Hartz IV: Von angeblich fehlenden Anreizen, arbeiten zu gehen, aber auch Tageskalorien in imaginären Warenkörben, die durch abgerundete Statistiken ersetzt wurden. Oder: Wie viel darf es denn sein?

So sieht sie aus in diesen Tagen, eine dieser so typischen Schlagzeilen der BILD-Zeitung. Und direkt darunter wird die Hauptbotschaft transportiert. »Experten kritisieren: Für viele Stütze-Empfänger lohnt es sich gar nicht mehr zu arbeiten.« Erneut, werden viele an dieser Stelle denken, spielt man die unten gegen die aus, die noch weiter unten stehen. Und der BILD-Mann Dirk Hoeren kommentiert die Berichterstattung seiner Zeitung so: »Auch zehn Jahre nach der Einführung bleibt Hartz IV ein Stein des Anstoßes. Für die einen ist es zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel. Für Millionen Arbeitnehmer, die das System Jahr für Jahr mit Milliarden Steuern am Laufen halten, ist es die Einladung zum bezahlten Nichtstun. Selbst Facharbeiter kommen beim Blick auf den Gehaltszettel ins Grübeln. Mit Hartz und Nebenjobs würden viele mehr herausbekommen.« Ach ja.

Die BILD-Zeitung hat hier etwas aufgegriffen und – formulieren wir es mal nett – „zielgruppengerecht“ zu verpacken versucht, was ein grundsätzliches Problem im und vor allem über das Grundsicherungssystem hinaus ist: Es geht um Bruttoschwellen und Durchschnittsentgelte. Ja, das hört sich technisch an, ist aber ein mehr als handfestes Thema. Für das Jahr 2012 hat dies Johannes Steffen, der das „Portal Sozialpolitik“ betreibt, in einer wahren Fleißarbeit, die alle Kreise und kreisfreien Städte umfasst, aufgearbeitet: Bruttoschwellen und Durchschnittsentgelte 2012. Wohngeld leistet kaum einen Beitrag zur Überwindung von »Hartz IV«. Worum geht es genau?

»Um sich aus der Harz-IV-Abhängigkeit zu lösen, müssen alleinstehende erwerbsfähige Leistungsberechtigte durch abhängige Beschäftigung eine bestimmte Entgelthöhe erzielen (bedarfsdeckende Bruttoschwelle). Die Chancen hierfür hängen neben vielen anderen Faktoren auch vom regionalen Lohnniveau ab (Durchschnittsentgelte). Die unterschiedliche Höhe der Bruttoschwellen wiederum wird maßgeblich bestimmt durch die regional stark schwankenden Kosten für Unterkunft und Heizung.«

Offensichtlich ist dieser allgemeine Zusammenhang: Bedingt durch hohe Kosten der Unterkunft in einer bestimmten Region kommt es zu hohen Bruttoschwellen, die aber in der Regel mit hohen regionalen Durchschnittsentgelten korrespondieren – und umgekehrt. Aber:

»Entscheidend sind aber nicht die absoluten Werte, sondern deren prozentuales Verhältnis: Je höher der Anteil der Bruttoschwelle im Verhältnis zum Durchschnittsentgelt aller Beschäftigten ausfällt, umso schwieriger wird sich insgesamt die Überwindung der Hartz-IV-Abhängigkeit alleine durch Aufnahme bzw. Ausweitung abhängiger Beschäftigung auf dem regionalen Arbeitsmarkt gestalten.«

Steffen kommt zu diesem Ergebnis: »Im Bundesdurchschnitt betrug der Anteil des Schwellen-Brutto am Durchschnittsentgelt 52,2% (51,8% im Westen einschließlich Berlin und 60,5% im Osten). Je höher der Anteilswert ausfällt, um so schwerer wird es Leistungsberechtigten c.p. fallen, das erforderliche Entgeltniveau auf dem regionalen Arbeitsmarkt zu erzielen und sich dadurch aus der Hartz-IV-Abhängigkeit zu lösen.«

Beispiel: Das Durchschnittsentgelt lag 2012 in Westdeutschland (mit Berlin) bei 2.606 Euro im Monat. Der bedarfsdeckende Bruttomonatslohn für einen Alleinstehenden belief sich auf 1.349 Euro pro Monat. Genau dann ist die Schwelle erreicht, aber der man aus dem Hilfeanspruch rauswächst.

