Das reale Leben und das Lehrbuch: Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt. Was mexikanische Saisonarbeiter mit deutschen Fernbusfahrern (nicht) gemeinsam haben

Im Lehrbuch ist es wenigstens noch übersichtlich: Auch auf dem Arbeitsmarkt geht es um Angebot und Nachfrage. Wobei auf diesem besonderen Markt wir, also die Individuen, die Anbieter sind und die Unternehmen sind die Nachfrager, was auf den anderen Märkten genau anders herum ist, denn da fragen wir Güter und Dienstleistungen nach (oder würden das vielleicht gerne tun) und die Unternehmen sind die Anbieter. Und die Ökonomen beschreiben dann in ihrer vereinfachenden Modellwelt ein Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage, das einem simplen Muster folgen soll: Betrachtet man einen Markt in einem zweidimensionalen Gebilde von Menge und Preis, dann gilt in der Regel die Formel: Je höher der Preis von etwas, desto geringer ist die Nachfrage und desto höher ist das Angebot. Das gilt sicher auf vielen „normalen“ Märkten, aber nicht auf allen, man denke beispielsweise an Apple-Produkte, wo es eher in Richtung Luxusgüter geht, also je höher der Preis, desto größer die Nachfrage. Aber Abweichungen vom Standardmodell gibt es immer und es soll hier auch gar nicht die Verwegenheit einer Übertragung dieses einfachen Angebots-Nachfrage-Modells auf die vielen Arbeitsmärkten diskutiert werden, das haben Keynesianer, Post-Keynesianser und auch dem normalen Verstand folgende Ökonomen hinlänglich getan. Es geht um etwas anderes.

Grundsätzlich erscheint es durchaus plausibel, dass auch der Arbeitsmarkt mit seinen Komponenten Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage gewissen Marktgesetzmäßigkeiten folgt. Und zu denen gehört sicherlich: Wenn das Angebot an einer bestimmten Arbeit gleich bleibt oder sogar sinkt, während die Nachfrage nach oben gerichtet ist, dann muss das Auswirkungen haben auf den Preis, konkret: Der Preis für das knapper werdende Gut Arbeit müsste steigen. Das ist ja auch eine wichtige Argumentationsfigur von Kritikern der in den vergangenen Jahren gerne und immer wieder kolportierten These vom Fachkräftemangel (zu den Messproblemen eines solchen vgl. beispielsweise Nina Neubecker (2014): Die Debatte über den Fachkräftemangel), denn die Kritiker stellen darauf ab, dass wenn es einen wirklich spürbaren Fachkräftemangel z.B. nach Ingenieuren geben würde, dann müsste sich das eben auch in steigenden Löhnen abbilden, weil die Löhne die Preise für den Knappheitsfaktor Arbeitskraft sind (so beispielsweise Karl Brenke (2010): Fachkräftemangel kurzfristig noch nicht in Sicht, der in der damaligen Debatte über einen Fachkräftemangel in den MINT-Berufen, vor allem bei den Ingenieuren, darauf hingewiesen hat: »Zudem sind die Löhne – ein Indikator für Knappheiten auf dem Markt – bei den Fachkräften in den letzten Jahren kaum gestiegen.«). Aber um die vieldiskutierten Ingenieure soll es hier gar nicht gehen, sondern um mexikanische Saisonarbeiter und in Deutschland arbeitende Fernbusfahrer.

Man kann immer wieder so einiges lernen, wenn man den Blick einmal über den nationalen Tellerrand weitet: »Die Vereinigten Staaten und Mexiko streiten sich zunehmend um billige Arbeitskräfte. Dies beschleunigt die Mechanisierung der Landwirtschaft«, können wir dem Artikel Auszug aus dem gelobten Land entnehmen. Das, was in dem Artikel beschrieben wird, verdeutlicht wieder einmal, mit was für einem beweglichen Ziel wir es zu tun haben, wenn über Arbeitsmärkte gesprochen wird:

»Ohne Saisonarbeiter aus Mexiko kommt Kalifornien zum sofortigen und totalen Stillstand. Die Landwirtschaft, das Gastgewerbe und die Bauindustrie sind von den tief bezahlten Arbeitern abhängig. Doch der oft illegale Nachschub droht unwiederbringlich auszutrocknen. Die Wende hängt mit einem tiefgreifenden sozialen Wandel in Mexiko zusammen: Eine sinkende Geburtenrate, eine bessere Schulbildung sowie bessere Jobs machen die Arbeit auf den Feldern ­weniger attraktiv. Deshalb ist nun selbst Mexiko auf Zuwanderer aus dem Süden angewiesen … Um den eigenen Bedarf zu decken, rekrutiert Mexiko ­inzwischen Arbeitskräfte in Guatemala, exakt so, wie die USA «Braceros» aus ­Mexiko einstellt.«, schreibt Walter Niederberger in seinem Artikel.

Was die USA zunehmend in Bedrängnis bringt, ist der Wandel von Mexiko von einem Entwicklungs- zu einem wirtschaftlich erstarkenden Schwellenland. Die Geburtenrate in Mexiko ist auf 2,05 Kinder pro ­Mutter und damit fast auf die Rate von 1,95 in den USA gesunken, was den Druck zur Arbeitsmigration verringert hat. Aber noch weitaus wirkkräftiger sei ein anderer Prozess gewesen, so wird Edward Taylor, Ökonomiepro­fessor an der Universität von Kalifornien in Davis, zitiert: Die Qualität der Grundschulen in Nordmexiko zugenommen, sagt Taylor. »Nichts holt die Kinder schneller von den Feldern als ein wenig zusätzliche Schule.«

Vor der Rezession mussten die mexikanischen Wanderarbeiter in den USA oft um Arbeit betteln und waren bereit, für jeden Lohn zu arbeiten. Diese ausbeuterische Lage hat sich fundamental verändert, bestätigen Weinbauern in Kalifornien: »Die meisten Arbeiter hätten heute ein Smartphone und informierten sich gegenseitig über die Bedingungen und Löhne auf ihren Betrieben. Die Folge: Arbeiter ziehen während der Ernte ab und wechseln in einen anderen Betrieb.« Hier „funktioniert“ der Markt durchaus – aufgrund einer Verschiebung der Angebots- und Nachfragerelationen: »Heute meldeten 61 Prozent aller Landwirtschaftsbetriebe einen Mangel an Arbeitskräften, vorzugsweise im aufwendigen, kräftezehrenden Wein- und Gemüsebau.« Und weiter erfahren wir: »Stark betroffen ist der Weinbau, der auf mehrere 10’000 saisonal abrufbare Arbeiter angewiesen ist. Die Branche hat in den letzten drei Jahren – die durchwegs Rekordernten brachten – versucht, mit höheren Löhnen Arbeiter zu ge­winnen. Dies indessen hat nur den ­Abwerbekampf verschärft.«

Aber auch die Reaktionen auf diese Verschiebungen sind nicht unbekannt und überraschend, gerade in Deutschland kann man davon ein Lied singen: Vor dem Hintergrund der steigenden Löhne »setzt die Weinindustrie auf die beschleunigte Mechanisierung der Ernte.« Die zwei großen Weinproduzenten in der kalifornischen Sonoma-Region, Gallo und Kendall Jackson, bearbeiten schon die Mehrheit ihrer Flächen mit Maschinen. Aber auch das hat wie alles in der Wirtschaft Folgen: Die Mechanisierung »spart Arbeitskräfte, erfordert aber hohe Investitionen und begünstigt die kapitalkräftigen Konzerne.« Alles eine Folge eines knapper werdenden Angebots.

