter Teilzeittätigkeit und geringfügiger Beschäftigung einher.«

Und weiter führt Brenke aus: »In der Tat hat sich der Niedriglohnsektor stark ausgeweitet. Allerdings steigt seit 2006 die Zahl der Niedriglöhner nur noch im Gleichschritt mit der Zahl aller Beschäftigten; der Anteil der abhängig Beschäftigten, die auf den Niedriglohnsektor entfallen, wächst seitdem nicht mehr. Das passt wenig zu der Auffassung, dass erst mit der Hartz IV-Reform die Arbeitslosen zur Aufnahme eines Jobs angereizt wurden, da sie zuvor zu wenig leistungsbereit waren und übermäßige Lohnvorstellungen gestellt  hatten. Vielmehr lässt sich zeigen, dass deren Lohnansprüche auch schon vor der Reform gering waren und sich danach auch nicht nennenswert verändert haben. Den Arbeitslosen mangelte es nicht an Arbeitsmoral, sondern an Beschäftigungsmöglichkeiten.«
Und mit Blick auf das derzeit hoch aktuelle Thema Mindestlohn ein kritischer Seitenhieb:
»Die aktuell im Vordergrund stehende Debatte um Mindestlöhne reduziert indes Lohnpolitik nahezu auf Sozialpolitik und lenkt davon ab, dass auch im mittleren Lohnbereich die Entgelte alles andere als kräftig gestiegen sind oder gegenwärtig zulegen. Absurd ist es deshalb, dass sich gerade solche politischen Verantwortlichen für Mindestlöhne einsetzen, die in ihrem öffentlichen Dienst Arbeitnehmern die Lohnanpassung an bestehende Tarifverträge verweigern.«

Man kann und soll aus seiner Kommentierung herauslesen, dass man nicht den Fehler machen darf, sich zu sehr auf den Mindestlohn zu fokussieren und dabei den viel bedeutsameren mittleren Teil aus den Augen zu verlieren. Und auch da passieren erhebliche Ausfransungen bis hin zu substanziellen Bedrohungen der Kernbelegschaften der Rückgrats der deutschen Volkswirtschaft, der Industrie mit ihren Belegschaften. Wie das aussehen kann, lässt sich beispielsweise hier nachlesen mit Blick auf ein ebenfalls sehr aktuelles Thema: „Längst kein Randphänomen mehr. Werkverträge – von der Ausnahme zur Regel„:

»In einer Betriebsrätebefragung hat die IG Metall Strukturen und Entlohnung der Branchen analysiert. Demnach stehen in der Automobilindustrie den 763 000 Stammbeschäftigten 100 000 Leiharbeitskräfte und 250 000 Werkvertragsbeschäftigte gegenüber. Das entspricht einem Verhältnis von fast 2:1. In der Stahlindustrie stehen 19 000 Werkvertragsbeschäftigte und 2 100 Leiharbeiter gegenüber 61 000 Festangestellten. Im Schiffbau arbeiten 16 800 Menschen fest, aber 2700 Menschen für Leih- und 6500 Menschen für Werkvertragsfirmen. Ebenso in der Luftfahrtindustrie: Dort gehören 72 400 Menschen zur Stammbelegschaft, aber 10 000 Menschen arbeiten als Leihbeschäftigte und weitere 10 000 Menschen sind über Werkvertrag beschäftigt.
Das bedeutet für die gesamte Branche der Metall- und Elektroindustrie und die unmittelbar an die Wertschöpfungskette angrenzenden Branchen: Fast ein Drittel der Beschäftigten arbeiten in Leiharbeit und Werkverträgen.«

Auch wenn es den vor sich hin plätschernden Nicht-Wahlkampf stört – mal wieder das deutsche „Jobwunder“. Denn das wurde teuer erkauft