Johannes Steffen identifiziert eine zentrale Schwachstelle, die am Übergang zwischen Hilfebedürftigkeit und dem Bestreiten der Existenz aus eigenem Erwerbseinkommen zu verorten ist (und aus die die BILD-Zeitung natürlich nicht hinweist, würde es doch gewissermaßen eine Überforderung der Zielgruppe darstellen):

»Um die Chancen zur Überwindung der Hartz-IV-Abhängigkeit durch die Erzielung von Erwerbseinkommen zu erhöhen, ist u.a. eine durchgreifende Reform des Wohngeldes erforderlich. Denn bei einem Arbeitsverdienst in Höhe der hier ermittelten Bruttoschwellen haben Single-Haushalte durchweg keinen Wohngeldanspruch mehr. Das Wohngeld leistet damit zur Zeit keinen Beitrag zur Überwindung der Fürsorgeabhängigkeit von alleinstehenden Erwerbstätigen. Ein erhöhtes Wohngeld würde die Bruttoschwellen hingegen merklich senken. Bestandteile einer Wohngeldreform müssten
– die Wiedereinführung des Heizkostenzuschusses und
– die Erweiterung der Werbungskosten bei der Wohngeldberechnung spiegelbildlich zur Ausgestaltung des Erwerbstätigen-Freibetrages im SGB II
sein. Der Erwerbstätigen-Freibetrag beläuft sich bei Alleinstehenden aufs Jahr gerechnet derzeit auf bis zu 3.600 Euro – die beim Wohngeld zu berücksichtigenden Werbungskosten sind hingegen auf 1.000 Euro begrenzt. Eine Harmonisierung der Beträge könnte vielen Beschäftigten den Gang zum Jobcenter ersparen.«

Das ganze Thema verdeutlich nicht nur die Komplexität des fragmentierten Hilfesystems, sondern auch zwei grundsätzliche Probleme im und um das Grundsicherungssystem herum:
Zum einen – so auch die simple Stoßrichtung des BILD-Ansatzes, versucht man die Niedriglöhner an der Grenze zur Hilfebedürftigkeit gegen die auszuspielen, die Hilfeleistungen beziehen. Mit der Botschaft, die auch Holger Schäfer vom Institut der deutschen Wirtschaft als „Experte“ zitiert unterstützt: Die Hartz IV-Leistungen seien zu hoch, um einen „Anreiz“ zu geben, zu den Bedingungen zu arbeiten, die da unten herrschen. Man könnte natürlich auch auf die Idee kommen zu fragen: Ist das nicht vielmehr ein Problem, dass viele Menschen zu offenbar sehr niedrigen Löhnen arbeiten (müssen), von denen man seine Existenz nicht bestreiten kann oder kein fühlbarer Abstand zu den Transferleistungsempfängern mehr besteht?

Die weitaus folgenreichere Problematik: Der große Bereich der Niedrigst- und Niedrigeinkommen erklärt neben anderen Gründen auch, warum die Politik eine aus fachlicher Sicht möglicherweise gut begründbare Anhebung der Regelleistungen scheut wie der Teufel das Weihwasser. Denn eine Anhebung um 50 oder x Euro würde viele in den Aufstockungsbereich des Hartz IV-Systems reinziehen von der Anspruchsseite her gesehen.

Mit einer damit eng verbundenen Grundsatzfrage beschäftigt sich Lisa Caspari in ihrem Artikel Definiere Existenz und Minimum und sie spricht einen wunden Punkt an bei der Frage, wie man das festlegt, was als „soziokulturelles Existenzminimum“ zu definieren ist und damit die Leistungen determiniert: »Was braucht ein Mensch zum Leben? Früher errechneten Experten die nötigen Tageskalorien und packten Kartoffeln in imaginäre Warenkörbe. Heute runden sie Statistiken ab.« Eine der zentralen Kritikpunkte in der Hartz IV-Diskussion ist immer wieder die – behauptete – zu niedrige Höhe der Regelleistungen. Aus fachlichen Gründen müssten die Leistungen höher ausfallen. Und erst vor kurzem war diese Frage Gegenstand der höchstrichterlichen Rechtsprechung, was in diesem Blog am 9. September 2014 behandelt worden ist: Das Bundesverfassungsgericht grummelt, beißt aber (noch) nicht. Zur Entscheidung über die Bestimmung der Höhe der Regelbedarfsleistungen im Grundsicherungssystem. Das Bundesverfassungsgericht ist in seiner jüngsten Entscheidung auch auf die von Caspari in ihrem Artikel angesprochene und durchaus fragwürdige Vermischung von Warenkorb- und Statistik-Modell bei der Bestimmung des Existenzminimums eingegangen, wenn auch nicht zur Freude der Kritiker am bestehenden System:

»Der Gesetzgeber ist von Verfassungs wegen nicht gehindert, aus der Verbrauchsstatistik nachträglich einzelne Positionen – in Orientierung an einem Warenkorbmodell – wieder herauszunehmen. Die Modifikationen des Statistikmodells dürfen allerdings insgesamt kein Ausmaß erreichen, das seine Tauglichkeit für die Ermittlung der Höhe existenzsichernder Regelbedarfe in Frage stellt; hier hat der Gesetzgeber die finanziellen Spielräume für einen internen Ausgleich zu sichern. Derzeit ist die monatliche Regelleistung allerdings so berechnet, dass nicht alle, sondern zwischen 132 € und 69 € weniger und damit lediglich 72 % bis 78 % der in der EVS erfassten Konsumausgaben als existenzsichernd anerkannt werden. Ergeben sich erhebliche Zweifel an der tatsächlichen Deckung existenzieller Bedarfe, liegt es im Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, geeignete Nacherhebungen vorzunehmen, Leistungen auf der Grundlage eines eigenen Index zu erhöhen oder Unterdeckungen in sonstiger Weise aufzufangen.«

So weit das Bundesverfassungsgericht. Das sind eben nicht nur, wie es scheinen mag, technische Fragen, sondern letztendlich geht es um ein normatives Grundsatzproblem: Wie viel soll es denn sein und mit Blick auf die Interdependenzen mit dem Arbeitsmarkt und den dort herrschenden Verhältnissen verengt sich das dann auf die maßgebliche Frage: Wie viel darf es denn sein? Und diese Frage erklärt in sich dann schon die Antworten, die bislang (nicht) gegeben werden (können/dürfen).

Um abschließend wieder an den Anfang des Beitrags zurückzukommen: Die BILD-Zeitung und andere Interessierte sollten sich einmal die vorliegenden Daten beispielsweise des IAB zur „Konzessionsbereitschaft“ von Hartz IV-Empfängern anschauen, eine auch sehr niedrig entlohnte Arbeit an- und aufzunehmen. Dann erübrigt sich eine so billige Polemik nach unten.

Das deutsche „Beschäftigungswunder“ im europäischen Vergleich. Immer auch eine Frage des genauen Hinschauens

Immer diese Zahlen. Das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der Hans-Böckler-Stiftung hat eine neue Studie veröffentlicht, die für alle interessant ist, die sich mit dem „Jobwunder“ Deutschland beschäftigen: Europa-Ranking: Hohe Erwerbstätigenquote, aber auch sehr viel kurze Teilzeit in Deutschland – so kann man eine der Hauptaussagen der Studie zusammenfassen.
»Die Zahl der Erwerbstätigen in Deutschland erreicht einen Höchststand. Doch der Anteil von Teilzeit- oder Minijobs ist höher als in anderen europäischen Ländern. Stellt man das in Rechnung, fällt Deutschland bei der Erwerbstätigenquote im europäischen Vergleich von Position fünf auf Position elf ab. Insbesondere viele Frauen arbeiten weniger, als sie möchten.«
Man muss eben genauer hinschauen: Ich hatte zu diesem Thema im Dezember 2014 einen passenden Beitrag auf dieser Seite gepostet: „Irre Beschäftigungseffekte“, „wirklich tolles Land“: Wenn Ökonomen sich überschlagen, lohnt ein Blick auf die Zahlen und dort auf das Auseinanderlaufen der Entwicklung bei der Zahl der Arbeitnehmer und des geleisteten Arbeitsvolumens hingewiesen.

