Das große Vergessen: Alzheimer in unserer Gesellschaft – und auch in der Politik

115 Millionen Demenzkranke, 277 Millionen Pflegebedürftige: So sieht die Prognose des Welt-Alzheimer-Berichts für 2050 aus. Trotz dieser Perspektiven sehen die Autoren kaum ein Land der Welt für die düstere Zukunft gewappnet – das ist einer der Botschaften des „World Alzheimer Report 2013„, der neueste Bericht der Alzheimer’s Disease International (ADI), ein Zusammenschluss von 79 nationalen Gesellschaften. Bis 2050 soll sich die Zahl der Demenzkranken mehr als verdreifachen – auf 115 Millionen Menschen. Bereits heute zählen die Experten 35 Millionen Betroffene weltweit. Allein in Deutschland leben zurzeit rund 1,4 Millionen Menschen mit einer Demenz. Auch die Deutsche Alzheimer Gesellschaft geht von einer Verdreifachung aus. 2050 sollen hierzulande drei Millionen Betroffene leben, von denen rund jeder Dritte mehr als 90 Jahre alt sein wird, berichtet „Spiegel Online“. Es sei anzunehmen, dass auch künftig rund die Hälfte der Pflegebedürftigen mit steigendem Alter eine Demenz entwickele – darunter bis zu 80 Prozent der Bewohner von Alten- und Pflegeheimen, heißt es im World Alzheimer Report. In Deutschland liegt die Quote in Altenpflegeheimen heute bei rund 60 Prozent.

Die mit der prognostizierten Zunahme verbundenen Herausforderungen für das an sich schon strapazierte Pflegesystem liegen auf der Hand: Menschen mit Demenz brauchen deutlich mehr Betreuung und Zuwendung. Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft weist mit Blick auf die Lage in Deutschland darauf hin, dass – noch – zwei Drittel der Demenzkranken zu Hause betreut werden, was aber erwartbar weniger werden wird angesichts der gesellschaftlichen Veränderungen.

Das sind erst einmal abstrakte Zahlen, die vielen nicht nahe kommen werden. Deshalb sei an dieser Stelle ein Artikel empfohlen, der in der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht worden ist: „Erst suchen sie nur nach dem Schlüssel, am Ende verstehen sie die Welt nicht mehr: Alzheimer-Patienten verlieren ihr Ich – ein Schicksal, das mittlerweile jedem Vierten bevorsteht. Dennoch will sich niemand mit dem Thema auseinandersetzen“, kann man in dem Beitrag „Nächste Haltestelle: Vergessen“ lesen. Daraus einige Zitate:

»Normalerweise werden desorientierte Menschen, die häufiger fortlaufen und sich dadurch selbst gefährden, hierzulande in geschlossenen Abteilungen untergebracht. Das Fritz-Rupprecht-Heim in Fürth, wo die unter Anleitung einer Fachkraft in Erinnerungen schwelgende Damenrunde zu Hause ist, geht einen anderen Weg: Die Franken haben einfach das komplette Gelände umfriedet. Viele kleine Hilfsmittel sorgen dafür, dass die Bewohner sich orientieren können und immer wieder an zentrale Orte zurückgelotst werden … Den Gesundheitszustand der Betroffenen verbessere dies spürbar. „Wir haben weniger Fixierungen, weniger Medikation, weniger Appetitlosigkeit, unsere Leute sind ruhiger und ausgeglichener“«, so wird der Heimleiter Udo Weißfloch in dem Artikel zitiert.

Eine wirksame Behandlung gibt es für Alzheimer nicht. Medikamente können höchstens den Zustand für eine kurze Zeit – wenige Monate, maximal ein Jahr – erhalten.

»Allerdings bekommt nur jeder dritte bis vierte Patient diese Medikamente, weil die Diagnose aufwendig ist und so mancher Arzt die oft hochbetagten Patienten vorzeitig aufgibt. Während bei den 65- bis 69-Jährigen weniger als zwei Prozent der Bevölkerung von einer Demenzerkrankung betroffen sind, sind es bei den über 90-Jährigen rund 40 Prozent. Pro Jahr sei in Deutschland mit knapp 300.000 Neuerkrankungen zu rechnen, fasst Horst Bickel von der Technischen Universität München den Forschungsstand zusammen.«

Zwei Drittel aller Demenz-Patienten leiden an Alzheimer. Die Betreuung eines Dementen ist ein 24-Stunden-Job und belastend – zumal Alzheimer häufig mit großer Unruhe und ständigem Umherlaufen einhergeht, sich aber auch in Aggressivität entladen kann – eine Über-Forderung gerade für die pflegenden Familienangehörigen.

