Die Arbeitslosenversicherung als Ausnahme statt Normalität. Und eine mehr als krude Argumentation hinsichtlich der Arbeitslosen auf Teilzeitsuche und Vollzeit suchender Teilzeitarbeitsloser. Für die Arbeitslosenversicherung biegt man das so hin, dass es weniger kostet

Immer wieder, genauer: monatlich, werden wir konfrontiert mit „den“ Arbeitslosenzahlen. Auch hier muss man genauer sein: Wir erfahren die Zahl der offiziell registrierten Arbeitslosen. Im November 2014 waren das 2,717 Mio. Menschen. Eigentlich waren es natürlich mehr. In der Abbildung sind die Zahlenverhältnisse dargestellt. Bei den 2,7 Mio. Arbeitslosen, die durch die Medien transportiert werden, fehlen schon mal die 921.556 Menschen in der „Unterbeschäftigung“, die zwar auch faktisch arbeitslos sind, aber nicht mitgezählt werden. Also hatten wir eigentlich 3,6 Mio. Arbeitslose, was ja nun schon eine andere Zahl ist als die 2,7 Mio., auf die sich die Berichterstattung immer bezieht. Darüber hinaus verdeutlicht das Schaubild auch, dass es noch ganz andere Größen gibt, die man berücksichtigen sollte. So gab es 5,036 Mio. Empfänger von Arbeitslosengeld I und II, darunter mit 4,324 Mio. die große Mehrheit im Alg II-Bezug, also im „Hartz IV“-System. Zu dieser ans sich schon großen Zahl kommen dann noch mal weitere 1,703 Mio. nicht erwerbsfähige Hilfeempfänger, also Kinder unter 15 Jahren, hinzu, die statt Alt II Sozialgeld bekommen. Auf diese von der einen immer wieder gerne zitierten Zahl von (aktuell) 2,7 Mio. „Arbeitslose“ doch erheblich abweichenden Größenordnung wird in der kritischen Berichterstattung auch immer wieder hingewiesen. Hier aber interessiert eine ganz bestimmte Relation: 70% der registrierten Arbeitslosen befinden sich im Grundsicherungssystem (SGB II), nur noch 30% im Arbeitslosenversicherungssystem (SGB III). Die Anteilswerte der im Hartz IV-System befindlichen registrierten Arbeitslosen reichen von 51,6 Prozent in Bayern bis zu 81,7 Prozent in Bremen. Und die Tatsache, dass nicht einmal mehr jeder dritte Arbeitslose unter dem Dach der Arbeitslosenversicherung abgesichert ist, muss als ein sozialstaatlicher Skandal thematisiert werden.

Denn eigentlich sollte die Arbeitslosenversicherung als das der Grundsicherung vorgelagerte System das Risiko der Arbeitslosigkeit, besser: Erwerbsarbeitslosigkeit, auffangen und absichern. Auf die Leistungen der Arbeitslosenversicherung hat man einen Rechtsanspruch und es findet keine Bedürftigkeitsprüfung statt. Anfang der 1990er-Jahre erhielten über 80 Prozent aller Erwerbslosen Leistungen vom Arbeitsamt, die weitgehend Versicherungscharakter hatten und deren Höhe vom früheren Verdienst abhing. Heute gilt das nur noch für 30 Prozent der offiziell erfassten Arbeitslosen. Das ist ein gewaltiger Systemwechsel. In dem Beitrag Rückzug der Arbeitslosenversicherung wurde bereits 2011 darauf hingewiesen:

»Vor den Arbeitsmarktreformen der vergangenen Dekade bekam der größte Teil der Erwerbslosen Arbeitslosengeld, ein kleinerer Teil Arbeitslosenhilfe. Deren Bezug war zwar an die Bedingung geknüpft, dass der betreffende Arbeitslose nicht über nennenswerte Zusatzeinkünfte oder Vermögen verfügte … Dennoch sei die Arbeitslosenhilfe eher eine Versicherungs- als eine Fürsorgeleistung gewesen – das werde besonders deutlich im Vergleich zum heutigen Arbeitslosengeld II. Beim ALG II ist eine strenge Bedürftigkeitsprüfung vorgeschaltet, wie es sie zuvor nur bei der Sozialhilfe gab.«

