Die fortschreitende Programmitis in der Arbeitsmarktpolitik und ein sich selbst verkomplizierendes Förderrecht im SGB II

Es wird seit vielen Jahren beklagt. In der Arbeitsmarktpolitik wird zum einen das Förderrecht immer komplizierter, weil man über dieses Instrumentarium versucht, ganz andere Ziele zu adressieren als eine möglichst passgenaue Förderung der Arbeitslosen, dabei vor allem haushaltpolitische Ziele, also die Verteilung begrenzter und in den vergangenen Jahren deutlich schrumpfender Mittel für arbeitsmarktpolitische Maßnahmen. Zum anderen hat man natürlich den Effekt, dass je komplizierter das Förderrecht ausgestaltet ist, desto mehr Schnittstellen ergeben sich, die man dann wieder, wenn es nötig erscheint, mit neuen Regelungen einzufangen versucht.

Zum anderen liebt man es in der Politik, mit Hilfe von Sonderprogrammen energisches Handeln gegen erkannte bzw. kritisierte Probleme zu signalisieren. Manche Skeptiker wenden an dieser Stelle ein, oftmals geht es dabei nur um eine Aktivitätssimulation. Für diese Kritiklinie spricht, dass viele der Sonderprogramme hinsichtlich der Anforderungen, die (potenzielle) Teilnehmer erfüllen müssen, derart restriktiv bzw. hoch selektiv sind, dass von vornherein klar ist, dass nur wenige tatsächliche Förderfälle realisiert werden können, was auch vor dem Hintergrund der knappen Budgets für diese Programme ein eigenes, natürlich nicht offen kommuniziertes Ziel ist.

Derzeit können wir wie in einem Lehrbuch genau diese skeptische Einschätzung in der Realität bestätigt beobachten. Gemeint sind die Sonderprogramme zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit, die von der Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) aufgelegt worden sind, um das offensichtliche und manifeste Problem einer sich trotz der allgemein guten Arbeitsmarktverfassung der vergangenen Jahre verhärtenden und verfestigenden Langzeitarbeitslosigkeit zu „bekämpfen“. 

mehr

Kopfschütteln über 80-Cent-Jobs für Flüchtlinge. Das BSG bremst die Jobcenter bei Sanktionen. Und RTL greift ganz tief nach unten

Man ist immer wieder unangenehm überrascht, was man sich in Berlin offensichtlich auszudenken in der Lage ist, um an sich schon mehr als komplexe Politikfelder noch komplizierter werden zu lassen. Im Zuge des derzeit im Bundestag behandelten „Integrationsgesetzes“ wurde bekannt, dass das Bundesarbeitsministerium in diesem Rahmen auch die Idee umsetzen will, 100.000 Arbeitsgelegenheiten für Flüchtlinge aus Bundesmitteln einzurichten. Am Anfang ging der kritische, aber wohlmeinende Beobachter noch davon aus, dass das so abläuft, dass der Bund das Geld den Kommunen gibt, denn die sind ja für die neu angekommenen Flüchtlinge und für die Asylbewerber bis zur Entscheidung über ihren Antrag zuständig und im Asylbewerberleistungsgesetz gibt es im § 5 schon die Möglichkeit, Arbeitsgelegenheiten (umgangssprachlich als „Ein-Euro-Jobs“ bezeichnet) durchzuführen, was in einigen Kommunen durchaus intensiv gemacht wurde und wird. Man hätte auch auf den schon eigentlich naheliegenden, allerdings systemüberwindenden Gedanken kommen können, dass das doch die machen können, die später sowieso für fast alle Flüchtlinge zuständig sind, also die Jobcenter, die ebenfalls Arbeitsgelegenheiten (§ 18d SG II) haben. Doch weit gefehlt.

Herausgekommen ist nun eine Metastasierung des an sich schon komplexen Gebildes, wenn der Gesetzentwurf Realität wird: »Wir bekommen dann drei Arten von Arbeitsgelegenheiten (AGH nach AsylbLG, AGH nach SGB II und neu die AGH nach Bundesprogramm), drei zuständige Institutionen (kommunale Sozialämter, Jobcenter und neu die Arbeitsagenturen)«, so meine Zusammenfassung in dem Beitrag  „Nirwana-Arbeitsgelegenheiten“ zwischen Asylbewerberleistungsgesetz und SGB II. Eine dritte Dimension der „Ein-Euro-Jobs“ und die dann auch noch 20 Cent günstiger? vom 12. Juni 2016. Und das ist schon alles schlimm genug, aber man setzt offensichtlich noch einen drauf: Die neuen „Flüchtlings-Arbeitsgelegenheiten“ sollen anders als die normalen „Ein-Euro-Jobs“ nur mit einer Mehraufwandsentschädigung von 80-Cent pro Stunde versehen werden. Der zitierte Beitrag hat den Unsinn, der sich hier Bahn zu brechen versucht, analysiert und bewertet.