Die große Unruhe und das ständige Umherlaufen sind von besonderer Bedeutung auch und gerade für andere Bereiche des Gesundheitssystems:

»Beides macht auch dann große Schwierigkeiten, wenn Betroffene wegen einer anderen Erkrankung in eine Klinik müssen – sie sind dort störende Fremdkörper in einem immer effizienter werdenden Hochleistungsbetrieb.«

Experten plädieren für mehr Akzeptanz und Toleranz gegenüber dem Älterwerden an sich und der Demenz im Besonderen. „Was es braucht, ist mehr Geduld, mehr Zeit, ein Sich-Einlassen auf den Menschen, der sich verändert.“
Ein schöner und wichtiger Satz – aber seien wir ehrlich: Für viele wird er aus der Zeit gefallen daherkommen, denn er stößt sich an vielen Ecken der modernen, mobilen Hochgeschwindigkeits- und Hochleistungsgesellschaft.

Vielleicht – sicher aber nicht nur – deswegen war diese Thema ein Nicht-Thema im nunmehr auslaufenden Wahlkampf. Oder wie es mal ein Politiker und vier Augen sagte: Mit diesem „Verliererthema“ kann man keine Wahl gewinnen.
Aber sich in Luft auflösen – diesen Gefallen werden die Betroffenen der Politik nicht machen.

„Die“ Pflege mal wieder … Von Betrug und fehlender Kontrolle hin zu der eigentlichen Frage: Wie sichert man gute Pflege, wenn man sie überhaupt bekommt?

Eine gelungene Vorlage für die vielen Medien, die gerne mit skandalisierenden Headlines das eigene Publikum versorgen: Die Antikorruptionsorganisation Transparency International Deutschland hat die Studie „Transparenzmängel, Betrug und Korruption im Bereich der Pflege und Betreuung“ in Berlin vorgestellt. Die Schwachstellen-Analyse stellt erhebliche Mängel fest: zu wenig Transparenz und Kontrollmöglichkeiten für die Betroffenen und jede Menge Möglichkeiten, die Abhängigkeit von Menschen mit Pflegebedarf wirtschaftlich auszubeuten.

„Die Vielzahl der Akteure und der gesetzlichen und Verwaltungsvorschriften macht es schwierig, Verantwortlichkeiten eindeutig zuzuordnen. Dadurch entstehen Einfallstore für Betrug und Korruption“, so wird Barbara Stolterfoht, Co-Autorin der Studie zitiert.

Entsprechend sind viele Berichte überschrieben: „Transparency legt Betrugsmaschen der Pflegebranche offen“ oder „Markt statt Ethik„, um nur zwei zu zitieren. So können wir bei Spiegel Online lesen:

»Die für die Untersuchung geführten Expertengespräche haben Transparency zufolge gängige Betrugsmaschen offengelegt, die sich aus den Milliardenausgaben für die soziale Pflegeversicherung speisten. Als Beispiel nannte die Organisation Fälle, in denen Ärzte von Pflegediensten Honorare für die Überweisung von Patienten erhielten. Auch „verkauften“ Pflegedienste lukrative Patienten an andere Pflegedienste. Weitere Fälle betrafen Sanitätshäuser, die an Heimleiter spendeten. Damit wollten sie sicherstellen, dass die Heimbewohner Rollatoren, orthopädische Schuhe oder sonstige Hilfsmittel aus ihrem Geschäft beziehen. Zudem soll es bei der Entscheidung über Pflegestufen vorgekommen sein, dass die zuständigen Mitarbeiter des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung ein „Kopfgeld“ erhielten – wenn sie bei der Einstufung möglichst restriktiv vorgingen. Damit würden die Ausgaben der Pflegeversicherung gesenkt, heißt es in der Studie weiter.«

Thorsten Denkler beschreibt in der Süddeutschen Zeitung, über was wir hier reden: »In der Pflege sind Milliarden zu holen. Allein die gesetzliche Pflegeversicherung gibt jedes Jahr weit über 20 Milliarden Euro aus. Etwa die gleiche Summe kommt aus den Töpfen privater Versicherer, der Angehörigen und den Sozialämtern, die die Pflege für Bedürftige bezahlen müssen. Für die über 2,5 Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland arbeiten heute gut eine Million Menschen als Pflegekräfte oder in der Verwaltung. Mehr als in der Automobilindustrie. Allerdings zu weit geringeren Löhnen.«

