Die große Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) ist tariffähig, sagt das Bundesarbeitsgericht. Auch da, wo sie ganz klein ist: In der Pflegebranche

In den vergangenen Monaten und Jahren ist in der pflegepolitischen Diskussion immer wieder gerade mit Blick auf die Langzeit- bzw. Altenpflege darauf hingewiesen worden, dass der extrem niedrige gewerkschaftliche Organisationsgrad der Beschäftigten mit ein Grund dafür sei, dass die von vielen ebenfalls seit Jahren angemahnten Verbesserungen der Arbeitsbedingungen nur schleppend vorankommen bzw. sogar eine weitere Verschlechterung nicht verhindert werden konnte.

Und schon vor Jahren wurde darauf hingewiesen, dass gerade in der Altenpflege mit ihren vielen eher kleinteiligen Einrichtungen und Diensten und dem zunehmenden Anteil an privat-gewerblichen Trägern ein gewerkschaftliches Machtvakuum zu beklagen sei, was auch dazu beigetragen habe, dass (im Zusammenspiel mit der Sonderrolle der den freigemeinnützigen Sektor der Altenpflege dominierenden kirchlichen Träger, die eigene Regelungswerke haben) es in diesem Bereich eine tariflose Zone geben würde, bei der man noch nicht einmal von einer „tarifpolitischen Erosion“ sprechen kann, die seit den 2000er Jahren zunehmend kritisch diskutiert wird, denn es gibt kaum, geschweige denn flächendeckende Tarifverträge.

Wolfgang Schroeder hat das in seiner bereits 2017 veröffentlichten Studie Kollektives Beschäftigtenhandeln in der Altenpflege so zusammengefasst:

»In der Teilbranche Altenpflege liegt eine fragmentierte und ressourcenschwache Akteurs- und Interessenlandschaft vor. Eine zentrale Ursache für die schwachen verbandlichen Tätigkeitsprofile ist die bislang geringe Organisationsbereitschaft der AltenpflegerInnen. Dies ist auch auf die internen Strukturen und Ressourcenausstattungen der prägenden Verbände (ver.di und DBfK) zurückzuführen. In beiden Organisationen befinden sich die AltenpflegerInnen in einer strukturellen Minderheitsposition. Das heißt, die Wahrscheinlichkeit, dass besondere Ressourcen zur Verfügung gestellt werden, um Mitglieder im Bereich der Altenpflege zu mobilisieren, ist gegenwärtig als eher gering einzuschätzen.
Der Zugang zu Betrieben und Beschäftigten wird vor allem durch die Kleinteiligkeit der Einrichtungen und die Expansion des privaten ambulanten Bereichs, in dem die Gewerkschaften durch AltenpflegerInnen weniger positiv bewertet werden, behindert. Für die Berufsverbände verringert sich das Mitgliederpotenzial im Altenpflegebereich darüber hinaus durch die niedrige Fachkräftequote und die hohe Fluktuation der Beschäftigten.« (Schroeder 2017: 132)

In einer neuen Veröffentlichung (Wolfgang Schroeder: Grenzen staatlichen Handelns zur Förderung schwacher Interessen. Das Beispiel Altenpflege, in: WS-Mitteilungen, Heft 1/2022) werden diese Zahlen über die Altenpflege berichtet:

»Nur 12,3% der Beschäftigten sind Gewerkschaftsmitglied, und einem Berufsverband gehören sogar nur 4,9% an.« (Schroeder 2022: 39)