Das ist jetzt auch im Bundestag aufgeschlagen, wie Claudia Kade in ihrem Artikel Kopfschütteln über Nahles‘ Pläne für Flüchtlingsjobs berichtet:

»In einer Anhörung vor dem Arbeitsausschuss des Bundestags sprach der Vertreter des Deutschen Städtetages, Helmut Fogt, von einem „unverhältnismäßigen Aufwand“, wenn über die Mehraufwandsentschädigung einzeln abgerechnet werden müsse. Der Städtetag plädiert nach dem Protokoll der Sitzung vom vergangenen Montag dafür, die allgemein üblichen 1,05 Euro zu zahlen – „weil das auch administrativ wesentlich einfacher zu handhaben ist“.
Der Deutsche Landkreistag reagierte ebenfalls mit Unverständnis: Wenn Belege von Flüchtlingen gesammelt werden müssten als Nachweis dafür, dass ihnen ein Kostenaufwand entstanden sei, der über der Entschädigung von 80 Cent pro Stunde liegt, wäre der Aufwand höher als der Nutzen. „Die Belege müssten dann entsprechend im Sozialamt geprüft werden“, sagte die Vertreterin des Landkreistags, Irene Vorholz, in der Anhörung. „Sie müssten dokumentiert werden. Es muss dann eine Entscheidung getroffen werden.“ Deswegen sei ein einheitlicher fester Betrag von 1,05 pro Stunde sinnvoll, „ohne eine Abweichungsmöglichkeit in welche Richtung auch immer“.«

Wie weit weg die politischen Entscheidungsträger von der Wirklichkeit sind, verdeutlicht dieser Passus aus dem Artikel:

»Kerstin Griese, Vorsitzende des Arbeitsausschusses, wies die Kritik zurück. „Den Vorwurf neuer Bürokratie verstehe ich nicht“, sagte die SPD-Politikerin. „Denn die gemeinnützigen Träger, die die Arbeitsgelegenheiten stellen, kennen sich mit der Abrechnung bestens aus.“ Sie machten das bei den Arbeitsgelegenheiten für Hartz-IV-Bezieher ebenfalls, wenn es Bedarf gebe. „Ich mache mir keine Sorgen um Bürokratie.“«

Hier wird wieder einmal unterschätzt, was das an Aufwand (der in keiner Relation steht zu dem, was damit erreicht werden kann) vor Ort bedeutet.

Aber unabhängig davon ist als eigentlich entscheidender Einwand darauf hinzuweisen, dass dieses geplante Programm für 100.000 Arbeitsgelegenheiten für (noch nicht anerkannte) Asylberechtigte, wenn man es denn überhaupt für sinnvoll hält, eigentlich viel zu spät kommt, denn das BAMF weist darauf hin, dass in den kommenden Monaten die Zeiträume bis zur Asylantragstellung und dann bis zur Anerkennung bzw. Ablehnung des Asylantrags massiv verkürzt werden (können). Dann stellen sich die Herausforderungen vor allem in dem System, das für die anerkannten Flüchtlinge zuständig ist, also das SGB II und damit die Jobcenter. Vor diesem Hintergrund muss man auch die angestrebte Größenordnung (100.000 AGHs für Flüchtlinge) sehen, denn im gesamten Hartz IV-System gibt es bundesweit derzeit etwa 80.000 Arbeitsgelegenheiten, wohlgemerkt für alle Hartz IV-Bezieher.
Hinzu kommt, dass die Fixierung auf die geplanten 100.000 AGHs für eine (wahrscheinlich) immer weniger werdende  Klientel die an sich notwendige Ausrichtung auf die wirklich erforderlichen arbeitsmarktpolitischen Bemühungen bei den meisten geflüchteten Menschen unnötigerweise blockieren würde, also eine Verbindung von (möglichst betriebsnah aufgestellter) Beschäftigung, Qualifizierung, Sprachförderung.

Fazit: Einfach sein lassen, was da geplant wurde.

