Die Republik stand still im vergangenen Jahr. Wegen kleinen, aber kampfstarken Gewerkschaften und vieler Streiks. Wirklich?

Für das gerade abgelaufenen Jahr 2014 müsste ein unbefangener, von außen kommender Betrachter unseres Landes, der sich vor allem aus den Medien informiert, eindeutig zu dem Befund kommen, dass Deutschland von gewaltigen Streikwellen durchzogen wurde. Gleichsam eine blockierte Republik, in der sich streikende Lokführer und Piloten die Türklinke in die Hand gegeben haben, teilweise haben sie sogar gleichzeitig gestreikt. Und war da nicht auch was bei Amazon gewesen? Und Warnstreikwellen im öffentlichen Dienst? Nicht nur, aber auch vor dem Hintergrund der Arbeitskampfaktionen der Lok- und Flugzeugführer wird nun im Deutschen Bundestag debattiert werden über ein Gesetzentwurf zur „Tarifeinheit“, mit der man explizit die kleinen aufsässigen Spartengewerkschaften zur Räson bringen will.

Aber stimmt diese Impression eigentlich? Schauen wir auf die Daten, die vom gewerkschaftsnahen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) als „WSI-Arbeitskampfbilanz 2014“ der Öffentlichkeit präsentiert wurden: Deutlich geringeres Streikvolumen, anhaltend viele Konflikte – so ist die Veröffentlichung des WSI dazu überschrieben worden. Allein schon dieser Titel irritiert. Deutlich geringeres Streikvolumen? Der erste, wichtige Befund aus der neuen Streikbilanz: Während sich die Gesamtzahl der Konflikte kaum veränderte, gingen das Streikvolumen und die Zahl der an Streiks Beteiligten im Vergleich zu 2013 deutlich zurück, so das WSI. Wie kann das zustande kommen?

»Insgesamt registrierte das WSI im abgelaufenen Jahr 214 Tarifkonflikte mit Arbeitsniederlegungen. Damit liegt die Arbeitskampfhäufigkeit nahezu auf dem Niveau des Vorjahres (218). Da viele dieser Arbeitskämpfe sich auf einzelne Unternehmen beschränkten, sank jedoch zugleich das Arbeitskampfvolumen. Es lag mit 392.000 Ausfalltagen um gut 25 Prozent niedriger als im Vorjahr (551.000). Noch deutlicher ging die Zahl der Streikenden zurück. Insgesamt nahmen 2014 rund 345.000 Beschäftigte an Arbeitsniederlegungen teil, ein Rückgang um fast zwei Drittel gegenüber 2013 (1 Million Beteiligte …).«

Fast 90 Prozent aller Arbeitskämpfe und gut 97 Prozent aller Ausfalltage sind dem Dienstleistungsbereich zuzuordnen. Hier fokussieren ganz offensichtlich die Konflikte. Hier sind ja auch oftmals die schlechtesten Arbeitsbedingungen vorzufinden. Das gilt auch für den zweiten Bereich, auf den das WSI hinweist: »Außerhalb des Dienstleistungsbereichs gab es erneut besonders viele, häufig kleinere, Streiks in der von der Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten (NGG) organisierten Getränke- und Lebensmittelindustrie.«

„Der seit Mitte der 2000er Jahre zu beobachtende Anstieg der Arbeitskämpfe gründet wesentlich in einer zunehmenden Zersplitterung der Tariflandschaft“, so wird Heiner Dribbusch vom WSI zitiert. Hinzu komme die Abkehr der Arbeitgeber von ehemals einheitlichen Tarifstrukturen. „Wie Tarifeinheit zerstört wird, demonstriert die Deutsche Post mit der Ausgliederung der Paketzustellung aus dem bestehenden Haustarifvertrag“ (vgl. dazu auch den Blog-Beitrag Endlich viele neue Jobs. Und dann wieder: Aber. Die Deutsche Post DHL als Opfer und Mittäter in einem Teufelskreis nach unten vom 25.01.2015).

Die WSI-Bilanz zeigt auch: Im internationalen Vergleich wird in Deutschland weiterhin relativ wenig gestreikt.