Konkret beklagt Transparency die mangelnde Kontrolle der Heimbetreiber, da es keine bundesweite Kontrolle geben würde. Interessant ist die folgende Formulierung im Beitrag von Denker:
»Die kriminelle Energie einiger Heimbetreiber kennt kaum Grenzen. Um etwa die Unterbringungskosten künstlich in die Höhe zu schrauben, wird das Heim-Gebäude einfach an einen Dritten verkauft und für viel Geld zurückgemietet. Die höheren Kosten werden den Patienten aufgebürdet. Idealerweise ist das dritte Unternehmen mit dem Pflegebetrieb geschäftlich verbunden. Am Ende bleibt dem Betreiber mehr Geld in der Kasse. Auf Kosten der Patienten.« Man muss sich allerdings an dieser Stelle fragen – ist das jetzt „kriminelle Energie“ oder sind das nicht eher typische Verhaltensweisen auf einem „Markt“? Wobei die Beantwortung dieser Frage in Richtung „Markt“ auf die eigentlichen Problematik in diesem Bereich hinführt, wo es um die Sorge-Arbeit mit nur sehr eingeschränkt oder gar nicht mehr beurteilungsfähigen Menschen geht.

Transparency fordert, ein deutschlandweites Register über Verstöße von Heimbetreibern einzurichten und die Sanktionsmöglichkeiten der Sozialämter zu erleichtern. Außerdem müssten Behörden die wirtschaftliche Zuverlässigkeit und fachliche Qualität von Pflegediensten durch „regelmäßige unangemeldete Kontrollen sowohl im stationären als auch im ambulanten Bereich“ überprüfen. Da stellt sich natürlich die Frage: Haben wir das nicht schon? Gibt es nicht den „Pflege-TÜV„, der diese Prüfung sowohl der stationären und der ambulanten Pflegedienste gewährleisten soll? Und gibt es nicht die Heimaufsicht? Da sind wir mit dem „Pflege-TÜV“ schon bei der nächsten Baustelle, denn parallel zur Veröffentlichung der Studie von Transparency Deutschland wurde bekannt, dass es nach zähen Verhandlungen zu einer „Reform“ des Systems der Pflegebenotung kommen soll.
»Pflegekassen und Heimbetreiber hatten sich nach dreijährigen Verhandlungen bereits im Juni in einer Schiedsstelle geeinigt. Ende vergangener Woche lief die Widerspruchsfrist ab. „Jetzt wird der Schiedsspruch ausformuliert und veröffentlicht“, hieß es in Verhandlungskreisen.

Der 2009 eingeführte Pflege-TÜV bewertet über 10.400 Pflegedienste und Pflegeheime in Deutschland wie in der Schule von „sehr gut“ bis „mangelhaft“ – und stellt die Noten ins Internet. Allerdings kritisieren Politiker, Patientenvertreter und Experten seit langem, dass der TÜV ein geschöntes Bild zeige. Es kämen zu viele Bestnoten heraus.

Schlechte Heime können sehr gute Noten bekommen, obwohl sie in wichtigen Kriterien wie Vorbeugung gegen das gefürchtete Wundliegen oder Medikamentenversorgung mangelhaft abschneiden. Das liegt daran, dass die endgültige Pflegenote aus Dutzenden Kriterien errechnet wird, die alle gleich stark gewichtet werden«, so der Beitrag „Pflege-TÜV wird verschärft„. Künftig sollen unter den bisher 82 Kriterien für die Bewertung eines Heims die Ergebnisse in den 21 zentralsten Punkten im Internet besonders hervorgehoben werden. Darunter die Frage, ob es in einem Heim Vorbeugung gegen Wundliegen gibt, ob die Flüssigkeitsversorgung angemessen ist und die Notwendigkeit von freiheitseinschränkenden Maßnahmen regelmäßig überprüft wird. Die Krankenkassen konnten sich aber nicht mit der Forderung durchsetzen, dass diese Kriterien bei der Benotung eines Heims stärker gewichtet werden. Andere Kriterien sollen künftig nicht mehr aufgeführt werden, etwa ob es „jahreszeitliche Feste“ gibt. Außerdem wird bei mehr Bewohnern als bisher die Pflege überprüft, vor allem bei mehr schweren Fällen der Pflegestufe drei. Auch sollen die Noten wegen geänderter Berechnung etwas schlechter ausfallen können. Einrichtungen, die heute mit 1,4 abschneiden, sollen etwa eher eine gute 2 bekommen, so der Bericht „Pflege-TÜV prüft alles außer Pflege„.

Trotz heftigster Kritik von allen Seiten hat es also drei Jahre gedauert, bis sich Pflegekassen und Heimbetreiber dieser Tage auf eine sehr bescheidene Nachbesserung des so genannten Pflege-TÜVs einigen konnten. Eine grundsätzliche Infragestellung dieses Instrumentariums ist damit nicht verbunden.  Man kann durchaus von einem „faulen Kompromiss“ sprechen.

