Mit der bundesweiten Veröffentlichung von Daten zur tariflichen Bezahlung in der Langzeitpflege liefern die Landesverbände der Pflegekassen erstmals einen detaillierten Überblick über das Ausmaß der Tarifbindung von Pflegeeinrichtungen in Deutschland. Das berichtet der AOK-Bundesverband und verweist auf die Veröffentlichung der Tarifübersicht durch die Landesverbände der Pflegekassen. Hintergrund: Die Pflegekassen sind verpflichtet, jährlich eine Übersicht mit den Namen der Tarifverträge und kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen zu veröffentlichen, deren Entlohnung das regional übliche Entgeltniveau um nicht mehr als zehn Prozent überschreitet.
„Die Ergebnisse zeigen, dass aktuell deutlich weniger als ein Drittel aller Pflegeeinrichtungen in Deutschland der Tarifbindung unterliegen. Hier gibt es also noch viel Luft nach oben.“ Mit diesen Worten wird Carola Reimann, Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes, zitiert. 70 Prozent der Einrichtungen, die aktuell bereits tariflich zahlen, unterliegen kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen, die restlichen 30 Prozent sind an Haus- oder Flächentarifverträge gebunden.
Um die Bedeutung der Zahlen einordnen zu können, muss man kurz zurückschauen: Am 1. Juli 2018 wurde in diesem Blog der Beitrag Die einen wollen Tariflöhne in der Altenpflege, die anderen die Arbeitgeber genau davor bewahren. Der Weg wird kein einfacher sein veröffentlicht. Darin und in Folgebeiträgen (beispielsweise am 19. Januar 2019: Ein flächendeckender Tarifvertrag für die stationäre und ambulante Altenpflege? Es ist und bleibt kompliziert) wurde beschrieben, wie schwierig die Umsetzung der lobenswerten Absicht sein wird, in der Altenpflege zu einem für alle Beschäftigten geltenden Tarifvertrag zu kommen. Die alte Bundesregierung (oder sagen wir genauer: ein Teil davon) hatte sich in ihrem Koalitionsvertrag aus dem Jahr 2018 das Ziel gesetzt, „die Bezahlung in der Altenpflege nach Tarif“ zu stärken. „Gemeinsam mit den Tarifpartnern wollen wir dafür sorgen, dass Tarifverträge in der Altenpflege flächendeckend zur Anwendung kommen.“ So hieß es damals im Koalitionsvertrag, dafür wolle man die gesetzlichen Voraussetzungen schaffen.
Aufgrund der komplizierten Rahmenbedingungen, darunter vor allem der Stellenwert der kirchlich gebundenen Pflegeeinrichtungen und dem Beharren der Kirchen auf ihre Sonderrechte im Arbeitsrecht, war und ist das ein schwieriges Unterfangen. Der damalige (und heutige) Bundesarbeitsminister wollte dennoch den holprigen Weg hin zu einem allgemeinverbindlichen Tarifvertrag in der Alten- bzw. Langzeitpflege gehen – und viele werden sich mit Blick auf das vergangene Jahr daran erinnern, dass dieses Vorhaben dann krachend gescheitert ist. Nicht am erwartbaren Widerstand der privatgewerblichen Träger von Pflegeheimen, die vehement Front gemacht haben gegen das Ansinnen einer flächendeckenden Tarifbindung der Branche, sondern am Veto der Caritas (dazu ausführlich der Beitrag Was für ein unheiliges Desaster: Die katholische Caritas blockiert den Weg zu einem allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag für die Altenpflege, die Verbände der privatgewerblichen Arbeitgeber freuen sich und die Pflegekräfte ganz unten bleiben unten vom 7. März 2021).
Aber die Geschichte geht weiter. Zwar ist man mit dem ursprünglichen Ansatz gegen die (kirchliche) Wand gelaufen, aber man versucht es nun über einen Umweg. Man hat das SGB XI dahingehend geändert, als dass man die Zulassung zur Versorgung (und damit der Zugang zur Refinanzierung der Leistungen aus Mitteln der Pflegeversicherung) verändert hat:
➔ Die Zulassungsbedingungen zur Pflege durch Versorgungsvertrag (§ 72 Abs. 3a-f SGB XI) ändern sich für ambulante und stationäre Pflegeeinrichtungen zum 1. September 2022. Mit diesen Folgen:
1.) Es dürfen Versorgungsverträge nur mit Pflegeeinrichtungen abgeschlossen werden, die ihren Beschäftigten, die Leistungen der Pflege oder Betreuung von pflegebedürftigen Menschen erbringen, eine Entlohnung zahlen, die in Tarifverträgen oder kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen vereinbart sind, an die die jeweiligen Pflegeeinrichtungen gebunden sind.
