Billiger, noch billiger. Wo soll man anfangen? Karstadt, Deutsche Post DHL, Commerzbank … und Primark treibt es besonders konsequent

Es muss schon nachdenklich stimmen – die deutsche Volkswirtschaft segelt von einem Rekord zum nächsten, ganz anders als viele andere europäische Staaten. Nicht nur im Außenhandel, auch bei der Beschäftigung – und das, obgleich doch ausweislich der Untergangs-Propheten zahlreicher wirtschaftswissenschaftlicher Mainstream-Institute der halbe Untergang des Abendlandes aufgrund des seit dem 1. Januar 2015 in Kraft gesetzten gesetzlichen Mindestlohns angebrochen sein müsste, dem „hunderttausende Arbeitsplätze“ zum Opfer fallen sollen. Davon ist aber nichts zu spüren, ganz im Gegenteil. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit (BA) schreibt diese Tage in dem aktuellen Bericht Einschätzung des IAB zur wirtschaftlichen Lage: »Die Beschäftigung folgt weiter ihrem stabilen Aufwärtstrend, und auch die Zahl der offenen Stellen steigt weiter. Die Arbeitslosigkeit sinkt im Januar den vierten Monat in Folge. Dem IAB-Arbeitsmarktbarometer zufolge setzt sich diese Entwicklung in den nächsten Monaten fort. Nach einem weiteren Plus um 0,2 auf 101,8 Punkte signalisiert der Indikator einen leichten Rückgang der saisonbereinigten Arbeitslosigkeit in den nächsten drei Monaten. Wesentliche Auswirkungen des gesetzlichen Mindestlohns auf Beschäftigung und Arbeitslosigkeit sind gegenwärtig nicht wahrnehmbar.« Nicht dass das die Katheder-Kritiker irgendwie erschüttert in ihrer ideologisch einzementierten Position. Aber es deutet bei nüchterner Betrachtung darauf hin, dass es kaum eine bessere Zeit gibt als jetzt, eine gesetzliche Lohnuntergrenze einzuführen.

Die mediale Aufmerksamkeit fokussiert derzeit auf zwangsläufig sich ergebende Anpassungsprobleme für einige Billig-Geschäftsmodelle nach Einführung des Mindestlohns, wobei die betriebswirtschaftlichen Probleme einiger immer eingeordnet werden in eine Anfage an „den“ Mindestlohn und seine angeblich negativen Wirkungen. Dabei gibt es hier eine zweite Seite der Medaille, über die punktuell aufgrund des derzeit gehäuften Auftretens zwar auch berichtet wird, aber zumeist nur isoliert bezogen auf das Unternehmen A oder B und nicht eingebettet in eine vergleichbar grundsätzliche übergeordnete Anfrage, die sich allerdings anbieten würde: Die Billigheimer-Strategie vieler Unternehmen, betriebswirtschaftlich im Einzelfall rational, volkswirtschaftlich im Zusammenspiel aber desaströs. Hierzu einige Beispiele aus der deutschen Arbeitswelt.

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Der Kapitalismus macht depressiv! Aber ist das wirklich so? Oder liegt die Wahrheit vielleicht in der Mitte?

Es ist eine dieser großen und auf den ersten Blick durchaus nachvollziehbaren, plausiblen Erzählungen unserer Tage: Immer mehr Menschen werden durch die Bedingungen, denen sie in der modernen Arbeitswelt ausgesetzt sind, in den Burnout getrieben, viele schaffen es nicht, bis zum gesetzlichen Rentenentrittsalter durchzuhalten und werden – oftmals und in zunehmenden Maße – aus „psychischen Gründen“ als Erwerbsunfähige frühverrentet. Sichtet man die vielen Beiträge aus den letzten Jahren, dann kann sich der Eindruck verfestigen, wir leben in einer „erschöpften Gesellschaft“.
Das Thema hat selbst die Philosophie erreicht. Gleichsam paradigmatisch hierfür die Überlegungen von Byung-Chul Han, geboren in Südkorea, Professor für Philosophie und Kulturwissenschaft an der Universität der Künste Berlin: Wie der Kapitalismus uns zu Selbstausbeutern macht, so lautet beispielsweise einer seiner Beiträge. Er hebt das Thema auf eine ganz große Bühne: »Die psychischen Erkrankungen wie Depression oder Burnout sind der Ausdruck einer tiefen Krise der Freiheit. Sie sind ein pathologisches Zeichen, dass heute die Freiheit vielfach in Zwang umschlägt … Die perfide Leistungslogik … führt am Ende zum Kollaps. Wir denken, wir verwirklichen uns, wir optimieren uns, aber in Wirklichkeit beuten wir uns aus. Wogegen könnten wir protestieren? Es gibt ja niemanden, der mich zur Arbeit zwingt. Ich beute mich ja aus freien Stücken aus. Das Leistungssubjekt, das sich frei wähnt, ist in Wirklichkeit ein Knecht. Es ist insofern ein absoluter Knecht, als es ohne den Herrn sich freiwillig ausbeutet.« Das sind Worte, die vielen kritischen Geistern aus der Seele sprechen werden und ist es nicht zugleich ein Thema, das sich durch die Arbeitenvon Marx über Freud und die Frankfurter Schule bis hin zu den Beiträgen des jüngst verstorbenen Soziologen Ulrich Beck – um nur einige wenige zu nennen – zieht? Und auch aus einer ganz anderen Perspektive: Kennt nicht jeder von uns Beispiele von Menschen, die an der modernen Arbeitswelt verzweifelt sind, die schweren Schaden genommen haben?