Auf den ersten Blick beeindruckend: Von 33 europäischen Ländern landet Deutschland gemessen an der Erwerbstätigenquote auf Platz 5. Aber: Die nominelle Erwerbstätigenquote beruht auf einer reinen Personenzählung ohne zwischen Vollzeit- und Teilzeittätigkeiten zu unterscheiden.
Sven Schreiber hat nun in seiner IMK-Studie eine korrigierte Erwerbstätigenquote errechnet, die nicht allein die Zahl der Erwerbstätigen, sondern auch deren Arbeitszeit berücksichtigt. Wenn man das macht, dann steht Deutschland gemessen an der korrigierten Erwerbstätigenquote deutlich schlechter da, im europäischen Vergleich rutscht man ab auf nur noch Platz elf.
Vor allem zwei Faktoren tragen zu diesem Ergebnis bei:

»Erstens gibt es einen hohen Anteil an Teilzeitarbeit, zweitens arbeiten die Teilzeitbeschäftigten vergleichsweise kurz. In Deutschland arbeitet etwa ein Viertel der Beschäftigten in Teilzeit. Höher fällt der Anteil nur in den Niederlanden und der Schweiz aus.«

Viel Teilzeit und die dann auch noch kurz – das lässt sich auch erklären:
„Minijobber machten etwa die Hälfte der gesamten Teilzeitbeschäftigten in Deutschland aus.“ Da ist sie wieder, die deutsche Besonderheit der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse.
Insofern kann auch diese Aussage nicht überraschen:

»Nach aktuellen Daten des Statistischen Bundesamtes gelten 3,1 Millionen Menschen in Deutschland als „unterbeschäftigt“, das heißt sie sind zwar erwerbstätig, haben aber den Wunsch nach zusätzlichen Arbeitsstunden und stehen für diese auch zur Verfügung. Davon sind 1,7 Millionen in Teilzeit beschäftigt. Bei den Teilzeitbeschäftigten handelt es sich überwiegend um Frauen«, so die Hans-Böckler-Stiftung in ihrer Pressemitteilung zur neuen Studie.

Schauen wir auf die Seite des Statistischen Bundesamtes, dann finden wir eine Meldung vom 8. Januar 2015 mit dieser Überschrift: Ungenutztes Arbeits­kräfte­potenzial: 6,3 Millio­nen Men­schen wollen (mehr) Arbeit. Dieses „ungenutzte Arbeitskräftepotenzial“ setzt sich zusammen aus 2,2 Millionen Erwerbslosen, 1,0 Millionen Personen in Stiller Reserve und 3,1 Millionen Unterbeschäftigten. Und man kann der Meldung entnehmen: Von den 1,7 Millionen Unterbeschäftigten in Teilzeit waren 73 % weiblich. Wie immer im Leben gibt es zwei Seiten der Medaille, deshalb der Vollständigkeit halber: »Den 3,1 Millionen Unterbeschäftigten stand eine deutlich kleinere Zahl Erwerbstätiger gegenüber, die weniger arbeiten wollten: Diese insgesamt 870.000 sogenannten Überbeschäftigten haben den Wunsch, ihre Arbeitsstunden zu reduzieren, und sind bereit, ein entsprechend verringertes Einkommen hinzunehmen.«

Diese Hinweise passen auch zu einer Aussage aus der neuen IMK-Studie: »Drei Viertel der Befragten in der Arbeitskräfteerhebung gaben an, dass sie entweder keine Vollzeitstelle finden konnten oder aus familiären Gründen – etwa der Betreuung von Kindern und Angehörigen – Teilzeit arbeiten.«

Die Studie im Original:

Sven Schreiber: Erwerbstätigkeit in Deutschland im europäischen Vergleich (= IMK Report 103). Düsseldorf: Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK), 2015

Keine Konkurrenz, Gewinner und lustvoll schaffende „Asyl-Azubis“? Umrisse einer Diskussion jenseits des postulierten „Verlustgeschäfts“ durch Zuwanderung