Noch vor gut zehn Jahren, im Jahr 2002, galt Deutschland explizit wegen der hohen Arbeitslosigkeit als der „kranke Mann Europas“. Wie haben sich seitdem die Zeiten – und die Berichterstattung geändert. Bereits im vergangenen Jahr schlagzeilte der altehrwürdige „The Economist“ mit einer Headline auf Deutsch, was einen echten Tabu-Bruch dargestellt hat: „Modell Deutschland über alles. The lessons the rest of the world should—and should not—take from Germany„. Und das ist der Ausgangspunkt für Roland Kirbach: »Es ist dies der erste Bundestagswahlkampf seit Jahrzehnten, in dem das einstige deutsche Dauerleiden Arbeitslosigkeit keine Rolle spielt. Der Patient scheint geheilt. Er gilt jetzt als Vorbild.« Er hat eine kompakte und lesenswerte Dekonstruktion des deutschen „Jobwunders“in der ZEIT veröffentlicht: „… und raus bist du. Deutschland feiert sein Jobwunder. Doch der Erfolg ist teuer erkauft: Durch Leiharbeit, Niedriglöhne und die ständige Gefahr des sozialen Abstiegs.“ Bereits im vergangenen Jahr wurde anlässlich des zehnjährigen „Jubiläums“ der „Hartz-Reformen“ am deutschen Arbeitsmarkt das angebliche „Jobwunder“ verbunden mit dem, was die Kommission um den ehemaligen VW-Personalvorstand Peter Hartz an wundersamen Reformen angestoßen habe.

Roland Kirbach lässt sich von der scheinbar offensichtlichen Erfolgsmeldung – »Im Jahr 2002, vor Inkrafttreten der Agenda 2010, lag die Zahl der Erwerbstätigen in Deutschland bei 39,3 Millionen. Heute sind es 41,8 Millionen. Das ergibt einen Zuwachs von 2,5 Millionen neuen Jobs« – nicht blenden, sondern schaut genauer hin und identifiziert die zentralen und immer wieder auch kritisierten Problemstellen im Gewebe des deutschen „Jobwunders“, mit persönlichen Fallgeschichten illustrativ aufbereitet, so dass das abstrakte Arbeitsmarktgeschehen ein Gesicht bekommt:

  • Zum einen die seit der Deregulierung im Gefolge der „Hartz-Gesetze“ expandierende Leiharbeit.
  • Zum anderen an einem Beispiel aufgezeigt der sukzessive Abstieg aus einer Vollzeitbeschäftigung über eine befristete Teilzeitbeschäftigung in einen Minijob und von dem in einen Minijob im Rahmen der Selbständigkeit des Ehemannes.
  • Auch die sich ausbreitenden Solo-Selbständigen werden thematisiert.
  • Herausgearbeitet wird die Entwicklungsachse hin zum „Niedriglohnland Deutschland“.

Hier einige Zitate aus dem Artikel: »Im Jahr 2012 gab es in Deutschland 820.000 Leiharbeitsplätze. Zehn Jahre zuvor, vor Beginn des Jobwunders, waren es nur 310.000. Ein Zuwachs von mehr als 500.000 Leiharbeitsjobs … Aber nur 250.000 dieser Jobs, also die Hälfte, sind wirklich neue Arbeitsplätze. Die anderen 250.000 haben besser bezahlte, unbefristete Jobs vernichtet.«
Die Minijobs haben sich als Illusion erwiesen. Kirbach zitiert hier mit Blick auf die besonders von geringfügiger Beschäftigung betroffenen Frauen eine von Carsten Wippermann durchgeführte Studie im Auftrag des Bundesfamilienministeriums. Für Menschen mit Minijob als Haupt- und nicht als Nebenbeschäftigung entfalteten die Jobs „eine schnell einsetzende und hohe Klebewirkung und keine Brückenfunktion“, so wird Wippermann in dem Artikel zitiert. »Nur jeder siebte Minijobber schafft den Sprung auf eine Vollzeitstelle, hat Wippermann herausgefunden. Nur jeder vierte erreicht wenigstens eine reguläre Teilzeitstelle mit mindestens 20 Stunden pro Woche.« Wippermann spricht zu Recht von einem „stigmatisierenden Label“ Minijobberin. Damit ist weitgehend das Gegenteil von dem eingetreten, was man damals erhofft hatte.

