Im Kontext der vom Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) angekündigten (Wieder)Einführung von 100 Prozent-Sanktionen (unter Ausklammerung der Kosten für die Unterkunft, die davon unberührt bleiben sollen) im nunmehr zum Bürgergeld umbenannten Hartz IV-System wurde verschiedentlich darauf hingewiesen, dass doch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine Sanktionierung von maximal 30 Prozent für zulässig erklärt habe. Dem ist aber nicht so – der vollständige Entzug von Leistungen wurde auch vom höchsten deutschen Gericht als Möglichkeit in den politisch gestaltbar Raum gestellt. Man muss das hier angesprochen Urteil vom 5. November 2019 – 1 BvL 7/16 des BVerfG zu Sanktionen im Sozialrecht nur genau lesen.
Dass das BVerfG unter bestimmten Umständen auch den vollständigen Leistungsentzug als nicht grundsätzlich verfassungswidrig eingestuft haben, ist begründungsbedürftig. Hierzu die Argumentation des Gerichts, die gleichsam von oben nach unten gelesen werden muss:
Zwei Begriffe sind hier von zentraler Bedeutung: Der Nachranggrundsatz und eine daraus abgeleitete Mitwirkungspflicht: Dazu das BVerfG, hier zitiert nach dem Urteil vom 5. November 2019 – 1 BvL 7/16 (Hervorhebungen nicht im Original):
»Die eigenständige Existenzsicherung des Menschen ist nicht Bedingung dafür, dass ihm Menschenwürde zukommt; die Voraussetzungen für ein eigenverantwortliches Leben zu schaffen, ist vielmehr Teil des Schutzauftrags des Staates aus Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG. Das Grundgesetz verwehrt dem Gesetzgeber jedoch nicht, die Inanspruchnahme sozialer Leistungen zur Sicherung der menschenwürdigen Existenz an den Nachranggrundsatz zu binden, solche Leistungen also nur dann zu gewähren, wenn Menschen ihre Existenz nicht selbst sichern können.«
Und aus dem Nachranggrundsatz wird dann eine Mitwirkungspflicht abgeleitet:
»Der Nachranggrundsatz kann nicht nur eine Pflicht zum vorrangigen Einsatz aktuell verfügbarer Mittel aus Einkommen, Vermögen oder Zuwendungen Dritter enthalten. Das Grundgesetz steht auch der gesetzgeberischen Entscheidung nicht entgegen, von denjenigen, die staatliche Leistungen der sozialen Sicherung in Anspruch nehmen, zu verlangen, an der Überwindung ihrer Hilfebedürftigkeit selbst aktiv mitzuwirken oder die Bedürftigkeit gar nicht erst eintreten zu lassen.«
Diese Mitwirkungspflichten müssen dann aber „geeignet, erforderlich und zumutbar sein“. Und der Gesetzgeber »kann für den Fall, dass Menschen eine ihnen klar bekannte und zumutbare Mitwirkungspflicht ohne wichtigen Grund nicht erfüllen, belastende Sanktionen vorsehen, um so ihre Pflicht zur Mitwirkung an der Überwindung der eigenen Hilfebedürftigkeit durchzusetzen.«
Vor diesem Hintergrund sei in gewissen Grenzen auch eine Sanktionierung zulässig sei, solange sie die „in diesem Bereich geltenden strengen Maßstab der Verhältnismäßigkeit“ einhalten, was dann wiederum die Verfassungswidrigkeit einer 60- oder gar 100-Prozent-Sanktionierung erklärt.
An dieser Stelle könnte man dem vorschnellen Schluss verfallen: Gut, zwar kein generelles Verbot von Sanktionen, aber eben nicht mehr als 30 Prozent.
Lesen wir aber weiter, denn man sollte sehr genau die konkrete Formulierung des Verfassungsgerichts zur Kenntnis nehmen, wenn es um das Verbot einer über die 30prozentige Kürzung hinausgehenden Absenkung oder gar dem vollständigen Wegfall der Leistungen geht:
»Die im Fall der ersten wiederholten Verletzung einer Mitwirkungspflicht nach § 31a Abs. 1 Satz 2 SGB II vorgegebene Minderung der Leistungen des maßgebenden Regelbedarfs in einer Höhe von 60 % ist nach den derzeit vorliegenden Erkenntnissen nicht mit dem Grundgesetz vereinbar.«
Das Gericht spricht hier bewusst von „nach den derzeit vorliegenden Erkenntnissen“ und meint damit: Sollten zu einem späteren Zeitpunkt eindeutige und andere Befunde hinsichtlich der Wirksamkeit von Sanktionen vorgelegt werden können, dann kann das auch durchaus dazu führen, dass man die nunmehr gesetzte Grenze von 30 Prozent maximal nach oben verschieben kann.
Und auch auf eine weitere Differenzierung in der Argumentation der Verfassungsrichter vor dem Hintergrund der nunmehr eigentlich doch verbotenen 100-Prozent-Sanktionierung sei hier hingewiesen: Das BVerfG kommt in einer Gesamtabwägung zu dem Schluss, »dass der völlige Wegfall aller Leistungen … nicht mit den hier strengen Anforderungen der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist.«
Alles klar. 100 Prozent-Kürzungen gehen eben nicht.