Hans-Werner Sinn hat mit seinen steilen Thesen das „Verlustgeschäft“ Zuwanderung nach Deutschland betreffend für einigen Wirbel gesorgt (vgl. hierzu kritisch den Beitrag: Was für ein Jahresenddurcheinander: Sinn und Unsinn sind zwei Seiten einer Medaille. Sinn hat zwischenzeitlich auf die heftige Kritik an seinen modelltheoretischen Überlegungen reagiert und ein etwas relativierendes Interview mit ihm ist überschrieben mit „Ich vermute per Saldo immer noch einen großen Gewinn“, was zugleich – ob gewollt oder ungewollt – das Niveau der Debatte allgemein umreißt, denn Vermutungen sind Vermutungen). Das liegt nicht nur, aber eben auch in der Natur eines derart komplexen sozialen Prozesses wie Zuwanderung vieler ganz unterschiedlicher Menschen. Kosten und Nutzen von Migration lassen sich kaum exakt berechnen, sagt der Ökonom Herbert Brücker in dem Interview „Deutsche Arbeitskräfte gewinnen“. Doch „es müsste mit dem Teufel zugehen“, wenn Deutschland nicht profitiere, so wird der Migrationsforscher zitiert, was wiederum darauf verweist, dass wir es hier mit einem offensichtlich sehr unübersichtlichen Terrain zu tun haben, ansonsten würde ein Ökonom nicht semantische „Amtshilfe“ aus dem theologischen Bereich in Anspruch nehmen (müssen). In die gleiche Richtung – think positive – geht das Diktum des obersten Arbeitslosenverwalters, Frank-Jürgen Weise, dem Chef der Bundesagentur für Arbeit, dessen Positionierung schon im Titel eines Artikels so auf den Punkt gebracht wird: Zuwanderer sind keine Konkurrenz für Arbeitslose. Punkt und aus. Also alles gut?

»Erwerbslose müssen Zuwanderer nicht fürchten. Im Gegenteil«, so die Botschaft des Herrn Weise. Wie so oft muss man genau lesen, was er gesagt hat: »Gut qualifizierte Zuwanderer nehmen nach Einschätzung von Bundesagentur-Chef Frank-Jürgen Weise Langzeitarbeitslosen in Deutschland keine Arbeitsplätze weg. „Die Zuwanderer kommen oft mit einer guten Qualifikation und motiviert nach Deutschland“ … „Sie wollen als Fachkraft arbeiten, und hier haben wir auch viele offene Stellen.“

Auch hier wird – wie übrigens schon bei Hans-Werner Sinn und in der Bertelsmann-Studie von Holger Bonin, mit der er sich auseinandergesetzt hat – ein Unterschied gemacht zwischen solchen und anderen Zuwanderern. Auch der Migrationsökonom Brücker stellt in seiner Argumentation darauf ab: »Es hängt ganz entscheidend von der Qualifikationsstruktur der Migranten ab. Die Ausländer, die im Moment in Deutschland leben, sind im Schnitt eher nicht so gut ausgebildet. Wäre die Qualifikationsstruktur der Neuankömmlinge ebenso schlecht, dann würde das Loch in den Kassen tatsächlich größer. Das ist aber nicht der Fall. Schon heute sind die Zuwanderer sehr viel besser ausgebildet als der Durchschnitt der hier lebenden ausländischen Bevölkerung.« Obgleich es natürlich auch eine andere Seite der Medaille gibt: »Zwar haben zugleich rund 30 Prozent keine abgeschlossene Berufsausbildung, aber dieser Anteil sinkt.«

Aber das es nun keine Konkurrenz geben soll, das sieht Brücker anders: »Bisher hat sich gezeigt, dass gerade die deutschen Arbeitskräfte durch die Einwanderung gewinnen. Die großen Verlierer hingegen sind die ausländischen Arbeitnehmer, die schon länger hier leben.« Und bei der Begründung dieser These erkennt man, dass es eben doch nicht so einfach ist:

»Die neuen Einwanderer konkurrieren eher mit den bereits hier lebenden Ausländern um Stellen. Ihre Qualifikationen ähneln sich, denn trotz der hohen Akademikerquote gibt es unter den Neuankömmlingen immer noch viele Unqualifizierte … Das heißt, die Ausländer verdrängen sich gegenseitig, während die Deutschen vom zunehmenden Wettbewerb kaum betroffen sind.«

Grundsätzlich gilt: Arbeitnehmer in Berufen und Branchen, auf die sich die Zuwanderer konzentrieren, verlieren, während Arbeitnehmer in Tätigkeiten, die durch Zuwanderer ergänzt werden, gewinnen, so Brücker. Zusammenfassend: »Wenn die Migranten überhaupt in den Wettbewerb mit deutschen Arbeitnehmern treten – und die Empirie zeigt bislang, dass das nur sehr begrenzt der Fall ist – dann also mit Akademikern und Ungelernten.«

Also doch Konkurrenz, was ja auch nicht wirklich überrascht.