Insofern ist die Zusammenfassung der neuen WSI-Daten in diesem Artikel von Flora Wisdorff zutreffend: Die Illusion von der Streikrepublik Deutschland: »Mit großem Aufschrei wurde der Arbeitskampf der Lokführer begleitet. Viele Reisende wähnten sich im totalen Stillstand. Doch die Statistik zerstört das Bild: Die Zahl der Streiktage sank drastisch.«

Wie die Dinge zusammenhängen: Wenn Polen in Finnland ein Kraftwerk bauen, im Frankfurter Flughafen die Putzkräfte streiken, Leiharbeitern in der Pflege ein Tausender im Monat verloren geht und S-Bahnhöfe von Arbeitskräften befreit werden

Beginnen wir mit der Rechtssache C-396/13. Das ist ein Aktenzeichen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) und der spricht sich gegen Lohndumping bei entsandten Beschäftigten aus. Das Gericht ist mit Urteil vom 15.02.2015 zu dem Ergebnis gekommen, dass Arbeitnehmern entsprechend der geltenden Kollektivverträge bezahlt werden müssen, unabhängig davon in welchem EU-Mitgliedsstaat der Arbeitgeber seinen Sitz hat.  In dem vom EuGH zu beurteilenden Fall hatte ein polnisches Unternehmen seinen polnischen Arbeitnehmern, die in Finnland ein Kraftwerk errichteten, den örtlichen kollektivvertraglichen Mindestlohn, Urlaubszuschüsse und Zusatzleistungen vorenthalten. Das fand das EuGH nun gar nicht korrekt, denn es vertritt die Auffassung, dass sich Fragen, die den Mindestlohnsatz betreffen, nach dem Recht des Aufnahmemitgliedstaates, hier also Finnland, bestimmen. Die Pressemitteilung des EuGH ist folglich überschrieben mit Der Gerichtshof klärt den Begriff „Mindestlohnsatz“ entsandter Arbeitnehmer. Kurz zum Sachverhalt: ESA, ein polnisches Unternehmen, schloss in Polen nach polnischem Recht Arbeitsverträge mit 186 Arbeitnehmern und entsandte diese dann an ihre finnische Zweigniederlassung zur Ausführung von Elektroarbeiten auf der Baustelle des Kernkraftwerks Olkiluoto in Eurajoki, Finnland. Den Arbeitnehmern wurde der finnische Mindestlohn, der dort in allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträgen geregelt ist, vorenthalten. Dem hat der EuGH nun einen Riegel vorgeschoben. Wäre die Entscheidung anders ausgefallen, dann hätten wir angesichts des enormen Wohlstands- und damit zusammenhängend auch Lohngefälles innerhalb der EU ein echtes Lohndumpingproblem durch die Inanspruchnahme deutlich billigerer Arbeitskräfte, die aus anderen EU-Ländern entsandt werden. So weit die gute Nachricht.

Weiter geht es mit den schlechten Nachrichten – und die kommen vom deutschen Arbeitsmarkt.

Bau-Gewerkschaft ruft zu Putzstreik auf, so ist ein Artikel überschrieben: »Mit einem Putzstreik will die Bau-Gewerkschaft auf „unsaubere Praktiken“ des Flughafenbetreibers Fraport hinweisen. Anlass ist die Vergabe eines Reinigungsauftrags im Terminal 2 an einen Dienstleister von außen.« Die IG BAU ruft das Putzpersonal erst einmal zu einem zweistündigen Warnstreik am Frankfurter Flughafen auf. Was ist da los?

»Die bislang von der Fraport-Tochter GCS erbrachten Reinigungsleistungen im Terminal 2 seien per Ausschreibung an den neuen Dienstleister Sasse Aviation Service vergeben worden. Die Firma wolle die rund 100 Beschäftigten zwar übernehmen, aber nur zu schlechteren Bedingungen als bislang. Die GCS ihrerseits weigere sich, die teils schon seit Jahrzehnten bei ihr beschäftigten Leute in anderen Flughafenbereichen einzusetzen, kritisierte die IG BAU. Stattdessen werde der Anteil der Leiharbeiter weiter ausgebaut.«

Und was sagt die Fraport dazu? Man achte auf die Wortwahl: »In der Ausschreibung sei festgehalten, dass die neuen Arbeitsverträge denen bei der GCS „wirtschaftlich entsprechen“ müssten.«

Wieder ein Beispiel für das grassierende kostensenkungsgetriebene Outsourcing in diesem Land, was mit dazu beiträgt, dass die unteren Einkommensgruppen die großen Verlierer sind im Jobwunder-Land Deutschland.
Und was haben wir gerade lesen müssen? Man lagert die teilweise seit vielen Jahren Beschäftigten an eine andere Firma aus und stockt gleichzeitig die Leiharbeit auf? Auch dort zahlen die Beschäftigten im wahrsten Sinne des Wortes die Zeche. Dazu ein Beispiel aus der Pflege: 1000 Euro weniger für Leiharbeiter in der Pflege.

