Ein großer Autokonzern zeigt sich „sehr verwundert“ über ein Urteil. Das ist verständlich: Das Landesarbeitsgericht Stuttgart rügt Scheinwerkvertrag bei Daimler

Immer wieder diese Werkverträge. Und immer wieder Daimler. Ausgerechnet dieser Weltkonzern wurde in einer SWR-Reportage (Hungerlohn am Fließband – Wie Tarife ausgehebelt werden), die im ARD-Fernsehen zur besten Sendezeit (und kurz vor der Präsentation der neuen S-Klasse) im Mai 2013 ausgestrahlt wurde, damit konfrontiert, dass Werkverträge zum Lohndumping eingesetzt wurden. Daimler hat gegen die Berichterstattung im Fernsehen alle juristischen Register gezogen und wollte dem SWR untersagen lassen, den Beitrag erneut auszustrahlen (vgl. dazu auch den Blog-Beitrag Der Premiumhersteller mag das nicht. Also zerrt man kritische Berichterstattung vor das Gericht. Eigentlich aber geht es um eine Systemfrage, die sich um Werkverträge dreht). Damit hat das Unternehmen allerdings vor dem Stuttgarter Landgericht Schiffbruch erlitten (Daimler unterliegt SWR). Und jetzt ein neuer, diesmal äußerst schmerzhafter Schlag seitens der Rechtsprechung. Und wenn man sich die Fallkonstellation anschaut, dann wird verständlich, warum Daimler „sehr verwundert“ ist über die neue Entscheidung – und warum das bei vielen anderen Unternehmen für große Unruhe sorgen wird.

Zum Sachverhalt: Ein Ingenieur hat in zweiter Instanz einen Rechtsstreit mit der Daimler-Bustochter Evobus gewonnen, berichtet die Stuttgarter Zeitung in ihrem Artikel Gericht rügt Scheinwerkvertrag bei Daimler. Genauer:

»Das Landesarbeitsgericht Stuttgart gab einem Entwicklungsingenieur recht, der nach Angaben des Gerichts seit Mai 2011 durchgehend in derselben Abteilung auf demselben Arbeitsplatz am Standort Mannheim des Busherstellers Evobus eingesetzt war – allerdings nacheinander von drei Firmen, die wiederum im Rahmen von Werkverträgen für die Daimler-Tochter tätig waren … Im Fall des Mannheimer Entwicklungsingenieurs urteilte das Landesarbeitsgericht, dass es sich um einen Scheinwerkvertrag handle und rechtlich ein Arbeitsvertrag des Klägers mit der Daimler-Tochter zustande gekommen war … Ein Missbrauch von Werkverträgen liegt vor, wenn die Beschäftigten voll in den Arbeitsalltag eingebunden sind. Der Entwicklungsingenieur war nach der Prüfung des Gerichts voll betrieblich eingegliedert und unterstand dem Weisungsrecht von Evobus. Dies sei auch beabsichtigt gewesen, obwohl vertraglich anders vereinbart.«

Aber der eigentlich Hammer kommt erst noch. Denn auch wenn ein Gericht auf einen Scheinwerkvertrag erkannt hatte, also auf den Tatbestand der unerlaubten Arbeitnehmerüberlassung, blieb es für den faktischen Entleiher immer dann ohne irgendwelche Konsequenzen, wenn die Werkvertragsfirma gleichzeitig über eine Erlaubnis zur Arbeitnehmerüberlassung verfügt, denn dann konnte man diese „ziehen“ und die eigentlich vorgesehenen Rechtsfolgen für das entleihende Unternehmen vermeiden (vgl. dazu auch Sell, S. (2013): Lohndumping durch Werk- und Dienstverträge? Problemanalyse und Lösungsansätze. Remagener Beiträge zur Sozialpolitik 13-2013. Remagen, 2013). Der Arbeitsrechtler Peter Schüren hat das mal als „Reservefallschirm“ bezeichnet, mit dem man die eigentlich im Gesetz vorgesehene Sanktionierung des von all dem profitierenden entleihenden Unternehmens umgehen kann.