Die Zunahme des Fürsorgeanteils zulasten des Versicherungsanteils bei der Arbeitslosenunterstützung ist nicht nur auf die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe im Zuge der Einführung des SGB II 2005 zu sehen, sondern steht auch in einem Zusammenhang mit der Verkürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes seit 1998, den verschärften Zugangsvoraussetzungen beim Arbeitslosengeld sowie einer zunehmenden Langzeitarbeitslosigkeit. Der „Deckungsgrad“ der eigentlich zuständigen Arbeitslosenversicherung ist massiv geschrumpft worden und bietet heute keine wirklich adäquate Absicherung mehr. Die Verengung der Zugangsvoraussetzungen für einen Bezug von Versicherungsleistungen im Zusammenspiel mit der Instabilität vieler Arbeitsverhältnisse führen dazu, dass eine steigende Zahl von Beschäftigten nach einem Job-Verlust durch die Maschen des Versicherungssystem fällt und direkt auf staatliche Fürsorge angewiesen ist. Der Bedeutungsverlust der Arbeitslosenversicherung wird auch in der gleichnamigen Studie von Peer Rosenthal aus dem Jahr 2012 behandelt, der eine Analyse von Zugängen in Arbeitslosigkeit aus einer Beschäftigung am ersten Arbeitsmarkt nach Rechtskreisen im Land Bremen vorgelegt hat. 
Bereits 2012 hat der DGB ein Positionspapier veröffentlicht, um diese Entwicklung wenigstens punktuell wieder umzukehren: Die Schutzfunktion der Arbeitslosenversicherung ausbauen. Getan hat sich hier wenig bis gar nichts. Dabei ist der Handlungsbedarf nicht nur vor dem Hintergrund des offensichtlichen Sicherungsversagens der Arbeitslosenversicherung evident. Auch die Veränderungen auf den Arbeitsmärkten schreien förmlich nach einer grundlegenden Reform der Arbeitslosenversicherung. Am – immer noch – weitestgehenden ist hier der von Günther Schmid angestoßene Vorschlag nach einer Transformation der Arbeitslosen- hin zu einer Beschäftigtenversicherung (vgl. dazu weiterführend Günther Schmid: Von der Arbeitslosen- zur Beschäftigungsversicherung. Wege zu einer neuen Balance individueller Verantwortung und Solidarität durch eine lebenslauforientierte Arbeitsmarktpolitik. Bonn: Friedrich-Ebert-Stiftung, 2008). 
Zugleich sehen wir mit Blick auf die Arbeitsmarktentwicklung eine erhebliche Zunahme der Teilzeitbeschäftigung, die ihren gehörigen Anteil am so genannten deutschen „Jobwunder“ gehabt hat und immer noch hat (vgl. dazu meinen Blog-Beitrag: „Irre Beschäftigungseffekte“, „wirklich tolles Land“: Wenn Ökonomen sich überschlagen, lohnt ein Blick auf die Zahlen vom 19.12.2014). Und an dieser Stelle werden wir nun mit einer höchst kruden Argumentation der Bundesregierung konfrontiert, ausgelöst durch eine Anfrage der arbeitsmarktpolitischen Sprecherin der grünen Bundestagsfraktion, Brigitte Pothmer. Über die Antwort aus dem Bundesarbeitsministerium berichtet Stefan Sauer in seinem Artikel Arbeitslose auf Teilzeitsuche werden massiv benachteiligt. Und das hat schon was, wenn man sich das Argumentationsgebäude der Bundesregierung anschaut.
Sauer erinnert an grundlegende Konstituitionsprinzipien der deutschen Sozialversicherung:

»In der Sozialversicherung gilt ein einfacher Grundsatz: Wer viel einzahlt, bekommt im Versicherungsfall auch viel heraus. Dieses  Gleichwertigkeits- oder Äquivalenzprinzip führt  in der gesetzlichen Rentenversicherung dazu, dass hohe Beiträge während des Arbeitslebens mit überdurchschnittlichen Renten im Ruhestand vergolten werden. Der Mechanismus wirkt auch in der Arbeitslosenversicherung: Das Arbeitseinkommen und damit die Höhe der eingezahlten Versicherungsbeiträge sind maßgeblich für die Leistungen bei Jobverlust.«