Und zeigen nicht die Daten eindeutig eine enorme Ausbreitung der psychischen Erkrankungen sowie der durch sie verursachten nicht nur individuellen, sondern auch ökonomischen Schäden? »Wegen ihrer Psyche lassen sich deutsche Arbeitnehmer immer länger krankschreiben. Die Unternehmen kostet das Milliarden«, so beispielsweise Rainer Woratschka in seinem Artikel Depression wird zur Volkskrankheit. Es geht hier nicht um „die“ psychischen Erkrankungen, sondern um „nur“ um die Depressionen. Und es sind beunruhigend daherkommende Zahlen, von denen berichtet wird: Von 2000 bis 2013 sind Fehlzeiten aufgrund von Depressionen um fast 70 Prozent gestiegen. Der Anteil der Erwerbspersonen, die Antidepressiva verschrieben bekamen, hat im gleichen Zeitraum um ein Drittel auf sechs Prozent zugenommen. Diese Daten stammen aus einer Sonderauswertung der Techniker Krankenkasse (TK), die als „Depressionsatlas 2015“ der Öffentlichkeit vorgestellt wurde (vgl. Techniker Krankenkasse (Hrsg.): Depressionsatlas – Auswertungen zu Arbeitsunfähigkeit und Arzneiverordnungen, Hamburg 2015).

Eigentlich sind nur wenige davon betroffen – 1,6 Prozent der Menschen bekamen eine Krankschreibung mit der Diagnose „Depression“. Die, die es trifft, fallen aber sehr lange aus, im Durchschnitt 64 Tage. Das heißt, es ist eine sehr langwierige Erkrankung für den Patienten, verbunden mit hohen Ausfallzeiten für die Betriebe. 1,6 Prozent der Fälle waren dadurch für 7,1 Prozent aller gemeldeten Fehltage verantwortlich. Jens Baas, Vorstandsvorsitzender der TK, erläutert die Auswirkungen auf der betrieblichen Ebene an einem Rechenbeispiel:

»Für ein Unternehmen mit 250 Mitarbeitern bedeutet dies, dass durchschnittlich vier ihrer Beschäftigten gut zwei Monate im Jahr fehlen. Berücksichtigt man noch den Urlaubsanspruch, bleibt also mindestens ein Arbeitsplatz allein aufgrund von Depressionen unbesetzt.«

Interessant ist natürlich ein differenzierender Blick auf die Zahlen – und da scheint es Hinweise zu geben, mit der sich die eingangs skizzierte These von der krankmachenden Arbeitswelt heute scheinbar belegen lässt: »Betroffen sind laut TK vor allem Berufe mit einem hohen Stresslevel und einer großen psychischen Belastung wie im Callcenter (2,8 Tage), in der Altenpflege (2,5), in Erziehungs- (1,6) sowie Sicherheitsberufen (1,4).« Das wurde aufgegriffen: Branchenspezifische Unterschiede legen nahe, dass Arbeitsbedingungen die Krankheit beeinflussen, so Claudia Wrobel in ihrem Artikel Fremdbestimmt im Job: »Ein hohes Stresslevel, wenig Selbstbestimmtheit und die prompte Reaktion auf die Bedürfnisse anderer: Das haben Berufe im sogenannten Dialogmarketing, also im Callcenter, in der Altenpflege und der Kinderbetreuung gemeinsam. Und noch eins – Beschäftigte dieser Branchen sind besonders häufig wegen der Diagnose Depression krankgeschrieben.«