Auch im derzeit im Gesetzgebungsverfahren befindlichen „Integrationsgesetz“ geht es um „Fordern“ und „Fördern“ analog zum SGB II und es wird an dieser Stelle viele nicht überraschen, dass die Sanktionen als ein Element des Forderns nun auch im Integrationsgesetz eine wichtige Bedeutung bekommen sollen. Die nun sind im Hartz IV-System seit langem und grundsätzlich hoch umstritten und erst vor kurzem Gegenstand einer (vorläufigen) Nicht-Befassung des Bundesverfassungsgerichts hinsichtlich der Frage, ob es verfassungsrechtlich überhaupt zulässig ist, das Existenzminimum zu beschneiden.

Hierzu gibt es nun ein neues Urteil des Bundessozialgerichts (BSG), mit dem den Jobcentern gewisse Schranken gesetzt werden bei der Verhängung von Sanktionen: Keine Vereinbarung von Bewerbungsbemühungen ohne Vereinbarung zur Bewerbungskostenübernahme!, so und ausdrücklich mit Ausrufezeichen versehen ist die Pressemitteilung des BSG dazu überschrieben.

Zum Sachverhalt, der eine typische Erfahrung vieler Hartz IV-Empfänger widerspiegelt:

»Der 1977 geborene, alleinstehende Kläger schloss mit dem beklagten Jobcenter in 201»1 und 2012 Eingliederungsvereinbarungen. Nach diesen war er verpflichtet, mindestens zehn Bewerbungsbemühungen pro Monat zu unternehmen und diese an einem Stichtag dem Jobcenter nachzuweisen. Das Jobcenter bot Unterstützungsleistungen zur Beschäftigungsaufnahme an; eine Regelung zur Erstattung von Bewerbungskosten des Klägers durch das Jobcenter enthielten die Eingliederungsvereinbarungen nicht. In den drei hier maßgeblichen Monatszeiträumen erfüllte der Kläger nach Auffassung des Jobcenters seine Verpflichtung zu den monatlichen Eigenbemühungen nicht, weshalb das Jobcenter jeweils feststellte, dass wegen diesen Pflichtverletzungen das Arbeitslosengeld II des Klägers für drei Monate vollständig entfällt (Dezember 2011 bis Februar 2012, Juni bis August 2012, September bis November 2012).«

Das wurde von dem Betroffenen nicht hingenommen und er hat dagegen geklagt. Das Sozialgericht hob die vom Kläger angefochtenen Sanktionsentscheidungen auf, das Landessozialgericht wies die Berufungen des Jobcenters zurück. Und es ging weiter zum BSG. Der 14. Senat des Bundessozialgerichts hat nun am 23. Juni 2016 die Revision des Jobcenters zurückgewiesen.

»Die Sanktionsentscheidungen sind schon deshalb rechtswidrig, weil der Kläger durch die Eingliederungsvereinbarungen nicht zu Bewerbungsbemühungen verpflichtet war. Die Eingliederungsvereinbarungen sind als öffentlich-rechtliche Verträge jedenfalls deshalb insgesamt nichtig, weil sich das Jobcenter vom Kläger unzulässige Gegenleistungen versprechen lassen hat. Denn die sanktionsbewehrten Verpflichtungen des Klägers zu den in den Vereinbarungen bestimmten Bewerbungsbemühungen sind unangemessen im Verhältnis zu den vom Jobcenter übernommenen Leistungsverpflichtungen zur Eingliederung in Arbeit. Diese sehen keine individuellen, konkreten und verbindlichen Unterstützungsleistungen für die Bewerbungsbemühungen des Klägers vor; insbesondere zur Übernahme von Bewerbungskosten enthalten die Eingliederungsvereinbarungen keine Regelungen. Dass gesetzliche Vorschriften die Erstattung von Bewerbungskosten ermöglichen, führt nicht dazu, dass die Eingliederungsvereinbarungen ein ausgewogenes Verhältnis der wechselseitigen Verpflichtungen von Kläger und Jobcenter aufweisen. Damit fehlte es jeweils an Verpflichtungen des Klägers zu Bewerbungsbemühungen und so bereits an den Grundlagen für die angefochtenen Sanktionsentscheidungen.«

Eine wichtige Entscheidung des BSG, wird hier doch ein Signal gegen die erkennbare und von vielen beklagte Asymmetrie im Verhältnis zwischen  den Leistungsberechtigten und den Jobcentern ausgesendet.