Wenn man ganz korrekt sein will, dann müsste man anmerken, dass das nicht für die gesamte Sozialversicherung gilt, denn beispielsweise in der Kranken- und Pflegeversicherung ist dies erheblich durchbrochen. Aber das soll hier nicht weiter vertieft werden.
Aber Grundsätze haben die Angewohnheit, dass sie nicht selten verletzt werden in bestimmten Fällen. Und mit so einem haben wir es bei der Suche nach einer Teilzeitarbeit zu tun:

»Erwerbslose, die zuvor in Vollzeit arbeiteten, nun aber einen Teilzeitstelle suchen, erhalten ein deutlich vermindertes Arbeitslosengeld – so als hätten sie schon immer lediglich in Teilzeit gearbeitet. Das hat beträchtliche Konsequenzen: Wer zum Beispiel, nach jahrlanger  40-Stunden-Tätigkeit, im Anschluss an die Arbeitslosigkeit aus familiären Gründen eine 30-Stunden-Job sucht, erhält um ein 25 Prozent gekürztes Arbeitslosengeld.«

Das muss natürlich irgendwie begründet werden. In der Antwort der Bundesregierung auf die Anfrage der grünen Abgeordneten »verweist die Bundesregierung auf den „Grundgedanken“, dass es sich bei Zahlungen aus der Arbeitslosenversicherung um einen Lohnersatzleistung handele. Für die Höhe des Arbeitslosengeldes sei mithin der zu erwartende Lohn maßgeblich, den der Arbeitslose bei Aufnahme einer Teilzeitstelle erhalten wird, nicht aber sein vorheriges Arbeitseinkommen in Vollzeit.«

Wenn auch eine gewagte Herleitung, kann man das so sehen, wird der eine oder andere an dieser Stelle noch einwerfen. Dann gilt das aber auch logischerweise in die andere Richtung. Was für bestimmte Arbeitslose positiv wäre: »Personen, die zuvor halbtags tätig waren, nun aber eine Vollzeitstelle suchen, müssten ein höheres, nämlich am zu erwartenden Vollzeitgehalt orientiertes Arbeitslosengeld erhalten«, so Sauer folgerichtig. Hier nun wird es spannend, denn „hätte, sollte müsste“ verweist auf das, was eigentlich sein hätte sollen müssen, wenn man in der vorgegebenen Argumentationslogik verbleibt. Die Bundesregierung macht das aber nicht, sondern sie bricht aus, denn: »Auch Arbeitslose, die zuvor in Teilzeit beschäftigt waren und nun nach einem 40 Stunden-Job Ausschau halten, bekommen nur ein geringes, am Teilzeiteinkommen orientiertes Arbeitslosengeld.«
Wie das jetzt? Man bekommt das nur hin, wenn man an dieser Stelle einen schwungvollen Wechsel der Argumentation vollzieht:

»Eben noch spielten die eingezahlten Beiträge keine Rolle, sondern das zu erwartende Einkommen, um die Minderung des Arbeitslosengelds zu begründen. Nun sind es die geringeren Beitragszahlungen aus der Teilzeitarbeit, die zu niedrigen Versicherungsleistungen führen, während die zu erwartenden Einkünfte in Vollzeit nicht berücksichtigt werden.«

Voila, das muss man erst einmal hinbekommen, ohne rot zu werden. Dabei muss man das so machen, um das zu erreichen, was man will: In beiden Fällen fällt die Regelung zum Nachteil für die Arbeitslosen aus.

Insofern überrascht vor diesem weiteren Beispiel aus der Serie „Frechheit der Argumentation siegt“ dann auch nicht, dass die Bundesregierung am Ende ihrer Antwort ausführt: »Eine Änderung ist nicht geplant.«

Irgendwann allein zu Haus? Ein weiterer Baustein auf dem Weg in eine Entsolidarisierung des Versicherungssystems, zugleich ein durchaus konsequentes Modell in Zeiten einer radikalen Individualisierung