Letztendlich ist das alles – losgelöst von den individuellen Schicksalen – eine Frage von Angebot und Nachfrage. Und natürlich haben wir durch die Zuwanderung eine Veränderung auf der Arbeitsangebotsseite – und die Arbeitsnachfrageseite reagiert darauf.

Hierzu ein Beispiel: Nach vielen Jahren, in denen es immer deutlich mehr Bewerber um einen Ausbildungsplatz gab als verfügbare Stellen, hat sich in den vergangenen Jahren – angefangen in Ostdeutschland und nunmehr auch in Westdeutschland – aufgrund der demografischen Entwicklung wie aber auch aufgrund des sich verändernden Ausbildungsverhaltens der jungen Menschen – die Angebots-Nachfrage-Relation dergestalt verschoben, dass es zumindest in vielen Branchen immer schwerer wird, ausreichend Nachwuchs zu finden. Nun kann man das auch deshalb positiv sehen, weil sich dadurch ceteris paribus die Bedingungen zugunsten derjenigen verschieben müssten, die früher nicht mal in die Nähe eines Vorstellungsgesprächs gekommen wären, weil es genügend andere Bewerber gab. Das wäre gut für die jungen Menschen, deren Freiheitsgrade wie auch Zugangsmöglichkeiten sich dadurch verbessern – und für die Unternehmen ist das deshalb schlecht, weil sie sich öffnen müssten auch für Bewerber/innen, die sie vorher aussortiert hätten oder aber sie müssten sogar insgesamt die Bedingungen in ihren Unternehmen verbessern, damit überbaut noch jemand kommt.

Aus dieser Perspektive macht es durchaus Sinn, wenn man versucht, die Zahl der ausbildungsuchenden Menschen zu erhöhen und von der daraus resultierenden Konkurrenz zu profitieren. Und genau in diese Richtung geht die Hoffnung, dass ein Teil der zu uns kommenden Menschen dafür die Grundlage legen kann. Dazu der Artikel Unternehmen schwärmen von fleißigen Asyl-Azubis von Freia Peters. »Die Azubis begeistern durch ihren Fleiß – auch nach Dienstschluss«, können wir dem Artikel entnehmen:

(Mohammed) Rahmati, 25 Jahre, ist seit dem Frühling vergangenen Jahres in Deutschland, sein kleines Zimmer in einem Wohnhaus im oberbayerischen Freising teilt er mit zwei anderen Flüchtlingen aus Afghanistan.
Seit drei Monaten hat Rahmati einen Job in seiner neuen Wahlheimat: Er ist Auszubildender als Einzelhandelskaufmann in einem Discounter. Jeden Morgen fährt er 60 Kilometer mit Bus und Bahn zu einem Penny-Markt in der Münchner Innenstadt, in dem er sich mit „Warenwälzung, Frischekontrolle und Preisauszeichnung“ befasst. „Der ist super“, sagt Verkaufsleiter Björn Wecker, „ein absoluter Zugewinn für unsere Firma. Wenn wir von der Sorte noch mehr bekommen würden, das wäre toll.“
Das Problem bzw. das Risiko:  Rahmati hat keinen Aufenthaltstitel in Deutschland, er wird derzeit nur geduldet, er könnte auch während einer Ausbildung abgeschoben werden. „Die Ausbildung ist meine große Chance, aus meinem Leben in Deutschland etwas zu machen“, so wird Rahmati in dem Artikel zitiert. »Trotz seiner weiten Anreise ist er jeden Morgen pünktlich, auch wenn die Frühschicht um sieben Uhr beginnt und er dafür um 5.20 Uhr das Haus verlassen muss. Abends lernt Rahmati für die Berufsschule.« Ein Traum für viele Arbeitgeber.