Oder doch? Denn dann wird dieser Passus nachgeschoben:
»Unabhängig davon hat der Gesetzgeber auch im Fall eines vollständigen Wegfalls des Arbeitslosengeldes II dafür Sorge zu tragen, dass die Chance realisierbar bleibt, existenzsichernde Leistungen zu erhalten, wenn zumutbare Mitwirkungspflichten erfüllt werden oder, falls das nicht möglich ist, die ernsthafte und nachhaltige Bereitschaft zur Mitwirkung tatsächlich vorliegt.«
Offensichtlich spricht das BVerfG hier explizit die Option eines vollständigen Wegfalls des Arbeitslosengeldes II an.
Den folgenden Passus sollte man in aller gebotenen Ruhe nachvollziehen, denn das ist das Einfallstor, durch das man nunmehr seitens des Bundesarbeitsministeriums die Verschärfung der Sanktionsregelungen rechtssicher gestalten will:
»Anders liegt dies folglich, wenn und solange Leistungsberechtigte es selbst in der Hand haben, durch Aufnahme einer ihnen angebotenen zumutbaren Arbeit (§ 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II) ihre menschenwürdige Existenz tatsächlich und unmittelbar durch die Erzielung von Einkommen selbst zu sichern. Ihre Situation ist dann im Ausgangspunkt derjenigen vergleichbar, in der keine Bedürftigkeit vorliegt, weil Einkommen oder Vermögen aktuell verfügbar und zumutbar einsetzbar sind. Wird eine solche tatsächlich existenzsichernde und im Sinne des § 10 SGB II zumutbare Erwerbstätigkeit ohne wichtigen Grund im Sinne des § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB II willentlich verweigert, obwohl im Verfahren die Möglichkeit bestand, dazu auch etwaige Besonderheiten der persönlichen Situation vorzubringen, die einer Arbeitsaufnahme bei objektiver Betrachtung entgegenstehen könnten, ist daher ein vollständiger Leistungsentzug zu rechtfertigen.« (BVerfG, Urteil vom 5. November 2019 – 1 BvL 7/16, Randziffer 209).
Man beachte, dass das BVerfG nicht nur von zumutbarer Arbeit spricht, die willentlich verweigert wird, sondern von einer „tatsächlich existenzsichernden“ Arbeit, die zumutbar ist. Offensichtlich reicht nicht jede zumutbare Arbeit aus, um hier Relevanz zu entfalten für die Möglichkeit, mit dem schärfsten Schwert des Sanktionsrechts zuzuschlagen.
Fazit: Eine Exegese des Urteils des BVerfG vom 5. November 2019 eröffnet tatsächlich die grundsätzliche Option einer auch über die immer wieder zitierte „Grenze“ von 30 Prozent-Kürzungen hinausreichende Sanktionierung. Und genau auf diesen Aspekt der Argumentation der Verfassungsrichter wird die nunmehr geplante gesetzgeberische Maßnahme abstellen müssen.
Übrigens – das ist alles alter Wein in neu daherkommenden Schläuchen
Was jetzt unter dem Druck der seit Monaten gegen die Höhe und angeblich negative Arbeitsmarkteffekte des Bürgergeldes als Entlastungsmaßnahme geplant und auf den gesetzgeberischen Weg gebracht wird, hätte man schon weitaus früher bekommen können. Denn bereits kurz nach dem Urteil des BVerfG vom 5. November 2019 wurde man mit solchen Meldungen konfrontiert: »Hartz-IV-Beziehern sollte nach Auffassung mehrerer Arbeitsminister der Union auch künftig die Unterstützung komplett entzogen werden können, wenn sie nicht kooperieren.« Vgl. dazu bereits den Beitrag Manche wollen es nicht lassen: Sie sollen wieder auferstehen, die 100-Prozent-Sanktionen im Hartz IV-System. Aber hatte nicht das Bundesverfassungsgericht …? Hat es nicht, der hier am 3. Februar 2020 veröffentlicht worden ist.
„Wenn eine verweigerte Mitwirkung keine Folgen hat, läuft das System leer“, so wurde damals der nordrhein-westfälische Arbeitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) zitiert. Und der war nicht allein. Die baden-württembergische Arbeitsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut (CDU) zählte neben Karl-Josef Laumann (NRW, CDU), Kerstin Schreyer (Bayern, CSU) und Harry Glawe (Mecklenburg-Vorpommern, CDU) zu denen, die ausdrücklich für die Forderung nach der gesetzgeberischen Normierung eines harten Sanktionsregimes plädiert haben.