Und in Deutschland? Nehmen wir hier als Beispiel eine boomende Branche, die gleichsam „Rekordernten“ einfährt, um an das kalifornische Beispiel mit den Weinproduzenten anzuknüpfen: die Fernbusse. »Zwei Jahre nach Liberalisierung des Marktes gibt es 300 Fernbus-Linien. Das rasante Wachstum birgt Probleme, das größte davon ist ein recht banales: Wer soll die vielen Busse alle fahren?«, so die Fragestellung von Matthias Kamann in seinem Artikel Warum in Deutschland keine Busfahrer zu finden sind. Offensichtlich gibt es auch hier ein (zunehmendes) Mangel-Problem mit Arbeitskräften. An den Lenkrädern droht Personalmangel – und den versuchen Unternehmen in der Regel dadurch zu beheben, dass sie höhere Gehälter anbieten, so Kamann.

Besonders groß sind die Sorgen bei den Fernbusbetreibern. Von ihnen fürchten gleich 80 Prozent, dass sie ein „zunehmendes Problem mit dem Mangel an Fahrern bekommen“, wird aus der „Konjunkturumfrage 2014/2015“ des Bundesverbandes Deutscher Omnibusunternehmen (BDO) zitiert. Nun sollte man Hinweise erwarten, dass das handfeste Auswirkungen haben müsste auf die Arbeitsbedingungen der Fernbusfahrer, beispielsweise in Form höherer Löhne für die Busfahrer und eine intensivierte Ausbildung neuer Busfahrer. Nur erfahren wir davon in dem Artikel – nichts.
Auch in dem Artikel Anbieter klagen über zu wenige Busfahrer gibt es den Hinweis auf den Fahrermangel, aber keine weiterführenden Informationen, außer diese, die man vielleicht einmal in Zusammenhang stellen könnte mit dem zunehmenden Mangel an Busfahrern:

»Die Anbieter machen sich auch mit einem teils ruinösen Preiswettbewerb Konkurrenz. Entsprechend haben sich einige Anbieter auch schon wieder aus dem Geschäft zurückgezogen oder fusionieren. Die beiden Marktführer MeinFernbus und Flixbus schlossen sich kürzlich zusammen. Die Deutsche Bahn geht ebenfalls in die Offensive und will ihr Angebot bis 2016 vervierfachen. Einen größeren Anteil an dem hart umkämpften Geschäft strebt auch die Deutsche Post an.«

Und auf wessen Rücken wird normalerweise „ruinöser Preiswettbewerb“ ausgetragen? Dazu beispielsweise der Beitrag Übermüdete Fahrer im Fernbus von Frontal 21 vom 25.11.2014: »Mehr als acht Millionen Passagiere nutzten im vergangenen Jahr eine Fernbuslinie. Doch der Erfolg für den Boom der Billig-Busse hat seinen Preis.« Den die Busfahrer bezahlen müssen. Oder auch der Beitrag Preiskampf im Fernbus-Gewerbe des ARD-Wirtschaftsmagazins Plusminus vom 06.08.2014: „Fernbus fahren ist der härteste Job in der gesamten Branche, das hält keiner lang durch“, berichtet ein Fernbusfahrer gegenüber „Plusminus“. Vor allem der Zeitdruck auf den langen Strecken macht den Fahrern zu schaffen. Immer wieder die Fahrer: Sie berichten, dass Verstöße gegen die gesetzlichen Fahrzeiten weit verbreitet sind. Die Fahrer sitzen völlig übermüdet hinter dem Steuer, so der Artikel Fernbusfahrer gesteht: So überziehen wir Lenkzeiten. Ein immer wiederkehrendes Muster, so auch dieser Beitrag: Boom auf Kosten der Fahrer: »Der Markt der Fernbusse boomt. Und jetzt das: Ehemalige Fernbus-Fahrer erheben Anschuldigungen gegen ihre früheren Arbeitgeber. Lenk-und Ruhezeiten sollen nicht eingehalten worden sein.«