Und darauf haben sich auch die Anwälte bezogen, die das Daimler-Tochterunternehmen Evobus vertreten: »Auch im vorliegenden Fall argumentierten die Evobus-Anwälte laut Gericht, dass der Ingenieur von den Auftragnehmern als Leiharbeiter eingesetzt werden konnte.« Aber offensichtlich haben die Anwälte und das Unternehmen nicht damit gerechnet, dass dem Landesarbeitsgericht der Kragen platzen könnte, was aber eingetreten ist:

»Das Landesarbeitsgericht ist nun jedoch von der gängigen Rechtsprechung abgewichen und wies darauf hin, dass eine Leiharbeit weder aus dem Arbeitsvertrag des Ingenieurs noch aus den Werkverträgen ersichtlich gewesen sei. Das Gericht rügt, dass sowohl Evobus als auch der Auftragnehmer gerade bewusst den Sozialschutz des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes verhindern wollten. Das Gesetz verlangt unter anderem, dass Leiharbeiter nur vorübergehend eingesetzt werden dürfen, um etwa Auftragsspitzen zu bewältigen.«

Das sitzt und muss erst einmal verdaut werden.

Die große Koalition plant – so ist es jedenfalls im Koalitionsvertrag vereinbart – etwas gegen den Missbrauch von Werkverträgen zu unternehmen. Die Gesetzgebung sei für das nächste Jahr vorgesehen, sagte ein Sprecher des Bundesarbeitsministeriums auf Anfrage. Aber Frau Nahles kann sich sicher inspirieren lassen, von den seit längerem vorliegenden Reformvorschlägen wie auch von dem konkreten Urteil des Landesarbeitsgerichts Stuttgart. Hoffentlich wird das auch bald mit Leben gefüllt. So ein „nächstes Jahr“ kann ganz schön lange dauern.

Übrigens: Wer sich für die Reportage „Hungerlohn am Fließband – Wie Tarife ausgehebelt werden“, die im vergangenen Jahr im ARD-Fernsehen ausgestrahlt wurde, interessiert, der kann sich die hier anschauen. YouTube sei Dank:

Wir sind auf dem Weg in die Vollbeschäftigung, sagt der Chef der Bundesagentur für Arbeit. Wenn da nicht wären: Die Langzeitarbeitslosen, die Schwerbehinderten …

Das ist doch mal eine Ansage: „Ab 2020 haben wir Vollbeschäftigung„, so der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit, Frank-Jürgen Weise. Dann wird ja alles gut. Ärgerlich nur, dass es da nicht wenige Abweichler zu geben scheint, die im Schatten der sonnigen Prognose zu verharren scheinen. Beispielsweise die Langzeitarbeitslosen, vor allem diejenigen, die schon seit mehreren Jahren ohne eine Beschäftigung sind. Denn deren Zahl hat in den vergangenen Jahren – also in einer arbeitsmarktlich guten Zeit mit steigender Beschäftigung und rückläufiger offizieller Arbeitslosigkeit – noch zugenommen. Neue Studien verdeutlichen das Problem der sich verfestigenden Langzeitarbeitslosigkeit. Vgl. dazu beispielsweise die Berechnungen in der Studie Es werden mehr. Aktualisierte Abschätzung der Zielgruppe für eine öffentlich geförderte Beschäftigung aus der sich verfestigenden Langzeitarbeitslosigkeit, die im Oktober 2014 veröffentlicht wurde. Mehr als 480.000 Menschen in Deutschland sind zwar erwerbsfähig, aber gleichzeitig so „arbeitsmarktfern“, dass ihre Chancen auf Arbeit gen Null tendieren. Ebenfalls von der Lage ihrer Eltern betroffen sind 340.000 Kinder unter 15 Jahren, die in den Haushalten der besonders benachteiligten Arbeitslosen leben. Ein Jahr zuvor waren es noch 435.000 Menschen und 305.000 Kinder. Wir sehen hier also Anstiege von 10 bzw. 11,5%.
Und auch die Situation der Schwerbehinderten hat sich hinsichtlich ihrer Arbeitsmarktintegration keineswegs verbessert, sondern ganz im Gegenteil verschlechtert – unter wohlgemerkt günstigen allgemeinen arbeitsmarktlichen Rahmenbedingungen.