Zum Schluss eine zynische Thematisierung von Hartz IV: RTL: Neue Sendung mit Hartz-IV-Empfängern! Über das Vorhaben des Senders erfahren wir:

»Bei RTL wird bald die Sendung „Raus aus der Armut“ zu sehen sein. Die Teilnehmer des TV-Experiments werden Hartz-IV-Empfängern sein … Für das große TV-Experiment „Raus aus der Armut“ scoutet RTL momentan Familien, die seit längerem von Hartz IV leben, aber einen Weg aus der sozialen Abhängigkeit suchen. Interessenten können sich ab sofort bei dem Privatsender bewerben. Das Konzept der Sendung klingt jedenfalls interessant: Die Familien kriegen ihre jährliche Sozialhilfe auf einen Schlag ausgezahlt. Durchschnittlich liegt der Hartz-IV-Satz bei etwa 25.000 Euro … Mit dem Koffer voll Geld können die Familien tun und lassen, was sie wollen. Pikant: Dafür müssen sie ein Jahr auf ihre monatliche Sozialunterstützung verzichten! Ziel der Sendung soll es sein, dass sich die Kandidaten mit der hohen Geldsumme ein neues Leben aufbauen können. Am Ende sollen die Familien unabhängig von Hartz IV leben können, so RTL … Allerdings ist bereits jetzt schon abzusehen, dass „Raus aus der Armut“ vor allem die Zuschauer unterhalten soll. Es ist nicht auszuschließen, dass die Hart-IV-Familien ein Stück weit der Lächerlichkeit preisgegeben werden.«

Man kann das wirklich nur noch kopfschüttelnd zur Kenntnis nehmen, womit wir irgendwie wider am Anfang dieses Beitrags angekommen sind.

„Integrationsarbeit“ statt „80 Cent-Arbeitsgelegenheiten“? Und die Untiefen des Versuchs einer integrationsgesetzlichen Abbildung der Lebenswirklichkeit

Das Bundesarbeitsministerium bewirbt
auf der ministerialen Website
das anstehende Integrationsgesetz mit großen
Versprechungen: »Es fördert den schnellen Zugang zum Arbeitsmarkt und die
Integration durch Arbeit. Dafür wird das Angebot an Integrations- und
Sprachkursen verbessert und ausgebaut.  Der Weg in eine Berufsausbildung
wird durch eine gezieltere Förderung und mehr Aufenthaltssicherheit eröffnet.
Zusätzliche 100.000 Arbeitsgelegenheiten für Berechtigte nach dem
Asylbewerberleistungsgesetz ermöglichen erste Einblicke in den deutschen
Arbeitsmarkt.« Die in dem Konzept enthaltenen zusätzlichen 100.000 Arbeitsgelegenheiten
wurden in dem Beitrag „Nirwana-Arbeitsgelegenheiten“
zwischen Asylbewerberleistungsgesetz und SGB II. Eine dritte Dimension der
„Ein-Euro-Jobs“ und die dann auch noch 20 Cent günstiger?
vom 12.
Juni 2016 bereits kritisch auseinandergenommen. In diesem Zusammenhang stellt
sich natürlich die Anschlussfrage, was man denn alternativ machen sollte und
könnte, um die Arbeitsmarktintegration der Flüchtlinge zu fördern. Da gibt es
dann beispielsweise den Vorschlag der „Integrationsarbeit“ in expliziter
Abgrenzung zu dem geplanten Einsatz des Instrumentariums der
Arbeitsgelegenheiten. Dieser Vorschlag ist auch deshalb genauer anzuschauen,
weil er nicht etwa aus der Ecke der „üblichen Verdächtigen“ kommt, denen es vor
allem um Förderung und Ausweitung der arbeitsmarktpolitischen Aktivitäten geht.
Denn der Verfasser, Steffen J. Roth, ist seit 2002 Geschäftsführer des die
Fahne der Ordnungspolitik hochhaltenden Instituts
für Wirtschaftspolitik an der Universität zu Köln
. Roth hat 2002 promoviert
zum Thema „Beschäftigungsorientierte Sozialpolitik. Gemeinnützige Beschäftigung
als Brücke zwischen Sozialsystem und Arbeitsmarkt“ und daran schließen seine
aktuellen Überlegungen die „Integrationsarbeit“ betreffend an.