Wie ist es dazu gekommen? Schroeder versucht sich an einem Erklärungsansatz: »Die geringen Zahlen ergeben sich zu großen Teilen aus der karitativen Historie der Altenpflege. Die späte Professionalisierung des Pflegeberufs sowie die verfestigte Aversion gegenüber kollektiver Organisierung wirken bis heute nach. Parallel blockieren Berufsmentalitäten, die zur Zurückstellung des eigenen Interesses zum Wohle des Patienten führen oder infolge derer keine sozio-ökonomische Arbeitnehmeridentifikation aufgebaut wird, eine von unten kommende Selbstorganisierung.« Vor diesem Hintergrund fehlt eine „kritische Masse“ für eine Selbstorganisation. Das hat Folgen, so Schroeder: Aus dem niedrigen Organisationsgrad leitet sich ein „Teufelskreis der defekten Interessenvertretung“ ab: Weil es wenige Gewerkschaftsmitglieder in der Altenpflege gibt, hat die Gewerkschaft auch wenige Ressourcen.

»Mehr als vier Fünftel der beruflich Pflegenden (80,3 %) wurden von einer Gewerkschaft noch nie kontaktiert, wenngleich zwei Drittel (66,1 %) ver.di kennen und diese positiv oder eher positiv einschätzen.« Das wiederum führt dann zu solchen Werten: »Statt die Arbeitgeber in die Verantwortung zu nehmen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen, adressiert eine Mehrheit der Altenpflegekräfte (86,7 %) in allererster Linie den Staat als Hauptverantwortlichen für die Verbesserung ihrer Verhältnisse.« (Schroeder 2022: 39).

Exkurs: Verdi allein zu Haus? Schroeder behauptet auf der Basis seiner Befragungsdaten, dass die Gewerkschaft ver.di angeblich von der Mehrheit der Altenpflegekräfte positiv oder sehr positiv gesehen wird, auch wenn die Gewerkschaft vor Ort kaum präsent ist. Es gibt allerdings auch viele Stimmen aus der Pflegelandschaft, nach denen es eine große Distanz gegenüber ver.di bis hin zu einer Verweigerung eines tarifpolitischen Mandats für diese Gewerkschaft geben soll, gepaart mit immer wieder vorgetragenen Forderungen, man brauche in und für die Pflege eine „eigene“, eine „echte“ Pflegegewerkschaft. Offensichtlich geht es hier um den Wunsch nach einer Spartengewerkschaft. Und tatsächlich scheint sich auf dieser Baustelle was zu bewegen: »Eine Alternative zu Verdi möchte die Spartengewerkschaft Bochumer Bund sein: jung, improvisierend, ganz fokussiert auf die Pflege und frei von Beißreflexen gegenüber Pflegekammern«, so Kirstin Gaede in ihrem im Juni 2020 veröffentlichten Beitrag Bochumer Bund: eine Gewerkschaft speziell für die Pflege. Am 12. Mai 2020 hat sich der Bochumer Bund als Pflegegewerkschaft gegründet. Allerdings: Bislang fehlen dem Bochumer Bund Streikkasse und Tarifpartner ist er selbstverständlich auch noch nicht. »So gesehen ist der Bochumer Bund (die Namensanalogie zum Marburger Bund, der Interessenvertretung der Krankenhausärzte, ist beabsichtigt) noch keine richtige Gewerkschaft.« Benjamin Jäger vom Bochumer Bund wird mit diesen Worten zitiert: »Verdi ist ein großes Sammelbecken für die unterschiedlichsten Berufsgruppen. Die Gesundheitsberufe sind nur ein Teilbereich und stehen mit rund 380.000 Mitgliedern auch numerisch schwach da. Dabei sind Pflegekräfte wiederum auch nur ein Teil der Gesundheitsberufe. Viele Pflegekräfte sind enttäuscht von Verdi, manche sind auch schon ausgetreten und zu uns gewechselt.« Man findet keine konkreten Angaben zum Organisationsgrad – aber auf der Website ein klares Bekenntnis zur Ausgestaltung als Spartengewerkschaft, denn »Spartengewerkschaften bestehen ausschließlich aus Angehörigen einer bestimmten Berufsgruppe. Trotz ihrer geringen Größe, im Vergleich zu Branchengewerkschaften, haben sie meist eine deutlich höhere Durchsetzungskraft! Der Vorteil erfolgreicher Fachgewerkschaften, wie dem Marburger Bund (ca. 127.000 Mitglieder) oder der Vereinigung Cockpit (ca. 9.600 Mitglieder), ist der hohe Organisationsgrad von bis zu 80 %. Diese Gewerkschaften bestehen ausschließlich aus hochspezialisierten Fachkräften – wie der Berufsstand der professionell Pflegenden. Im Falle eines Arbeitskampfs kann eine Fachgewerkschaft einen erheblichen Druck auf die Arbeitgeberseite ausüben, die dadurch deutlich verhandlungsbereiter ist.«
Wie dem auch sei, immer wieder wird man mit der Aussage konfrontiert, dass der Bochumer Bund die erste „Pflegegewerkschaft“ sei. Das ist allerdings nicht richtig. So hat Schroeder (2017: 103) auf etwas hingewiesen, was auch von den Aktivisten des Bochumer Bundes genau studiert werden sollte: »Bis zum Jahr 2009 existierte eine Gewerkschaft für Beschäftigte im Gesundheitswesen (BIG). Sie wurde im Jahr 1991 als Gewerkschaft Pflege gegründet und wollte „allgemeine Gewerkschaftsaufgaben übernehmen sowie als berufsbezogener Fachverband arbeiten“ … Nach ihrer Öffnung für alle Beschäftigten des Gesundheitswesens und die Umbenennung in BIG löste sie sich im Jahr 2009 aufgrund zu geringer Mitgliederzahlen auf.«