Es gibt allerdings weitere Differenzierungen, die man aus den Daten ableiten kann und muss – zum einen Unterschiede zwischen den Geschlechtern, zwischen den Altersgruppen sowie zum anderen zwischen Regionen: »Frauen sind mit durchschnittlich 1,3 Tagen deutlich mehr aufgrund von Depressionen krankgeschrieben als Männer mit durchschnittlich 0,8 Tagen. Zudem nehmen die Fehlzeiten mit dem Alter deutlich zu. Erst ab dem 60. Lebensjahr sind die Werte wieder rückläufig«, so die TK. Und der Unterschied zwischen den Regionen hat es sogar in die Überschrift dieses Artikels gebracht: Hamburger bleiben am häufigsten mit Depression zuhause: »Hamburg hat 2013 demnach bundesweit die höchsten Fehlzeiten aufgrund von Depressionen verzeichnet. Dort entfielen demnach auf eine Erwerbsperson im Durchschnitt 1,42 Fehltage mit der Diagnose Depression. Auch in Schleswig-Holstein und Berlin lag der Anteil der arbeitsunfähig geschriebenen Versicherten um mehr als zehn Prozent über dem Bundesdurchschnitt. Baden-Württemberg wies dagegen mit durchschnittlich 0,84 Fehltagen die geringsten Fehlzeiten aufgrund dieser psychischen Erkrankung auf. Auch Bayern und Sachsen lag bei den durch Depression verursachten Fehltagen um rund zehn Prozent oder noch mehr unter dem Bundesdurchschnitt.« Bereits an dieser Stelle könnte man die Frage aufwerfen: Sind die Arbeitsbedingungen in Hamburg so viel krankmachender als in Baden-Württemberg, wenn man denn die Hauptthese im Kopf hat, dass es die kapitalistischen Bedingungen sind, die depressionsverursachend wirken.

Auch Martin Dornes und Martin Altmeyer stellen die Frage: Macht der Kapitalismus depressiv? Aber ihre klare Antwort, garniert mit einem Vorwurf, folgt sogleich: »Nein. Die gängige Sozialkritik ignoriert die empirischen Befunde.« Und ihre Gegenargumentation geht so:

»Wissenschaftliche Untersuchungen, mit denen die Verbreitung von Krankheiten ermittelt wird, sogenannte epidemiologische Studien, zeigen zwischen 1947 und 2012 keinen Anstieg von Depressionen und anderen psychischen Störungen. Es gibt keine konsistenten Belege dafür, dass diese Erkrankungen zugenommen hätten – weder bei Erwachsenen noch bei Kindern. Ärzte diagnostizieren heute jedoch häufiger psychische Störungen. Die ärztliche Praxis hat sich also verändert, aber nicht die Gesundheit der Menschen.«

Warum passiert das? Warum werden heute häufiger psychische Störungen diagnostiziert? Zum einen sehen sie das Wirken bestimmter Konjunkturen bzw. Moden gesellschaftlicher Thematisierung. Allein die öffentliche Aufmerksamkeit für einzelne Krankheitsbilder kann ihr tatsächliches oder vermeintliches Auftreten beeinflussen. Darüber hinaus identifizieren sie drei wesentliche Gründe:

»Erstens wurden psychische Erkrankungen früher oft nicht erkannt, als körperliche Erkrankungen fehldiagnostiziert oder als Schicksalsschlag hingenommen. Hinter dem Anstieg der Diagnosen verbirgt sich zum Teil also die wünschenswerte Aufhellung eines Dunkelfeldes. Zweitens ist die Bereitschaft gewachsen, auch Befindlichkeitsstörungen in Krankheiten umzucodieren, weil sich unsere Sensibilitäten und Maßstäbe für seelische Gesundheit gewandelt haben. Drittens hat sich auch die medizinisch-psychiatrische Erhebungsmethodik verändert. Zwischen 1952 und 2014 hat sich die Zahl der unterschiedlichen Krankheitsbefunde, die ein Arzt oder Psychologe nach dem Diagnostischen Manual für psychische Krankheiten feststellen kann, nahezu vervierfacht, nämlich von 106 auf 400. Zugleich wurden die Schwellenwerte, ab denen Symptome eine Erkrankung belegen sollen, gesenkt.«

Den letzten Punkt illustrieren die beiden Autoren an einem Beispiel: »Um zum Beispiel bei einem Patienten eine Depression zu diagnostizieren, musste 1980 eine bestimmte Anzahl von Symptomen wie gedrückte Stimmung oder Schlafstörungen ein Jahr lang anhalten. Von 1994 an reichten für die gleiche Diagnose bereits zwei Monate mit Symptomen, und seit 2014 sind es nur noch zwei Wochen.« Das ist natürlich krass. Ein Jahr ist sicher viel zu lange, aber offensichtlich hat man das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, denn zwei Wochen ist viel zu kurz.