Roth hat sich jetzt unter dem vielversprechenden Titel Wie
die Integration der Flüchtlinge gelingen kann
in einem Gastbeitrag in der
FAZ zu Wort gemeldet. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist diese sicher von
vielen geteilte Diagnose:

»Ein großer Teil der Flüchtlinge wird dauerhaft bleiben oder
zumindest vorübergehend geduldet werden. Die wenigsten werden einen schnellen
Zugang zum Arbeitsmarkt finden. Wenn wir in der Integrationspolitik keine neuen
Wege gehen, werden Hunderttausende leistungsfähiger und leistungswilliger
Menschen über Jahre hinweg Leistungen aus den Sozialsystemen beziehen werden,
ohne sich selbst und der aufnehmenden Gemeinschaft helfen zu können.«

Damit sind natürlich erhebliche Kosten verbunden und man
kann nun versuchen, auf der Ausgabenseite Mittel einzusparen oder aber »auf der
Ertragsseite Wege … erschließen, dank derer die Zuwanderer ihren Hilfebedarf
aus eigener Kraft reduzieren und der aufnehmenden Gesellschaft etwas
zurückgeben können.« Der letzte Punkt ist sein konzeptioneller
Anknüpfungspunkt.

Und dass wir Handlungsbedarf haben, begründet Roth auch mit
Bezug auf Argumentationslinien, die in der Arbeitsmarktpolitik seit Jahrzehnten
vorgetragen werden, um Investitionen beispielsweise in öffentlich geförderte
Beschäftigung eines Teils der Arbeitslosen zu legitimieren:

»Aus sozialwissenschaftlicher Sicht ist außerdem zu
erwarten, dass eine anhaltende Untätigkeit der Flüchtlinge negative Folgen auf
deren Integrations- und Beschäftigungsfähigkeit hat. Anhaltende unfreiwillige
Untätigkeit wirkt sich negativ auf die psychische und physische Gesundheit der
Betroffenen aus und bewirkt Resignationseffekte … Studien zeigen darüber
hinaus signifikante Effekte auf Persönlichkeitsveränderungen, die einer
zukünftigen Beschäftigung entgegenstehen können.«

Man muss sich einfach mal jenseits aller sicherlich
hilfreichen Studien vorstellen, man wäre in ein fremdes Land geflüchtet, in
einer Sammelunterkunft untergebracht, Monate darauf wartend, überhaupt einen
Asylantrag stellen zu können, der dann noch bearbeitet werden muss. Und den
ganzen Tag nichts zu tun zu haben. Die Zeit totschlagen zu müssen. Man kann
sich selbst vorstellen, dass das ein nicht selten im wahrsten Sinne des Wortes
krank machendes Setting ist.
Deshalb muss man alles versuchen, um die Betroffenen so
schnell wie möglich in Beschäftigung zu integrieren, so die Argumentation von
Roth, der dann von „Integrationsarbeit“ spricht – auch, aber nicht nur, als »Möglichkeit,
die zermürbende und lähmende Zeit des untätigen Abwartens zu beenden«. Was soll
„Integrationsarbeit“ sein?

»Sie bietet arbeitsfähigen Flüchtlingen eine breite Palette
Tätigkeiten, erschließt ihnen unmittelbar sinnstiftende und
integrationsfördernde Arbeit im Dienste der sie aufnehmenden Gemeinschaft. Da
die Tätigkeiten der Integrationsarbeit im schlechtesten Fall kostenneutral für
die öffentlichen Haushalte sein sollen und bestenfalls sogar Ersparnisse oder
Einnahmen generieren, können alle arbeitsfähigen Flüchtlinge an solchen
Maßnahmen teilhaben. Im Kern geht es darum, den Betroffenen Tätigkeiten zu
eröffnen, in denen ein Wert geschaffen wird, für den auch eine
Zahlungsbereitschaft der Bevölkerung besteht. Da die Versorgung der Flüchtlinge
durch Sach- oder Geldleistungen im Rahmen des Asylbewerberleistungsgesetzes,
durch Arbeitslosengeld II oder Sozialhilfe gewährleistet wird, sollen die in
der Integrationsarbeit erwirtschafteten Leistungen und Entgelte prinzipiell
nicht den Teilnehmern persönlich, sondern der sie unterstützenden Gemeinschaft
zukommen.«