➞ An anderer Stelle kann man zu der früheren Gewerkschaft Pflege (GP) erfahren: »Die Gewerkschaft für Beschäftigte im Gesundheitswesen war eine Fachgewerkschaft für Beschäftigte im Gesundheitswesen mit Sitz in Radolfzell. Die Gewerkschaft ist aus der Gewerkschaft Pflege, die am 15. Juni 1991 von etwa 100 Beschäftigten in München gegründet wurde, hervorgegangen. Ursprünglich Aktivitäten seit 1986 im Arbeitskreis der Unterrichtskräfte an Kranken- und Kinderkrankenpflegeschulen Bodensee (AKUBO). Im November 1992 fand der 1. Gewerkschaftstag der Gewerkschaft Pflege in Kassel statt. Am 11. und 12. Dezember 1993 veranstaltete die Gewerkschaft Pflege einen 1. Pflegekongreß in Karlsruhe. Im Oktober 1994 führte sie die ersten Tarifverhandlungen mit einem privaten Arbeitgeberverband, die allerdings scheiterten. Im November 1995 gehörte sie auch als offizielles Mitglied dem bundesweiten „Runden Tisch Pflegekammer“ an. Im Februar 1996 organisierte die Pflegegewerkschaft ihren ersten Warnstreik in einem Altenheim. Im Juni 1996 folgte nach vier Jahren der 2. Gewerkschaftstag in Hannover und bestätigte erneut Winfried Mönig als Bundesvorsitzenden. Im Frühjahr 1996 hatte die Gewerkschaft Pflege rund 2.178 Mitglieder. Auf dem 3. Gewerkschaftstag im Oktober 2000 in Hannover wurde die Gewerkschaft Pflege für alle Arbeitnehmer des Gesundheitswesens, der Alten- und der Behindertenhilfe geöffnet und in Gewerkschaft für Beschäftigte im Gesundheitswesen (BIG) umbenannt. 2009 sank die Mitgliederzahl unter achthundert. Für diesen Fall sah die Gewerkschaftssatzung die Möglichkeit einer Auflösung der BIG vor. Nach vorangegangener Mitgliederbefragung wurde die BIG zum 31. Juli 2009 aufgelöst.«

