»Der Pflegebranche fehlen akut Fachkräfte. In der aktuellen Corona-Krise könnte sich die Lage noch einmal deutlich verschärfen. Als eine Ursache für den Fachkräftemangel werden u. a. zu niedrige Gehälter angeführt. Seit dem Jahr 2012 sind die Entgelte in der Krankenpflege im Großen und Ganzen entsprechend der allgemeinen Lohnentwicklung gestiegen, in der Altenpflege waren die Steigerungen überdurchschnittlich.« Mit diesen Worten beginnt die zusammenfassende Darstellung einer neuen Auswertung der Lohneinkommen von Pflegekräften, die vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit (BA) auf der Grundlage der Beschäftigtenstatistik veröffentlicht wurde:
➔ Jeanette Carstensen, Holger Seibert und Doris Wiethölter (2020): Aktuelle Daten und Indikatoren: Entgelte von Pflegekräften, Nürnberg: Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), 4. November 2020
Man erkennt in den aktuellen Entgelt-Daten sowohl bei den Fach- wie auch den Hilfskräften das seit langem und weiterhin bestehende Gefälle zwischen der Krankenhaus- und der Altenpflege. Die Pflegefachkräfte in den Krankenhäusern verdienen im Mittel 17 Prozent mehr als die in der Altenpflege, bei den Helfern sind es sogar fast 25 Prozent Differenz zuungunsten derjenigen, die in der Altenpflege arbeiten. Und innerhalb der Altenpflege gibt es dann auch noch einmal eine durchaus erhebliche Entgeltdifferenz, wie wir gleich sehen werden.
Nun sind die Pflegekräfte und der allgemeine Mangel an ihnen ja nicht erst seit der Corona-Krise andauernd in der Berichterstattung. Insofern müsste es hinsichtlich der Lohnentwicklung in den vergangenen Jahren eine über dem allgemeinen Durchschnitt liegende Anstiege der Verdienste für Pflegekräfte gegeben haben. Dem ist aber nur eingeschränkt so: Das IAB berichtet zu diesem Punkt: »Seit dem Jahr 2012 sind die Entgelte in der Krankenpflege im Großen und Ganzen entsprechend der allgemeinen Lohnentwicklung gestiegen, in der Altenpflege waren die Steigerungen überdurchschnittlich … Gegenüber 2012 sind die Entgelte in der Altenpflege um gut 28 Prozent gestiegen (Helfer: +27,6 %; Fachkräfte: +27,8 %). In der Krankenpflege erzielen die Fachkräfte 2019 dagegen 19,9 Prozent höhere Entgelte als noch 2012. Die Entgelte für Helfer erhöhten sich um 17,2 Prozent. Im Vergleich ist die Entlohnung aller Vollzeitbeschäftigten zwischen 2012 und 2019 um 18,3 Prozent angestiegen.«
Das Vergütungsgefälle zwischen den unterschiedlichen Pflegebereichen
Für die Höhe der Vergütung der Pflegekräfte spielt es eine nicht zu unterschätzende Rolle, in welchem Pflegesetting die Fach- und Hilfskräfte eingesetzt werden. Dass es hier erhebliche Unterschiede geben kann, hat bereits die Unterscheidung zwischen Krankenhaus- und Altenpflege verdeutlicht. Auch innerhalb er Altenpflege gibt es ein Lohngefälle – zwischen stationärer und ambulanter Pflege:
Die Fach- und Hilfskräfte in den ambulanten Pflegediensten stehen am unteren Ende der Vergütungskette. So verdienen beispielsweise Fachkräfte in der ambulanten Altenpflege über alle Bundesländer mehr als 12 Prozent weniger als die in den Pflegeheimen. Und wenn Altenpflege-Fachkräfte in den Kliniken arbeiten (und die rekrutieren aufgrund des Pflegekräftemangels zunehmend auch Altenpflege-Fachkräfte), dann bekommen die mehr als 10 Prozent höhere Löhne als wenn sie im Pflegeheim arbeiten und gegenüber dem Vergütungsniveau in der ambulanten Pflege sind es sogar mehr als 25 Prozent. Das tiefe Niveau der Vergütung der ambulant tätigen Pflegekräfte muss man auch deshalb besonders kritisch sehen, weil es hier in den vergangenen Jahren einen – auch politisch vorangetriebenen – besonders starken Nachfrageanstieg gegeben hat, eine Nachfrage, die zunehmend aufgrund fehlenden Personals nicht mehr bedient werden kann.
Auch zwischen den Bundesländern gibt es erhebliche Unterschiede in der Vergütung
Die regionalen Entgeltunterschiede sind wie schon in der Vergangenheit noch immer erheblich. Das generelle Ost-West-Gefälle – so verdienen Beschäftigte in Ostdeutschland 2019 im Schnitt 20 Prozent weniger als in Westdeutschland – ist auch bei den Pflegeberufen erkennbar, wenn auch prozentual gesehen etwas weniger: Das mittlere Bruttoentgelt der Fachkräfte in der Altenpflege liegt in Ostdeutschland mit 2.707 Euro gut 13 Prozent unter demjenigen in Westdeutschland mit 3.120 Euro. Fachkräfte in der Krankenpflege erhalten im Osten im Mittel 10,3 Prozent weniger als im Westen.