Nun könnte man an dieser Stelle einwerfen, dass das doch
auch mit den geplanten Arbeitsgelegenheiten (AGH) angestrebt wird, sogar mit
dem Unterschied, dass die Teilnehmer an den AGH noch eine
Mehraufwandsentschädigung von 80 Cent bekommen sollen, in dem Modell von Roth
sind die nicht vorgesehen. Aber der erste Blick täuscht, denn wie bereits in
dem kritischen
Beitrag vom 12.06.2016
dazu ausführlich dargelegt, leiden die
Arbeitsgelegenheiten als Instrument unter dem bestehenden restriktiven
Förderrecht mit seinen Anforderungen wie Zusätzlichkeit, öffentliches Interesse
und vor allem der Wettbewerbsneutralität.
Genau diese seit vielen Jahren in der
arbeitsmarktpolitischen Fachdiskussion zu Recht kritisierten Begrenzungen mit
ihren teilweise kontraproduktiven Effekten auf eine echte
Arbeitsmarktintegration werden auch von Steffen J. Roth aufgegriffen und in
Frage gestellt.
Dazu trägt er in seinem Beitrag einen interessanten
Gedankengang vor, der darauf abstellt, in welchen Blockaden wir uns derzeit
bewegen:

»Nehmen wir an, ein Flüchtling erfährt die Hilfsbereitschaft
einer Anwohnerin seiner Unterkunft, die ihn ehrenamtlich bei Behördengängen und
beim Erwerb der deutschen Sprache unterstützt. Nehmen wir weiterhin an, dieser
Flüchtling würde bei einem Spaziergang bemerken, wie sich ebenjene hilfsbereite
Person mit schweren Einkaufstaschen abmüht. Er entscheidet ohne zu zögern, der
Frau zu helfen, und bringt ihren Einkauf nach Hause. Sie bedankt sich
freundlich, bietet ihm einen Tee an, man unterhält sich. Im Gespräch erfährt
der Flüchtling, dass es der Frau schwerfällt, den Rasen zu mähen. Er bietet an,
diese Arbeit zu übernehmen. Die Frau willigt ein und freut sich zu beobachten,
wie emsig der junge Mann die Aufgabe erledigt. Bei der Verabschiedung drückt
ihm die Frau zehn Euro in die Hand. Der junge Mann lehnt höflich ab.
Schließlich wollte er sich für die zuvor erfahrene Hilfsbereitschaft
erkenntlich zeigen. Die Frau wiederum will die Tatkraft des jungen Mannes nicht
ausnutzen. Die beiden einigen sich schließlich darauf, dass die Frau die zehn
Euro dem Flüchtlingsnetzwerk vor Ort spenden wird.«

Und genau an dieser Stelle der bis hierher schönen
Geschichte betreten die bekannten Einwände die Bühne des Geschehens:

»Ein unromantisch-kritischer Geist wird … mahnend auf
eventuelle unerwünschte gesellschaftliche Folgen aufmerksam machen: Wieso
unterrichtet die Anwohnerin Deutsch und hilft bei Behördengängen? Verdrängt
solche ehrenamtliche Tätigkeit nicht professionelle Deutschlehrer und Anwälte
oder Sozialarbeiter? Und kann die Anwohnerin diese Tätigkeiten überhaupt auf
einem ausreichend hohen Niveau ausüben? Welche Folgen hat es, wenn der
Flüchtling der Frau beim Einkauf oder Rasenmähen hilft? Schließlich bietet der
örtliche Supermarkt einen kostenpflichtigen Heimlieferservice an. Vom Angebot
kommerzieller Gärtner ganz zu schweigen. Wieso bietet die Frau dem jungen Mann
ein Entgelt an? So ein entgeltlicher Leistungsaustausch kann als Schwarzarbeit
und Sozialversicherungsbetrug angesehen werden. Wieso lehnt der Flüchtling das
angebotene Geld ab? Unterwirft er sich nicht menschenunwürdig, wenn er
unentgeltlich arbeitet, und drückt er nicht das allgemeine Lohnniveau?«

Bei den Arbeitsgelegenheiten (z.B. bei den nach § 16d SGB
II) hat man diese Einwände institutionalisiert in Form der einschränkenden
förderrechtlichen Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit die möglichen
„Kollisionen“ mit dem „normalen“ Arbeitsmarkt oder Verdrängungseffekte auf dem
Arbeitsmarkt der Kommunen verhindert oder zumindest vermieden werden sollen,
wofür man allerdings einen hohen Preis zu zahlen hat hinsichtlich der
Sinnhaftigkeit und der Werthaltigkeit der dann noch verbleibenden
Einsatzfelder. Das hat Konsequenzen, auch Roth kritisiert die am Beispiel der
geforderten „Zusätzlichkeit“ mit der Schlussfolgerung, diese bedinge »ein
systematisches Verbot produktiver Einsätze. Je mehr eine Arbeit wertgeschätzt
wird, umso weniger genügt sie dem gesetzgeberischen Anspruch.«
Er plädiert für eine ganz andere Sichtweise auf
Zusätzlichkeit:

»Zusätzlich im volkswirtschaftlichen Sinne wäre im Gegenteil
jede Arbeitsleistung, die der Gesellschaft einen höheren Nutzen stiftet, als
sie an Kosten verursacht … Je produktiver die Teilnehmer in ihrer Tätigkeit
sind, desto höher der Zusatznutzen für die Gemeinschaft. Aus
gesamtwirtschaftlicher Sicht verdrängen die Maßnahmenteilnehmer keine reguläre
Beschäftigung, sie ermöglichen zusätzliche Leistungen.«

Auch die im bestehenden Recht verankerte Begrenzung auf kommunale
und steuerrechtlich als gemeinnützig eingestufte Träger wird von ihm
kritisiert.
Wie will Roth nun seine – im Vergleich zu den heute gegebenen
Arbeitsgelegenheiten deutlich erweiterte – „Integrationsarbeit“ umsetzen? Er
greift dabei auf einen Ansatz zurück, den wir schon seit vielen Jahrzehnten
kennen, in der alten Welt der Bundesanstalt für Arbeit waren das beispielsweise
die „ABM-Ausschüsse“ und heute gibt es im SGB II die „örtlichen Beiräte“ (nach
§ 18d SGB II):

Er plädiert dafür, dass ein »kommunales Gremium aus lokalen
Vertretern der Politik, der Gewerkschaften, der Unternehmen, der Kammern und
der Arbeitsagenturen über die Einsatzmöglichkeiten der Flüchtlinge bestimmen.
Je nach Struktur der Kommune können weitere Interessenvertreter aufgenommen
werden. Deren Kenntnisse der lokalen Begebenheiten können genutzt werden, um
Bedarfe zu identifizieren, die durch den Einsatz von Flüchtlingen gedeckt
werden können, ohne größere Verwerfungen zu provozieren.«
Die Kommunen sollten möglichst freie Hand haben, wie sie die
Integrationsarbeit konkret umsetzen. »Die Akteure vor Ort werden dabei mit
Augenmaß vorgehen und erkennbare Beeinträchtigungen etablierter Unternehmen vor
Ort genauso vermeiden wie wiederholte Arbeitseinsätze bei denselben
Auftraggebern gegen zu geringe Verleihgebühren. Es kann vor Ort darüber
entschieden werden, ob die Teilnehmer zusätzliche Anreize in Form von
Zertifikaten zur Dokumentation ihrer Tätigkeiten sowie privilegierten oder über
Bildungsgutscheine subventionierten Zugang zu weiterführenden Sprachkursen
erhalten.«
Das klingt natürlich für den einen oder anderen reichlich
ungenau und wenig normiert, aber das ist auch in anderen Konzepten ein
wesentliches Element für einen möglichst flexiblen und nicht die Luft
abschnürenden Förderrahmen (vgl. dazu beispielsweise die Vorschläge in Stefan
Sell: Hilfe zur
Arbeit 2.0. Plädoyer für eine Wiederbelebung der §§ 18-20 BSHG (alt) in einem
SGB II (neu)
. Remagener Beiträge zur Sozialpolitik 19-2016, Remagen 2016).