Wie dem auch sei – man muss für den gegenwärtigen Zeitpunkt konstatieren, dass die Gewerkschaft ver.di schwach bis flächendeckend gar nicht in den Einrichtungen und Diensten der Altenpflege vertreten ist, was nicht nur, aber auch mit innerorganisatorischen Besonderheiten dieser großen Gewerkschaft zu tun hat, in denen zahlreiche Branchen und unter ein Dach gebracht werden sollen, was oftmals zu schwer bis unlösbaren Gleichungen führt. Die letzten Arbeitskämpfe in der Pflege bzw. pflegenahen Bereichen haben so gut wie ausschließlich im Bereich der Krankenhäuser und darunter vor allem der Universitätskliniken stattgefunden, wo ver.di über aktionsfähige Brückenköpfe in den Belegschaften verfügt. eine auch nur annähernd vergleichbare „kritische Masse“ fehlt in der Altenpflege bislang (und auf absehbare Zeit auch erwartbar) komplett.

Ein Arbeitgeberverband versucht, die offensichtliche Schwäche der Gewerkschaft vor Gericht zu bringen – und scheitert

Um eine neue Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) verstehen und einordnen zu können, müssen wir uns in das vergangene Jahr 2021 zurückversetzen – konkret in den Januar 2021. Damals ging es um die erklärte Absicht eines Teils der damaligen Bundesregierung, in der „tariflosen Zone“ Altenpflege für Ordnung zu sorgen und einen allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag zu installieren. Was sich einfacher anhört, als es war und ist, denn neben der Tatsache, dass man die Sonderstellung der konfessionell gebundenen und in der Langzeitpflege überaus gewichtigen Träger mit ihrem „dritten Weg“ berücksichtigen und nicht in Frage stellen wollte, musste man auch zur Kenntnis nehmen, dass es eben gar keinen auch nur annähernd flächendeckenden Tarifvertrag für die Einrichtungen und Dienste der Langzeitpflege gab (und gibt), den man hätte für allgemeinverbindlich erklären können. Also musste erst einmal ein solcher her, zumindest eine Blaupause für einen solchen, den man dann über die Branche hätte ziehen können.

Also hatten sich einige Akteure auf den Weg gemacht, dieses Problem „aus der Welt zu schaffen“, in dem auf der gemeinnützigen Seite extra ein eigener Arbeitgeberverband ins Leben gerufen wurde (der BVAP – Bundesvereinigung der Arbeitgeber in der Pflegebranche), der dann mit der Gewerkschaft ver.di Tarifverhandlungen geführt hat für die Altenpflege. Der BVAP und ver.di hatten im Oktober 2019 Verhandlungen über einen repräsentativen Tarifvertrag für die Altenpflege aufgenommen. Mit dem Ziel, ein Tarifwerk zu schaffen, dass dann seitens des Bundesarbeitsministeriums bzw. der Bundesregierung genutzt werden sollte für eine Allgemeinverbindlicherklärung auch gegen den Widerstand der in zwei Arbeitgeberverbänden zusammengeschlossenen privatgewerblichen Anbieter (zum einen der bpa Arbeitgeberverband und zum anderen der AGVP – Arbeitgeberverband Pflege). Die hatten im Vorfeld bereits massiven Widerstand angekündigt, u.a. wollten sie gegen den Versuch einer offensichtlich erwarteten Erklärung der Allgemeinverbindlichkeit klagen.