Ein weiterer Aspekt, den Gesundheitsökonomen als Problem der angebotsinduzierten Nachfrage gut bekannt: versorgungsbedingte Verzerrungen. Dornes und Altmeyer dazu: »So besteht zum Beispiel ein gut belegter Zusammenhang zwischen der Versorgungsdichte und der Diagnosehäufigkeit. Die Stadt Würzburg etwa weist bundesweit die höchste Zahl an Kinderpsychiatern auf – und die höchste Zahl an ADHS-Diagnosen. Glauben wir deshalb, Aufmerksamkeitsdefizite und Hyperaktivität kämen dort wirklich häufiger vor als beispielsweise in Hamburg oder Berlin?«
Und dann feuern die beiden noch eine Salve ab gegen die Untergangspropheten, die nur die – allerdings vorhandene – destruktive Seite des Kapitalismus betonen:

»Die Suizidraten haben seit 1980 abgenommen, die Tötungsdelikte ebenfalls. Dagegen hat die subjektive Lebenszufriedenheit in drei Vierteln von 52 untersuchten Ländern, in denen entsprechende Studien durchgeführt wurden, zwischen 1981 und 2007 zugenommen. Da dieser Zeitraum mit der globalen Ausbreitung des Kapitalismus zusammenfällt, sollte die antikapitalistisch argumentierende Globalisierungskritik einmal innehalten. Anscheinend überwiegen die positiven Folgen ökonomischer und gesellschaftlicher Modernisierung deren negative Folgen, jedenfalls in der Mehrheit der untersuchten Länder.«

Man muss diese positive Sichtweise auf die gesellschaftliche Entwicklung nicht in toto teilen, aber man sollte solche Befunde nicht einfach negieren.

Einen kritischen Blick auf die These von einer Zunahme der Depressionen und die dann auch noch arbeitsweltbedingt wirft auch Saskia Gerhard in ihrem Artikel Depressionen werden sichtbarer, nicht häufiger. Neben vielen anderen Argumenten sei hier ein Passus zitiert, der anschließt an den eingangs gegebenen Hinweis auf die stark steigende Zahl an Menschen, die frühverrentet werden mit Bezug auf psychische Erkrankungen:

»Den Trend, dass die Zahl der diagnostizierten Depressionen zunimmt, bestätigten die neuen Zahlen – vor allem unter Frührentnern. „Vor 30 Jahren erfolgten acht Prozent der Frühberentungen wegen psychischer Erkrankungen, jetzt sind es mehr als 40 Prozent“, sagt Psychiater Hegerl. Mehr Depressive als früher gäbe es vermutlich nicht. In jedem Fall werden derartige Erkrankungen häufiger erkannt und behandelt. Auch würden solche Krankheitsbilder seltener hinter Diagnosen wie chronischem Rückenschmerz, Tinnitus oder Kopfschmerz versteckt.«

Fazit: Auf keinen Fall kann man Entwarnung geben, vor allem auch unter Berücksichtigung des Leids der einzelnen betroffenen Menschen, aber für eine gesellschaftspolitische Dramatisierung liefern die Daten auch keine Fundierung. Wahrscheinlich liegt die Wahrheit wieder einmal irgendwo in der Mitte.

Endlich viele neue Jobs. Und dann wieder: Aber. Die Deutsche Post DHL als Opfer und Mittäter in einem Teufelskreis nach unten

