Wie man auch immer die nun langsam auslaufende Legislaturperiode von CDU/CSU und SPD bewertet – das Thema Pflege war nicht nur auf der semantischen Ebene kontinuierlich vertreten. Der Gesundheits- und damit auch zuständigkeitshalber Pflegeminister Hermann Größe (CDU) hat einige gesetzgeberische Schneisen geschlagen, man denke an die Pflegeversicherungsreformen in mehreren Gesetzgebungspaketen. Seit wenigen Tagen ist er beispielsweise endlich da, der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff in der Pflegeversicherung. Die Pflegebedürftigen werden nicht mehr in drei Pflegestufen, sondern in fünf Pflegegraden eingestuft. »Damit einher geht eine bessere Berücksichtigung von kognitiven (Funktionen, die mit Wahrnehmung, Denken, Lernen zu tun haben) Einschränkungen, was sich insbesondere für Betroffene, die unter Demenz leiden, positiv auswirken soll«, so Frank Weidner, der Direktor des Deutschen Instituts für angewandte Pflegeforschung (dip) in Köln, in seinem Beitrag Was leistet unser Pflegesystem, Herr Weidner? Zudem: »So sind Geld- und Sachleistungen für Pflegebedürftige aufgestockt worden und mehr Betreuungsangebote und -kräfte können nun mit Geld aus der Pflegeversicherung bezahlt und eingesetzt werden. Auch soll die Pflegeberatung durch eine größere Verantwortung der Kommunen verbessert werden.« Aber Weidner weist auch auf die weitgehend unbeantwortet gebliebene Frage hin, wer denn diese Leistungen zukünftig unter welchen Bedingungen erbringen soll: »… abgesehen vom Ausbau der Anzahl an gering qualifizierten Betreuungskräften leidet Deutschland unter einem inzwischen als verheerend zu bezeichnenden Fachkräftemangel in der Pflege. Unterschiedlichen Schätzungen zufolge fehlen heute schon rund 100.000 Kranken- und Altenpfleger. Prognosen für die nächsten Jahre verheißen auch nichts Gutes. Bis 2030 soll sich der Fachkräftemangel sogar auf bis zu 500.000 Fachkräfte vervielfachen.«
Altenpflege
Altenpflege: Sehenden Auges weiter rein in den großen Pflegekräftemangel?
An Zustandsbeschreibungen, Studien, Szenerien und Modellrechnungen hinsichtlich des Bedarfs an Pflegekräften besteht nun wahrlich kein Mangel. Unabhängig von der Tatsache, dass der Blick in die Zukunft immer unsicher sein muss, ist die Forschungslage zur Altenpflege ziemlich eindeutig: Wir marschieren seit längerem – kaum gebremst – in einen voluminösen Pflegekräftemangel hinein, der weit größere Ausmaße haben wird als das, was heute schon in den Einrichtungen und Diensten als Personalmangel erlebt werden muss (vgl. dazu auch den Beitrag Pflege & Co. auf der Rutschbahn des Mangels vom 23.11.2016).
Auch der BARMER GEK Pflegereport 2016, der heute veröffentlicht wurde, bestätigt den kritischen Blick auf die vorhandene, vor allem aber auf die zukünftige Entwicklung des Personals in der Altenpflege.
Die BARMER GEK hat ihre Pressemitteilung zum neuen Pflegereport so überschrieben: Postleitzahl beeinflusst Art der Pflege in Deutschland: »Wie Menschen in Deutschland gepflegt werden, hängt vom Wohnort der Pflegebedürftigen ab … Demnach sind die massiven regionalen Unterschiede in der Pflege die Konsequenz des Angebots vor Ort. Je mehr Pflegedienste oder Pflegeheime es gibt, desto mehr Betroffene werden von ihnen betreut.« Die Unterschiede bei der Art der Versorgung von Pflegebedürftigen sind schon auf der Ebene der Bundesländer erheblich: In Berlin und Brandenburg ist nicht einmal ein Viertel in Heimen untergebracht. In Schleswig-Holstein sind es mehr als 40 Prozent, so Rainer Woratschka in seinem Artikel Brandenburg hat die wenigsten Heimbewohner. Generell ist das Angebot an ambulanten Diensten in den Stadtstaaten und Ostdeutschland höher, dafür gibt es im Westen mehr Heimplätze. »Beeinflusst werde die Form der Pflege aber auch vom Einkommen und den familiären Strukturen, heißt es in der Studie. Wer weniger Geld habe, komme wegen der privaten Zuzahlungen seltener ins Heim.«
Der Studie zufolge wird sich die Zahl der Pflegebedürftigen nach heutiger Definition bis zum Jahr 2060 dann von derzeit knapp 2,8 Millionen auf mehr als 4,5 Millionen erhöht haben. Die Art der Versorgung und die zu erwartende Zahl an Pflegebedürftigen sind natürlich wichtige Einflussfaktoren bei der Bestimmung des zukünftigen Personalbedarfs in der stationären und ambulanten Pflege. Und der soll in diesem Beitrag im Mittelpunkt stehen, wobei angemerkt werden muss, dass der Bericht
Heinz Rothgang, Thomas Kalwitzki, Rolf Müller, Rebecca Runte und Rainer Unger (2016): BARMER GEK Pflegereport 2016. Schriftenreihe zur Gesundheitsanalyse, Band 42, Siegburg, November 2016
viele weitere hilfreiche Informationen und Daten zum Thema Pflege enthält, die hier gar nicht ansatzweise gewürdigt werden können.
Das Wissenschaftler-Team um Heinz Rothgang, das den neuen Pflegereport erarbeitet hat, beschäftigt sich auch mit der „Versorgungslücke in der ambulanten und stationären Versorgung im Jahre 2030“ (S. 120 ff.). Es geht also um die Bestimmung, wie viele Pflegekräfte möglicherweise fehlen werden. Einige Rahmenbedingungen für die Vorhersage:
Der deutliche Anstieg der Zahl der Pflegebedürftigen führt für das gesamte Bundesgebiet zu höheren Fallzahlen, die für das Jahr 2030 etwa 3,5 Mio. Pflegebedürftige (+850.000 gegenüber 2013) im Sinne des derzeit geltenden Pflegebedürftigkeitsbegriffs erwarten lassen.
