Wenn das „sozialwidrige Verhalten“ im Hartz IV-System die Gerichtsleiter nach oben klettert, kommt es irgendwann beim Bundessozialgericht an (und fällt wieder runter)

Im September 2016 konnte man hier lesen: »Die Bundesagentur für Arbeit (BA) will … schärfer gegen Hartz-IV-Empfänger vorgehen, die ihre Bedürftigkeit selbst verursacht oder verschlimmert haben. Demnach sollen Betroffene, die ihre Hilfebedürftigkeit selbst herbeiführen, sie verschärfen oder nicht verringern, künftig sämtliche erhaltenen Leistungen für bis zu drei Jahre zurückzahlen müssen. Strenger ahnden sollen die Ämter demnach auch „sozialwidriges Verhalten“ von Hartz-Empfängern.« Das ist ein Zitat aus dem Artikel Jobcenter sollen „sozialwidriges Verhalten“ sanktionieren. Was muss man sich denn darunter vorstellen – „sozialwidriges Verhalten“? Das war die Leitfrage in dem hier am 2. September 2016 veröffentlichten Beitrag Wo soll das enden? Übergewichtige und Ganzkörpertätowierte könnte man doch auch … Ein Kommentar zum „sozialwidrigen Verhalten“, das die Jobcenter sanktionieren sollen. Es ging damals um neue Weisungen der BA auf der Grundlage einer Rechtsänderung, in denen dieses „sozialwidrige Verhalten“ konkretisiert wurde: »Betroffen seien etwa Berufskraftfahrer, die den Führerschein wegen Trunkenheit am Steuer verlieren und dann auf Hartz IV angewiesen sind … Die schärferen Bestimmungen könnten demnach auch Mütter treffen, die sich weigern, die Namen der Väter ihrer Kinder zu nennen. Denn dieser müsste möglicherweise Unterhalt zahlen, das Jobcenter müsste dann weniger Leistungen an die Mütter überweisen.«

In dem damaligen Beitrag habe ich zuspitzend die Frage aufgeworfen: »An dieser Stelle mal provokativ gefragt: Da geht doch noch mehr. Wie wäre es mit Übergewichtigen, die durch ihr „sozialwidriges“, weil die Hilfebedürftigkeit verlängerndes Essverhalten, einen „Schaden“ verursachen, den man doch bitte zurückfordern muss? Und wenn man schon dabei ist – wie verhält es sich mit Ganzkörpertätowierten, die nicht in die Nähe eines Vorstellungsgesprächs kommen, weil die Arbeitgeber sie aufgrund der – nun ja – mehr oder weniger künstlerischen Veredelung der Hautpartien von vornherein ablehnen? Tragen die nicht auch zu einer Verlängerung und Aufrechterhaltung ihrer Hilfebedürftigkeit bei, weil sie sich ja durch ihre Entscheidung selbst ins arbeitsmarktliche Aus geschossen haben?«

➔ Eine Zwischenbilanz der diese Problematik aufgreifenden sozialgerichtlichen Scharmützel findet man in dem Beitrag „Sozialwidriges Verhalten“ von Hartz IV-Empfängern – von der unscharfen Theorie in die vielgestaltige Praxis der sozialgerichtlichen Auslegung vom 17. Februar 2019.

Man muss bedenken: Die Frage nach der Reichweite der Definition „sozialwidriges Verhalten“ ist wahrlich nicht trivial oder ein nur semantisches Problem, denn mit der Feststellung eines solchen Verhaltens sind gravierende Folgen verbunden, die man im § 34 SGB II unter der Überschrift „Ersatzansprüche bei sozialwidrigem Verhalten“ findet:

Man muss sich klar machen, was hier normiert wurde: Betroffene, die ihre Hilfebedürftigkeit selbst herbeiführen, sie verschärfen oder nicht verringern, müssen sämtliche erhaltenen Leistungen für bis zu drei Jahre zurückzahlen müssen. Selbst der Wert von Essensgutscheinen müsste dann erstattet werden. Die Jobcenter können sämtliche Leistungen zurückverlangen. Das gelte auch für die gezahlten Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge. Und für eine darauf basierende Rückforderung seitens der Jobcenter haben die rückwirkend drei Jahre Zeit.

Es geht hier noch nicht einmal „nur“ um die bereits von vielen kritisierten befristeten Sanktionen im Sinne einer temporären Reduzierung der Hartz IV-Leistungen, es geht hier um die bis auf drei Jahre rückwirkend mögliche Zurückforderung bereits gezahlter Leistungen. Ein massiver Eingriff.

Zu den 2016 vorgenommenen Verschärfungen hatte ich angemerkt: Sie »werden Quelle zahlreicher Streitigkeiten zwischen Betroffenen und der Jobcenter-Bürokratie sein, die als sichere Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Sozialgerichte fungieren werden.«

➔ Zu den damaligen Verschärfungen diese Erläuterung: Ersatzansprüche „bei sozialwidrigem Verhalten“ (so die amtliche Überschrift des § 34 SGB II seit 2011) entstehen, wenn jemand nach Vollendung des 18. Lebensjahres durch sozialwidriges Verhalten die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen an sich und in Bedarfsgemeinschaft lebende weitere Personen vorsätzlich oder grob fahrlässig erstmals verursacht hat. Was hat man 2016 verändert? Seit dem 01.08.2016 gilt zusätzlich, „wenn die Hilfebedürftigkeit erhöht, aufrechterhalten oder nicht verringert wurde„.