Nachlesen kann man das in diesem Papier, das im Januar 2020 veröffentlicht wurde:
➔ Forderungspapier zur gesetzlichen Neuregelung der Sanktionen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende, Berlin, 27.01.2020
Neben der Skizzierung der vom BVerfG für die „Normalfälle“ an Leistungsminderungen vorgegebenen restriktiven Leitplanken wurde als eigener Punkt ausgeführt:
»Allerdings sind zusätzliche, schärfere Regelungen für diejenigen Personen zu fordern, die sich Mitwirkungspflichten beharrlich verweigern. Es widerspricht dem Gedanken der Subsidiarität und überdehnt die Solidarbereitschaft der Steuerzahler, wenn einzelne Personen eine reale und zumutbare Arbeitsmöglichkeit auch nach Anwendung der neuen Sanktionsregelungen beharrlich ablehnen. Beharrliche Verweigerung bedeutet, dass die leistungsberechtigte Person entweder durch wiederholte Verstöße, durch entsprechende Äußerungen gegenüber dem Jobcenter oder gegenüber Dritten oder auf andere Weise zu erkennen gibt, dass sie bewusst und nachhaltig nicht bereit ist, ihren Mitwirkungsverpflichtungen zu entsprechen. Es handelt sich hierbei um einen sehr kleinen Personenkreis. Die meisten Leistungsberechtigten kommen freiwillig ihren Mitwirkungspflichten nach und werden nie bzw. sehr selten sanktioniert. Zudem ist nicht jeder, der einmal sanktioniert wird, ein beharrlicher Verweigerer.«
Dann wird darauf hingewiesen: »Das BVerfG selbst hat in der Entscheidung für solche Fälle einen vollständigen Wegfall der Leistungen für zulässig erklärt.«
In dem damaligen Papier wurde dann aber schon skizziert, wie anforderungsvoll man sich eine entsprechende Regelung vorstellen muss:
»Diese gesetzliche Verschärfung für diesen Personenkreis soll nicht im Rahmen der neuen Sanktionsregelungen erfolgen, sondern zusätzlich durch eine Neuregelung der Anspruchsvoraussetzungen für den Leistungsbezug.«
»Ähnlich wie vorhandenes Einkommen oder Vermögen die Hilfebedürftigkeit ausschließt, soll dies künftig auch für die Ablehnung von zumutbaren Arbeitsmöglichkeiten und das hierdurch erzielbare und anzurechnende fiktive Einkommen gelten (§§ 9, 11 ff. SGB II). Ein Leistungsberechtigter, der beharrlich eine zumutbare Arbeitsmöglichkeit ablehnt, erhält keine oder keine vollen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts mehr (ohne Kompensation durch Sachleistungen), soweit und solange die Möglichkeit eines Einkommens durch Aufnahme einer Arbeitsmöglichkeit besteht. Denn in diesem Fall kann der Leistungsberechtigte jederzeit seine Hilfebedürftigkeit beenden bzw. verringern, indem er die Arbeitsmöglichkeit annimmt.«
Und einschränkend wird ausgeführt:
»Die Arbeit muss zumutbar sein. Das heißt ein wichtiger Grund, insbesondere Erkrankungen oder die Pflege und Erziehung von Familienangehörigen, darf ihrer Ausübung nicht entgegenstehen. Es muss sich um eine Arbeitsmöglichkeit nach arbeitsrechtlichen Grundsätzen (Arbeitsverhältnis, Beachtung des Mindestlohngesetzes, Tarifvertrag etc.) handeln. Das als Gegenleistung in Aussicht stehende Arbeitsentgelt würde im Fall der
Annahme zur Beseitigung oder Minderung der Hilfebedürftigkeit führen.«
Und zur Begründung, warum man damals den scheinbaren Umweg einer Normierung als Anspruchsvoraussetzung für den Leistungsbezug vorgeschlagen hat und nicht die Abbildung in der „normalen“ Sanktionsregelung des SGB II:
»Diese Arbeitsmöglichkeit muss auch nach der Ablehnung weiterhin offenstehen, so dass der Leistungsberechtigte sich täglich entscheiden kann, sie anzunehmen. Nur dann und solange kann man von einer sofort realisierbaren Selbsthilfemöglichkeit sprechen und ist eine Gleichbehandlung wie im Fall vorhandenen Einkommens oder Vermögens gerechtfertigt. Sobald die Arbeitsmöglichkeit nicht mehr offensteht, ist wiederum auf die Sanktionsregeln zu verweisen, mit allen verfassungsrechtlichen Beschränkungen.«
Das liest sich nicht nur kompliziert, das wäre auch hinsichtlich einer Umsetzung sehr kompliziert.
Aber schon Anfang 2020 wurde darauf hingewiesen, was die eigentliche Stoßrichtung dieses Vorschlags war: »Es widerspricht dem Gedanken der Subsidiarität und überdehnt die Solidarbereitschaft der Steuerzahler, wenn einzelne Personen eine reale und zumutbare Arbeitsmöglichkeit auch nach Anwendung der neuen Sanktionsregelungen beharrlich ablehnen.« Es ging bei Hartz IV und es geht beim „Bürgergeld“ eben nicht um ein bedingungsloses Grundeinkommen, sondern um eine bedürftigkeitsabhängige Sozialhilfeleistung.