Derzeit sind 704.000 Vollzeitäquivalente in der Altenpflege beschäftigt, der technische Begriff Vollzeitäquivalente (VZÄ) sei hier – wo wir doch von Menschen sprechen – entschuldigt, aber dahinter steht das Problem, dass man bei den vielen Teilzeitkräften die unterschiedlichen Arbeitszeiten auf einen – vergleichbar gemachten – Nenner bringen muss. Das bedeutet aber auch, dass gerade angesichts des hohen Teilzeitanteils aufgrund der hohen Frauenquote in der Pflege die Zahl der Beschäftigten insgesamt höher ausfällt, also mehr Köpfe gezählt werden.
Bei gleichen Versorgungsquoten wie heute resultiert aus den Einflussfaktoren ein zusätzlicher Bedarf an Beschäftigten in der Pflege von 267.000 Vollzeitäquivalenten (insgesamt also 981.000 im Jahr 2030).
Jetzt wird es spannend und noch schwieriger, denn man muss abschätzen, wie viele denn angebotsseitig zur Verfügung stehen werden. Auch dafür muss man Annahmen treffen, die man wie alle natürlich auch sehr kritisch diskutieren kann. Die Pflegereport-Verfasser gehen so vor:
Wird unterstellt, dass der Anteil der Erwerbstätigen in der Pflege an allen Erwerbstätigen konstant bleibt, reduziert sich gleichzeitig das Arbeitskräfteangebot in der Pflege aufgrund des demografisch bedingt sinkenden Erwerbspersonenpotentials. Insgesamt entsteht so eine Versorgungslücke an Beschäftigten in der Pflege, die auf insgesamt 352.000 Vollzeitäquivalente (99.000 im ambulanten Bereich und 253.000 im stationären Bereich) beziffert werden kann.
Bei regionaler Differenzierung nach den einzelnen Bundesländern ergeben sich aufgrund unterschiedlicher Pflegeprävalenzen in den jeweiligen Bundesländern und regional unterschiedlicher Geschwindigkeiten in der Alterung in den Bundesländern auch regional unterschiedliche Versorgungslücken in der ambulanten und stationären Pflege. Die Abbildung am Anfang des Beitrags visualisiert diese bundesländerspezifischen Versorgungslücken für das Jahr 2030. Die Anordnung der Bundesländer beginnt bei dem Bundesland, bei dem es relativ gesehen, also hier bezogen auf die Beschäftigung in der Altenpflege im Jahr 2013, der die 2030 vermutlich fehlenden (Vollzeit-)Pflegekräfte als Anteilwert gegenübergestellt werden. Bei dieser Relativierung ergibt sich, dass in Brandenburg zwar in absoluten Zahlen der Mangel nicht groß erscheint (7.000 VZÄ fehlen in der ambulanten, 11.000 VZÄ in der stationären Pflege), diese Zahlen aber gesehen werden müssen vor dem Hintergrund, dass sie vom Volumen her erschreckend daherkommen, den die relative Versorgungslücke in Brandenburg beläuft sich auf über 75 Prozent der 2013 tätigen Pflegekräfte – während die Lücke am anderen Ende, in Hamburg, mit „nur“ 22,4 Prozent fast schon überschaubar daherkommt.
Wie hat man die Versorgungslücke berechnet? Dazu Rothgang et al. (2016: 120 f.):
»Für die Berechnung der Versorgungslücken wurden zunächst die Zahlen der Vollzeitäquivalente (bezogen auf alle Beschäftigten in der Pflege) für das Jahr 2030 geschätzt, die sich aufgrund des Rückgangs des Erwerbspersonenpotentials der 20-64-Jährigen ergeben (dieser Rückgang beläuft sich auf Bundesebene auf 10,8 %). Anschließend wurden die Zahlen der zusätzlichen Pflegebedürftigen bis zum Jahr 2030 mit dem Versorgungsschlüssel in der ambulanten und in der stationären Pflege (Vollzeitäquivalent pro pflegebedürftiger Person) des Jahres 2013 multipliziert. Die Berechnungen erfolgten zunächst auf Kreisebene und wurden dann auf die Länder-, bzw. Bundesebene hochaggregiert.«
Fazit: Sollten die Annahmen die Wirklichkeit annähernd abbilden, dann müssen wir davon ausgehen, dass uns 2030 von den dann notwendigen 981.000 Pflegekräften 352.000 fehlen könnten – wobei die Zahl der Personen aufgrund der Teilzeit nochmals deutlich höher liegen müsste.
Das sind Dimensionen, die ein massives Gegensteuern erfordern. Das bezieht sich nicht nur auf einen entsprechenden Schub bei der Ausbildung und der Umschulung, sondern greift bis in die individuellen Arbeitszeitarrangements der Pflegekräfte hinein im Sinne einer anzustrebenden bzw. zu fördernden Ausweitung teilzeitiger Beschäftigung. Vor allem aber muss man natürlich auch die Rahmenbedingungen der Arbeit attraktiver gestalten, was eine deutliche Verbesserung der Vergütung angeht, aber auch – da beißt sich die Katze in den Schwanz – eigentlich mehr Personal, das man jetzt zu den Rechenergebnissen, die hier präsentiert wurden, addieren müsste. Eine herkulische Aufgabe.
Pflege & Co. auf der Rutschbahn des Mangels: Mit Schmerzmitteln zur Arbeit. Das Blaulicht bleibt aus, bis die Kopfprämie wirkt. Über einen real existierenden Fachkräftemangel
Wenn in den vergangenen Jahren über den tatsächlichen oder einen vermeintlichen Fachkräftemangel diskutiert wurde, dann ging und geht es oftmals um akademische Qualifikationen. Bei Ingenieuren und Ärzten wurde Alarm geschlagen und pessimistische Szenarien an die Wand gemalt. Gerade an diesen Beispielen haben aber auch Kritiker versucht zu zeigen, dass man in vielen Fällen gar nicht von einem Fachkräftemangel sprechen könne, höchstens dann, wenn die Arbeitgeber auf eine offene Stelle nicht mehr einen Waschkorb voller Bewerbungen bekommen, sondern nur noch einige wenige und das dann als Mangel empfinden, was aus ihrer Sicht ja auch nachvollziehbar ist. Aber die wirkliche Welt, vor allem der vielgestaltige und regional bzw. lokal höchst differenzierte Arbeitsmarkt ist wesentlich komplexer. In der letzten Zeit hat sich zunehmend herumgesprochen, dass wir in ganz anderen Berufsfeldern mit einem schon vorhandenen und sich weiter verschärfenden bzw. einem demnächst bevorstehenden Fachkräftemangel eklatanten Ausmaßes konfrontiert sind oder sein werden. Da werden nicht nur die Erzieherinnen genannt, sondern auch viele Handwerksberufe. Und ganz weit oben stehen zahlreiche Gesundheitsberufe, nicht nur, aber sicher prominent vertreten die Pflege.