Insofern ist die Überschrift eines Artikels von Stefan Sauer – Menschen mit Behinderung weiter im Nachteil – leider nicht überraschend. An schwerbehinderten Arbeitsuchenden ist die positive Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt, von der überall berichtet wird, fast spurlos vorüber gegangen. Ihre Arbeitslosenquote liegt mit 14 Prozent mehr als doppelt so hoch wie die allgemeine Quote, so Sauer. An der Situation schwerbehinderter Arbeitsloser – sie sind weitaus häufiger arbeitslos und warten deutlich länger auf einen Job als nicht behinderte Menschen – hat sich seit 2009 nicht viel geändert. Nach dem neuen „Inklusionsbarometer 2014“ der Aktion Mensch geht es Schwerbehinderten auf dem Arbeitsmarkt heute kaum besser als im Mittel der vergangenen fünf Jahre.

»Im Auftrag der Aktion Mensch führt das Handelsblatt Research Institute mit dem Meinungsforschungs­institut Forsa seit 2013 jährlich eine bundesweite, repräsentative Umfrage durch. Aus den Ergebnissen dieser Umfrage und einer Analyse verfügbarer amt­licher Daten zur Beschäftigung Schwerbehinderter wurde für Deutschland ein Inklusionsbarometer entwi­ckelt. Für das diesjährige Inklusionsbarometer haben wir 402 Unternehmen mit mindestens 20 Mitarbeiter­innen und Mitarbeitern, die Menschen mit Behinde­rung beschäftigen, sowie 803 berufstätige Arbeit­nehmerinnen und Arbeitnehmer mit Behinderung zur Arbeitsmarktsituation und zu ihren Erfahrungen mit­einander in der Arbeitswelt befragt.« (Inklusionsbarometer 2014, S. 4)

Die Aktion Mensch berichtet über einige Ergebnisse aus dem „Inklusionsbarometer 2014“ und der Überschrift Inklusion kommt im Berufsleben nur schleppend voran:

»Die Zahl der Arbeitssuchenden mit Schwerbehindertenausweis legte danach um rund 3.000 auf 179.000 Menschen zu. Die Arbeitssuche dauert in dieser Gruppe im Durchschnitt 100 Tage länger, die Quote der Arbeitslosen mit Behinderung liegt mit 14 Prozent mehr als doppelt so hoch wie die allgemeine Arbeitslosenquote. Insgesamt hat sich das Inklusionsklima bei Arbeitgebern, also die Bereitschaft zur Einstellung, gegenüber dem Vorjahr etwas abgekühlt.

Rund 60 Prozent aller Arbeitgeber in Deutschland bleiben unterhalb der geforderten Einstellungsquote für Menschen mit Behinderung von fünf Prozent … Sie zahlen stattdessen die gesetzliche Ausgleichsabgabe. Diese wird bei Unternehmen mit mehr als 20 Angestellten fällig.«

Unternehmen ab 20 Beschäftigten haben in Deutschland die Pflicht, mindestens fünf Pro­zent ihrer Arbeitsplätze mit schwerbehinderten Men­schen zu besetzen. Unterschreitet ein Unternehmen diese Quote, muss es eine gestaffelte Ausgleichsab­ gabe von bis zu 290 Euro im Monat je unbesetztem Pflichtarbeitsplatz zahlen. Allerdings: Fast 3,4 Millionen Betriebe mit weniger als 20 Mitarbeitern werden mit dieser Zahlung gar nicht konfrontiert.
Offensichtlich gibt es (immer noch) erhebliche Informationsdefizite auf Seiten der Arbeitgeber, denn: »Etwa jeder vierte Firmenchef weiß nichts von der staatlichen Eingliederungshilfe, die aus der Ausgleichsabgabe zur Verfügung steht.« Allerdings gilt auch: Wenn ein Unternehmen konkrete Erfahrungen mit der Beschäftigung von schwerbehinderten Arbeitnehmern gemacht hat, dann werden diese Menschen deutlich besser beurteilt als bei denen, die solche Erfahrungen nicht gemacht haben:

»Mehr als drei Viertel aller Unternehmer … sehen keine Leistungsunterschiede zwischen den Berufstätigen mit und ohne Behinderung.«

Interessant sind auch die regionalen Unterschiede:

»Erstmals gibt es auch eine Regionalisierung der Ergebnisse. Danach ist Inklusion weniger stark vom Wohlstand einer Region abhängig als erwartet. Ostdeutschland, das bei den Wirtschaftsleistungen pro Kopf in der Bundesrepublik Schlusslicht ist, hat bei der Inklusionslage die Nase vorn. Baden-Württemberg, eigentlich ein ökonomisches Kraftzentrum, findet sich nur am Ende wieder. Die höchste Beschäftigungsquote hat danach Hessen, gefolgt von NRW. Im bevölkerungsreichsten Bundesland ist zudem das Inklusionsklima am besten.«