Die eigentliche Frage muss doch lauten: Ist dieses Instrument einer formalen, punktuellen Überprüfung wirklich geeignet, die Pflegequalität zu sichern? Es handelt sich hier um ein höchst komplexes Feld der Sorge-Arbeit mit Menschen, 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr. Entscheidend sind die täglichen Abläufe und die Haltung der Menschen, die diese Sorge-Arbeit zu machen haben. So notwendig externe Kontrollen sind und auch in Zukunft bleiben werden – sie können niemals eine innere Qualitätsentwicklung ersetzen, die aber – das sei hier besonders betont – nicht sogleich deformiert werden darf durch die wieder von außen determinierte Ausrichtung des Systems und der in diesem arbeitenden Menschen auf formale Kriterien, die dann möglichst gut zu dokumentieren sind, was wieder enorme Ressourcen bindet, die bei den eigentlichen Kernprozessen in der Pflege fehlen. Und Kontrolle entfaltet dann ihre besondere Schlag- und Wirkkraft, wenn sie in der täglichen Praxis erfolgt seitens der Menschen, die als Angehörige oder als Quartiersbewohner in die Heime kommen. Es geht also um die Herstellung einer umfassenden Verantwortungsgemeinschaft vor Ort, so dass die Öffnung der Heime gegenüber dem Sozialraum, in dem sie angesiedelt sind, ein entscheidendes und eigenständiges Qualitätsmerkmal darstellt.

In diesem Zusammenhang muss dann aber auch auf eine gewisse Unwucht der öffentliche Wahrnehmung und Diskussion hingewiesen werden: Immer wieder werden angebliche und tatsächliche Missstände in den Heimen angeprangert, schon viel weniger die Situation in der ambulanten oder erst recht der häuslichen Pflege, wo natürlich ebenfalls vieles nicht gut läuft. Auch die immer stärker expandierenden Wohngemeinschaften verschwinden gerade in einem „schwarzen Loch“ der Nicht-Beachtung und Nicht-Zuständigkeit. Die Heimaufsicht? Der MDK? Wer kümmert sich genau um diese „Mini-Heime light“?

Und auch die von Transparency beschriebenen Ausformungen „marktlogischen“ bis hin zu betrügerischem Verhalten in der ambulanten Pflege – dass beispielsweise Leistungen abgerechnet werden, die gar nicht erbracht worden sind – hängt doch nicht nur an der Schlechtigkeit der beteiligten Akteure, sondern hat zumindest strukturelle Treiber, so ein Finanzierungssystem, das auf abrechenbare Einzelleistungen basiert und Pflege konsequent zu einer Minutenpflege zerstückelt. Man darf sich nicht wundern, wenn sich die Menschen dann der damit verbundenen Logik anpassen. Hier würde beispielsweise der Blick in andere Länder und Systeme helfen, so in die Niederlande, um nur einen Hinweis anzudeuten.

Und natürlich muss man bei der ganzen Debatte auch sehen, dass es sich bei der Pflege und Betreuung eben um personenbezogene soziale Dienstleistungen handelt, die nur marginal oder oftmals gar nicht einer Rationalisierung und damit einer Produktivitätssteigerung unterworfen werden können. Insofern ist die Personalfrage eine entscheidende – und bereits heute knirscht es gewaltig und der Fachkräftemangel beginnt sich immer stärker auszuprägen. Die hinreichende Ausstattung mit Personal wird sicher die Kardinalfrage im System. »Die Arbeitgeber fordern 50 000 zusätzliche Stellen in der Pflege. Bis Ende 2014 sollen – wie einst schon von der Politik geplant – 25 000 Helfer zu Fachkräften qualifiziert werden. Die Hilfskräfte hätten oft jahrelange Berufserfahrung, würden Abläufe kennen und seien motiviert, sagte Arbeitgeberpräsident Greiner. Er verlangt außerdem 25 000 zusätzliche Betreuer für Demenzkranke – also Helfer die sich etwa durch Spaziergänge oder Vorlesen mit Altersverwirrten beschäftigen. Die Betreuer sollten den Mindestlohn beziehen, den auch die Helfer bekommen (derzeit acht Euro Bruttostundenlohn im Osten, neun im Westen). Das wären rund 500 Millionen Euro im Jahr, die wohl aus dem Bundeshaushalt kommen müssten«, so  Hannes Heine und Rainer Woratschka in ihrem Beitrag „Das Dilemma mit der fremden Hilfe„.