Die Bundesagentur für Arbeit (BA) kommt in ihrem im Juli 2016 veröffentlichten Bericht Der Arbeitsmarkt in Deutschland – Fachkräfteengpassanalyse zu dem Befund, dass es in den Gesundheits- und Pflegeberufen einen Mangel gibt bei examinierten Gesundheits- und Krankenpflegefachkräften und bei examinierten Altenpflegefachkräften. »Bei Gesundheits- und Krankenpfleger/innen beträgt die Vakanzzeit von Stellenangeboten 128 Tage (+42 Prozent über dem Durchschnitt aller Berufe). Gemeldete Stellenangebote für examinierte Altenpflegefachkräfte sind im Bundesdurchschnitt 153 Tage vakant. Das sind 70 Prozent mehr als die durchschnittliche Vakanzzeit über alle Berufe.« Speziell zur Altenpflege vgl. auch den im September 2016 veröffentlichten BA-Bericht Arbeitsmarkt Altenpflege – Aktuelle Entwicklungen. Das alles hat Folgen bzw. potenziert problematische Entwicklungen, die sich aus anderen Quellen speisen.
Und es ist ja keineswegs so, dass man den real existierenden Fachkräftemangel zumindest in der Pflege übersehen kann, wenn man den sehenden Auges durch die Arbeitsmarkt-Welt läuft. Beispiel Bayern: »Bei der Pflege alter Menschen herrscht jetzt schon ein drastischer Personalmangel. Einer Prognose der Bertelsmann-Stiftung zufolge wird es bis zum Jahr 2030 aber noch gravierender: Allein in Bayern werden dann etwa 62.000 Fachkräfte«, heißt es in dem Artikel Vor der Pflegekatastrophe von Dietrich Mittler.
Die Zahlen basieren auf einer Antwort der bayerischen Staatsregierung und sind damit sicher nicht verdächtig, unbegründete Katatsrophenszenarien zu stützen. Der von der Regierung selbst eingeräumte absehbar immer größer werdende Mangel hat seine Ursachen auch in Defiziten des Ausbildungssystems:
»Jährlich werden in Bayern gut fünf Prozent neue Altenpflegekräfte gebraucht – aufgrund der altersbedingten Fluktuation. Aber auch dadurch, dass angesichts der stressigen Arbeitsbedingungen nicht wenige das Handtuch werfen. In Zahlen ausgedrückt heißt das: Um den Bedarf zu decken, hätten im Zeitraum 2015/2016 gut 4.500 Menschen eine Ausbildung in der Pflege beginnen müssen, wie ein 2013 von der Staatsregierung in Auftrag gegebenes Gutachten ergab.
Tatsächlich haben in diesem Zeitraum nur 3.370 Schülerinnen und Schüler eine Ausbildung in der Altenpflegebegonnen. Noch desolater erscheint das Bild, wenn man sieht, dass die Gutachter davon ausgingen, dass im Zeitraum 2014/2015 rein rechnerisch 14.100 junge Menschen in die Pflegeausbildung hätten gehen müssen, um das bereits bestehende Defizit auszugleichen. Indes fingen da nur 3.291 Pflegeschüler ihre Ausbildung an.«
Der bereits in der Vergangenheit aufgebaute Personalmangel – nicht nur durch zu wenig Ausbildung bedingt, sondern auch eine Folge der realen Arbeitsbedingungen – kommt mittlerweile vor Ort immer stärker an die Oberfläche. »Wie die Kontrolleure der Heimaufsicht 2014 feststellten, hatten 166 stationäre Einrichtungen für ältere Menschen die gesetzlich festgelegte Fachkraftquote nicht mehr erfüllen können. Dies mag angesichts von bayernweit mehr als 1600 Altenpflegeheimen als wenig erscheinen«, aber man muss berücksichtigen, dass es sich bei diesen Zahlen nur um die Abbildung der Spitze des wirklichen Eisbergs handelt, da von der offiziellen Aufsicht nur punktuelle Erkenntnisse generiert werden können.
Und das hat Auswirkungen auf Menschen, die bereits heute oftmals aufgrund der tatsächlichen Bedingungen in der Pflege auf dem Zahnfleisch gehen. Von daher sollte man solche Befunde absolut ernst nehmen und als ein Warnzeichen allererster Güte: »Viele Pflegekräfte bewältigen ihren Arbeitsalltag nur noch mit Medikamenten, zeigt der BKK Gesundheitsreport«, berichtet Peter Thelen in seinem Artikel Arbeiten? Nur noch mit Schmerzmitteln. Thelen zitiert vorab aus dem BKK Gesundheitsreport 2016, der Ende November 2016 von den beiden Herausgebern Franz Knieps und Holger Pfaff vor der Bundespressekonferenz vorgestellt wird.