Sie arbeiten, kommen aber trotzdem kaum über die Runden: Mehr als drei Millionen Erwerbstätige in Deutschland leben unterhalb der Armutsschwelle. Ihre Zahl ist in den vergangenen Jahren um 25 Prozent angestiegen. Solche Meldungen basieren auf einer Sonderauswertung des Statistischen Bundesamtes, über die in diesen Tagen berichtet wird: Danach lagen Ende 2013 rund 3,1 Millionen Erwerbstätige mit ihrem Einkommen unterhalb der „Armutsschwelle“ –  das waren immerhin 25 Prozent mehr als 2008. Über welche Beträge wir hier reden, verdeutlicht diese Erläuterung: »Als armutsgefährdet gilt, wer einschließlich aller staatlichen Transfers wie zum Beispiel Wohn- oder Kindergeld weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens erzielt. 2013 lag diese Schwelle den Angaben zufolge in Deutschland bei 979 Euro netto im Monat.« Ebenfalls mit Schwellenwerten arbeiten auch die Wissenschaftler des Instituts Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen (IAQ), die jährlich ihre Berechnungen auf der Basis von SOEP-Daten zum Anteil der „Niedriglohnbeschäftigten“ in Deutschland aktualisieren. Das IAQ verwendet – wie auch das Statistische Bundesamt und Eurostat – eine „Niedriglohnschwelle“ von zwei Dritteln des mittleren Stundenlohns (gemessen am Median) in Deutschland. »Die Stundenlöhne wurden auf der Basis der Angaben zum Bruttomonatsverdienst und zur tatsächlich geleisteten Arbeitszeit berechnet. Es handelt sich demnach um die effektiven Stundenlöhne, die von vertraglich vereinbarten Stundenlöhnen abweichen können – etwa, wenn unbezahlte Mehrarbeit geleistet wurde«, so die Erläuterungen im neuesten Bericht zur Niedriglohnbeschäftigung (Thorsten Kalina und Claudia Weinkopf: Niedriglohnbeschäftigung 2012 und was ein gesetzlicher Mindestlohn von 8,50 € verändern könnte, IAQ-Report 2014-02). Ihre wichtigsten Befunde: »Im Jahr 2012 arbeiteten 24,3% aller abhängig Beschäftigten für einen Stundenlohn unterhalb der bundeseinheitlichen Niedriglohnschwelle von 9,30 €.« Und: »Die Zahl der Niedriglohnbeschäftigten ist seit 1995 von 5,9 auf 8,4 Millionen im Jahr 2012 gestiegen, was einer Zunahme um rund 2,5 Millionen (bzw. 42,1%) entspricht. Der prozentuale Anstieg der Niedriglohnbeschäftigung war in Westdeutschland weitaus höher als in Ostdeutschland.« So weit, so schlecht – aber was hat das nun mit der Deutsche Post DHL zu tun?

Die hat in diesen Tagen mal wieder für Aufmerksamkeit gesorgt – mit der erst einmal positiv daherkommenden Nachricht, dass das Unternehmen aufgrund des boomenden Paketgeschäfts zahlreiche neue Arbeitsplätze schaffen will: „Wir rechnen mit 10.000 neuen Stellen bis 2020 und wahrscheinlich 20.000 in Summe bis 2025“, so wird der für das Brief- und Paketgeschäft zuständige Vorstand Jürgen Gerdes zitiert. Eigentlich ein Grund zur Freude, die allerdings sogleich wieder getrübt wird, wenn man zur Kenntnis nehmen muss, dass die neuen Mitarbeiter in eigens gegründeten Gesellschaften arbeiten sollen. »Der Hausvertrag der Post gilt für sie damit nicht, vielmehr sollen sich ihre Löhne an den Tarifen der Logistikbranche orientieren. Diese liegen vielfach unter denen des Bonner Konzerns.« Und auch hier wieder der bereits zitierte Post-Vorstand Gerdes im Original die Motivation zu diesem Vorgehen erklärend: „Die Paketzustellung ist auf Dauer nicht innerhalb der existierenden Tarifverträge machbar, weil der Wettbewerbsnachteil zu groß ist“, die Personalkosten bei der Deutschen Post DHL seien im Durchschnitt doppelt so hoch wie die der Wettbewerber.

Über was und wen wird hier gesprochen? Es geht um den Paketmarkt in Deutschland, der schon 2013 ein Marktvolumen von 8, 2 Mrd. Euro auf die Waage gebracht hat. Der Marktanteil der DHL lag bei beeindruckenden 42,3%, die anderen 57,7% entfielen – wenn man die Daten aus dem Geschäftsbericht der Deutschen Post DHL zugrunde legt – auf die Wettbewerber der DHL. Zu denen zählen Unternehmen wie die zur Otto-Gruppe gehörende Hermes, die seit 2011 mehrheitlich zur französischen Post gehörende DPD, die amerikanische UPS sowie die GLS, eine Tochter der britischen Staatspost Royal Mail. Der Paketmarkt macht seit geraumer Zeit einen gewaltigen Strukturwandel durch, dessen Verständnis für das, was jetzt bei der Deutschen Post DHL passiert, hilfreich ist. Dieser Strukturwandel besteht grob gesagt aus zwei Komponenten. Zum einen erleben wir eine gewaltige quantitative Ausweitung des Paketmarktes an sich, vor allem natürlich bedingt durch die Expansion der Online-Versandhändler wie Amazon und Zalando. Immer mehr Pakete müssen also transportiert werden, eine scheinbar sehr gute Nachricht für die Anbieter dieser Dienstleistungen. Marktbeobachter sprechen Unternehmen wie Amazon und Zalando aufgrund ihres stetig wachsenden Gewichts den Status von „systemrelevanten Kunden“ zu, die natürlich gegenüber den Paketdiensten über eine entsprechende und wachsende Marktmacht verfügen, die sie auch ausüben (müssen), man denke hier nur beispielsweise an deren Problematik, dass die Kosten durch viele Retouren (die gleichsam die Folge von in die Haushalte der Online-Käufer ausgelagerten Umkleidekabinen sind).