»Leiharbeit ist ein echter Lohndrücker. Etwa in der Pflege, wo der Lohnabstand zwischen Festangestellten und Leiharbeiten fast 1000 Euro ausmacht. Dies geht aus der Antwort der Bundesagentur für Arbeit (BA) auf eine Anfrage der Bundestagsabgeordneten Sabine Zimmermann (LINKE) hervor … Demnach verdienten Gesundheits- und Krankenpflegerinnen im Bereich der Leiharbeit als Vollzeitbeschäftigte durchschnittlich 2047 Euro brutto im Monat. Ihre fest angestellten Kolleginnen erhielten hingegen 3014 Euro brutto. Obwohl die Arbeitsbelastung dieselbe war, betrug der Lohnunterschied zwischen beiden Gruppen fast 1000 Euro. Im Bereich der Altenpflege ist die Entlohnung noch mieser. Hier lag der Niedriglohnanteil bei den Leiharbeitskräften bei 56 Prozent. Unter den fest Beschäftigten lag die Quote bei 35,9 Prozent. Der Verdienst als Leiharbeitskraft betrug durchschnittlich 1879 Euro brutto im Monat.«

Das muss man nicht weiter kommentieren.
Ganz offensichtlich haben wir in einigen Branchen und für viele Menschen ein echtes Lohndrückerei-Problem. Aber wenn man ganz zynisch veranlagt ist, was manche sind, könnte man argumentieren, dass das dann immer noch besser sei, als sein Leben in der Hartz IV-Arbeitslosigkeit zu fristen. Aber selbst diese mehr als traurige „Alternative“ zur vollständigen Erwerbslosigkeit wird immer stärker angefressen durch die fast nur noch als suchtförmig zu bezeichnende Ausprägung des Rationalisierungswahns in Deutschland mit dem Ziel, menschliche Arbeitskraft überflüssig zu machen. Auch hierzu ein Beispiel aus der Berichterstattung: Kameras ersetzen Aufsichtskräfte.

»Die Berliner S-Bahn zieht ihr festes Personal von immer mehr Bahnhöfen ab. Inzwischen gibt es an rund 100 der 166 Bahnhöfe in Berlin und Brandenburg keine ständigen Aufsichten mehr. Vom kommenden Jahr an soll es noch an 20 sogenannten Stammbahnhöfen feste Aufsichten geben. An den anderen Bahnhöfen sollen je nach Bedarf 120 mobile Mitarbeiter zum Einsatz kommen. In Zukunft geben sich die Zugführer mit Hilfe von Kameras und einem Monitor im Führerstand selbst das Abfahrtsignal.«

Wozu der Sparwahn führen kann, erleben wir doch täglich – wenn man ehrlich ist – um uns herum. Bröckelnde Brücken und andere Bauten, ein seit Jahren geführtes Leben von der Substanz. Überall wird bis auf die Knochen runter gespart und das wird dann von den Hohepriestern unserer Tage, den Betriebswirten, mit bunten und schönen Powerpoint-Folien überdeckt – aber die Auswirkungen auf die „Moral der Truppe“ sind gravierend.
Apropos „Moral der Truppe“ – das war eben bildhaft gemeint, aber wir können das auch mal ganz real betrachten, um dann zu einem hier ebenfalls thematisch passenden Befund zu kommen: Der Sparwahn frisst seine Kinder. Die Bundeswehr. Eine demoralisierte Armee, so haben Thorsten Jungholt und Andreas Maisch ihren Artikel überschrieben. Und wenn es nicht so traurig wäre und zugleich so bezeichnend für unsere Zeit der Controlling-Fetischisten an den Schaltstellen der Entscheidungen, dann müsste man eigentlich bei dem folgenden Beispiel einfach nur laut lachen: Zitiert wird Oberstleutnant André Wüstner, der Vorsitzende des Bundeswehrverbandes, mit den Worten: »So etwas wie die Besenstiel-Affäre ist für das innere Gefüge der Truppe eine Katastrophe.« Was ist denn das? Eine „Besenstiel-Affäre“? Hier die Auflösung:

»Bei einer Nato-Übung vor wenigen Monaten in Norwegen hatten Panzergrenadiere das fehlende Waffenrohr eines Radpanzers vom Typ Boxer mit einem schwarz angestrichenen Besenstiel simuliert. Die Geschichte sorgte international für Hohn und Spott. Eine solche Blamage, sagt Oberstleutnant Wüstner, „macht auch keine Zulagenerhöhung wett“. Zumal das betroffene Panzergrenadierbataillon 371 nicht irgendein Verband ist. Es ist der deutsche Beitrag zur „Very High Readiness Joint Task Force“, der neuen superschnellen Eingreiftruppe, mit der die Nato auf Russlands Aggression in der Ukraine reagiert hat. Bei der Aufstellung dieser Speerspitze allerdings war die Bundeswehr alles andere als superschnell. Bei den ersten Übungen der Soldaten fehlten funktionierende Radpanzer vom Typ Boxer, Nachtsichtgeräte vom Typ Lucie (76 Prozent), Pistolen P8 (41 Prozent) und Maschinengewehre MG3 (31 Prozent).«