Das hört sich doch nach einer guten Absicht an: Wer gesund lebt, zahlt weniger für die Krankenversicherung: Erstmals bietet ein Konzern günstigere Verträge an, wenn Kunden nachweisen, dass sie Sport treiben und zur Vorsorge gehen. Der Teufel steckt bekanntlich im Detail und das erste hier anzuführende Detail ist der „Nachweis“ des Lebensstils, der zu den Vergünstigungen berechtigt. Als erster großer Versicherer in Europa setzt die Generali-Gruppe dafür künftig auf die elektronische Kontrolle von Fitness, Ernährung und Lebensstil. Das Kalkül des Unternehmens scheint auf der Hand zu liegen: Wer gesund lebt, kostet den Krankenversicherern weniger Geld. Im Gegenzug erhalten willige Verbraucher Vergünstigungen, gleichsam als Anreiz, sich entsprechend zu verhalten. Vielleicht wird der eine oder andere an dieser Stelle fragen: Was soll daran problematisch sein? Es ist doch nur ein Angebot, man muss die Bedingungen erfüllen und warum soll nicht jemand, der was für seine Gesundheit macht, besser gestellt werden, als diejenigen, die – vielleicht sogar mutwillig – ihre Gesundheit ruinieren in der Hoffnung, dass ihnen schon von der Allgemeinheit geholfen wird, wenn es aufgrund ihres Lebensstils zu Folgekomplikationen kommt, die möglicherweise eine aufwendige Behandlung mit den entsprechenden Kosten nach sich zieht?

»Verbraucher, die sich für eine Lebens- oder Krankenversicherung nach dem neuen Modell entscheiden, müssen Generali regelmäßig Daten zu ihrem Lebensstil übermitteln. Das funktioniert mithilfe einer App, die Vorsorgetermine dokumentiert, Schritte zählt oder sportliche Aktivitäten misst. Auch gesunde Ernährung gehört zum Paket«, berichtet Anne-Christin Gröger in ihrem Artikel über das neue Krankenversicherungsmodell der Generali und sie weist darauf hin, dass der Versicherungskonzern hinsichtlich der über Telemonitoring erfolgenden Kontrolle der Versicherten und ihres tatsächlichen Verhaltens mit dem südafrikanischen Versicherer Discovery kooperiert.

Die Generali Versicherungen selbst gehören nach eigenen Angaben zu den fünf größten Erstversicherern in Deutschland. Nicht nur Generali, auch Allianz, Axa und andere Versicherer arbeiten an solchen Projekten. Vorläufer dieses Ansatzes sind bereits in Betrieb – nicht wirklich überraschend in den USA: Einer der Vorreiter dort ist der Krankenversicherer United Healthcare. Dieses Unternehmen bietet Kunden schon seit drei Jahren einen Preisnachlass an, wenn sie täglich eine bestimmte Anzahl an Schritten tun und das auch nachweisen können. Generali will jetzt auch hier in Deutschland diesen Weg beschreiten.

»In der ersten Stufe bekommen die Versicherten, die sich gesundheitsbewusst verhalten, Gutscheine für Reisen und das Fitnessstudio. Im nächsten Schritt sind Prämiennachlässe beim Versicherungsschutz möglich. Die neuen Angebote sollen in den nächsten zwölf bis 18 Monaten auch in Deutschland erhältlich sein«, so Gröger.

Der ganze Ansatz kommt auf den ersten Blick unverdächtig daher, denn keiner scheint gezwungen zu werden, dieses neue Versicherungsmodell in Anspruch zu nehmen. Alles freiwillig also. Aber nur auf den ersten Blick, denn hier liegt eines der großen Probleme begründet: Diejenigen, die mitmachen (wollen), bekommen Vergünstigungen. Man kann plausibel davon ausgehen, dass das eine hoch selektive Gruppe sein wird, Menschen also, die von sich wissen, dass sie die Erwartungskriterien erfüllen, um an dem Programm teilnehmen zu können, vor allem, wenn man weiß, dass das überwacht wird. Es handelt sich versicherungsökonomisch gesehen um die „guten Risiken“ und genau an die will die Versicherung ran und diese an sich binden, denn mit denen macht man trotz niedrigerer Beiträge ein Geschäft. Unter den anderen, die sich nicht beteiligen, sind auch die „schlechten Risiken“ für die Versicherung, also Menschen, die wissen, dass sie die Auflagen des Versicherungsmodells nicht werden erfüllen können oder die andere Informationen über ihren eigenen Gesundheitszustand haben. Für die aber wird die Versicherung teurer, denn sie sind ja tendenziell die Risikogruppe für die Versicherung. Langfristig das größte Risiko des neuen Systems: Wer nicht bereit ist, seine Daten preiszugeben, dürfte künftig einen deutlich höheren Preis für seine Versicherung zahlen. Und schon kehrt sich die vielgelobte „Freiwilligkeit“ praktisch in ihr Gegenteil um.