Aber den Statistikern ist es egal, ob es sich um Leiharbeiter oder Minijobber handelt – sie zählen genau so als „Beschäftigte“ wie der unbefristet vollzeitbeschäftigte, womöglich gar noch tariflich abgesicherte Arbeitnehmer mit Betriebsrat. Die Betroffenen sehen sich selbst eher als Verlierer des Arbeitsmarktes. »Offiziell aber zählen sie zu den Gewinnern, zu jenen, denen das Medikament Agenda 2010 geholfen hat.«

Die Förderung der Selbstständigkeit war neben der Erleichterung von Leih- und Teilzeitarbeit ein weiterer wichtiger Bestandteil der Agenda 2010. Scheinbar eine große Erfolgsgeschichte: »Zwischen 2002 und 2012 ist die Zahl der Ein-Personen-Unternehmen in Deutschland von 1,7 Millionen auf 2,2 Millionen gestiegen.« Doch viele dieser solo-selbständigen prekären Existenzen verdienen so wenig, dass sie sich noch nicht einmal mehr eine halbwegs ordentliche Absicherung gegen Krankheitsrisiken leisten können. »Nach einer aktuellen Schätzung des Bundesverbandes der Privaten Krankenversicherungen haben inzwischen 140.000 Bundesbürger keine Krankenversicherung.«

Viele der bislang schon beschriebenen Fallkonstellationen bewegen sich im so genannten „Niedriglohnsektor“. Hierzu erläutert Kirbach:

»In Deutschland liegt die Grenze bei 9,54 Euro brutto in der Stunde, alles darunter wird als Niedriglohn bewertet. Das trifft auf die Löhne von rund 7,3 Millionen Menschen zu – 22 Prozent aller Berufstätigen. Einen höheren Anteil an Geringverdienern als Deutschland haben in Europa nur Lettland, Litauen, Rumänien und Polen. In manchen Branchen arbeiten in Deutschland fast nur noch Geringverdiener. 87 Prozent aller Taxifahrer bekommen einen Niedriglohn, ergab eine Untersuchung des Statistischen Bundesamts. Ebenso 86 Prozent der Friseure, 77 Prozent der Bedienungen in Gaststätten, 69 Prozent der Verkäufer im Einzelhandel, 68 Prozent aller Leiharbeiter, 68 Prozent der Beschäftigten in Callcentern, 62 Prozent des Hotelpersonals, 60 Prozent der Wachleute bei privaten Sicherheitsdiensten.«

Traurig, aber wahr ist die folgende Beschreibung der Situation:

»Längst ist die Bundesrepublik in einigen Branchen zum Billiglohnland des Kontinents geworden. Empörten sich die Bürger vor wenigen Jahren noch darüber, dass Nordseekrabben in Marokko gepult wurden, werden mittlerweile Schweine aus europäischen Nachbarländern nach Deutschland gekarrt und hier geschlachtet.«

Es versteht sich fast schon von selbst, dass Kirbach dies verdeutlicht am Beispiel der mittlerweile viel diskutierten osteuropäischen Werkvertragsschlachter, die in der deutschen Fleischindustrie die alten, „normalen“ Arbeitsverhältnisse verdrängt haben.

Und dann noch ein wichtiger Aspekt, der oftmals untergeht, wenn über angeblich 2,3 Millionen „neue Jobs“ schwadroniert wird, ohne zu berücksichtigen, dass es sich oftmals um andere Jobs handelt als die, die der Normalbürger vor Augen hat: »(Die Agenda 2010) hat neue Arbeit erzeugt, aber vor allem viel alte Arbeit anders verteilt. Während die Gewerkschaften allerdings immer verlangten, dass dies ohne starke Lohneinbußen zu bewerkstelligen sei, haben die Hartz-Reformer die Neuverteilung der Arbeit erreicht, indem die Qualität und die Bezahlung vieler Arbeitsplätze in Deutschland sanken.«

Und der Vollständigkeit halber: »Inzwischen gibt der Staat jedes Jahr rund elf Milliarden Euro aus, um Jobs zu subventionieren, von deren Gehältern keiner leben kann: Die Zahl der Beschäftigten, deren Lohn unter dem Hartz-IV-Niveau liegt, pendelt seit Jahren um die 1,3 Millionen, davon sind 300.000 Vollzeitstellen.« Ein gigantisches Niedriglohnsubventionierungsprogramm hat sich hier ausdifferenziert, auch, weil es gerade in den überdurchschnittlich stark davon betroffenen Branchen kaum oder keine Lohnuntergrenzen mehr gibt, weil die Tarifparteien hier keine Rolle mehr spielen und weil der Staat es bislang vermeidet hat, einen gesetzlichen Mindestlohn als Sicherungsnetz nach unten einzuziehen.