Das ist wirklich peinlich – und zugleich symptomatisch für den Zustand der Truppe und damit auch für die Arbeitsbedingungen (die sich an anderer Stelle durch neue Maßnahmen der „Attraktivitätsagenda“ erheblich verbessern sollen – wir sind hier auf der Lieblingsbaustelle der Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen, der es um die Vereinbarkeit von Krieg und Familie z.B. durch Kasernenkitas für Soldatenkinder oder um die Modernisierung der Kasernenstuben geht. Truppenintern wird das übrigens „FKK“ abgekürzt: „Flachbildschirm, Kita, Kühlschrank“. 
Aber abschließend wieder zurück zu den nicht nur real schmerzhaft spürbaren Folgen der überall grassierenden Verengung auf eine rein zahlengetriebene Betriebswirtschaft. Dazu gehört auch eine offensichtliche semantische Vergewaltigung. Um aus den Reihen der Bundeswehr – das ließe sich jetzt aber von vielen sofort auf ihre eigenen Erfahrungsbereiche übertragen – ein Beispiel zu nennen: „dynamisches Verfügbarkeitsmanagement“ ist so ein Sprechdurchfall. Was damit gemeint ist?

»Das besagt, dass jeder Verband nicht mehr so viele Hubschrauber oder Panzer bekommt, wie er eigentlich brauchte, sondern im Durchschnitt 75 Prozent davon. Will ein Verband üben, muss er sich das Gerät erst von einer anderen Einheit beschaffen.«

Das wäre doch ein Ansatz, den man auch auf Krankenhäuser, Altenheime, Kitas usw. übertragen könnte. Aber Ironie wieder aus und ein letzter Blick in den Artikel von Thorsten Jungholt und Andreas Maisch. Sie berichten darüber, dass ein Hauptfeldwebel, nachdem er alle unteren Instanzen ohne Resonanz bearbeitet hat, der Ministerin persönlich einen langen Brief geschrieben hat, in dem er auch auf das eben angesprochene „dynamische Verfügbarkeitsmanagement“ eingeht. Wie das funktionieren solle, schreibt nun der Hauptfeldwebel, wisse niemand so genau. „Einigkeit aber besteht in der Auffassung, dass es nicht funktionieren kann.“ Da werden sich viele andere wiederfinden.

Aber dann kommt noch ein Hinweis des Herrn Hauptfeldwebels an die Ministerin, den man mit etwas Phantasie durchaus übertragen kann auf eine generelle Verhaltensbeschreibung vieler Arbeitnehmer in Deutschland, die nicht aufbegehren, sondern selbst Hand anlegen angesichts der miesen Bedingungen um sie herum: Der Briefe schreibende Soldat von der Mangelfront »klagt über die Mängel an „praktischer, sinnvoller, zeitgerechter persönlicher Ausrüstung“. Die Folge: Die Soldaten beschafften sich die wichtigsten Utensilien privat im Army Shop, für „im Schnitt 500 Euro im Jahr“.« Geht doch, könnte man zynisch einwerfen. So lange die so was machen – keine Gefahr für das Gesamtsystem. Apropos und schlussendlich – das „System“. Die Spitze sieht das natürlich ganz anders – und wenn es schlimm kommt, dann glauben die das auch noch: Die Bundeswehr sei ein „Sicherheitsunternehmen, Reederei, Fluglinie, Logistikkonzern und medizinischer Dienstleister, alles auf Topniveau und weltweit vernetzt“, heißt es in Werbeprospekten, die Interessierten in den – natürlich muss es heute so heißen – Karrierecentern der Streitkräfte in die Hand gedrückt werden. 
Die deutsche Armee, eine wunderbare Welt in Flecktarn? Eher mit ganz vielen unansehnlichen Flecken, die immer größer werden und verdammt jucken.
Und auch das liest sich fast wie ein Symboltext für die Zustände in vielen anderen Unternehmen und Organisationen:

»Dank andauernden Missmanagements bei der vor 13 Jahren privatisierten Bekleidungsgesellschaft der Bundeswehr war die Auslieferung von Uniformen und Rucksäcken zuletzt ins Stocken geraten, dem Unternehmen drohte die Pleite.«