Auch Anne-Christin Gröger argumentiert in diese Richtung:

»Individualisierte Tarife bergen indes eine große Gefahr: Sie führen das Prinzip der Versicherung ad absurdum. Versicherer gleichen eigentlich verschiedene Risiken aus, zwischen vielen Kunden und auch über die Zeit. Das ist der Kern ihres Geschäfts. Mit den individualisierten Tarifen versuchen die Unternehmen nun, die „besten“ Risiken für sich zu gewinnen – in der Hoffnung, dass sich die Konkurrenten mit vielen „schlechteren“ Risiken herumschlagen müssen.«

Sie zitiert Felix Hufeld, den obersten Versicherungsaufseher bei der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin), mit den folgenden Worten, die wie ein Menetekel daherkommen: „Wenn wir den Gedanken zu Ende denken, kann das letztlich zu einer Atomisierung des Kollektivs führen“. Dies würde nicht ohne schwerwiegende Folgen für den Versicherungsgedanken an sich bleiben.

Nun könnte man an dieser Stelle einwenden, dass das ja „nur“ die private Krankenversicherung betrifft, die Gesetzliche Krankenversicherung für die meisten Menschen funktioniert nach dem Sozialversicherungsprinzip und da gibt es solche Dinge wie Kontrahierungszwang usw. Aber durchaus denkbar wären auch hier erhebliche Kollateralschäden durch eine Entwicklung, die in die skizzierte Richtung geht. Denn auch unter dem Dach des Sozialversicherungssystems gibt es immer wieder Diskussionen über den Umfang des Leistungskatalogs und sehr gerne werden immer wieder die doch offensichtlichen Ungerechtigkeiten zitiert, die entstehen, wenn Menschen sich beispielsweise bewusst in schwere Gefahr begeben oder durch ihr Verhalten (z.B. Rauchen, Alkohol trinken usw.) zu hohen Kosten beitragen, die dann von der Solidargemeinschaft aller Versicherten mitfinanziert werden müssen, auch wenn sich die bislang ganz anders verhalten und gehandelt haben. Das wird dann hinsichtlich der möglichen Konsequenzen diskutiert unter dem Stichwort Ausgliederung aus dem gesetzlichen Leistungskatalog. Wenn man denn will, kann man ja Zusatzversicherungen abschließen, wird die Botschaft lauten – oder eben einfach das risikobehaftete Verhalten ändern, wenn man sich das nicht leisten kann. Und schon wieder würde scheinbare „Freiwilligkeit“ in einen faktischen Zwang transformiert.

Die fundamentale Kollision mit dem Versicherungsprinzip, vor allem mit dem besonderen Versicherungsprinzip in der Sozialversicherung, kann man sich auch anhand einer Analogie aus einem Sozialversicherungszweig verdeutlichen, hier der Arbeitslosenversicherung. Dort gibt es zwar eine ganze Reihe an Vorkehrungen gegen eine missbräuchliche Inanspruchnahme der Leistungen, beispielsweise Sperrzeiten bei Eigenkündigungen wie auch die Zumutbarkeitsbestimmungen, denn natürlich ist diese Versicherung darauf angewiesen, dass der Risikofall so schnell wie möglich beendet wird, z.B. durch die Aufnahme einer neuen Erwerbstätigkeit. Aber zwei Dinge sind unstrittig: Es gibt weiterhin zahlreiche Möglichkeiten, durch eigenes Tun (bzw. Nicht-Tun) verhaltensbedingt den Schadensfall Arbeitslosigkeit herbeizuführen oder zu verlängern – und man bekommt trotzdem die Leistungen, die aus Beiträgen des Versicherungskollektivs finanziert werden. Für die Analogie zum Krankenversicherungsmodell wesentlich relevanter ist ein zweiter Punkt: Das Arbeitslosigkeitsrisiko ist nicht gleich verteilt, sondern es gibt eine deutlich ausgeprägte Diskrepanz zwischen Regionen, Berufen, Branchen – und auch zwischen bestimmten Personengruppen. Beispiel: Während Beschäftigte in Branchen wie Bau oder noch schlimmer der Leiharbeit ein überdurchschnittliches Arbeitslosigkeitsrisiko haben und bei den Leistungen oftmals ein Vielfaches von dem „herausholen“, was sie eingebracht haben, gibt es auf der anderen Seite Branchen wie den öffentlichen Dienst, wo die Angestellten so gut wie beamtensicher arbeiten können, aber ebenfalls monatlich ihre Beiträge abführen (müssen). Wenn man nun die unterschiedlichen Kostenrisiken auf der Beitragsseite differenzieren würde anhand der Arbeitslosigkeitsrisiken, dann würde allerdings die Umverteilungsfunktion innerhalb der Versicherung alsbald zum Erliegen kommen. Und würde man die Grundkomponente des neuen Krankenversicherungsmodells übertragen auf die Arbeitslosenversicherung, dann müsste es zumindest eine Beitragsdifferenzierung geben für die, die an den persönlichen Merkmalen, die das Arbeitslosigkeitsrisiko beeinflussen, herumarbeiten. Auf diese Idee ist aus gutem Grunde bislang noch keiner gekommen.