Die neue Studie von Transparency Deutschland beleuchtet – und das sei abschließend noch angeführt – noch einen weiteren wichtigen Bereich: Untersucht wurde der Bereich der rechtlichen Betreuung – eine echte „Boombranche“:

»Die Zahl rechtlicher Betreuungen ist von 420.000 (1992) auf rund 1,3 Millionen (2008) gestiegen; zugleich stiegen die Kosten von fünf Millionen Euro auf 640 Millionen. Für die selbstständige Tätigkeit als Berufsbetreuer gibt es keine berufsrechtlich definierten Zugangskriterien. Die Berufsbetreuer unterstehen lediglich der gerichtlichen Kontrolle durch Rechtspfleger. Ein Rechtspfleger ist im Durchschnitt für die Aufsicht von fast 1.000 Verfahren zuständig. Die Einfallstore für Betrug und Korruption sind im Lauf einer Betreuung vielfältig, wie zum Beispiel bei der Haushaltsauflösung, abzuwickelnden Immobiliengeschäften oder der Vermögensverwaltung.«

Transparency Deutschland fordert im Bereich der rechtlichen Betreuung:

  • Die Aufsicht und Kontrolle im Bereich der rechtlichen Betreuung ist erheblich zu stärken, auch durch zusätzliche Personalressourcen im Bereich der Rechtspflege.
  • In den Amtsgerichtsbezirken sind Register für Berufsbetreuer sowie Datenbanken zum amtsgerichtsübergreifenden Abgleich der berufsbetreuerbezogenen Fallzahlen, aber auch zu Beschwerden und Verstößen einzurichten. 
  • Bei gerichtlicher Anordnung der Ermittlung des Vermögens von zu Betreuenden ist diese Aufgabe von der laufenden Betreuung zu trennen und durch die Rechtspfleger durchzuführen. Das Vier-Augen-Prinzip von Betreuer und Rechtspfleger ist strikt anzuwenden und eine genaue Dokumentation zum Prozess der Ermittlung zu erstellen.
  • Berufsbetreuer sind nach dem Verpflichtungsgesetz zu verpflichten. Damit würden sie als Amtsträger den strengen strafrechtlichen Regeln der Vorteilsannahme und Vorteilsgewährung unterworfen.

Diese Forderungen sind richtig und sollten unterstützt werden.

Im Schneckentempo durch ein gesellschaftspolitisches Minenfeld: Pflegepolitik im Dickicht der Expertenbeiräte, wohlfeiler Forderungen und den Niederungen ihrer Realität

In den Anfangszeiten des Internets wurde „www“ gerne auch mal übersetzt mit „warten, warten, weiterwarten“. Mit Blick auf die deutsche Pflegepolitik könnte man dies abwandeln in „warten, weiterwarten, Pflegereform“, wobei an dieser Stelle darauf Wert gelegt wird, dass Reform hier in seinem ursprünglichen Sinne verstanden wird, also als eine Verbesserung eines Handlungsfeldes, nicht als Abbau sozialstaatlicher Leistungen, was mittlerweile aber leider die vorherrschende Verständnisvariante von „Reform“ in der Sozialpolitik geworden ist.

Nehmen wir als Beispiel das – es lässt sich leider nicht in weniger drastischen Worten formulieren – „Gewürge“ um eine Weiterentwicklung des von allen Seiten als defizitär und kontraproduktiv gebrandmarkten Pflegebedürftigkeitsbegriffs als Grundlage für Leistungen nach dem SGB XI, also der Pflegeversicherung. Bereits die damalige Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) hatte noch zu Zeiten der Großen Koalition die Erarbeitung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs bei einem dafür eingesetzten Pflegebeirat in Auftrag gegeben. Im Jahr 2009 hatte dann dieser Pflegebeirat, damals noch unter dem Vorsitz von Dr. Jürgen Gohde, einen ersten Bericht veröffentlicht (im Januar 2009 den Abschlussbericht und im Mai 2009 einen Umsetzungsbericht).

Leider in einem Jahr, in dem eine Bundestagswahl stattgefunden hat, was dann dazu führte, dass man die Umsetzung auf die sich anschließende Legislaturperiode verschoben hat. Das nun war die derzeit gerade zu Ende gehende Legislaturperiode der schwarz-gelben Koalition, die am Anfang ihrer Regierungszeit ja eigentlich die Ergebnisse des Pflegebeirats hätte umsetzen sollen. Statt das zu tun, wurde ein neuer Pflegebeirat berufen mit dem gleichen Arbeitsauftrag wie der erste. Der bisherige Vorsitzende des Gremiums, Jürgen Gohde, lehnte nach einigen Gesprächen die Übernahme des Vorsitzes des neu-alten Gremiums ab, war ihm doch schnell klar geworden, dass hier erneut hinsichtlich der dringend notwendigen Reform der Pflegeversicherung auf Zeit gespielt werden sollte, um gerade nichts tun zu müssen, weil man immer auf den Beirat verweisen konnte. Insofern war es auch „konsequent“, dass der neue „Expertenbeirat zur konkreten Ausgestaltung eines neuen Pflegebedürftig­keitsbegriffs“ erst im Frühjahr 2012 seine Arbeit aufnehmen konnte – wohl wissend, dass damit die Ergebnisse des Gremiums genau in dem nächsten Wahljahr veröffentlicht werden, so dass man erneut die konkrete Umsetzung von was auch immer in die dann kommende Legislatur verschieben kann. So ist es ja jetzt auch gekommen.