Jacqueline Goebel hat es mit der Überschrift ihres Artikels Wie das eigene Wachstum für Paketdienste zum Fluch wird auf den Punkt gebracht, was als zweite Komponente des Strukturwandels des Paketmarktes zur Kenntnis genommen werden muss: »Die Paketdienste stehen nicht erst seit dem Boom des Online-Handels unter Druck. Ausbaden müssen diesen Druck die Fahrer.« Dies hängt auch damit zusammen, dass früher überwiegend Material oder Waren versandt und ausgeteilt wurden, die sich Unternehmen untereinander geschickt haben – was heute aber nur noch auf 42% der Pakete zutrifft. Die Mehrheit des Paketaufkommens entfällt nun auf Privathaushalte, die bei den Versandhändlern bestellt haben. Das ist aber mit erheblichen betriebswirtschaftlichen Herausforderungen verbunden: Die Zahl der Pakete nimmt erheblich zu und gleichzeitig die Zahl der Haushalte, die jeweils einzeln beliefert werden müssen und von denen viele – anders als Unternehmen, die meistens mehrere Sendungen geliefert bekommen – während der Auslieferungszeiten nicht anzutreffen sind. Logische Folge ist, dass die Kosten pro Paket für die Zustelldienste steigen, besonders wenn es um Pakete in ländlichen Räumen geht. Nun könnte man natürlich theoretisch die steigenden Zustellkosten an die Auftraggeber weiterreichen, aber dieser Mechanismus ist gestört, wenn nicht sogar ausgehebelt, sollte man aufgrund der Konkurrenzsituation mit anderen Anbietern das nicht durchsetzen können.

Und die anderen Anbieter im Paketmarkt haben – das wurde bereits mit Blick auf die zwei bis zweieinhalb Mal so hohen Personalkosten der DHL angedeutet – Geschäftsmodelle, die auf eine Preisunterbietung der DHL durch niedrigere Personalkosten setzen und die natürlich gezielt von den sehr großen Auftraggebern gegen mögliche Preiserhöhungsforderungen der „teureren“ DHL in Stellung gebracht werden können. Hier nur ein Hinweis, über welche Beträge wir reden, wenn es um die mindestens doppelt so hohen Personalkosten der DHL geht: Der Einstiegslohn dort liegt bei 14 Euro, der durchschnittliche Stundenlohn wird mit 18 Euro angegeben, somit bekommt man einen ersten Eindruck, von welchen Stundenlöhnen wir bei den Konkurrenz-Unternehmen ausgehen (müssen). Das muss auch und gerade vor dem Hintergrund unterschiedlicher Geschäftsmodelle der Paketdienste gesehen und bewertet werden: Die DHL beschäftigt überwiegend eigene Paketzusteller, bislang war es so, dass von den 10.000 Zustellbezirken maximal 990 und damit weniger als 10% von Fremdfirmen abgedeckt werden dürfen. UPS beschäftigt je nach Quelle zwischen 60 und 70 Prozent der Fahrer als eigene Angestellte und auch die restlichen Fremdfirmenbeschäftigten haben vergleichsweise faire Bedingungen. Vergleichsweise zu wem? Am anderen Ende der Skala stehen Unternehmen wie DPD oder GLS, die gar keine eigenen Fahrer haben und die alles über ein Subunternehmer-Modell laufen lassen, über das man „hervorragend“ den Kostendruck von oben nach unten weitergeben kann, ohne pro forma die Verantwortung übernehmen zu müssen für die daraus resultierenden Zustände, unter denen vor allem die Fahrer zu leiden haben.