Stefan Sauer lässt in seinem Artikel auch die Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Verena Bentele, zu Wort kommen, die darauf hinweist, dass es zahlreiche, sehr unterschiedliche Gründe für die unbefriedigende Entwicklung gibt. So gestalte sich der Übergang von der Förderschule in die Berufsausbildung und den ersten Arbeitsmarkt häufig schwierig. Auf der einen Seite stünden Arbeitgeber, die keine persönlichen Erfahrungen mit behinderten Menschen hätten und vor der Einstellung zurückschreckten. „Viele Betriebe sehen erst einmal die vermeintlichen Schwierigkeiten“, so Benetze. Andererseits zeigen auch die Absolventen von Förderschulen nicht selten Scheu, sich offensiv auf dem ersten Arbeitsmarkt zu bewerben. Das Verlassen des Schutzraums Förderschule sei nicht immer einfach, so Bentele. Eine zweite, noch größere Gruppe der Betroffenen wurde von einer Schwerbehinderung erst im Lauf des Berufslebens durch eine Erkrankung betroffen. Viele dieser Behinderten verlieren nach Erkenntnissen der Behindertenbeauftragten den Anschluss an den Arbeitsmarkt, etwa durch längere Zeiten der Arbeitsunfähigkeit.

Fazit: Das allgemeine Gerede über der Perspektive „Vollbeschäftigung“ erweist sich als Ideologie, dass nicht nur einige wenige, sondern Millionen von Menschen irgendwie vor die Klammer des Begriffs zieht.

Aber gerade angesichts der erneut vorgetragenen Problemdiagnose einer fehlenden erkennbaren Verbesserung für die schwerbehinderten Menschen im Kontext einer an sich guten Entwicklung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt stellen sich zwei grundlegende Fragen, die hier nur in den Raum gestellt werden können, aber unbedingt weiter zu diskutieren wären:

  • Man muss zur Kenntnis nehmen, dass es eine durchaus bereit ausgebaute Infrastruktur der Hilfe und Unterstützung schwer behinderter Menschen hinsichtlich ihrer Integration in den Arbeitsmarkt gibt. Eine ganze Reihe an Akteurinnen bieten hier ihre Unterstützung an. Wenn sich dennoch die Situation der schwer behinderten Menschen auf dem Arbeitsmarkt nicht erkennbar verbessert, dann muss das nicht, aber kann sehr wohl zu tun haben mit einer grundsätzlichen Exklusion bestimmter Personen aus der heutigen Arbeitswelt. Zugespitzt formuliert: Auch unter Berücksichtigung der zahlreichen Hilfen, die man bei der Einstellung eines schwerbehinderten Menschen in Anspruch nehmen kann, reduzieren viele Arbeitgeber ihre Beschäftigung angesichts der realen Bedingungen auf dem heutigen „Turbo-Arbeitsmarkt“ auf Menschen, die aus ihrer Sicht uneingeschränkt verfügbar sind und den Produktivitätserwartungen entsprechen. Eine vergleichbare Fragestellung stellt sich ja auch bei der Integration von Langzeitarbeitslosen. Letztendlich geht es hier um die überaus schwierige Frage, ob es auf der Nachfrageseite des Arbeitsmarktes überhaupt noch genug Andockstellen  für eine Arbeitsmarktpolitik gibt, deren konzeptioneller Ansatzpunkt der technische und auch monetäre Ausgleich der so genannten „Minderleistungsfähigkeit“ der betroffenen Menschen ist.
  • Davon abgesehen: Als eine gesicherte Erkenntnis kann gelten, dass die entscheidende Hürde für eine bessere Integration schwerbehinderter Menschen in den Arbeitsmarkt der Zugang zu einer Beschäftigung in den Unternehmen ist. Denn wenn Unternehmen einmal solche Menschen beschäftigen, dann gibt es in aller Regel sehr positive Bewertungen, auch der Leistungsfähigkeit und damit des angeblich so wichtigen Produktivitätskriteriums seitens der Arbeitgeber. Wobei man natürlich einschränkend anmerken muss, dass das sicherlich nicht für alle schwerbehinderten Menschen gelten kann, denn ab einem bestimmten Grad der Behinderung wird man nie oder nur anteilig die Leistungsfähigkeit eines „Normal-Beschäftigten“ erreichen können. Aber genau dafür stehen dann ja entsprechende Ausgleichsmaßnahmen zur Verfügung, mit deren Hilfe den Arbeitgebern die Angst vor einer zusätzlichen Kostenbelastung genommen werden kann bzw. könnte. Wenn also die entscheidende Hürde der Zugang zu einer Beschäftigungsmöglichkeit ist, dann muss man offen darüber nachdenken, ob es möglicherweise im bestehenden System Barrieren gibt, die potentielle Arbeitgeber schwerbehinderter Menschen von einer Einstellung zurückschrecken lassen. Auch wenn das unter den Experten immer wieder als nicht zutreffend bezeichnet wird: Man sollte nicht unterschätzen, welche psychologische Kraft im negativen, hier abschreckenden Sinne entfaltet wird seitens der besonderen Schutzregeln für diese Menschen, die nur für sie auf dem Arbeitsmarkt mit sicher absolut redlichen Motiven installiert worden sind. Damit sind nicht nur die spezifischen Kündigungsschutzregeln gemeint, auch die besondere Berücksichtigung bei Bewerbungsverfahren verursachen unter vielen, selbst wohlwollenden Arbeitgebern Abwehrreflexe. Vielleicht sollte man Inklusion „einseitig positiv“ definieren. Also eine gezielte Förderung und Unterstützung im Sinne eines Nachteilsausgleichs, wenn das dazu beiträgt, die behinderten Menschen auf „gleiche Augenhöhe“ oder in die Nähe davon zu bringen. Aber ansonsten eine Gleichbehandlung mit den anderen Arbeitnehmern. Beispielsweise im Kündigungsschutzrecht. Das allerdings würde konsequent zu Ende gedacht zahlreiche, teilweise nur historisch zu verstehende Sonderregelungen hinfällig machen. Eine Diskussion wäre das auf alle Fälle wert.