Ein Blick in die Arbeitsrealität der Fernbusfahrer und ihre bislang noch nicht dem Lehrbuch eigentlich erforderlichen Anpassungen aufgrund des beklagten Fachkräftemangels – von mehr als 2.000 freien Stellen spricht der Bundesverband Deutscher Omnibusunternehmer (BDO) – wirft Matthias Lauerer in seinem Artikel Auf die billige Tour. Fernbusfahrer, das ist ein «Knochenjob, der viel mehr verlangt, als Gas zu geben, zu lenken und zu bremsen. Ein Fernbusfahrer muss Gepäck ein- und ausladen, nebenbei Tickets, Getränke und Snacks verkaufen, Fahrgäste einchecken. Er muss Geduld haben, wenn nervige Gäste meckern, Erste Hilfe leisten, wenn ein Fahrgast plötzlich krank wird. Und er muss den Bus täglich putzen – Abfälle entsorgen, verschütteten Kaffee aufwischen, Sitze saugen. Kurz: Er muss Kofferträger, Bedienung und Schaffner sein und dann noch all das erledigen, wofür im Zug und im Flugzeug die Putzkolonne anrückt.« Zwei Hauptprobleme kristallisieren sich heraus: lange Arbeitszeiten und schlechte Bezahlung. Und auch hier taucht es wieder auf, das Thema gesetzlicher Mindestlohn und seine Umgehung. Denn der gilt seit Januar 2015 auch in diesem Business, aber Gewerkschafter berichten von einer „sehr großzügigen“ Interpretation von dem, was als Arbeitszeit anerkannt und entlohnt wird. So werde eine Schicht, die zwölf Stunden dauert, durchaus mal mit nur acht Stunden abgerechnet. Durchschnittlich verdient ein Busfahrer in Deutschland rund 1.967 Euro brutto. Manchmal werde ein Fernbusfahrer auch pro Strecke entlohnt, zitiert Lauerer in seinem Artikel einen Fahrer – je nach Tour zwischen 32 und 149 Euro.
Ganz offensichtlich wird die spezifische Marktsituation in dieser so jungen Branche mit einem alles dominierenden ruinösen Preiskampf auf die Beschäftigten verlagert. In dem Artikel wird ein Busunternehmer zitiert, der das in Euro und Cent auf den Punkt bringt: »… hinter vorgehaltener Hand gibt er zu: Um faire Löhne bezahlen zu können, müsste er zehn Cent pro Fahrgast und Kilometer verdienen – derzeit komme man aber gerade einmal auf drei bis vier Cent.« Bei so einer Spanne wird nachvollziehbar, unter welchem Kostendruck die Unternehmen agieren (müssen).
Und dann liefert der Artikel von Lauerer noch einen Hinweis auf eine weitere Besonderheit, die verdeutlicht, dass offensichtlich immer noch nicht genug Druck im Kessel ist:

„Multitalente gesucht“, wirbt der Bundesverband Deutscher Omnibusunternehmer auf einer Werbeseite, für einen „Job mit echter Perspektive“. Und lockt junge Menschen: „Arbeiten, wo andere Urlaub machen? 500 PS beherrschen?“ Dass ein Busführerschein rund 10.000 Euro kostet, wird verschwiegen. Und auch, dass der Bewerber ihn in der Regel selbst finanzieren muss.

Ganz offensichtlich ist einiges hier nicht so, wie das Lehrbuch uns nahelegt. Die Löhne  sind noch nicht erkennbar gestiegen und weiterhin läuft ein gehöriger Teil der Verwirklichung des Geschäftsmodells mit den billigen, sehr billigen Bustickets auf dem Rücken der Fahrer. Wir dürfen gespannt sein, wann das Lehrbuch gerade in diesem Bereich zuschlägt. Bisher jedenfalls eiert man lieber herum.

Nur so als Fußnote: Die Deutsche Post DHL hat heute ihre Bilanzzahlen veröffentlicht und große Profitabilitätsversprechen abgegeben. Von den im vergangenen Jahr realisierten drei Milliarden Euro Gewinn soll es weiter nach oben gehen, so der Artikel Appels Sparkurs gefährdet Service und Qualität: »Mit drastischen Einsparungen will Post-Chef Frank Appel den Gewinn von drei auf fünf Milliarden Euro im Jahr 2020 steigern. Doch der Kurs gefährdet die Qualität des Angebots und damit langfristig auch das Geschäft.« Der Prozess hat bereits angefangen, tausende Briefzusteller wurden und werden gerade in regionale Billigtöchter abgeschoben.