Ach ja, die Privatisierung. Und wer holt die Kartoffeln aus dem Feuer? Viele wissen die Antwort schon, hier der Vollständigkeit halber die Auflösung aus dem Artikel: »Um die Versorgung mit Feldanzügen sicherzustellen, schlug von der Leyen dem Parlament einen Staatskredit in Höhe von elf Millionen Euro vor. Das Geld wurde vorige Woche bewilligt, allerdings nur zähneknirschend.«

Was für ein (scheinbares) Durcheinander: Immer weniger Arbeitslose und viele offene Stellen, gleichzeitig profitieren immer weniger Arbeitslose vom „Jobwunder“ und der Mindestlohn hält auch nicht das, was einige von ihm erwartet haben

„Im Februar hat sich die positive Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt fortgesetzt. Die Arbeitslosigkeit ist gesunken und die Beschäftigung behält ihren Aufwärtstrend bei.“ Mit diesen Worten wird Frank-Jürgen Weise, der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit (BA) von seiner eigenen Behörde zitiert. »Die Zahl der arbeitslosen Menschen ist von Januar auf Februar um 15.000 auf 3.017.000 gesunken. Im Durchschnitt der letzten drei Jahre ist die Arbeitslosigkeit im Februar gestiegen, und zwar um 15.000. Saisonbereinigt ist die Arbeitslosigkeit im Vergleich zum Vormonat um 20.000 gesunken. Gegenüber dem Vorjahr waren 121.000 Menschen weniger arbeitslos gemeldet.« Und auch die Zahl der Unterbeschäftigten wird erwähnt: »Die Unterbeschäftigung, die auch Personen in entlastenden arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen und in kurzfristiger Arbeitsunfähigkeit mitzählt, hat sich saisonbereinigt um 20.000 verringert. Insgesamt belief sich die Unterbeschäftigung im Februar 2015 auf 3.888.000 Personen. Das waren 173.000 weniger als vor einem Jahr.« Und auch die Arbeitsnachfrage – gemessen an der Zahl der bei der BA gemeldeten offenen Stellen, die nur einen Teil der gesamtwirtschaftlichen Arbeitsnachfrage abzubilden in der Lage ist – befindet sich im positiven Bereich: »Die Nachfrage nach neuen Mitarbeitern ist weiter aufwärtsgerichtet. Im Februar waren 519.000 Arbeitsstellen bei der Bundesagentur für Arbeit gemeldet, 63.000 mehr als vor einem Jahr … Besonders gesucht sind zurzeit Arbeitskräfte in den Berufsfeldern Mechatronik, Energie- und Elektrotechnik, Verkauf und Verkehr und Logistik. Es folgen Berufe in der Metallerzeugung, Maschinen- und Fahrzeugtechnik sowie Gesundheitsberufe.« Also alles gut.
Wie passen dann aber solche Schlagzeilen in diese schöne Landschaft: Warum Arbeitslose nicht vom Jobwunder profitieren? Und Moment – gab es da nicht die Schreckensvisionen vieler Ökonomen in den vergangenen Monaten, die immer wieder von mehreren hunderttausend Arbeitsplätzen gesprochen haben, die mit der Einführung des Mindestlohns verloren gehen werden? Wie passt das alles zusammen?

Warum Arbeitslose nicht vom Jobwunder profitieren, fragt Thomas Öchsner in der Süddeutschen Zeitung: Er verweist nicht nur auf die Zahl von mehr als 43 Millionen Beschäftigten (wobei man hier immer mitdenken muss, dass es sich um alle Erwerbstätige handelt, also nicht nur der Vollzeitbeschäftigte mit einer 40-Stunden-Woche ist darin enthalten, sondern beispielsweise auch die Minijobber), sondern auch auf die enorme Bewegung, die wir auf dem Arbeitsmarkt haben: »Jeden Werktag melden sich gut 10.000 Menschen arbeitslos, weil sie ihren Job verloren haben. Die Bundesagentur für Arbeit (BA) zählte aber auch 2014 mehr als zwei Millionen Menschen, die ihre Arbeitslosigkeit beenden konnten.«

Die arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, Brigitte Pothmer, hat bei der Bundesregierung nachgefragt, wie sich denn der Beitrag der Arbeitsagenturen und Jobcenter darstellt, wenn es um die Vermittlung in eine (neue) Beschäftigung geht. »Das Ergebnis fand sie ziemlich ernüchternd: Trotz der Rekordbeschäftigung gelingt es den staatlichen Vermittlern immer seltener, Arbeitslosen einen festen Job zu vermitteln«, so Thomas Öchsner in seinem Bericht über die Antwort der Bundesregierung auf die Anfrage:

»2014 erhielten etwa 272 000 Arbeitssuchende eine reguläre, ungeförderte Stelle auf dem Arbeitsmarkt, weil sie ein Jobcenter oder eine Agentur bei einem Arbeitgeber vorgeschlagen hatte. Das sind 28 Prozent oder 100 000 weniger als noch 2011 … Wie erfolgreich die Arbeit der staatlichen Vermittler ist, zeigt unter anderem die Vermittlungsquote. Diese ist … seit Jahren rückläufig. Danach waren von allen arbeitslosen Menschen, die 2011 eine normale, nicht geförderte Stelle ergattern konnten, 16,2 Prozent von den staatlichen Behörden direkt vermittelt worden. 2014 waren es nur noch 13 Prozent.«

Nun sollte man fairerweise zugestehen, dass die Vermittlungsquote den Teil der Stellenbesetzungen abbildet, bei dem die Agenturen und Jobcenter direkt vermittlerisch tätig waren (oder wo das als solches statistisch erfasst wurde). Daneben kann man natürlich argumentieren, dass es auch zahlreiche indirekte Vermittlungsleistungen gibt oder geben kann, die dann in einer Stellenbesetzung münden, ohne dass diese in der Vermittlungsquote ausgewiesen werden.

Öchsner weist aber auch noch auf einen weiteren Aspekt hin, den man der Antwort der Bundesregierung entnehmen kann: Frühere Erwerbslose verlieren häufig relativ schnell wieder ihren neuen Job. »Danach haben nur knapp 57 Prozent noch nach einem Jahr die Stelle, die sie mithilfe der staatlichen Behörden bekommen haben. Bei denjenigen, die Arbeitslosengeld II (Hartz IV) beziehen und meist länger als ein Jahr arbeitslos sind, gelingt es nicht einmal jedem Zweiten, den zuvor vermittelten Job mindestens ein Jahr zu behalten.« Auch in der Bundesagentur wird das als Problem erkannt: „Die Dauer der Beschäftigungsverhältnisse ist besonders für Hartz-IV-Bezieher zu kurz.“ Jeder Arbeitsvermittler werde eine unbefristete Stelle einer befristeten Stelle oder einer in der Zeitarbeit vorziehen. „Wir können uns solche Stellen jedoch nicht backen“, zitiert Öchsner eine Sprecherin der BA.

Die arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, Brigitte Pothmer, »fordert einen Politikwechsel in der Arbeitsförderung, „weil weder Umfang noch Qualität der Vermittlung überzeugen können“. Vor allem bei gering Qualifizierten sei es nötig, stärker das Augenmerk auf das Fördern und Qualifizieren der Arbeitslosen zu legen, statt ihrer schnellen Vermittlung den Vorrang zu geben.«

Das wäre ein richtiger und wichtiger Schritt, der allerdings derzeit in einem doppelten Sinne versperrt wird: Zum einen durch zahlreiche förderrechtliche Restriktionen im SGB III und II, die dazu führen, dass an sich sinnvolle und gebotene Maßnahmen gar nicht durchgeführt werden dürfen, zum anderen aber auch eine seit 2011 ablaufende erhebliche Kürzung der Mittel für Fördermaßnahmen (vgl. dazu auch den Beitrag Arbeitsmarktpolitische Förderung: Weiterer Rückgang 2014 bei O-Ton Arbeitsmarkt). Und vor dem Hintergrund der folgenden Äußerung der Sprecherin der BA, die Öchsner in seinem Artikel zitiert, wird zugleich die völlig unsinnige Ausgestaltung der Nicht-Förderung derzeit im SGB II erkennbar: „Unter den Arbeitslosen haben wir zu wenig Fachkräfte, die werden aber gesucht.“ Richtig, über die Hälfte der arbeitslos registrierten Hilfeempfänger im Hartz IV-System haben keine Ausbildung. Dann wäre es doch nur naheliegend, alles daran zu setzen, die Betroffenen, wenn sie denn wollen und können, zu einem ordentlichen Berufsabschluss zu verhelfen, auch und gerade vor dem Hintergrund das wir wissen, dass die Arbeitgeber in Deutschland extrem abschlussorientiert sind, also darauf schauen, ob jemand einen Berufsabschluss hat – oder eben nicht. Dann nützen auch zahlreiche Zertifikate mehr oder weniger sinnvoller Maßnahmen nichts. In der Rarität aber werden Hartz IV-Empfängern ohne eine Ausbildung aufgrund der rechtlichen Ausgestaltung im SGB II zahlreiche Steine in den Weg gelegt, wenn sie eine Ausbildung machen wollen, bei älteren Hilfeempfängern kann sogar die Leistung vollständig gestrichen werden, wenn sie sich selbst bemühen, ohne Ansprüche auf andere Leistungen – ein Irrsinn (vgl. dazu den Beitrag Langzeitarbeitslose: Wer sich engagiert, wird bestraft des Politikmagazins „Monitor“ in der Sendung am 26.02.2015).