»Menschen, die in der Pflege tätig sind, haben ein deutlich höheres Risiko psychisch krank zu werden. Fast jeder zweite erhielt im vergangenen Jahr mindestens einmal eine entsprechende Diagnose. Erzieher und Sozialarbeiter landen mit einer Erkrankungsquote von 35 Prozent auf dem zweiten Platz … Immer mehr Pflegekräfte halten der Belastung nicht stand. Das Ergebnis: Burn-out, so der aktuelle Gesundheitsreport des Bundesverbands der Betriebskrankenkassen (BKK). Danach haben 40,5 Prozent der in der Altenpflege Beschäftigten 2015 mindestens einmal bei einem niedergelassenen Arzt oder einem Psychotherapeuten die Diagnose einer psychischen Erkrankung gestellt bekommen. Im Durchschnitt aller Versicherten trifft dieses Schicksal nur rund jeden Vierten … Für die Pflegeunternehmen selbst ist das alles andere als eine gute Entwicklung. Denn die Erkrankungen führen dazu, dass oft lange Fehlzeiten zusätzliche Lücken in die ohnehin schon löchrige Personaldecke reißen: Beschäftigte in der Altenpflege fehlten 2015 krankheitsbedingt 24,1 Tage, das ist über eine Kalenderwoche mehr als beim Durchschnitt der Beschäftigten. Fast jeder fünfte Fehltag (18,7 Prozent) geht dabei auf das Konto von psychischen Erkrankungen, mehr als jeder vierte AU-Tag (27,2) wird allerdings durch Muskel- und Skeletterkrankungen verursacht. Die Pflege von alten Menschen ist eben nicht nur seelisch belastend, sondern oft auch körperliche Knochenarbeit.«
Depressive Erkrankungen und Burn-out sind in der Altenpflege ungefähr doppelt so oft Ursache dafür, dass Arbeitnehmer zu Hause bleiben müssen, wie in der übrigen Wirtschaft. Aber sie bleiben nicht nur krank zu Hause, offensichtlich schleppen sich auch viele Pflegekräfte krank zur Arbeit:
»Viele Pflegekräfte bewältigen ihren Arbeitsalltag nur noch Dank hilfreicher Medikamente: Ein Fünftel hat 2015 mindestens einmal ein Mittel verordnet bekommen, dass auf das Nervensystem wirkt. Acht Prozent nahmen Antidepressiva, jeder zehnte ließ sich mindestens einmal Schmerzmittel verordnen.«
Nun kann man darauf hinweisen, dass selbst der Politik die bisherige Vogel-Strauß-Politik nicht mehr reicht und man angesichts der vorliegenden Fakten endlich auch das Problem der hohen Arbeitsbelastung angehen will. Aber: Hinsichtlich der Vorgaben für die Personalausstattung in Heimen muss man aufgrund der Länderzuständigkeit von einem der typischen föderalen Flickenteppiche sprechen. »Klar ist eigentlich nur, dass 50 Prozent der Beschäftigten in einem Heim Pflegefachkräfte sein müssen. Wie viele Pflegekräfte pro Patient eingesetzt werden müssen, wird dagegen derzeit noch recht willkürlich festgelegt. So reichen in Brandenburg 27 Vollzeitkräfte für den 24-Stunden-Dienst in einem Haus mit 80 Pflegebedürftigen im Durchschnitt. In Sachen sind fast 35 nötig« – und das sind nur die Vorgaben, nicht aber die gemessene Wirklichkeit.
Aber es gibt Hoffnung, hat sich doch der Bund der Sache angenommen mit dem neuen Pflegestärkungsgesetz:
»Es sieht vor, dass in Zukunft der Personalbedarf für das gesamte Bundesgebiet einheitlich auf der Basis wissenschaftlich fundierter Verfahren ermittelt werden soll. Umgesetzt werden soll das Ganze aber erst bis Juli 2020, so dass entsprechende Regelungen erst 2021 greifen würde.«
Der Gewerkschaft ver.di dauert das alles viel zu lange und sie macht konkrete Vorschläge: Ver.di fordert die Umwandlung des Pflegevorsorgefonds, in den die Versicherten seit 2015 jeden Monat 0,1 Prozent ihres beitragspflichtigen Einkommens einzahlen müssen, in einen Pflegepersonalfonds. In dem Pflegevorsorgefonds sind bereits etwas über eine Milliarde Euro angespart worden, die man verwenden will für mehr Personal. Eine gute Idee. Denn mit dem Geld ließen sich 38.000 neue Pflegekräfte dauerhaft finanzieren, rechnet die Gewerkschaft vor.
Die Sache hat leider einer ganz großen Haken: Selbst wenn die Bundesregierung dem folgen würde, müssten alle Beteiligten feststellen, dass es die 38.000 zusätzlichen Pflegekräfte derzeit gar nicht gibt auf dem Markt. Man könnte die Stellen also gar nicht besetzen.
Und auch das gehört zur Wahrheit – es sind nicht nur die Pflegekräfte, an denen es heute schon und erst recht in den kommenden Jahren mangelt. Schauten wir in den Rettungsdienst, auf den wir uns alle verlassen (müssen). Jürgen Bock illustriert den Personalmangel beim Rettungsdienst am Beispiel des Landes Baden-Württemberg mit dieser handfesten Überschrift: Kopfprämie für neues Rettungspersonal. Alle Verantwortlichen, aber auch wir Bürger sollten sowas mit größten Sorgen zur Kenntnis nehmen: »Landesweit fehlen dem Rettungsdienst rund 400 Mitarbeiter. In Göppingen setzt man jetzt Prämien für neue Kollegen aus. In Stuttgart bleiben Fahrzeuge unbesetzt, obwohl offiziell alle Planstellen belegt sind. Unter den Beschäftigten herrscht Unruhe.«
Zur Einordnung: In Baden-Württemberg arbeiten derzeit rund 5.800 Menschen im Rettungsdienstbereich. Etwa 80 Prozent aller Einsätze landesweit werden vom DRK abgewickelt. Insgesamt fehlen laut Stuttgarter Nachrichten derzeit etwa 400 Mitarbeiter.
Im Mittelpunkt steht das Deutsche Roten Kreuz (DRK), das in Stuttgart wie im Land den Großteil des Rettungsdienstes übernimmt. Aus dessen Reihen, in diesem Fall aus Stuttgart, wird folgendes berichtet:
»Aus den Worten der Stuttgarter Rettungsdienstmitarbeiter spricht der pure Frust. „Wir arbeiten gerne in unserem Beruf, aber wir wissen uns nicht mehr zu helfen“, sagt einer. Er spricht von „Hunderten Überstunden“ und „miesem Betriebsklima“. Kollegen bestätigen das. „Es knirscht an allen Ecken und Enden – und es bleiben immer häufiger Autos einfach stehen, weil niemand da ist, der sie fahren kann“, sagt ein anderer.«
Aus Dienstplänen, die den Stuttgarter Nachrichten vorliegen, geht hervor, wie viele Schichten angesichts fehlenden Personals zuletzt ausgefallen sind. Im Oktober sind es über 50 Dienste gewesen. Das heißt: Gut 400 Stunden waren Rettungswagen nicht wie vorgesehen besetzt. In der ersten Novemberhälfte summieren sich die Ausfälle bereits auf 465 Stunden.