Nach vielen Querelen wurde Ende Juni 2013 der „Bericht des Expertenbeirats zur konkreten Ausgestaltung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs“ vom Bundesgesundheitsministerium veröffentlicht – begleitet von viel Kritik vor allem angesichts der relativen Unverbindlichkeit der finanziellen Konsequenzen der Vorschläge, was aber vom Gremium mit den fehlenden Vorgaben über den finanziellen Rahmen für eine Reform seitens der Politik begründet wurde. Abkehr von der Minutenpflege und dem engen Verrichtungsbezug, fünf Pflegegrade statt bislang drei Pflegestufen, so wichtige inhaltlich Punkte. Vor allem sollen künftig kognitiv und psychisch beeinträchtigte Menschen noch stärker von Pflegeleistungen profitieren als heute.

»Inoffiziell empfiehlt der Beirat, mindestens zwei Milliarden Euro im Jahr mehr ins System zu stecken. Im Bericht taucht diese Zahl nicht auf«, so Sunna Gieseke in ihrem Artikel „Die Krux mit den zwei Milliarden„. Wobei man diese zwei Milliarden Euro eher als eine untere Untergrenze zu verstehen ist: »Wenn mit der Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs viele besser und niemand schlechtergestellt werden solle, koste das Berechnungen des Pflegebeirats von 2009 etwa 4,2 Milliarden Euro im Jahr mehr«, so wird in dem Artikel SPD-Politikerin Hilde Mattheis zitiert. Jetzt ahnt man auch schon, warum viele in der Politik kalte Füße bekommen, wenn es um solche und dann auch noch zusätzlich zu mobilisierenden Beträge geht.

Insgesamt ist das also angesichts der erheblichen Probleme in der pflegerischen Versorgung der Menschen eine wunderbare Vorlage in Zeiten des Wahlkampfs – man muss an dieser Stelle aber sofort ein „eigentlich“ einfügen: Eigentlich eine gute Vorlage, wenn man denn mit diesem Thema punkten könnte. Aber man kann es drehen und wenden wie man will – obgleich Millionen Menschen und ihre Familie von Pflege betroffen sind in ihren unterschiedlichen Konfigurationen, eiern viele Politiker um dieses Themenfeld herum, als handelt es sich um ein Minenfeld, das man meiden sollte. Ehrliche Politiker sagen einem auch – wie heißt das heute neudeutsch: off-the-record – warum: Weil man mit Pflege angesichts der Komplexität der dort relevanten Fragen und vor allem angesichts der eigentlich erforderlichen (und dann auch zu finanzierenden) Ressourcen angesichts der Begrenzungen der Handlungsspielräume keine großen Blumentöpfe gewinnen kann, weil die oftmals berechtigten Forderungen aus dem Alltag immer größer sein werden als das, was die Politik real zu gestalten in der Lage zu sein scheint, um das mal etwas umständlich zu formulieren. Ein Politiker hat das mal auf den Punkt gebracht, als er sagte: Pflege ist ein „Verliererthema“, da kann man als Politiker nur verlieren.

Auch wenn es dem einen oder der anderen in der Politik nicht zusagt – damit erledigen sich ja nicht die realen Probleme und die zunehmende Zahl an Berichten über „Pflegemissstände“ oder „Pflegenotstand“ mag als Indiz angeführt werden, dass der Problemdruck im System steigt. Man muss an dieser Stelle in aller Deutlichkeit darauf hinweisen, dass das nicht nur Probleme sind, die den stationären Altenpflegebereich betreffen, obgleich die Heime immer im Mittelpunkt der Berichterstattung stehen – dort finden sich eben am ehesten die Beispiele, während über die Probleme im ambulanten und erst recht im häuslich-privaten Pflegebereich schlichtweg schwieriger zu berichten ist, was aber nicht heißt, dass dort keine oder deutlich weniger Probleme vorhanden sind.