Und was ist mit Pflegeeinrichtungen (bislang die große Mehrheit), die nicht tarifgebunden unterwegs sind? Für die greift dann ab dem Herbst 2022 diese Regelung:
2.) Mit Pflegeeinrichtungen, die nicht an Tarifverträge oder kirchliche Arbeitsrechtsregelungen gebunden sind, dürfen Versorgungsverträge nur abgeschlossen werden, wenn sie diesen Beschäftigten, eine Entlohnung zahlen, die a) die Höhe der Entlohnung eines Tarifvertrags nicht unterschreitet, dessen räumlicher, zeitlicher, fachlicher und persönlicher Geltungsbereich eröffnet ist, b) die Höhe der Entlohnung eines Tarifvertrags nicht unterschreitet, dessen fachlicher Geltungsbereich mindestens eine andere Pflegeeinrichtung in der Region erfasst, in der die Pflegeeinrichtung betrieben wird, und dessen zeitlicher und persönlicher Geltungsbereich eröffnet ist, oder c) die Höhe der Entlohnung einer entsprechenden kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen nicht unterschreitet.
Bis zum 31. August 2022 sind alle Versorgungsverträge, die mit Pflegeeinrichtungen vor dem 1. September 2022 abgeschlossen wurden, an die oben beschriebenen gesetzlichen Vorgaben anzupassen. Daraus resultiert für alle Pflegeeinrichtungen, dass sie spätestens bis zum 28. Februar 2022 mitteilen müssen, an welchen Tarifvertrag oder an welche kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen sie gebunden oder welcher Tarifvertrag oder welche kirchenarbeitsrechtliche Regelung für die Zahlung der Entlohnung für sie maßgebend sind.
Interessant und besonders relevant angesichts ihrer Größenordnung sind nun vor allem die nicht tarifgebundenen Pflegeeinrichtungen, die nach den neuen gesetzlichen Bestimmungen, wenn sie denn weiterhin irgendeine der zulässigen Tarifbindungen scheuen, diese Auflage bekommen: Alle Pflegeeinrichtungen, die noch nicht nach Tarif bezahlen, sind verpflichtet, ihren Beschäftigen ab 1. September 2022 ebenfalls Löhne auf Basis mindestens eines im jeweiligen Bundesland angewandten Tarifvertrages zu zahlen. Alternativ können sie sich bei der Bezahlung ihrer Beschäftigten an der in der Erhebung ermittelten durchschnittlichen Entlohnung für die jeweiligen Beschäftigtengruppen in ihrem Bundesland („regional übliches Entgeltniveau“) orientieren. Genau das haben die Landesverbände der Pflegekassen nun ermittelt. Herausgekommen sind diese Werte, die sicher so manchem Heimbetreiber mehr als nur Sorgenfalten ins Gesicht zimmern werden (Tabelle als PDF-Datei):
Beschäftigtengruppe A: Pflege- und Betreuungskräfte ohne mindestens einjährige Ausbildung
Beschäftigtengruppe B: Pflege- und Betreuungskräfte mit mindestens einjährige Ausbildung
Beschäftigtengruppe C: Pflege- und Betreuungskräfte mit mindestens dreijährige Ausbildung
Das Personal, das nicht in der Pflege und Betreuung tätig ist, die Pflegedienstleitung und die Auszubildenden bleiben bei der Ermittlung des regional üblichen Entgeltniveaus unberücksichtigt.
Eine Einbeziehung der variablen Zuschläge bei der Berechnung des regional üblichen Entgeltniveaus ist nicht möglich, da diese vom tatsächlichen Einsatz der oder des jeweiligen Beschäftigten und vom Pflegeeinrichtungstyp abhängig sind. Ihre Berücksichtigung würde das regional übliche Entgeltniveau verfälschen.
Die hier berechneten arbeitszeitnormierten Stundenlöhne basieren auf den Meldungen der Pflegeeinrichtungen, die bereits nach Tarif oder nach einer kirchlichen Arbeitsrechtsregelung vergüten. Die Werte geben keine Auskunft über die Höhe der Entlohnung in den nicht-tarifgebundenen Einrichtungen.
➔ Wie immer im Leben ist die tatsächliche Berechnung komplizierter als man vielleicht denkt. Wer sich für die methodischen Aspekte interessiert, die zu den ausgewiesenen Regionalwerten geführt haben, der kann das beispielhaft nachvollziehen: Rechenbeispiel zur Ermittlung des regional übliche Entgeltniveaus.
Laut der Erhebung liegt der durchschnittliche Stundenlohn über alle Beschäftigtengruppen bundesweit bei 18,95 Euro. Es zeigen sich jedoch deutliche Lohnunterschiede zwischen Ost und West: Während die durchschnittliche Entlohnung im Osten bei 17,98 Euro pro Stunde liegt, sind es im Westen 20,19 Euro.
Was bedeutet das ab September 2022?