Und das hat Folgen, über die an diesem Beispiel berichtet wird:
»Der DRK-Kreisverband Göppingen etwa hat jetzt in einer Fachzeitschrift eine ganzseitige Anzeige geschaltet. Darin verspricht man neuen Rettungsdienstmitarbeitern eine „attraktive Gehaltseinstufung“, Umzugshilfe und eine Antrittsprämie in Höhe von 1000 Euro. Laut DRK-Stellenportal sucht man in Göppingen derzeit 14 Leute.«
Die Kopfprämie für wechselwillige Fachkräfte wird natürlich auch kritisiert: „Das Gesamtsystem hat derzeit einfach zu wenige Mitarbeiter. Es nützt dem Rettungsdienst im Land nichts, wenn die Leute von einem Anbieter zum anderen wechseln“, wird Daniel Groß, seines Zeichens stellvertretende Landesgeschäftsführer des baden-württembergischen Arbeiter-Samariter-Bunds, in dem Artikel zitiert. Man bezahle deshalb keine Wechselprämie, so der ASB. Zyniker würden anfügen, der ASB macht das nur deshalb nicht, weil er an anderer Stelle genau das tut, was man derzeit als Vorwurf stellt, denn beim ASB »bekommen die eigenen Mitarbeiter eine Belohnung, wenn sie neue Kollegen werben.«
Und zur ansatzweisen Abrundung, dass wir hier mit einem enormen Problem quer durch die Gesundheitsberufe konfrontiert sind, schauen wir nach Berlin und auf eine von vielen dortigen Mangellagen: Hebammen in Berlin verzweifelt gesucht , so hat Thorkit Treichel ihren Artikel überschrieben.
Berlin erlebt einen Babyboom, über 38.000 Kinder kamen 2015 zur Welt. Doch die rund 1.000 Berliner Hebammen haben wenig Grund zur Freude. Susanna Rinne-Wolf, Vorsitzende des Berliner Hebammenverbandes, verweist auf eine dramatische personelle Unterbesetzung in den Krankenhäusern hin:
„Hebammen müssen teilweise bis zu sechs Frauen im Kreißsaal betreuen“, sagt sie. Manche Krankenhäuser würden Frauen abweisen, die kurz vor der Entbindung stehen. In anderen Kliniken müssten sich Schwangere sechs Monate vor dem Termin zur Entbindung anmelden. Das liege auch daran, dass Hebammen tätigkeitsfremde Arbeiten übernehmen müssten. „Sie betreuen die gynäkologische Ambulanz mit. Sie werden zunehmend mit administrativen Tätigkeiten eingedeckt.“
Auch Wolfgang Henrich, Direktor der Klinik für Geburtsmedizin der Charité in Mitte, spricht von „einem erheblichen Hebammenmangel in den Krankenhäusern“, nicht ohne dabei darauf hinzuweisen, dass der Mangel in Süddeutschland noch größer sei, was den Betroffenen natürlich nicht wirklich hilft. Auch Henrich muss bestätigen, dass viel zu wenig ausgebildet wird. „Es gibt Hunderte von Bewerbungen für zwei Dutzend Ausbildungsplätze“. Und dieser Hinweis des Geburtsmediziners ist von besonderer Bedeutung, wenn es um die Frage geht, was zu tun wäre: „Der Beruf muss aufgewertet und entsprechend bezahlt werden“, fordert Henrich.
Gleichzeitig – und nur scheinbar wiedergelagert dem Berliner Beispiel, wo es ja um Personalnot in den Kreißsälen geht – wird berichtet, dass die Ausdünnung des geburtshilflichen Angebots in den Kliniken zu negativen Auswirkungen auf die Zahl der Hebammen führt, so in diesem Artikel: Immer mehr Kreißsäle schließen in Deutschland. »Seit 1991 ging in rund 40 Prozent der Kreißsäle in Deutschland das Licht aus, während die Geburtenrate in gleichen Zeitraum nur um etwa 12 Prozent sank.« Und weiter: »Aktuell gibt es in vielen ländlichen Regionen kein Krankenhaus mit Geburtshilfe mehr. Beispielsweise im fast 2000 Quadratkilometer großen Landkreis Diepholz in Niedersachsen. „Bei Anfahrtswegen von bis zu 50 Kilometern haben Frauen große Sorgen, es rechtzeitig zur Klinik zu schaffen“, erzählt Jutta Meyer-Kytzia. Lange hat die Hebamme im Kreißsaal gearbeitet, jetzt kümmert sie sich als Freiberuflerin um Geburtsvorbereitung und -nachsorge. „Ich muss mindestens die Hälfte der Anfragen von Schwangeren ablehnen“, sagt sie. Nach Schließung der ehemals vier Geburtshilfe-Stationen im Kreis, seien viele Kolleginnen abgewandert.«
Alle Beispiele haben eines gemeinsam – sie zeigen in aller Deutlichkeit, dass wir bereits heute erhebliche, in Zukunft sicher erschreckende Mangelsituationen in ganz unterschiedlichen Bereichen der medizinischen und pflegerischen Versorgung haben und weiter ausprägen werden. Darüber wird viel zu wenig diskutiert und vor allem kaum leidenschaftlich für eine Aufwertung und eine Ausbildungsoffensive gestritten. Wahrscheinlich verlassen sich immer noch viele auf die ausgeprägt hohe intrinsische Motivation, die viele Menschen in Gesundheitsberufen antreibt. Aber man kann das Feuer auch auspusten und sich dann wundern, dass es dunkel wird.
Rundreise durch die Pflege-Landschaft: Von einem ethischen Tabubruch bei Demenzkranken über Babyboomer mit Ansprüchen bis hin zu neubauenden Betreibern von Pflegeheimen
Es würde locker für eine Vollzeitbeschäftigung reichen, wenn man erfassen und einordnen soll, wie viele unterschiedliche Gewerke derzeit auf der Dauerbaustelle Pflege unterwegs sind und was genau sie da so treiben. Und wo derzeit nicht gearbeitet wird, obgleich dringender Bedarf besteht. Der Blick in die aktuelle Berichterstattung in den Medien öffnet einen bunten Strauß an Themen- und Problemfeldern, die zugleich alle auch irgendwie, vor allem für die Betroffenen, mehr oder weniger stark miteinander in Wechselwirkung stehen.