Insofern endet der Beitrag von Kirbach mit einer zutreffenden Bilanzierung der viel gerühmten „Agenda 2010“: »Deutschland ist anders geworden. Das Medikament … hatte starke Nebenwirkungen.«

Darf der das? Der Chef der Bundesagentur für Arbeit kritisiert „zunehmende Lohnungleichheit“. Er soll das sogar, weil die eigentliche Botschaft eine andere ist

Das ist eine Schlagzeile, die aufhorchen lässt: Weise kritisiert „zunehmende Lohnungleichheit“, so ein Artikel in der Online-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung. Gemeint ist hier mit Frank-Jürgen Weise immerhin der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit. Macht der Mann jetzt etwa Wahlkampf für die Oppositionsparteien? Denn es ist doch noch nicht wirklich lange her, da wurde uns im Umfeld der etwas verzögerten Veröffentlichung des „4. Armuts- und Reichtumsberichts“ der Bundesregierung seitens der Regierung wie auch von nicht wenigen Medien die Botschaft vermittelt, wir leben in einem „Erfolgsmodell“ und die Ungleichheit würde in Deutschland zurückgehen, alles sei nun am gut werden.

Dabei hatte schon das zur Bundesagentur für Arbeit gehörende Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) im Zusammenhang mit einer öffentlichen Anhörung zum neuen Armutsbericht zahlreiche Einwände gegen Behauptungen der Bundesregierung in einer Stellungnahme vorgetragen. Diese Stellungnahme hat es durchaus in sich: Keine abnehmende Einkommensungleichheit, Reallöhne gesunken, atypische Beschäftigung gestiegen, Hilfebedürftigkeit bei 60- bis 65-Jährigen um circa 65 Prozent gestiegen, Aufstocker nicht thematisiert – um nur die wichtigsten Aussagen herauszugreifen, wie „O-Ton Arbeitmarkt“ in einem Beitrag über die IAB-Stellungnahme zusammenfassend berichtet hat. Macht der Vorsitzende des Vorstandes der BA jetzt an dieser Stelle weiter?

Schaut man sich einige Kernaussagen an, die man dem Interview mit der Süddeutschen Zeitung entnehmen kann, dann relativiert sich die ganze Angelegenheit auf den ersten Blick, denn das, was er sagt, ist seit Jahren Gegenstand der sozialpolitischen Debatte und insofern vollzieht er hier nur an und für sich Bekanntes nach:

„Wir haben die Tendenz zu einer zunehmenden Lohnungleichheit“, darüber wird nun schon seit langem berichtet und wer sehenden Auges über den Arbeitsmarkt wandelt, der muss über die Begrifflichkeit Tendenz eher schmunzeln. Oder der hier: „Wer hier nicht mithalten kann, für den bleiben, wenn überhaupt, nur niedrig bezahlte Jobs.“ Sicher auch gerne gehört werden angesichts der vielen befristeten Jobs vor allem für die jungen Menschen solche Worte: „Wenn man Familie haben, ein Auto kaufen, einen Kredit für die Wohnung haben will, gehört dazu Berechenbarkeit auf der Einkommensseite.“

Schon interessanter wird die Sache bei seinen Ausführungen zur Zeit- bzw. Leiharbeit. Hier spricht er davon, dass das Ausmaß der Leiharbeit in Deutschland erträglich geblieben sei. „Wenn wir Zeitarbeit hier in Dimensionen wie in Großbritannien hätten, gäbe es in Deutschland zwei Millionen statt 800.000 Zeitarbeiter“, so Weise. Um dann gleich auch eine interessante Grenze zu ziehen, denn er spricht davon, dass wenn wir mehr als eine Million Leiharbeiter hätten, dann würde das nicht mehr zu „unserem Jobsystem“ passen. Und weiter: »Zeitarbeit sei ein Puffer für Unsicherheit und Kapazitätsspitzen. Sie sollte sich „auf diesen Kern des Geschäfts konzentrieren und kein Modell sein, um niedrigere Lohngruppen in einem Betrieb zu etablieren“.« Das ist dann schon wieder mehr als irritierend, denn genau das ist bei einem nicht geringen Teil der Leiharbeit der Fall, wie Herr Weise wissen sollte.