Aber zurück zum Wahlkampf. Trotz der einschränkenden Ausführungen über das „Verliererthema“ Pflege hat sich die SPD in Person ihres Kanzlerkandidaten Steinbrück dem Thema angenommen und recht konkrete Forderungen formuliert: „Mehr Geld für mehr Pflegekräfte„, so Guido Bohsem in der Süddeutschen Zeitung. Anlass dafür ist der Versuch eines Schulterschlusses zwischen der SPD und der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di. Beide kritisieren, dass sich Schwarz-Gelb bisher nicht zu einer Reform der Pflegeversicherung durchgerungen hat. Das will Kanzler-Kandidat Steinbrück jetzt nachholen. Der Gewerkschaft ver.di geht es vor allem die Bezahlung der Pflegekräfte: Die Löhne müssten zwischen zehn und zwanzig Prozent steigen, um die in den kommenden Jahren benötigte Zahl an Fachkräften anzulocken, so ver.di-Chef Frank Bsirske. Laut Bsirske verdienen Pflegefachkräfte derzeit im Durchschnitt etwa 2.130 Euro im Monat. In der Krankenpflege lägen die Gehälter etwa 200 Euro höher. Die SPD fordert zusätzlich 125.000 Mitarbeiter für die Betreuung pflegebedürftiger Menschen zu gewinnen. Nun ist schon ein höhere Bezahlung ein heißes Eisen in diesem Bereich, aber auch wenn man die in der Pflege arbeitenden Menschen besser vergüten würde, man müsste erst einmal 125.000 zusätzliche Fachkräfte finden – nach allem, was wir bereits derzeit im System sehen, gibt es diese zusätzliche Zahl an Fachkräften gar nicht. Insofern ist es richtig und wichtig, dass der SPD-Kanzlerkandidat Steinbrück auch und gerade die Ausbildung anspricht und dabei auf eine leider nur scheinbare Skurrilität hinweist – dass man trotz des doch von allen Seiten beschworenen Bedarfs an Fachkräften für die Ausbildung in der Altenpflege meistens sogar noch Geld mitbringen soll. In dem Artikel wird Steinbrück mit den Worten zitiert, »dass er das bislang fällige Schulgeld für die Ausbildung der Pflegekräfte abschaffen wolle. Es sei ein Skandal, dass die Azubis auch noch Geld zahlen müssten. In den meisten Bundesländern gibt es diese monatliche Gebühr, die im Schnitt bei 125 Euro liegt. Bayern und Niedersachsen haben das Schulgeld bereits abgeschafft … Steinbrück kündigte erneut an, den Beitrag zur Pflegeversicherung um 0,5 Prozentpunkte anheben zu wollen. Derzeit sind 2,05 Prozent vom Bruttolohn fällig, für Kinderlose 2,3 Prozent. Dadurch würden etwa sechs Milliarden Euro im Jahr zusätzlich ins System fließen. Diese Mittel reichten aus, um Demenzkranke besser zu betreuen, die künftigen Pflegekräfte kostenlos auszubilden und die derzeit Beschäftigten besser zu bezahlen, sagte Steinbrück.«

Vor dem Hintergrund dieser Vorschläge passt es dann auch, dass zeitgleich seitens der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung ein Positionspapier zum Thema veröffentlicht wurde, für das der Vorsitzende des Kuratoriums Deutsche Altenhilfe, Jürgen Gohde, maßgeblich verantwortlich ist:

Dirk Engelmann, Jürgen Gohde, Gerd Künzel und Severin Schmidt: Gute Pflege vor Ort. Das Recht auf eigenständiges Leben im Alter. Positionspapier im Auftrag der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin, August 2013

Das KDA zitiert in der Pressemitteilung „Deutschland braucht ein neues Verständnis von Pflege“ die Forderung des 25köpfigen Expertengremiums »einen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff so rasch wie möglich einzuführen, die Teilhabemöglichkeiten älterer Menschen am gesellschaftlichen Leben zu verbessern, neue Wohnformen zu fördern und der Pflege eine Bedeutung zu geben, die nicht mehr ignoriert werden kann – in den Kommunen, in der Infrastruktur sowie in den Sozialgesetzen. Die Arbeitsgruppe hat die Probleme im derzeitigen System identifiziert. So sei das heutige Sozialrecht noch nicht ausreichend auf die Pflege ausgerichtet. Leistungen seien nicht genügend aufeinander abgestimmt, es fehle mit wachsender Dramatik an Fachpflegekräften. Die Arbeitsbedingungen in der Pflege seien häufig deshalb schlecht, weil sich die Pflegenden wenig Zeit für ihre Kunden nehmen könnten. Familien müssten besser unterstützt werden, wenn sie einen Pflegefall betreuten. Die Experten sahen faktisch keine Stellschraube im Pflegesystem, die nicht neu justiert werden müsse. Dazu  zähle auch eine deutlich bessere Finanzausstattung.«