Unter der trockenen Überschrift Tarifverhandlungen gescheitert wird beispielsweise über das Scheitern eines wichtigen Unterfangens berichtet: In Brandenburg platzen Verhandlungen über einen einheitlichen Tarifvertrag in der Altenpflege. »Die Gewerkschaft verdi hat die Gespräche mit den Spitzenverbänden in der LIGA der Freien Wohlfahrtspflege im Land Brandenburg ausgesetzt, ein einheitlicher Tarifvertrag für die Altenpflege in Brandenburg ist vorerst vom Tisch. Die Verhandlungen begannen bereits vor knapp drei Jahren auf Initiative des brandenburgischen Arbeitsministeriums und verliefen bisher ergebnislos. Der Tarifvertrag sollte nach Angaben des Arbeitgeberverbands Pflege auch anderen Bundesländern als Blaupause dienen.« Wenn von Seiten der Gewerkschaft berichtet wird, dass »ein Teil der Gesprächspartner keine Tarifverhandlungen mit verdi führen will und zwei weitere Spitzenverbände beklagen, dass sie für eine Aufnahme von Tarifverhandlungen von ihren Mitgliedern nicht mandatiert werden«, dann kann man an diesem Beispiel das Problem erkennen, dass aufgrund der vielgestaltigen Arbeitgeberlandschaft „normale“ Tarifverhandlungen so gut wie unmöglich sind, denn neben den privaten Anbietern sind die Wohlfahrtsverbände und damit die Kirchen hier besonders aktiv – und die konfessionell gebundenen Arbeitgeber beharren auf dem „dritten Weg“ und den damit verbundenen Sonderrechten für die kirchlich gebundenen Arbeitgeber.
Pflegestützpunkte: Sinnvolle Notwendigkeit oder eine sich bürokratisierende Fehlinvestition? Über das nicht nur institutionelle Gerangel im Umfeld des Pflegestärkungsgesetzes III
Betrachtet man die großkoalitionäre Gesetzgebung im Bereich der Pflege in der laufenden Legislaturperiode, dann kann man einen Vorwurf sicher nicht machen: Die haben nichts geschafft. Unabhängig, ob einem die Ergebnisse passen oder nicht: Aber die bereits in Kraft gesetzten Pflegestärkungsgesetze I und II haben so einige Veränderungen im Pflegesystem gebracht. Und wie heißt es so schön im Volksmund – aller Dinge sind drei. Also hat das Kabinett im Juni dieses Jahres den Entwurf für ein Pflegestärkungsgesetz III (PSG III) verabschiedet, der nun durch die parlamentarischen Mühlen geschickt wird. Der Gesetzentwurf ist auch im Bundesrat zustimmungspflichtig. Während es bei den ersten beiden Pflegestärkungsgesetzen um die Art und Höhe der Leistungen sowie der Installierung eines „Vorsorgefonds“ und um einen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff ging, erfahren wir vom Bundesgesundheitsministerium (BMG) zum dritten und noch nicht vollendeten Streich (vgl. hierzu die Pressemitteilung des BMG: Drittes Pflegestärkungsgesetz im Kabinett beschlossen, 28.06.2016): Mit dem PSG III solle die Pflegeberatung in den Kommunen gestärkt werden. Pflegebedürftige und ihre Angehörigen erhalten dadurch eine Beratung aus einer Hand, so die Hoffnung des BMG.
Dabei sind doch bereits heute in dem die Soziale Pflegeversicherung normierenden SGB XI Pflegeberatung und Pflegestützpunkte verankert, die Pflegeberatung im § 7a SGB XI und die Pflegestützpunkte im § 7c SGB XI. Seit 2009 besteht ein Rechtsanspruch auf Pflegeberatung, der zum 1.1.2013 noch ausgeweitet wurde. Diese Pflegeberatung findet in Pflegestützpunkten statt -wenn es sie denn gibt, was eben nicht überall der Fall ist. Wenn es die nicht gibt, dann müssen die Pflegekassen das anbieten.
Und wie will man nun die Ausweitung im Sinne einer „Beratung aus einer Hand“ erreichen? Dazu erfahren wir vom Bundesgesundheitsministerium:
»Die Beratung von Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen vor Ort soll verbessert werden. Dazu sollen Kommunen mit dem PSG III für die Dauer von fünf Jahren ein Initiativrecht zur Einrichtung von Pflegestützpunkten erhalten. Darüber hinaus sollen sie künftig Beratungsgutscheine der Versicherten für eine Pflegeberatung einlösen können. Ergänzend zu ihren eigenen Beratungsaufgaben in der Hilfe zur Pflege, der Altenhilfe und der Eingliederungshilfe sollen sie auch Pflegebedürftige, die Pflegegeld beziehen, beraten können, wenn diese das wünschen. Außerdem sind Modellvorhaben zur Beratung Pflegebedürftiger und ihrer Angehörigen durch kommunale Beratungsstellen in bis zu 60 Kreisen oder kreisfreien Städten für die Dauer von fünf Jahren vorgesehen. Über die Anträge von Kommunen, die an diesen Modellvorhaben mitwirken wollen, wird von den Ländern entschieden. Pflegebedürftige und ihre Angehörigen sollen dadurch eine Beratung aus einer Hand erhalten zu allen Leistungen, die sie in Anspruch nehmen können wie z.B. der Hilfe zur Pflege, der Eingliederungshilfe oder der Altenhilfe.«
Das hört sich doch erst einmal gut an. Und dann solche Schlagzeilen: Pflegereform sorgt für Ärger bei Verbänden, berichtet die „Ärzte Zeitung“. Der Ärger der Pflegeverbände entlädt sich vor allem an den geplanten Pflegestützpunkten – Beratungsstellen für Menschen mit Hilfebedarf und deren Angehörige, die Gemeinden und Landkreise laut dem neuen Gesetz errichten sollen:
»Das Selbsthilfenetzwerk Pro Pflege kritisiert deren „behördliche Strukturen“. „Die bereits gesetzlich vorgegebenen Beratungsverpflichtungen müssen durch die Pflegekassen verstärkt wahrgenommen werden“, schreibt Vorsitzender Werner Schell in einem offenen Brief an den Deutschen Bundestag.