Dann kommt eine Ankündigung des BA-Chefs, die man sich genau abspeichern sollte für die vor uns liegenden Monate:

»Wir müssen davon weg, dass unsere Kunden dort rein- und rausgehen und zwischendurch auf Hartz IV angewiesen sind. Wir haben manchmal zu oft zehn Menschen in Zeitarbeit vermittelt statt zwei in einen Handwerksbetrieb oder ein anderes kleines oder mittelständisches Unternehmen. Letzteres wäre aber volkswirtschaftlich unter Umständen besser. Deshalb ändern wir das gerade.«

Diese Aussage ist auch deshalb so interessant wie brisant, weil die bisherige Geschäftspolitik der BA eine andere war und ist – mit dem Resultat einer zunehmenden Bedeutung der Leiharbeit: »34 Prozent der offenen Stellen, die der Bundesagentur für Arbeit gemeldet wurden, entfielen im Jahresdurchschnitt 2012 auf die Leiharbeitsbranche«, berichtet O-Ton Arbeitsmarkt. Außerdem »schloss die Bundesagentur für Arbeit zunehmend Kooperationsverträge mit Leiharbeitsunternehmen.«

Die Andeutungen von Weise müssen auch im Zusammenhang gesehen werden mit Diskussionen innerhalb seines Hauses, die er damit bedienen will (denn erst einmal bleibt das eine Ankündigung): Bereits im Oktober 2012 hat der Vorsitzende des Hauptpersonalrats der BA, Eberhard Einsiedler, in einem kritischen Positionspapier die massenweise Vermittlung in Leiharbeit angeprangert. Die Anzahl der Vermittlungsvorschläge in Leiharbeit habe sich zwischen 2007 und 2011 auf knapp neun Millionen mehr als verdreifacht (plus 276 Prozent). Weiter kann man in diesem Papier finden: 2007 kamen auf einen Vermittlungsvorschlag in Leiharbeit noch etwa drei Vermittlungsvorschläge in ein reguläres Beschäftigungsverhältnis. 2011 hat sich das Verhältnis auf eins zu 1,7 verschoben.

Die eigentliche Botschaft des Herrn Weise geht so: Macht euch keine Sorgen wegen der Leiharbeit, so lange die unter einer Million Menschen liegt, ist das in Ordnung (wohl wissend, dass die Leiharbeitsfirmen auf absehbare Zeit diese Grenze gar nicht überschreiten können) und so, wie sie angeblich eingesetzt werden, sind sie in Ordnung. Und wir selbst werden im Sinne einer „freiwilligen Selbstverpflichtung“ so tun, als tun wir was gegen die „win-win-Situation“ zwischen Leiharbeitsfirmen und Bundesagentur.

Und nachdem er gerade die kritischen Geister versorgt hat mit wohlfeilen Botschaften, dass auch er die „Tendenz“ zu einer zunehmenden Lohnungleichheit erkannt habe und man irgendwie was machen wolle gegen allzu schlimme Auswüchse bei der viel kritisierten Leiharbeit, kommt er zum eigentlichen Punkt, der aus einer direkten Wahlkampfunterstützung für die CDU/CSU besteht, die zumindest auf der Ankündigungsebene eine der zentralen Wahlkampfthemen der Opposition abzuräumen versucht: das Thema Mindestlohn, das in weiten Teilen der Bevölkerung und quer zu den Parteipräferenzen eine große Sympathie genießt. Folglich hat Merkel und ihre Union für die Zeit nach der Wahl nicht wie von der Opposition gefordert mindestens einen, sondern ganz viele Mindestlöhne in Aussicht gestellt. Und genau diesen Ansatz präferiert Herr Weise, folgt man der Berichterstattung:

»Im Interview spricht sich Weise für von Arbeitgebern und Gewerkschaftern ausgehandelte, differenzierte Lohnuntergrenzen aus. Wenn diese „moderat und nach Branchen und Regionen unterschiedlich sind, muss dies keine Arbeitsplätze kosten“, sagte er.«

Also wenn der Chef der Bundesagentur für Arbeit das so sagt, dann muss das Konzept der Unionsparteien doch irgendwie richtig sein. Ein gutes Interview. Fragt sich nun nicht mehr, für wen.