„Eine Welt ohne Zufall ist eine Welt unter ständiger Kontrolle“. Wer bei Amazon in die Lagerhallen blickt, sieht in die Zukunft einer sich ausbreitenden Screening-Mentalität in der Arbeitswelt

Der »Internet-Versandhändler Amazon kontrolliert ganz genau, welchen Weg seine Waren gehen – und seine Mitarbeiter. Damit steht der Online-Riese jedoch nicht alleine da. In Zukunft könnte uns das allen blühen«, so Corinna Budras in ihrem Artikel Der totalüberwachte Mitarbeiter. Sie beginnt ihren Blick in die Gegenwart und mögliche Zukunft bei Amazon in Koblenz, wo eines der großen Logistikzentren des Konzerns steht.

Amazon hat das System permanenter Kontrolle perfektioniert, aus Angst vor Diebstahl und um die Arbeitsprozesse zu optimieren.

»Den Warenfluss ständig zu überprüfen gehört für Amazon zum Geschäft. Das Problem ist: Auch der Mitarbeiter gerät in den Strudel ständiger Überwachung. Bleibe einer mit seinem Handscanner minutenlang untätig, werde das System nervös und löse einen Alarm aus, berichtet der Betriebsrat. Oft dauere es nicht lange, bis der Manager vorstellig wird. Dann gehe die Fragerei los, sagt Faltin, verpackt in „Feedbackgespräche“.«

Zugleich kann man in Koblenz aber auch lernen, wie wichtig ein Betriebsrat sein kann, denn:
»In Koblenz jedenfalls finden derzeit keine Feedbackgespräche zur „Prozessoptimierung“ mehr statt, der Betriebsrat ist dagegen vorgegangen. „Solange Feedbackgespräche Druck-Gespräche sind, müssen wir sie untersagen“, sagt Faltin.« Aber der Versandhändler Amazon ist kein Solitär, sondern das Unternehmen steht stellvertretend für eine ganz grundsätzliche Veränderung in vielen Unternehmen.