Das Kuratorium Deutsche Altershilfe (KDA) hingegen erachtet den Aufbau von Pflegestützpunkten zwar grundsätzlich als sinnvoll – ist jedoch ebenfalls kritisch, dass die Stützpunkte ihrer eigentlichen Aufgabe gerecht würden, sagte eine Sprecherin der „Ärzte Zeitung“.«
Und Anno Fricke berichtet in seinem Artikel Fehlinvestition oder sinnvoll?: »Die Wiederbelebung des Konzepts der Pflegestützpunkte durch die Regierung stößt auf harsche Kritik bei Pflegeverbänden. Von „Fehlinvestitionen“ ist die Rede. Auch der AOK geht der geplante Einfluss der Kommunen in der Pflege zu weit.«
Die Pflegestützpunkte bekommen ihr Fett weg. Sie seien „behördliche Strukturen“. Ihr Betrieb lasse allein die Träger dieser Institutionen profitieren. Die Stützpunkte seien „Fehlinvestitionen“, so wird der Vorsitzende des Selbsthilfenetzwerks Pro Pflege, Werner Schell, zitiert.
Das bereits angesprochene Kuratorium Deutsche Altershilfe (KDA) teilt diese ablehnende Position in der Schärfe nicht, sondern hält die Pflegestützpunkte grundsätzlich für eine gute Sache. Aber:
Das KDA betont auch, »dass Pflegestützpunkte ihrer eigentlichen Aufgabe – nämlich der Entwicklung bedarfsgerechter und den Bedürfnissen der Ratsuchenden dienenden örtlichen Angebote – nicht im erforderlichen Maße nachkämen. Pflegestützpunktesollten nicht als verselbstständigte, bürokratisch denkende und handelnde Einrichtungen der Krankenkassen verstanden oder missbraucht werden. Zum Hintergrund: In den Stützpunkten sind meist Pflegeberater der Kassen als Fallmanager tätig.«
Was allerdings auch der Fall ist: Beide Organisationen, die hier als Kritiker der gesetzgeberischen Aktivitäten zitiert werden, weisen auf einen offensichtlichen Bedarf hin, denn sie plädieren dafür, »den verantwortlichen Planern und Kümmerern auf der örtlichen Ebene mehr Gestaltungsspielräume zu geben. Voraussetzung seien Strukturen, in denen Pflegebedürftige möglichst lange in ihrer Wohnumgebung bleiben könnten. „Dazu benötigen wir mit kommunaler Hilfe professionelle Kümmerer, die sich der Entwicklung solcher Unterstützungssysteme nahe bei den Menschen annehmen, und so den Grundsatz ‚ambulant vor stationär‘ gestalten helfen“, heißt es in dem Schreiben von Pro Pflege an die Abgeordneten.«
Was ist da los? Einerseits kann ein solcher Hinweis aus dem Artikel von Anno Fricke weiterhelfen:
»Aus Sicht der AOK sind die geplanten Eingriffsrechte der Kommunen „zu tiefgehend“. Dadurch würde die Entscheidungsbefugnis der Pflegekassen „erheblich“ eingeschränkt.«
Der vom praktischen Leben geschulte Sozialpolitiker erkennt darin ein bekanntes und nicht selten frustrierendes Muster: Offensichtlich geht es a) um Geld und b) um Zuständigkeiten. Die Kassen fürchten, dass die Kommunen über das PSG III Zugriff auf ihre Mittel bekommen und dann auch noch die Inhalte der Arbeit in den Pflegestützpunkte maßgeblich beeinflussen können, im Sinne einer Ausweitung auf die Angelegenheiten der Pflegekassen selbst – mit der möglichen Folge eines „Kontrollverlustes“ auf Seiten der Kassen. Die Erläuterungen des Bundesgesundheitsministeriums zum PSG III könnte man durchaus so lesen:
»Die Kommunen sollen im Rahmen der Regelungen im jeweiligen Landesrecht und bei angemessener finanzieller Beteiligung für die Dauer von fünf Jahren das Recht erhalten, die Einrichtung von Pflegestützpunkten anzustoßen (Initiativrecht), Kranken- und Pflegekassen müssen sich in diesem Fall beteiligen. Damit können Landkreise, Städte und Gemeinden die Versorgung und Beratung vor Ort verbessern.
Bisher konnten kommunale Behörden Beratung nur im Bereich der Hilfe zur Pflege, der Altenhilfe und der Eingliederungshilfe durchführen. Mit der Umsetzung des Dritten Pflegestärkungsgesetzes können Kommunen künftig Beratungsgutscheine der Versicherten für eine Pflegeberatung einlösen und verpflichtende Beratungen in der eigenen Häuslichkeit bei Empfängern von Pflegegeld durchführen, wenn diese das wünschen.«
Und dann kommt der entscheidende Passus für die Kassen:
»Für die Dauer von fünf Jahren können Landkreise und kreisfreie Städte in bis zu 60 Modellvorhaben Beratungsstellen für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen einrichten. In den Modellkommunen geben die Pflegekassen die Pflegeberatung an diejenigen Stellen ab, die auch für die Beratung über die Hilfe zur Pflege zuständig sind. Hier kann dann die gesamte Beratung in allen Bereichen der Pflege durch kommunale Behörden abgedeckt werden.«
Nun könnte man einwenden, dass es eigentlich auch logisch ist, eine möglichst unabhängige Stelle zu schaffen, wenn man eine wirklich umfassende und primär die Interessen der Betroffenen verpflichtete Pflegeberatung haben möchte. Man denke an dieser Stelle nur an die immer wieder vorgetragenen Zweifel des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK), die für die Kassen die Einstufung der Pflegebedürftigen vornehmen. Auch hier werden immer wieder mögliche Interessenkollisionen diskutiert.