Die Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (BDA) hat sich mit Forderungen an die Politik zu Wort gemeldet: »Geduldete sollten sofort arbeiten dürfen, ohne das „unnötige Hemmnis“ der Vorrangprüfung. Außerdem sollten Flüchtlinge so früh wie möglich an Deutschkursen teilnehmen und während der Ausbildung grundsätzlich nicht abgeschoben werden dürfen.«
Aber zurück zu Mohammed Rahmati. Dem Artikel von Freia Peters kann man entnehmen:

Binnen acht Monaten lernte er Deutsch, in zwei Monaten holte er seinen Hauptschulabschluss nach – sein Abitur konnte in Deutschland nicht anerkannt werden. Anschließend gab seine Lehrerin ihm den Tipp, eine Last-minute-Jobmesse zu besuchen, auf der sich Firmen vorstellen, die noch Mitarbeiter suchen, obwohl die Ausbildung schon begonnen hat.
600 Euro verdient Rahmati momentan bei Penny. 150 Euro davon muss er für das Zimmer in der Flüchtlingsunterkunft zahlen – wer Arbeit hat und verdient, muss einen Teil abgeben. Eigentlich bekommen Flüchtlinge, die nach der Schule eine Ausbildung beginnen, finanzielle Unterstützung. Doch nur, wenn sie sich bereits seit vier Jahren in Deutschland aufhalten. Rahmati hat zu schnell Deutsch gelernt.
Trotz der Ungerechtigkeit will er weiter nach oben. „Nach der Ausbildung will ich weitermachen, wenn es geht, an die Uni gehen“, sagt Rahmati und lächelt: „Schauen wir mal.“

Natürlich hat ein Unternehmen bei der Auswahl eines Azubis den Drang, demjenigen eine Chance zu geben, der die „richtige“ Einstellung mitbringt. Also die Motivation, Leistungsbereitschaft usw. – da haben die „Abgehängten“ unter den anderen Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen keine Chance. Auf der anderen Seite eröffnet das dem zu uns Gekommenen Chancen, sich durch eigene Arbeit über Wasser halten zu können. Dazu passend:

»Es ist eine Illusion, Zuwanderung auf Zuruf regeln zu wollen. Auch die Menschen, die ungerufen zu uns kommen, brauchen Arbeit und Chancen zum sozialen Aufstieg.« So formuliert es Götz Aly in seiner Kommentierung Migration lässt sich nur begrenzt regulieren. Aly sieht die Diskussionen rund um eine gesteuerte Zuwanderung mehr als skeptisch: »Die meisten ausländischen Spezialisten wollen nicht nach Deutschland. Auch sollten wir uns nicht einbilden, wir könnten auf Zuruf einige Zehntausend ledige philippinische Frauen anheuern, damit sie unsere Alten liebevoll pflegen.«

Und weiter:

»Die wichtigsten Zuwanderer sind bereits heute diejenigen, die sich ungerufen zu uns durchgeschlagen haben. Da versorgt ein frankophoner, stets gut gelaunter westafrikanischer Pfleger die behinderte Tochter; in der Reha arbeitet die afghanische Sporttherapeutin, im Hort des Enkels der türkischstämmige Erzieher. Im Alltag treffe ich auf die ausnehmend freundliche Krankenschwester mit Kopftuch, den meisterlichen Tischler aus Damaskus, den irakischen Fahrer eines bestellten Taxis.«

Und er beendet seinen Kommentar mit einem Blick auf seine eigene Familiengeschichte, die eben auch eine Migrationsgeschichte ist:

»Mein osmanischer Urahne kam vor 329 Jahren als Kriegsgefangener nach Berlin, er heiratete die Türkin Marusch, die es nach Spandau verschlagen hatte. Die sechs Kinder der beiden stiegen sofort in die bürgerliche, damals noch sehr schmale Mittelschicht auf. Einer meiner Urururgroßväter hatte sich aus Polen in die hinterpommersche Kreisstadt Schlawe gemogelt.
Sein Sohn Wilhelm, mit vaterländischem Vor- und dem eingedeutschten Nachnamen Kosnik versehen, ging zunächst zur Armee, wurde hernach Bahnbeamter der untersten Stufe und brachte es bis zum Vorsteher des Bahnhofs Leipzig-Neustadt. Wilhelms Sohn Friedrich wurde preußischer Studiendirektor.«

Ein schöner Schluss.