Denn Amazon ist nicht das einzige Unternehmen, das über seine Mitarbeiter permanent Daten sammelt, Chips oder Strichcodes einsetzt, immer genau weiß, wo sie gerade sind und vielleicht auch, was sie gerade tun. Corinna Budras zitiert Stefan Brink, der Datenschutzbeauftragte von Rheinland-Pfalz, mit den Worten: „Wir sehen gerade einen massiven Wandel in der Arbeitnehmerüberwachung“ und: „In Deutschland setzt sich gerade eine Screening-Mentalität durch“. Aus diesen Reihen wird darauf hingewiesen, dass »seit etwa fünf Jahren … Datenschützer etwas (beobachten), das sie „Amerikanisierung des Datenschutzes“ nennen: das flächendeckende Sammeln von Daten ohne konkreten Nutzen. Die tiefergehende Analyse, auch Screening genannt, kommt später.«
Offensichtlich, folgt man der Einschätzung von Datenschützern wie Stefan Bring, stehen wir am Anfang einer bedenklichen Entwicklung, die eben weit über Amazon hinausgeht: „Das Screening von Mitarbeitern wird zu einer ganz normalen Dienstleistung.“

Interessant ist der Hinweis auf die „Amerikanisierung des Datenschutzes“, besser: des Nicht-Datenschutzes. Hierzu überaus informativ der hörenswerte WDR-Beitrag Der vermessene Mensch – Überwachung am Arbeitsplatz (05.10.2014): Während sich die Deutschen noch über die Überwachung von Beschäftigten empören, sei es beim Discounter oder im Versandhandel, haben sich die Arbeitnehmer in den USA längst damit abgefunden, von ihren Arbeitgebern am Arbeitsplatz ausgespäht zu werden. Die Firmen sehen darin eine legitime Effizienz-Kontrolle. So lässt sich eine ganze Nation, die sich die Freiheit sonst groß auf ihre Fahnen geschrieben hat, abhören. Überwachte aus Deutschland und den USA schildern, wie sie diesen Eingriff in ihr Leben empfinden.

Die Wirklichkeit ist immer ambivalenter als die einfach daherkommende Vorstellung von da oben die bösen Unternehmen und da unten die armen, aber an sich guten Mitarbeiter. Auch unter denen gibt es natürlich solche und andere. Das wird in dem folgenden Passus – wieder über Amazon in Koblenz – deutlich:

»Besonders junge, körperlich fitte Männer ziehen offenbar besondere Genugtuung daraus, die eigene Leistung jeden Tag aufs Neue vermessen zu lassen. Fitnessarmbänder waren gestern, der Firmenkarte mit Barcode gehört die Zukunft. Sie garantiert maximale Aufmerksamkeit, selbst vom Chef. Mitarbeiter mit befristeten Arbeitsverträgen können so positiv auffallen, das hilft bei Verhandlungen über eine Verlängerung. Wahr ist außerdem: „Die Überwachung dient natürlich auch der Abschreckung.“ Das sagt der Betriebsrat Faltin ohne Vorwurf.«

Apropos Amazon: In der Print-Ausgabe der Rhein-Zeitung vom 25.11.2014 findet man den Artikel „Amazon vor dem Weihnachtstrubel“.  Darin wird berichtet, dass Amazon  in Koblenz für das bevorstehende Weihnachtsgeschäft 1.000 Saisonkräfte einstellt – 10,11 Euro zahlt ihnen das Unternehmen pro Stunde, so viel, wie die fest Angestellten im ersten Jahr als Basislohn bekommen. Das Logistikzentrum von Amazon in Koblenz wurde im Herbst 2012 mit rund 300 Mitarbeitern eröffnet. Derzeit arbeiten rund 2.000 Menschen fest an der A 61. Viele von ihnen kommen aus der Arbeitslosigkeit und Amazon weist darauf hin, dass das Unternehmen von der Arbeitsagentur Mayen-Koblenz eine Auszeichnung bekommen habe, weil unter den 2.000 Beschäftigten rund 100 Menschen mit einer Behinderung sind. Etliche Gehörlose sind darunter. Und auch ausgesprochene Kritiker des amerikanischen Versandhändlers müssen zugestehen, dass Amazon eines der wenigen Unternehmen ist, das vorbehaltlos Langzeitarbeitslosen eine Beschäftigungschance gibt, die in anderen Unternehmen noch nicht einmal in die Nähe eines Vorstellungsgesprächs kommen. Das ändert nichts an der in vielen Punkten berechtigten Kritik an diesem Unternehmen, gehört aber auch zu der eben immer ambivalenten Wirklichkeit.