Auch die KDA- und FES-Expertengruppe bezieht sich auf eine Erweiterung des bisherigen dreistufigen hin zu einem aus fünf Stufen bestehenden Pflegebedürftigkeitsbegriffs, wie er im neuen Bericht des Pflegebeirats – aufbauend auf die Vorarbeiten des Berichts aus dem Jahr 2009 – entfaltet worden ist. Als neu wird herausgestellt, dass auch Fragen der kommunalen Infrastruktur und eines fachübergreifenden Gesamtkonzeptes in dem Positionspapier angerissen worden sind. „Die Zukunft der Pflege liegt im Quartier“, so wird Jürgen Gohde in dem Artikel „Experten wollen mehr häusliche Pflege„von Anno Fricke zitiert. Die Experten sehen »ihr Programm als Blaupause eines zig Milliarden Euro schweren Investitionsprogramms, mit dem in den kommenden 15 Jahren ausreichend altersgerechte Wohnungen entstehen sollen, damit so viele Menschen wie möglich zu Hause gepflegt werden könnten.«

Letzendlich geht es um die Rückübertragung der Pflege in die Verantwortung der Kommunen.

Nichts in diesem Handlungsfeld ist wirklich neu, wenn man ehrlich ist, so auch die Behauptung, dass nunmehr die Fragen kommunaler Infrastruktur angerissen worden sind. Diese Fragen werden natürlich schon seit Jahren verhandelt und viele Kommunen und auch Träger haben hier versucht, neue Akzente zu setzen, ob das nun „Bielefelder Modell“ oder wie auch immer genannt wird. Wenn man zuspitzen muss, dann zeigen sich drei zentrale Probleme in diesem Feld: Zum einen die erhebliche kommunale Varianz (also wir haben ganz aktive und innovative Kommunen und gleichzeitig natürlich auch solche, die sich durch einen Totstell-Reflex charakterisieren lassen), zweitens sind die zahlreichen versäulten sozialrechtlichen Regelungen und die daran hängenden unterschiedlichen institutionellen Interessen eine echte strukturelle Barriere für eine im positiven Sinne wirkenden Kommunalisierung und drittens geht es wie immer um das liebe Geld und da fristet die bisherige kommunale Altenhilfe ein Mauerblümchendasein. Gerade zu diesem letzten Aspekt wurde vor kurzem eine interessante Publikation des Diakonischen Werks vorgelegt, die sich explizit mit dieser unangenehmen Frage befasst:

Diakonie Deutschland: Finanzierung von Altenarbeit im Gemeinwesen (= Diakonie-Texte 04.2013), Berlin, 2013.

Zurück zu dem neuen Positionspapier. Anno Fricke schreibt hierzu in senem Kommentar „Steinbrück im Pflegestellen-Dilemma„, die »Vorschläge des Kuratoriums Deutsche Altershilfe und der Friedrich-Ebert-Stiftung (sehen) vor, über Prävention und Rehabilitation Pflegebedürftigkeit so lange wie möglich hinauszuschieben oder ganz zu vermeiden. Zudem sollen die vorhandenen medizinischen, pflegerischen und sozialen ambulanten und stationären Versorgungseinrichtungen zu „integrierten medizinisch-pflegerischen Versorgungszentren“ weiterentwickelt werden. Das klingt gut. Nur: In der jüngeren Vergangenheit hat die Entwicklung einer wie immer gearteten integrierten Versorgung eher stagniert als Fortschritte gemacht. Auch die think tanks der Sozialdemokraten gehen mit ihrem richtigen Vorschlag den zweiten Schritt vor dem ersten.«

Das ist richtig, aber sie machen – so möchte man ergänzend anfügen – wenigstens überhaupt einen Schritt, während die derzeit regierenden Parteien durch eine – wenn überhaupt – nebulöse Inaussichtstellung einer besseren Welt natürlich nach der Wahl auffallen, selbst aber keine konkreten Vorschläge zur Abstimmung stellen. Vor dem Hintergrund der Ausführungen zum „Verliererthema“ Pflege aus Sicht wahlkämpfender Politiker verhalten sich die Regierungsparteien also durchaus „rational“ und die Kommentar-Überschrift „Steinbrück im Pflegestellen-Dilemma“ scheint dieses Verhalten auch noch zu bestätigen, denn kritisiert wird der, der konkrete Vorschläge gemacht hat, während die Wegducker und Abtaucher wieder einmal ungeschoren davon zu kommen scheinen. Das ist das eigentlich wirklich traurige an dieser Geschichte. Über alles andere könnte man diskutieren und streiten, beispielsweise über das neue Positonspapier, aber nicht über Nichts. Man kann nur hoffen, dass die Realitäts- und letztendlich Arbeitsverweigerung den Verantwortlichen auf die Füße fällt und dann richtig weh tut. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.