Damit sind wir wieder angelangt bei dem Generali-Vorstoß. Nicht unerwähnt sollte bleiben, dass bei einer Umsetzung dieses Modells erhebliche personenbezogene und mit Blick auf Gesundheit höchst sensible Daten selbst geliefert und ausgewertet werden.

Jan Heidemann liefert in seinem Kommentar eine einfache und wirklichkeitsbezogene Empfehlung: Nicht mitmachen!

Auf der anderen Seite kommt man aber auch nicht darum herum, angesichts des fortschreitenden radikalen Individualisierung zu konstatieren, dass es sich bei dem Ansatz von Generali um ein sehr passendes Projekt handelt. Immer stärker fällt die Fokussierung auf den Einzelnen, seine Eigenverantwortung, seine Selbsthilfe(potenziale) auf – damit aber auch die Kehrseite dieser Medaille, die vor allem daraus besteht, dass der einzelne Mensch „Schuld“ hat an dem, was im widerfährt, weil wenn er nicht geraucht hätte, wenn er regelmäßig Nordic Walking betrieben hätte, dann … Aber gerade im Gesundheitsbereich ist es eben nicht so einfach, man erkrankt auch trotz Fitnessübungen und man muss dann eingebettet sein in eine starke Gemeinschaft, die auch dann eine Menge umverteilen muss.

Und seien wir ehrlich – die Betroffenen, die sich kümmern um ihre Gesundheit, haben doch schon so viele Vorteile. Sie leben länger (und das tendenziell gesünder), sie beziehen länger Rente usw. Das muss reichen.

Ergänzung (23.11.2014): Im „Tagesspiegel“ ist ein Gastbeitrag des ehemaligen Piraten-Politikers Christopher Lauer erschienen, der das neue Versicherungsmodell der Generali aufgreift und mit weiteren Entwicklungen zusammenführt: Der Morgen des Überwachungskapitalismus, so ist sein Beitrag überschrieben. Lauer weist darauf hin, dass der konkrete Vorstoß der Generali Versicherungen im Grunde ein weiterer Baustein sei für das, was er bereits im Sommer angesichts der Einführung der Apple-Watch und Apples „Health App“ vorausgesagt habe: Das Gesundheitssystem, wie wir es kennen, wird zertrümmert werden (er bezieht sich hier auf seinen FAZ-Beitrag vom 16.06.2014: Du bist zu fett? Dafür zahlst du!).
In seinem neuen Artikel bringt auch Lauer ein Grundproblem auf den Punkt, das ich in diesem Blog-Beitrag mit dem Hinweis auf die grundsätzliche Passungsfähigkeit des Modells mit der „radikalen Individualisierung“ angedeutet habe:


»Die Idee der Krankenversicherung war es nie, dafür zu sorgen, dass sich Leute gesund verhalten. Sie war es, dass Leute nicht sterben, wenn sie krank werden. Die Solidarität wird jetzt durch die Identifikation eines vermeintlichen Individualversagens ersetzt.«


Und weiter:


»Und wenn man schon mal damit anfängt, den Preis der Krankenversicherung durch persönliche Daten zu individualisieren, warum dort haltmachen? … warum sollten dicke Menschen nicht mehr für ein Busticket bezahlen, wenn der Bus durch ihr Übergewicht doch mehr Kraftstoff verbraucht? Warum müssen die Dünnen die Dicken quersubventionieren?«


Warum aber verwendet er den Begriff „Überwachungskapitalismus“?