Die Deutsche Post DHL will nun die aktuelle Situation nutzen, um gleichsam in einem „Doppelschlag“ das angesprochene Kostendilemma zu den Wettbewerbern kleiner zu machen. Denn zum einen gibt es seit dem 1. Januar 2015 den allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn, der – wenn er denn eingehalten wird – bei den Subunternehmern und darüber vermittelt dann auch bei den Paketdiensten insgesamt einen entsprechenden Kostendruck nach oben ausüben wird, zum anderen will man perspektivisch bei den eigenen Beschäftigten vom „hohen“ Lohnniveau runter und sich dem darunter liegenden Lohnniveau der Konkurrenten annähern. Erreicht werden soll dies über eine Spaltung der Belegschaft in „alte“ Bestandsfälle, die weiter unter den bestehenden Haustarifvertrag fallen und „neuen“ armen Schluckern, die man in eigens dafür gegründete Gesellschaften auslagern und deutlich schlechter vergüten will. Die Post beschäftigt derzeit im Brief- und Paketgeschäft in Deutschland rund 180.000 Mitarbeiter. „Diejenigen Menschen, die bereits bei uns unbefristet beschäftigt sind, sind nicht Zielgruppe der neuen Gesellschaften. Für sie gilt der Haustarifvertrag weiter“, so wird Post-Vorstand Jürgen Gerdes zitiert. Die Post hat nach seinen Angaben bereits 49 neue Gesellschaften gegründet, die die neuen Mitarbeiter einstellen sollen. Die neu gegründeten Gesellschaften laufen unter dem Namen DHL Delivery GmbH. Dieses Unternehmen gibt es schon seit längerem und es hat auch schon in der Vergangenheit für unrühmliche Schlagzeilen gesorgt (vgl. hierzu beispielsweise den Artikel Eine kleine Tochter macht der Post großen Ärger aus dem September 2013).

Nach Angaben der Post würden die ersten Gesellschaften ab sofort neue Mitarbeiter einstellen. Dabei würden befristet Beschäftigte der Post, deren Verträge auslaufen, bevorzugt. Die Post beschäftigt nach eigenen Angaben derzeit 14.700 Arbeitskräfte mit zeitlich befristeten Verträgen. Das ist knapp ein Zehntel der Gesamtbelegschaft in der Brief- und Paketsparte. Unter anderem in Rostock, Bremen und Frankfurt am Main sollen die Mitarbeiter der neuen Gesellschaften bald komplette Bezirke für die Paketzustellung übernehmen. Es geht bei der Nutzung der Auslagerung in neue Gesellschaften nicht nur um eine bedeutsame Lohnsenkung – nach Berechnungen der Gewerkschaft drohen den Betroffenen allein mit Blick auf den Stundenlohn Absenkungen von bis zu rund 20 Prozent. Die Tarifentgelte in der Logistik, an denen sich die neuen Post-Tochtergesellschaften orientieren sollen, beginnen bei Stundenlöhnen von knapp mehr als zehn Euro. An dem Logistik-Tarif orientiert sich auch der Versandhändler Amazon, der deshalb schon lange kritisiert wird. Verdi verlangt von dem US-Händler, die Löhne in seinen Verteilzentren an die des Einzelhandels anzupassen. Bei der Post geht’s jetzt also von oben nach unten.

Der Konzern werde auch bei den Arbeitszeiten flexibler, Überstunden würden leichter möglich. Mitbewerber wie Hermes liefern Pakete bereits jetzt regelmäßig bis in die Abendstunden aus, so die „Positivliste“ des Post-Vorstandes Gerdes. Billiger und flexibler, so lässt sich die Zielsetzung der Post auf den Punkt bringen.

Das verursacht nicht wirklich überraschend erhebliche Spannungen im Unternehmen: Verdi kritisiert neuen Tarifkurs der Post. Die Gewerkschaft spricht vom „Einstieg in den Ausstieg aus der Sozialpartnerschaft“, so Andrea Kocsis, die stellvertretende ver.di-Vorsitzende. Aus gewerkschaftlicher Sicht handelt es sich um einen klaren Fall von Tarif- und Mitbestimmungsflucht. Ein „sozialpolitischer Skandal ersten Ranges“ sei das, so die Gewerkschaft in einer Stellungnahme. Und ver.di hat gute Gründe, mehr als sauer zu sein über die Deutsche Post DHL:

»Nachdem das Unternehmen unter Ausnutzung des Teilzeit- und Befristungsgesetzes mehr als 24.000 befristet Beschäftigte in Geiselhaft genommen habe, so Kocsis …, solle jetzt aus bestehenden Verträgen ausgestiegen werden. Mit der Post sei Ende 2011 vereinbart worden, im Falle des „signifikanten Absinkens der wirtschaftlichen Ergebnisse“ Gespräche aufzunehmen. Dieser Fall sei aber bislang nicht eingetreten. „Umso unerträglicher ist für uns, dass die Post mit diesem Manöver offensichtlich unseren Vertrag zum Ausschluss der Fremdvergabe und den Entgelttarifvertrag unterlaufen will“, sagt Kocsis.
Der Vertrag zum Ausschluss der Fremdvergabe läuft bis zum 31. Dezember 2015 und legt fest, dass maximal 990 Paketzustellbezirke von Konzerntöchtern oder Dritten betrieben werden dürfen.«

Apropos wirtschaftliche Lage des Konzerns: Bereits 2013 hat die Deutsche Post DHL bei 55 Mrd. Euro Umsatz mehr als 2 Mrd. Euro Jahresüberschuss gemacht (2,091 Mrd. Euro). Die Umsatzrendite lag bei 5,2% (gemessen am EBIT). Und die Prognosen für die Sparte, in dem sich die Paketdienste der DHL bewegen, klingen nicht nach einem echten Sozialfall: »Der operative Gewinn soll demnach 2014, 2015 und 2016 bei jeweils mindestens 1,3 Milliarden Euro liegen«, so Maris Hubschmid in dem Artikel Viele neue Jobs, aber schlechtere Bezahlung.

Die Deutsche Post DHL hat sich auf eine Rutschbahn nach unten gesetzt, aus einer vermeintlichen Marktlogik heraus, die rein betriebswirtschaftlich gesehen durchaus logisch ist und angesichts des immer wieder herausgestellten Lohngefälles zwischen Post und Konkurrenzunternehmen führt für die DHL aus deren Binnenperspektive auch kein Weg daran vorbei, eine solche Strategie zu versuchen (vgl. hierzu auch den Blog-Beitrag Was Amazon, die Deutsche Post und Daimler gemeinsam haben vom 28.12.2014). Das gleiche Muster erleben wir ja in vielen anderen Branchen auch, vor allem im hier besonders interessierenden Bereich der personenbezogenen Dienstleistungen. Hier handelt es sich um Dienstleistungen, die in aller Regel nicht verlagerbar sind ins Ausland und die man auch nicht annähernd so rationalisieren kann wie beispielsweise die industrielle Produktion. Zumindest die letzte Meile zu den immer zahlreicher werdenden Kunden muss (noch) händisch abgearbeitet werden. Aber was betriebswirtschaftlich durchaus rational sein kann, erweist sich volkswirtschaftlich als Schuss ins eigene Knie und man landet dann dort, wo dieser Blog-Beitrag begonnen hat. Und um den Zynismus gleichsam „abzurunden“: Die Strategie der Lohnsenkung und der weiteren „Flexibilisierung“ wird scharf gestellt in einer Phase, in der sich die Arbeitsbedingungen in den Paketdiensten bereits erheblich verschlechtert haben (vgl. hierzu den Blog-Beitrag Paketdienste segeln auf der Sonnenseite der „Amazon-Gesellschaft“. Aber das hat seinen Preis, dessen Bezahlung wieder mal ungleich verteilt ist vom 09.12.2014). Die wahren „Helden“ der Amazon-Gesellschaft werden uns noch weiter beschäftigen.

Und abschließend nur noch eine Anmerkung zu einem Zusammenhang mit einem anderen, sozialpolitisch hoch brisanten Thema der Gegenwart: Die so genannte „Tarifeinheit“. In diesem Kontext haben die Arbeitgeber in ihrem Bemühen, die große Koalition zu einer gesetzgeberischen Regelung zu treiben, immer wieder als ein Argument darauf hingewiesen, sie wären total überfordert, mit einer Belegschaft, in der beispielsweise zwei Gewerkschaften um die Gunst der Arbeitnehmer und für deren Interessen agieren. Das wäre viel zu komplex. Ach ja, aber die Belegschaft zu spalten und mal eben 49 Tochtergesellschaften zu gründen, in denen dann die Mitarbeiter zu anderen Tarifen und Regelwerken arbeiten (müssen), das ist offensichtlich kein Problem. Da verstehe noch einer die Welt der Wirtschaft. Auch dort malt man sich die offensichtlich so, wie es gerade gefällt.

Foto: © Stefan Sell