Und am 1. Februar 2021 war es dann soweit: Tarifvertrag Altenpflege zwischen ver.di und BVAP steht – Mindestentgelt für Pflegefachpersonen steigt in vier Schritten auf über 3.000 Euro, so war die Pressemitteilung des BVAP überschrieben. Auf eine Reaktion eines der beiden Arbeitgeberverbände – hier des AGVP – musste man nicht lange warten. Am gleichen Tag wurde diese Pressemitteilung abgesetzt: Arbeitgeberverband Pflege klagt mit Unterstützung der Evangelischen Heimstiftung auf Nichtigkeitsfeststellung des Tarifvertrags ver.di/ BVAP: »Am 29. Januar 2021 hat die Gewerkschaft ver.di mit der Bundesvereinigung der Arbeitgeber der Pflegebranche (BVAP/Teile der Arbeitgeber der Wohlfahrt) einen Tarifvertrag für die Altenpflege in Deutschland abgeschlossen. Dieser soll mit freundlicher Amtshilfe von Bundesarbeitsminister Heil für allgemeinverbindlich erklärt werden. Der BVAP bindet mit diesem Tarifvertrag weniger als 3% der 28.000 Altenpflegeunternehmen in Deutschland. Die Gewerkschaft ver.di ist in der Altenpflege so gut wie nicht existent. Deshalb klagt der Arbeitgeberverband Pflege mit Unterstützung der Evangelischen Heimstiftung Baden-Württemberg auf Nichtigkeitsfeststellung des Tarifvertrags.« Und man streut noch eine ordentliche Portion Salz auf die gewerkschaftliche Wunde: »Für einen deutschlandweit gültigen Tarifvertrag in der Altenpflege müsste die Gewerkschaft ver.di deutschlandweit durchsetzungsfähig sein und mit ihren Mitgliedern die Interessen der Arbeitnehmer deutschlandweit notfalls mit Streik durchsetzen können. Hierfür fehlen ver.di alle Voraussetzungen. Unter den Altenpflegekräften von Bayern bis Vorpommern haben ver.di-Mitglieder Seltenheitswert. In der ambulanten Pflege kennen die Arbeitnehmer ver.di bestenfalls vom Hörensagen. Mit ihren wenigen Mitgliedern unter den deutschlandweit 1,2 Millionen Arbeitnehmern in der Altenpflege gehört ver.di auf die Rote Liste der aussterbenden Arten.«

Und was genau hat diese Arbeitgeber-Gruppierung nun angekündigt? »Wir werden deshalb umgehend mit Unterstützung der Evangelischen Heimstiftung Baden-Württemberg nach § 97 Arbeitsgerichtsgesetz beim zuständigen Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg beantragen, die Tarifunfähigkeit von ver.di in der Altenpflege festzustellen. Der Tarifvertrag mit der BVAP wäre dann nichtig und insbesondere die Allgemeinverbindlichkeit gescheitert.«

Nachdem im Januar 2021 bekannt wurde, dass sich der eigens zu diesemZweck gegründete Arbeitgeberverband BVAP mit ver.di über einen Tarifvertrag verständigt hatte, drohte der andere Verband, der AGVP – Arbeitgeberverband Pflege, mit einer Klage gegen einen der Tarifakteure. Nun hätte man sich dafür die wirklich sehr überschaubare BVAP aussuchen können, die tatsächlich nur sehr wenige Pflege-Arbeitgeber unter ihrem Dach vereinigt (die Arbeiterwohlfahrt (AWO), der Arbeiter-Samariter-Bund (ASB), die Volkssolidarität und als Besonderheit der Diakonische Dienstgeberverband Niedersachsen). Aber die Arbeitgeber-Seite hat sich die Gewerkschaft ver.di vorgeknöpft. Die hat zum einen in der Altenpflege tatsächlich auch ein Repräsentationsproblem, der Organisationsgrad in der stationären und ambulanten Altenpflege ist hundsmiserabel niedrig. Zugleich wollte man sicher auch ein Zeichen setzen, dass die Gewerkschaft in der immer stärker werdenden privatgewerblichen Altenpflege auch weiterhin keinen Fuß auf den Boden bekommen wird, vor allem dann nicht, wenn man das vom Gericht bekommt, was man ins Auge gefasst hatte: eine Bestätigung, dass die Gewerkschaft ver.di mangels Masse in der Altenpflege nicht tariffähig sei, womit der eigentliche Existenzzweck der Gewerkschaft, also Tarifverträge auszuhandeln und abzuschließen, wegfallen würde.