Man muss die in der Tabelle ausgewiesenen „regional üblichen Entgeltniveaus“ in Relation setzen zu den bestehenden Lohn-Untergrenzen, die vorgegeben werden durch die Branchen-Mindestlöhne in der Pflege. Hier stellt sich die Situation so dar, dass wir drei Mindestlöhne, abgestuft nach dem Qualifikationsniveau der Pflegekräfte, haben. Die werden – bereits beschlossen – zum 1. April 2022 auf diese Beträge angehoben:
Nach der Qualifikation gestaffelte Pflege-Mindestlöhne (ab 01.04.2022):
1.) Mindestlohn für Pflegehilfskräfte (Beschäftigtengruppe A):
➔ 12,55 Euro pro Stunde
2.) Mindestlohn für qualifizierte Pflegehilfskräfte (Beschäftigtengruppe B):
➔ 13,20 Euro pro Stunde
3.) Mindestlohn für Pflegefachkräfte (Beschäftigtengruppe C):
➔ 15,40 Euro pro Stunde
Jetzt kann man ja mal anfangen zu rechnen. Nehmen wir als Beispiel das wirklich schöne Bundesland Rheinland-Pfalz:
➔ Für Pflege- und Betreuungskräfte ohne eine mindestens einjährige Ausbildung (Beschäftigtengruppe A) liegt der Mindestlohn ab April 2022 bei 12,55 Euro. Das „regional übliche Entgeltniveau“ für diese Beschäftigtengruppe beträgt ausweislich der bundesweiten Übersicht der Pflegekassen bei 16,46 Euro. Das wären dann ab September 2022 immerhin 31,2 Prozent mehr.
➔ Für die Beschäftigtengruppe B (Pflege- und Betreuungskräfte mit mindestens einjährige Ausbildung): Der Mindestlohn ab April 2022: 13,20 Euro. Das „regional übliche Entgeltniveau“ für diese Beschäftigtengruppe wird mit 18,47 Euro angegeben. Ein Plus von 40 Prozent.
➔ Und für die Beschäftigtengruppe C (Pflege- und Betreuungskräfte mit mindestens dreijährige Ausbildung) wird der Mindestlohn ab April 2022 auf 15,40 Euro ansteigen, das „regional übliche Entgeltniveau“ für diese Beschäftigtengruppe beläuft sich hingegen auf 20,18 Euro pro Stunde. Das macht einen Unterschied von 31 Prozent zum Mindestlohnniveau.
➔ Neue Pflege-Mindestlöhne: Während der Arbeit an diesem Artikel kam die Mitteilung, dass die 5. Pflegekommission die Mindestentgelte in der ambulanten und der stationären Pflege neu festgesetzt hat bzw. die folgenden Empfehlungen zur Neufestsetzung verabschiedet hat, die dann seitens der Bundesregierung formal noch umgesetzt werden müssen, wovon man aber ausgehen kann. Hier eine grafische Aufarbeitung der heute veröffentlichten Werte:
Quelle der Werte: 5. Pflegekommission: „Ein kleiner Erfolg“, Pressemitteilung der Mitarbeiterseite Arbeitsrechtliche Kommission Deutscher Caritasverband (ak.mas) vom 08. Februar 2022
Vor diesem Hintergrund kann man dann auch diesen Schritt besser einordnen: Tarifpflicht: Private Pflegeanbieter ziehen vor das Verfassungsgericht, so ist eine Meldung überschrieben, die schon am 13. September 2021 veröffentlicht wurde: »Private Anbieter haben Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht gegen die Tarifpflicht in Pflegeeinrichtungen eingelegt. Die mit dem Gesundheitsversorgungs-Weiterentwicklungsgesetz eingeführten Regelungen im Sozialgesetzbuch XI verletzten die Pflegeunternehmen in ihren Grundrechten auf Tarifautonomie, Berufsfreiheit und Gleichbehandlung und seien somit verfassungswidrig, teilten der Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste (bpa) und der Verband Deutscher Alten- und Behindertenhilfe (VDAB) am Montag mit. Mit der Tarifregelung werde ein „faktischer Tarifzwang für Unternehmen der Altenpflege geschaffen“. Daher unterstütze man die Beschwerde der Unternehmen, erklärten die Verbände.«
Dem im vergangenen Jahr veröffentlichten Artikel über die Klage kann man auch diesen Passus entnehmen: »Scharfe Kritik an dem Schritt der Privaten übte der CDU-Gesundheitspolitiker Alexander Krauß. Die Verfassungsbeschwerde schade dem Image der privaten Pflegeanbieter, sagte Krauß. Es entstehe der Eindruck, die Beschwerdeführer seien gegen eine ordentliche Bezahlung in der Pflege. Das schwäche deren Stellung im Ringen um Fachkräfte.«