Man kann es auch so ausdrücken wie Sabine Kirchen-Peters, Lukas Nöck, Peter Baumeister und Birgit Mickey in ihrer Veröffentlichung Pflegestützpunkte in Deutschland. Die Sicht der Mitarbeitenden – Der rechtliche Rahmen – Die politische Intention (2016):
»Über die Pflegeberatung im Pflegestützpunkt lösen die Kranken- und Pflegekassen ihre Sicherstellungsverpflichtung zum bedarfsgerechten Case Management (§ 7 a SGB XI) und die zum versorgungsoptimierenden bzw. -steuernden Care Management (§ 12 SGB XI) ein. Wenn die Kranken- und Pflegekassen mit vertretbarem Finanzaufwand auch im entferntesten Winkel des Landes ihre hilfebedürftigen Versicherten bedarfsadäquat mit Pflegeberatung und Pflegebegleitung erreichen wollen, ist der gemeinschaftlich mit anderen Partnern betriebene Pflegestützpunkt die einzige effektive und effiziente Lösung. Sporadische Pflegeberatung, „virtuelle Pflegestützpunkte” sowie die Zuordnung von Care und Case Management auf unterschiedliche Institutionen erfüllen nicht die gesetzlich geforderten Voraussetzungen einer professionellen Pflegeberatung und Pflegebegleitung.« (S. 3)
Die Verfasser weisen darauf hin, dass Pflegeberatung im Pflegestützpunkt mehr ist als SGB-V- und SGB-XI-Beratung. Um die Versorgung in der eigenen Häuslichkeit durch Angehörige zu sichern, werden auch die gesetzlich oder tarifvertraglich geregelten Freistellungsansprüche von Arbeitnehmern, die finanzielle Förderung altersgerechter Wohnungsgestaltung, das Wissen über technische Hilfen im Alltag und vieles mehr gebraucht. Hilfen aus unterschiedlichen Rechts- und Zuständigkeitsbereichen müssen sich gegenseitig ergänzen bzw. ineinandergreifen. »Deshalb sollten die Kranken- und Pflegekassen bzw. ihre Verbände sowie die kommunalen Gebietskörperschaften und die Länder kooperativ zusammenwirken und daher auch gleichverantwortlich gleichberechtigte Träger der Pflegestützpunkte sein«, so Kirchen-Peters et al. (2006: 3).
Grundsätzlich wird man diesem Ansatz nicht wirklich widersprechen können, denn die höchst komplexen Aufgaben rund um das Thema Pflege lassen sich nur vor Ort bündeln. Offensichtlich will der Gesetzgeber diesen Ansatz verfolgen, wieder einmal aber erst über den Modell-Ansatz, konkret über die bereits genannten 60 Modellkommunen, die das ausprobieren können. Dazu auch die Veröffentlichung von Rolf Hoberg, Thomas Knie und Gerd Künzel: Stärkung der Kommunen in der Pflege und die Modellkommunen. Vorschläge zur Umsetzung der jüngsten Reformen (2016). Sie unterstützen diesen Ansatz, weisen aber am Ende auch darauf hin, »dass wichtige Punkte weiterhin der Umsetzung harren: die Anerkennung der Gleichartigkeit und Gleichrangigkeit von Behinderung und Pflege, die Einebnung von Leistungsdifferenzen zwischen ambulanter und stationärer Versorgung in der Pflege, die eigenständige und gleichrangige berufliche Profilierung von care-Aufgaben neben cure-Aufgaben« (S. 4).
In einer anderen Veröffentlichung (Rolf Hoberg, Thomas Klie, Gerd Künzel: Pflege in Sozialräumen. Was muss eine Strukturreform Pflege und Teilhabe leisten?, Bonn 2016) weisen die Verfasser entsprechend und deutlich darauf hin:
»Auf institutioneller Ebene müssen Beratung und Koordination in der Region (Kreis- und Landesebene) zusammengeführt und in die kommunale Daseinsvorsorge als Pflichtaufgabe eingebettet werden, damit die Cure- und Care-Aufgaben übergreifend bearbeitet werden.
Nur in kommunaler Verantwortung können die widersprüchlichen Steuerungen von wettbewerbsorientierter Krankenversicherung, einheitlich und gemeinsam handelnder Sozialer Pflegeversicherung, wettbewerbsorientierten Leistungserbringern und einheitlichen Fürsorgeleistungen überwunden werden.«
Nun könnte man an dieser Stelle durchaus berechtigt einwenden, das mag zwar theoretisch richtig sein und es gibt sicherlich auch Kommunen, in denen der Resonanzraum für so einen Ansatz vorhanden wäre bzw. schon ist. Aber in vielen Kommunen eben nicht. Wobei das eben ein grundsätzliches Dilemma aller kommunalisierten Systeme ist – man denke hier an die Kinder- und Jugendhilfe: Von Alpha bis Omega ist alles dabei. Die Varianz der Umsetzung ist dann doch ganz erheblich.
Aber auch für einen anderen Blick auf das Feld wären einheitliche Beratungs- und Koordinierungsstrukturen hilfreich und wichtig. In dem Beitrag Häusliche Betreuung und Pflege: Eine völlig berechtigte Skandalisierung, wenn hier „Sklavinnen“ unterwegs sind. Aber zugleich die bohrende Frage: Was tun? vom 5. September 2016 wurde mit Blick auf die vielen osteuropäischen Betreuungs- und Pflegekräfte für eine „Mischstrategie der Regulierung und Förderung“ plädiert, wobei ein wesentlicher Bestandteil dieses Vorschlags die Organisierung und die Vernetzung der Frauen aus Osteuropa ist, sowie die Verknüpfung mit professionellen ambulanten Pflegediensten. Nur muss das organisiert und begleitet werden. Dafür würde sich ein flächendeckendes Netz an Pflegestützpunkten quasi „aufdrängen“.
Vielleicht wird der eine oder andere an dieser Stelle erschöpft angesichts der überwiegend abstrakten Darstellung der Thematik einwerfen, was denn die bereits bestehenden Pflegestützpunkt eigentlich so machen. Dazu diese beiden Artikel aus der Praxis: Zum einen der Artikel Hilfe im Alter: Diplom-Gerontologin Mareike Schütze vom Pflegestützpunkt berät Pflegebedürftige und ihre Angehörigen sowie zum anderen der Beitrag Zwei behalten den Überblick, in dem über Heike Yalcin und Carmen Sichert aus dem Landkreis Alzey und ihrer Arbeit im Pflegestützpunkt vor Ort berichtet wird.
Fazit: Es gibt gute Argumente für eine Wiederbelebung und Ausweitung des übrigens schon einige Jahre alten Konzepts der Pflegestützpunkte als ein Bestandteil der anstehenden und erforderlichen Kommunalisierung der Pflege.
Zugleich muss man offen uns lösungsorientiert darüber diskutieren, wie man die durchaus plausiblen Argumente der Kritiker, dass sich die Pflegestützpunkte sowohl von den Betroffenen wie auch angesichts der Mischfinanzierung aus unterschiedlichen Haushalten von den beteiligten Institutionen ablösen, verselbständigen und nach einer vielleicht innovativen Aufbruchsphase vor sich hin ausbürokratisieren, außer Kraft oder zumindest abschwächen kann. Denn die damit angesprochene Gefahr ist mehr als plausibel.