Und wie sieht es auf einer anderen großen arbeitsmarktpolitischen Baustelle aus? Beim (fast) flächendeckenden Mindestlohn? Der muss hier natürlich gerade vor dem Hintergrund der neuen Arbeitsmarktzahlen aufgerufen werden. Denn wie war das im vergangenen Jahr, vor der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns? Hunderttausende Arbeitsplätze sollten nach den Vorhersagen zahlreiche Mainstream-Ökonomen durch die neue Lohnuntergrenze verloren gehen. Vom „Jobkiller“ Mindestlohn war die Rede und viele Medien haben die apokalyptischen Visionen der Ökonomen übernommen und verbreitet. Da gab es – um nur ein Beispiel zu nennen – die Zahl von 900.000 Arbeitsplätzen, die angeblich verloren gehen durch den Mindestlohn, wie eine Studie ergeben habe. Die Zahl stammt aus einem Diskussionspapier der Wirtschaftswissenschaftler Andreas Knabe, Ronnie Schön und Marcel Thun: Der flächendeckeckende Mindestlohn, veröffentlicht im Februar 2014. Dort findet man tatsächlich den folgenden Satz: »Die gesamten Beschäftigungsverluste belaufen sich auf über 900.000 Arbeitsplätze« (Knabe et al. 2014: 34). Aufschlussreich wird es dann schon, wenn man nicht nur bei diesem Satz stehen bleibt, sondern einfach mal weiterliest: »Doch diese Zahl ist mit Vorsicht zu interpretieren, da in ihr auch der Verlust von 660.000 geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen (einschließlich Rentner und Studenten) mitgezählt wird. Rechnet man die Verluste bei den geringfügig Beschäftigten in Vollzeitäquivalente um, so entsprechen diese Verluste in etwa 340.000 Vollzeitarbeitsplätzen. Konzentriert man sich auf die Vollzeitbeschäftigten, so ergeben sich insgesamt rund 160.000 Arbeitsplatzverluste, die etwa je zur Hälfte in den Neuen und Alten Bundesländern anfallen.«

Wenn das alles so wäre, dann müssten wir erste Spuren dieses Beschäftigungsabbaus in den Zugangszahlen in die Arbeitslosigkeit sehen. Sehen wir aber nicht. Vielleicht einfach deshalb, weil es eben nicht zu den von vielen abgeschriebenen Arbeitsplatzverlusten kommt, wie Kritiker immer eingewandt haben? Nun kann man an dieser Stelle darauf hinweisen, dass es vielleicht noch zu früh ist, für eine erste Bilanzierung des Mindestlohns, denn möglicherweise halten sich viele Unternehmen noch zurück mit den Entlassungen, die es eigentlich geben müsste, wenn denn die Modellwelten der Mindestlohnkritiker was mit der Realität zu tun haben. Schauen wir mal, kann und muss man dieser Stelle sagen, aber es ist durchaus plausibel, dass es insgesamt gesehen kaum relevante Arbeitsmartkeffekte geben wird – was nicht bedeutet, dass nicht einzelne Unternehmen bzw. bestimmt Geschäftsmodelle vom Markt verschwinden werden. Aber derzeit kann und muss man sagen, dass sich der Arbeitsmarkt sehr robust darstellt und keine Anhaltspunkte für ein Eintreten der Horrorszenarien, die manche an de Wand gemalt haben, zu beobachten sind.

Statt dessen dreht sich die aktuelle Diskussion um die Versuche eines Teils der Arbeitgeber bzw. ihrer Funktionäre, die Arbeitszeiterfassung bestimmter Beschäftigter und hierbei vor allem der Minijobber wieder aus den Vorschriften zu kegeln. Was natürlich ein Scheunentor öffnen würde für schwarze Schafe. Und in der Praxis werden – nicht wirklich überraschend – von dem einen oder anderen Unternehmen Umgehungsstrategien gesucht und ausprobiert, um faktisch einen Lohn unterhalb der Lohnuntergrenze zahlen zu können. Vgl. dazu beispielsweise den Artikel Der schwierige Kampf gegen den Überstunden-Trick. In diesem Artikel wird das Vorstandsmitglied der BA, Heinrich Alt, zitiert:

Dass ausgerechnet die Erfassung der Arbeitszeiten für Konfliktstoff sorgt, kommt überraschend. Schließlich ist sie laut Arbeitszeitgesetz Pflicht, betonte Heinrich Alt, Vorstand der Bundesagentur für Arbeit (BA). Die Erfassung von Arbeitszeiten „sollte der Normalfall sein – nicht nur, wenn es um den Mindestlohn geht“.
Er sei „immer davon ausgegangen, dass Arbeitszeiten festgehalten werden, wenn nach geleisteten Arbeitsstunden abgerechnet wird“, sagte Alt. Die hitzige Debatte in der Koalition über das Thema verstehe er nicht: „Wenn man die Zahl der geleisteten Stunden nicht dokumentiert, ist Missbrauch nicht auszuschließen, auch nicht bei Minijobs.“

Man sollte an dieser Stelle ergänzen: nicht auch, sondern gerade bei den Minijobs ist der Missbrauch mit der unbezahlten Mehrarbeit in der Vergangenheit schon an vielen Stellen beobachtet und in Studien auch kritisiert worden. »Für geringfügig Beschäftigte solle die Dokumentationspflicht ganz abgeschafft werden, wenn ein schriftlicher und aussagekräftiger Arbeitsvertrag vorliege.« Die Verwirklichung dieser Forderung von Arbeitgeberverbänden unter dem Segel eines angeblichen „Bürokratie-Abbaus“ würde gerade den für Missbrauch am anfälligsten Bereich, also die geringfügige Beschäftigung, schutzlos den schwarzen Schafen unter den Unternehmen überlassen.

Selbst aus dem Osten Deutschlands kommen – neben den derzeit üblichen Berichten über Umgehungsversuche in einzelnen Betrieben – (noch) keine Hiobsbotschaften. „Frustrierend“ für die Mindestlohn-Gegner. Ein Beispiel aus Brandenburg:

»Seine Mitarbeiter zu erpressen, das kommt für Ralf Blauert nicht in Frage. Er betreibt in Potsdam ein Cateringunternehmen mit 50 Mitarbeitern. Früher verdienten die um die sieben Euro. Jetzt zahlt Blauert ihnen gern den Mindestlohn – dafür musste er allerdings die Preise anheben: An den Grundschulen, die Blauert mittags beliefert, zahlen Eltern jetzt für ein Essen 3,25 Euro statt 3 Euro. Die Reaktionen waren nicht so negativ, wie Blauert erwartet hatte. „Natürlich waren nicht alle begeistert. Aber wir haben mit viel mehr Unverständnis gerechnet“, sagt er. Entlassungen sind für Ralf Blauert kein Thema.«

Das sind alles erste Eindrücke, die natürlich keine annähernd seriöse Evaluierung der neuen Lohnuntergrenze darstellen. Dazu muss man zahlreiche Faktoren und Wirkungskanäle über einen längeren Zeitraum beobachten. Aber es sind Indizien, dass die Welt sicher keine ökonomische Modellwelt ist.

Um das Thema abschließend abzurunden: Bereits am 1. Februar 2014 hatte ich in dem Beitrag Was „Aufstocker“ im Hartz IV-System (nicht) mit dem Mindestlohn zu tun haben darauf hingewiesen, dass  zumindest für alleinstehende Aufstocker ein Mindestlohn von 8,50 Euro ausreicht, um die aufstockenden Leistungen aus dem Hartz IV-System wegfallen zu lassen, die ja aus Steuermittel gezahlt werden müssen und damit eine Subventionierung der Geschäftsmodelle mit besonders niedrigen Löhnen darstellt. Nun hat sich auch die BA zu Wort gemeldet: Bundesagentur sieht Millioneneinsparungen durch Mindestlohn, so eine Meldung der Nachrichtenagentur dpa:

»Nach vorläufigen Berechnungen sei bei den Ausgaben für alleinlebende Hartz IV-Empfänger mit einer Vollzeitstelle jährlich mit 600 Millionen bis 900 Millionen Euro weniger zu rechnen, sagte BA-Vorstandsmitglied Heinrich Alt am Donnerstag in Nürnberg. Diese Gruppe der sogenannten Aufstocker benötige künftig deutlich weniger Arbeitslosengeld II zusätzlich zu ihrem Lohn.«

Eben. Und Heinrich Alt legt noch einen nach und das, was er gesagt hat, soll hier als Schlusswort gesetzt werden: „Aber eines kann man schon jetzt sagen: Für die Horrorprognosen des Münchner Ifo-Instituts, das mit dem Mindestlohn eine Million Arbeitsplätze verloren gehen, gibt es bislang keine Hinweise.“ So ist das.