So ist es dann auch gekommen – einschließlich des damit einhergehenden Beschreiten des Instanzenweges zur sozialgerichtlich höchsten Instanz, dem Bundessozialgericht. Und das hat nun ein Urteil in dieser Angelegenheit gefällt.

Das Bundessozialgericht, ein gut gebauter Joint und die Frage nach dem Führerschein

»Nach dem Verlust des Arbeitsplatzes wegen Cannabiskonsums dürfen Jobcenter nicht generell gezahlte Hartz-IV-Leistungen wegen „sozialwidrigen Verhaltens“ später zurückfordern, entschied das Bundessozialgericht.« Das kann man diesem Artikel entnehmen: Cannabiskonsum im Job muss nicht „sozialwidrig“ sein. Konkret ging es um den Fall eines (ehemaligen) Taxifahrers:

»Im Streitfall hatte ein Fahrgast 2014 die Polizei darüber informiert, dass der Taxifahrer unter Drogeneinfluss Auto fährt. Bei dem Mann wurden schließlich 2,3 Nanogramm THC je Milliliter Blut gemessen. Ab einer Konzentration von 1,0 gehen die Behörden von einer Beeinträchtigung der Fahrsicherheit aus.
Der Taxifahrer verlor nicht nur seinen Führerschein, sondern auch seine Arbeitsstelle. Das Jobcenter kürzte daraufhin die Hartz-IV-Leistungen für drei Monate um 30 Prozent.
Später legte die Behörde nach und forderte alle geleisteten Hartz-IV-Zahlungen sowie die aufgebrachten Sozialversicherungsleistungen wegen „sozialwidrigen Verhaltens“ zurück, insgesamt 3.148 Euro. Der Kläger habe seine Hilfebedürftigkeit mit dem Cannabiskonsum grob fahrlässig herbeigeführt, lautete die Begründung.«

Der nunmehr in schriftlicher Fassung vorliegenden Entscheidung des Bundessozialgerichts – BSG, Urteil vom 03.09.2020, AZ: B 14 AS 43/19 R – kann man zum Sachverhalt und den Entscheidungen der Vorinstanzen vom Sozialgericht (SG) zum Landessozialgericht (LSG) entnehmen:

»Der zuvor als Taxifahrer beschäftigte Kläger bezog von August 2014 bis Januar 2015 neben Alg aufstockendes und teilweise wegen Sperrzeit gemindertes Alg II, nachdem er bei einer Anhörung des Straßenverkehrsamts wegen einer Fahrgastbeförderung im April 2014 unter Cannabiseinfluss seine Fahrerlaubnis zurückgegeben hatte und darauf sein Arbeitsverhältnis am 6.8.2014 fristlos gekündigt worden war. Deswegen machte das beklagte Jobcenter nach Anhörung einen Ersatzanspruch in Höhe von 3148,58 Euro beim Kläger geltend (Leistungsbescheid vom 9.7.2015; Widerspruchsbescheid vom 11.8.2015).
Das SG hat den Leistungsbescheid aufgehoben (Urteil vom 20.2.2017), das LSG hat die Berufung des Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 26.2.2019): Der Kläger habe die Voraussetzungen für die Gewährung von SGB II-Leistungen nicht schuldhaft herbeigeführt. Zwar habe er seine Erwerbsmöglichkeit gefährdet und sich damit sozialwidrig verhalten. Jedoch falle das Verhalten nicht unter den eng zu fassenden Ausnahmetatbestand des § 34 SGB II, weil es über einen durchschnittlichen Sanktionsfall nicht hinausgehe.«

Das Jobcenter hat in dem beim BSG zugelassenen Revisionsverfahren eine Verletzung des § 34 SGB II gerügt: »Dem Ausnahmecharakter des § 34 SGB II trage bereits die Feststellung des sozialwidrigen Verhaltens Rechnung. Ob der Sanktionsfall überdurchschnittlich sei, sei nicht zu prüfen.« Das Jobcenter beantragt, die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 26. Februar 2019 und des Sozialgerichts Lüneburg vom 20. Februar 2017 aufzuheben.

Und was hat das BSG nun entschieden? Das Verfahren wurde an das Landessozialgericht Celle zurückverwiesen mit diesem Hinweis: »Ob der geltend gemachte Ersatzanspruch besteht, vermag der Senat auf der Grundlage der Feststellungen des LSG nicht abschließend zu entscheiden.« Das BSG begründet die erneute Prüfung des Sachverhalts durch das Zuständige Landessozialgericht damit: »In dem Fall müsse nun geprüft werden, ob dem Taxifahrer bewusst war, dass er wegen Cannabiskonsums seinen Job verlieren kann und er dann auf Hartz IV angewiesen ist. Zuungunsten falle für den Kläger aus, dass bei ihm ein sehr hoher Cannabiskonsum festgestellt wurde. Andererseits habe er die Droge bereits einen Tag zuvor in seiner Freizeit eingenommen. Dies spreche dafür, dass er nicht darauf abzielte, seinen Führerschein und seinen Job zu verlieren, um dann Hartz IV erhalten zu können.«

Also wieder zurück auf Start. Wie habe ich das 2016 formuliert: »Viel Spaß bei der Differenzierung und den sich mit Sicherheit daraus ergebenden Widersprüchen und Klageverfahren.«