Zur Begründung seiner Klage gegen die Gewerkschaft hat der AGVP ausgeführt, wegen der heterogenen Zuständigkeit von ver.di sei für die Prüfung der Tariffähigkeit auf die einzelnen Branchen abzustellen. In der Pflegebranche verfüge ver.di nicht über die für eine Tariffähigkeit erforderliche Durchsetzungsfähigkeit. Die Lage in der Pflegebranche unterscheide sich hier von der Lage in Krankenhäusern.

Der Gewerkschaft fehle es an Tariffähigkeit in der Altenpflege, da sie keine Durchsetzungskraft in der Branche für sich in Anspruch nehmen kann – mit dieser Argumentation zog der AGVP vor das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg. Und bekam von dort eine Antwort, aber nicht die erhoffte, denn das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg hat die Anträge des Arbeitgeberverbands Pflege zur Feststellung fehlender Tariffähigkeit der Gewerkschaft ver.di zurückgewiesen (LAG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 24.6.2021 – 21 BVL 5001/21). Die beiden Leitsätze der Entscheidung des LAG verdeutlichen bereits, warum das Begehr des klagenden Arbeitgeberverbandes zurückgewiesen werden musste:

1.) Die Tariffähigkeit einer Gewerkschaft ist bezogen auf die Organisation als Ganzes und nicht beschränkt auf einzelne Organisationsbereiche zu prüfen. Die Prüfung erfolgt im Verfahren nach § 97 ArbGG.
2. ) Die Vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) ist tariffähig.

Die Gewerkschaft ver.di ist ja nun wirklich eine der der ganz großen Gewerkschaften und damit, so die Richter, per se tariffähig. Gewerkschaft ver.di tariffähig auch für Pflege außerhalb von Krankenhäusern, so ist die Pressemitteilung des LAG Berlin-Brandenburg vom 26.08.2021 überschrieben:

»Zur Begründung hat das Landesarbeitsgericht ausgeführt, Voraussetzung für die Tariffähigkeit einer Arbeitnehmervereinigung sei, dass sie sozial mächtig und von ihrem organisatorischen Aufbau her in der Lage sei, die ihr gestellten Aufgaben einer Tarifvertragspartei zu erfüllen. Abzustellen sei auf die Durchsetzungskraft und organisatorische Leistungsfähigkeit in einem zumindest nicht unbedeutenden Teil des von der Arbeitnehmervereinigung beanspruchten Zuständigkeitsbereichs. Es gebe keine partielle, auf bestimmte Regionen, Berufskreise oder Branchen beschränkte Tariffähigkeit. Vielmehr sei die Tariffähigkeit einer Arbeitnehmervereinigung für den beanspruchten Zuständigkeitsbereich einheitlich zu beurteilen. Es sei davon auszugehen, dass eine in erheblichen Teilen des von ihr beanspruchten Zuständigkeitsbereichs durchsetzungsfähige Arbeitnehmervereinigung sich auch in den Bereichen, in denen es ihr an Durchsetzungskraft fehle, beim Abschluss von Tarifverträgen nicht den Forderungen der Arbeitgeberseite unterwerfe.
Daher habe eine etwa fehlende Durchsetzungskraft von ver.di im Bereich der Pflegebranche für sich genommen auch nicht zur Folge, dass ver.di insgesamt tarifunfähig sei. Als Gesamtorganisation sei ver.di im Sinne der Anforderungen an die soziale Mächtigkeit offensichtlich organisations- und durchsetzungsfähig sowie in der Lage, hinreichenden Druck auf den sozialen Gegenspieler aufzubauen.«

Hier hätte nun alles geklärt sein können, aber: Das Landesarbeitsgericht hat die Rechtsbeschwerde an das Bundesarbeitsgericht zugelassen.