»Die Daten, die wir täglich produzieren, werden in Algorithmen gepumpt, deren Wirkmächtigkeit einfach mal so behauptet wird, und die Aussagen, die dieser Algorithmus dann trifft, werden als Realität deklariert. Willkommen im Überwachungskapitalismus.« Er weist darauf hin, dass dieser Begriff nicht von ihm stand, sondern er hat ihn übernommen:


»Der Begriff Überwachungskapitalismus wurde durch die US-amerikanische Wissenschaftlerin Shoshana Zuboff geprägt und von ihr wie folgt definiert: Die durch uns produzierten Daten sind Güter. Sie werden durch Überwachung produziert. Diese Überwachungsgüter haben einen Wert, sind also Überwachungskapital. Es entsteht ein Überwachungskapitalismus, in dem unser Verhalten zur Ware wird.«


Auch im „Economist“ wurde im September dieses Jahres kurz und knapp festgestellt: Überwachung ist das neue Geschäftsmodell der Werbung. 
Im weiteren Verlauf seines Beitrags formuliert Lauer dann einige gute Anfragen an den konzeptionellen Ansatz, der hinter dem Generali-Modell steht und die meinen Beitrag sehr gut ergänzen:


»Kommen wir … zurück zu Generali und seiner Krankenversicherung: Der Nutzen eines solchen Versicherungsmodells ist vor allem erst einmal eine Behauptung. Wie wird denn gesundes Verhalten definiert? Und aufgrund welcher Metrik? Ist Joggen automatisch immer gut? Ist es gut in einer Stadt wie Berlin, mit seiner hohen Feinstaubbelastung? Wie gesund ist ein Jogger, der beim Überqueren einer Kreuzung von einem unachtsamen Autofahrer umgemäht wird und dabei einen Schädelbasisbruch erleidet? Kann eine Rollstuhlfahrerin gesund sein, wenn Joggen das Maß für Gesund ist? Was ist gesundes Essen? Die Ökotrophologie, die Ernährungswissenschaft, ändert gefühlt alle fünf Jahre ihre Meinung darüber, ob man mehr Fett oder mehr Kohlenhydrate zu sich nehmen soll, wodurch diese Zunft für mich eher in den Bereich der Essensastrologie rutscht. 1991 hatte man mit einem Body-Mass-Index von 27 noch Normalgewicht, 2000 änderte die Weltgesundheitsorganisation die Definition und schwupps endete Normalgewicht bei einem Body-Mass-Index von 25, über Nacht wurden Millionen von Menschen übergewichtig. Gleichzeitig gibt es Studien, die nahelegen, dass Menschen mit einem Index von 27 die höchste Lebenserwartung haben.«
Genau hier liegt ein massives Problem: Die Kriterien für gesund und ungesund sind oft willkürlich definiert, doch diese Kriterien formen Realität in dem Moment, in dem sie in Algorithmen gegossen werden. 


Was schlussfolgert Lauer aus seiner kritischen Sichtweise auf diese Dinge?


»Es wird Zeit für eine Verbotsdiskussion über überwachungskapitalistische Praktiken. Es spricht viel dafür. Eine Verbotsforderung hat nichts mit German Angst oder Technikfeindlichkeit zu tun. Vorstöße wie der von Generali nutzen schlicht Gesetzeslücken und mangelnde Regelungen aus, weil kein Gesetzgeber einen solchen Wahnsinn vorhersehen kann. Selbst wenn 100-prozentige Datensouveränität möglich wäre, jeder also über jede Datenverarbeitung informiert werden würde, einwilligen müsste und Daten-Missbrauch im Einzelfall mit hohen Strafen belegt würde: Ein auch nur in Teilen auf Individualversagen aufgebautes Gesundheitssystem zerstört die Solidargemeinschaft. Es dient dazu, all jene auszusortieren, die nicht in die willkürliche Metrik eines Algorithmus passen. Generali geht es nicht um ein besseres Gesundheitssystem, es geht darum, Kosten zu minimieren und Gewinn zu maximieren.«

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