Aus einer systematischen Sicht wäre das zu ergänzen um die
grundsätzliche Frage nach der Sinnhaftigkeit der bestehenden institutionellen
Vielgestaltigkeit der Zuständigkeiten für Flüchtlinge, Asylbewerber,
Asylberechtigte, Geduldete usw. Dazu bereits mein Hinweis in dem Beitrag vom
12.06.2016: »Am Ende landen die meisten Flüchtlinge alle im Hartz IV-System,
also im Rechtskreis des SGB II, außer sie können sich als anerkannte
Asylbewerber auf dem Arbeitsmarkt alleine finanzieren, was einigen, sicher in
den nächsten Jahren aber nicht vielen gelingen wird. Warum also nicht die
Jobcenter von Anfang an für die arbeitsmarktliche Betreuung und Begleitung der
Flüchtlinge zuständig machen? Das wäre konsequent und man vermeidet die
zahlreichen Probleme, die sich allein aus dem Rechtskreiswechsel und der heute
schon vorhandenen und nun auch noch auszubauenden Teil-Zuständigkeit der BA mit
ihren Arbeitsagenturen ergeben.«
Und warum das so wichtig ist, dass man flexible und nicht zu
detailliert ausgestaltete Regelungen braucht, kann man auch an einem anderen,
benachbarten Beispiel aus dem großen Themenfeld Integration von Flüchtlingen in
Arbeit besichtigen. Konkret geht es um die Ermöglichung und Absicherung des
Zugangs von Flüchtlingen zu einer gerade auf dem deutschen Arbeitsmarkt so
wichtigen Berufsausbildung. Das geplante Integrationsgesetz der Bundesregierung
geht hier offensichtlich in die von vielen geforderte Richtung: Asylbewerber,
die bald nach ihrer Ankunft eine Berufsausbildung beginnen, sollen nicht durch
eine Abschiebung aus der Ausbildung herausgerissen werden. So hatten es
Wirtschaftsvertreter immer wieder gefordert, und so sieht es das geplante neue
Integrationsgesetz nun auch im Grundsatz vor. Denn ansonsten wären viele
Betriebe nicht bereit, Asylbewerber auszubilden, bevor ihre Bleibeperspektive
rechtssicher geklärt ist. Hinzu kommt: Wer erfolgreich seine Prüfung macht,
soll noch für zwei Jahre hierzulande in seinem Ausbildungsberuf arbeiten
dürfen. So positiv beginnt der Artikel Streit
über Abschiebeschutz für Lehrlinge
, dessen Überschrift aber schon andeutet,
dass es dann doch nicht so einfach kommt wie gedacht:

»Gewerkschaften, Arbeitgeber und Grüne halten die geplante
Neuregelung für nicht praxistauglich und fordern daher eine Nachbesserung. Sie
sieht vor, dass betroffene Lehrlinge unabhängig vom Grund des
Ausbildungsabbruchs sofort abgeschoben werden. Betriebe müssen den Abbruch der
Ausländerbehörde melden. Falls sie dies versäumen, droht ihnen ein Bußgeld von
30.000 Euro.«

Das grundsätzliche Problem lässt sich hier leicht erkennen:
Wenn man regelt, dass eigentlich aus anderen Gründen abzuschiebende Personen,
weil sie eine Ausbildung machen, nicht abgeschoben werden dürfen, stellt sich
sogleich die Folgefrage, wie denn mit dem Fall umgegangen werden soll, dass der
Betroffene die Ausbildung abbricht und damit der eigentliche Schutzgrund
wegfällt.
Die Arbeitgeber halten grundsätzlich eine Meldepflicht als
Vorkehrung gegen einen möglichen Missbrauch des Abschiebeschutzes für Auszubildende
für nachvollziehbar, stören sich aber an der im Gesetzentwurf vorgesehenen
Bußgeldandrohung. Eine bußgeldbewehrte Meldepflicht der Betriebe hingegen werde
das Verhältnis zwischen Ausbilder und Lehrling unnötig belasten und von einer
Ausbildung von Asylbewerbern und Geduldeten abschrecken.
Auch der DGB verneint nicht grundsätzlich, dass ein
Ausbildungsabbruch auch Folgen für den Abschiebeschutz haben solle, weist aber
darauf hin:

»Mit der geplanten Regelung werde aber nicht ausreichend
berücksichtigt, dass „ein Abbruch der Ausbildung häufig aufgrund schlechter
Bedingungen oder mangelnder Ausbildungsqualität erfolgt“. Deswegen sei
zumindest klarzustellen, dass sich ein Wechsel in einen anderen
Ausbildungsbetrieb nicht negativ auf die Duldung auswirke.«

Die arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Grünen im
Bundestag, Brigitte Pothmer, wird mit dem Vorschlag zitiert, »Abbrechern eine
Frist von sechs Monaten einzuräumen, in denen sie sich um eine Ersatzausbildung
bemühen können. Pothmer weist darauf hin, dass schon bisher jede vierte
Berufsausbildung vorzeitig ende – aus vielfältigen Gründen, die auch mit dem
Ausbildungsbetrieb und der Berufswahl zu tun haben könnten.«
Dieses Beispiel zeigt erneut, dass der Teufel im Detail
versteckt ist und je genauer man bestimmte Fallkonstellationen zu regeln
versucht, um so mehr Folgeprobleme tun sich auf. Am 20. Juni 2016 wird es im
Bundestag eine Anhörung zum Integrationsgesetzentwurf geben und man darf
gespannt sein, ob man das beschriebene Problem einer Lösung und wenn ja,
welcher, zuführen kann.