Am 30. August 2021 wurde die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg hier in dem Beitrag Wenn private Pflege-Unternehmen die Altenpflege frei von einem allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag halten wollen und vor Gericht ziehen, dann gibt es auch ein Urteil. In diesem Fall für die Gewerkschaft besprochen. Am Ende wurde dort mit Blick auf die Zulassung der Rechtsbeschwerde beim Bundesarbeitsgericht ausgeführt: »Aber auch vom Bundesarbeitsgericht wäre kaum ein bedeutsam abweichendes Urteil zu erwarten. Soweit man das mit Blick auf Gerichte überhaupt so sagen kann.«

So ist es nun auch gekommen.

Auf die kürzeste Länge eingedampft kommt die Überschrift der Mitteilung des Bundesarbeitsgerichts vom 13. September 2022 daher: Ver.di ist tariffähig. »Mit der Entscheidung des Ersten Senats des Bundesarbeitsgerichts steht fest, dass die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) tariffähig ist. Damit kann sie Tarifverträge auch in der Pflegebranche abschließen.«

Die erhobene Rechtsbeschwerde des Antragstellers – ein Arbeitgeberverband für Pflegeeinrichtungen in Deutschland – blieb vor dem Ersten Senat des Bundesarbeitsgerichts erfolglos. Zur Begründung wird ausgeführt:

»Der auf die Feststellung einer teilweisen Tarifunfähigkeit gerichtete Hauptantrag war unzulässig. Die Tariffähigkeit ist die rechtliche Fähigkeit, im selbst beanspruchten Organisationsbereich wirksam Tarifverträge mit dem sozialen Gegenspieler abzuschließen. Diese Fähigkeit ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts für den beanspruchten Zuständigkeitsbereich einer Vereinigung einheitlich und unteilbar. Eine teilweise, auf bestimmte Branchen, Regionen, Berufskreise oder Personengruppen beschränkte Tariffähigkeit einer Koalition gibt es nicht … Damit steht rechtskräftig fest, dass ver.di tariffähig ist.«

Diese Entscheidung war nach der Vorarbeit des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg auch zu erwarten. Es bleibt etwas, das hier schon in dem Beitrag vom 30.08.2021 zur LAG-Entscheidung als Fazit formuliert wurde:

»Wenn die Frage der grundsätzlichen Tariffähigkeit also geklärt ist bzw. sein sollte, dann bleibt nur noch die Aufgabe, auch genügend Beschäftigte in den oftmals kleinteiligen Altenpflegestrukturen zu finden, die bereit sind, mit der Gewerkschaft die Tarifbindung auszubauen.«

➔ Die interessierten Beobachter werden wissen, wie die Geschichte mit dem allgemeinverbindlichen Tarifvertrag mittlerweile ausgegangen ist – denn dass ein allgemeinverbindlich erklärte Tarifvertrag für die Altenpflege nicht gekommen ist, dafür brauchte man keine Schützenhilfe seitens der Arbeitsgerichtsbarkeit, sondern das Geschäft erledigten die kirchlich gebundenen Träger. Die angestrebte Allgemeinverbindlicherklärung des ausgehandelten Tarifvertrages zwischen der sehr überschaubaren Gruppe an Arbeitgebern mit der Gewerkschaft ver.di ist gescheitert. Pikanterweise an der katholischen Caritas, die gemeinsam mit der evangelischen Diakonie hätte zustimmen müssen, was aber die „Dienstgeber“-Seite der Caritas zu verhindern wusste (und die Diakonie, die einen Tag später hätte Farbe bekennen sollen, konnte sich elegant in die Büsche schlagen und auf die ablehnende Entscheidung der katholischen Brüder und Schwestern verweisen). Ausführlicher dazu der Beitrag Was für ein unheiliges Desaster: Die katholische Caritas blockiert den Weg zu einem allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag für die Altenpflege, die Verbände der privatgewerblichen Arbeitgeber freuen sich und die Pflegekräfte ganz unten bleiben unten vom 7. März 2021.