»Die Entgelte im Pflegesektor unterscheiden sich nicht nur zwischen Ost- und Westdeutschland, sondern auch zwischen einzelnen Bundesländern erheblich. Bei den Fachkräften in der Krankenpflege liegt die Spannweite zwischen 3.109 Euro in Brandenburg und 3.818 Euro im Saarland (+22,8 % gegenüber Brandenburg), bei den Fachkräften in der Altenpflege zwischen 2.532 Euro in Sachsen-Anhalt und 3.326 Euro in Baden-Württemberg (+31,4 % gegenüber Sachsen-Anhalt. Die regionalen Unterschiede fallen bei den Helfern in der Pflege nochmals höher aus. So variiert die Entlohnung bei den Helfern in der Krankenpflege zwischen 2.045 Euro in Mecklenburg-Vorpommern und 2.970 Euro in Rheinland-Pfalz (+45,2 % gegenüber Mecklenburg-Vorpommern), bei den Helfern in der Altenpflege zwischen 1.903 Euro in Sachsen und 2.412 Euro in Nord- rhein-Westfalen (+26,7 % gegenüber Sachsen).« Das sind enorme Unterschiede auf der Ebene der Bundesländer.
Was muss man bei der Interpretation dieser Zahlen beachten?
Man sollte sich allerdings bewusst sein, was die hier präsentierten Gehaltsangaben (nicht) aussagen. Immer wieder gibt es die bekannte Sehnsucht nach der einen Zahl, die man verwenden kann: Wie viel bekommt eine Pflegekraft, die im Krankenhaus oder in einem Pflegeheim arbeitet? Wie viele Pflegekräfte fehlen derzeit in Deutschland? Um nur mal zwei Beispiel zu nennen, mit denen man gerade von Seiten der Medien immer wieder konfrontiert wird. Aber die wirkliche Wirklichkeit ist weitaus vielschichtiger und komplizierter.
Man kann das an den hier verwendeten Daten zum mittleren Einkommen der Pflegekräfte verdeutlichen. In den methodischen Erläuterungen merkt das IAB an: »Die Entlohnung von Pflegekräften wird in dieser Untersuchung durch die Bruttoarbeitsentgelte ermittelt, die im Meldeverfahren zur Sozialversicherung erhoben werden. Diese Angaben entsprechen den tatsächlichen Zahlungen der Arbeitgeber, wobei nur die steuerpflichtigen Sonderzahlungen und Zuschläge für Nachschichten sowie Sonn- und Feiertagsdienste einfließen.« Das nun wieder ist gerade im Pflegebereich von Bedeutung, denn: »Der steuerfreie Anteil der Zuschläge wird den Sozialversicherungsträgern nicht übermittelt und findet demnach in dieser Analyse keine Berücksichtigung.«
Aber von besonderer Bedeutung ist der folgende Hinweis: »Da für die Teilzeitbeschäftigten keine Angaben zur vereinbarten Stundenzahl vorliegen, können sich die Analysen nur auf die Vollzeitbeschäftigten (ohne Auszubildende) beschränken.« Nun wird der eine oder andere richtigerweise anmerken, dass das allerdings eine erhebliche Einschränkung der Daten bedeutet, wenn man daran denkt, dass gerade im Pflegebereich nicht nur viele Frauen, sondern auch sehr viele Teilzeitbeschäftigte unterwegs sind. Darauf weisen die Wissenschaftler vom IAB auch deutlich hin: »Insgesamt konnten die Entgelt-Daten von über 435.000 Fachkräften und 134.000 Helfern in den Pflegeberufen mit Vollzeit-Beschäftigungsverhältnissen ausgewertet werden. Zu berücksichtigen ist, dass wegen des hohen Teilzeitanteils nur 45 Prozent der Beschäftigten in den ausgewählten Pflegeberufen in die Analysen einfließen. Die vielen Teilzeitbeschäftigten in der Pflege erreichen gegenüber den hier ausgewiesenen Vollzeitlöhnen entsprechend niedrigere Lohnpositionen.«
Um den Stellenwert der Teilzeitarbeit zu veranschaulichen, hier ein Zahlenbeispiel:
➔ Nach der amtlichen Pflegestatistik von Ende 2017 stellt sich mit Blick auf die ambulanten Pflegedienste die Situation so dar: Insgesamt arbeiteten in den ambulanten Pflegediensten 390.000 Personen im Rahmen des SGB XI. (Dies entspricht bei einer Gewichtung nach der jeweiligen Arbeitszeit ungefähr 266 000 Vollzeitäquivalenten). Die Mehrzahl der beschäftigten Personen (86 %) war weiblich. Mit 69 Prozent war die Mehrheit des Personals teilzeitbeschäftigt. 28 Prozent der Beschäftigten arbeitete Vollzeit.
➔ In den Pflegeheimen waren insgesamt 765.000 Personen beschäftigt. (Dies entspricht bei einer Gewichtung nach der jeweiligen Arbeitszeit ungefähr 552,000 Vollzeitäquivalenten). Weniger als ein Drittel (29 Prozent) der Beschäftigten arbeitete Vollzeit – also ein etwas höherer Anteil als im ambulanten Bereich. Teilzeitkräfte machten knapp zwei Drittel (63 Prozent) der Beschäftigten aus.
Quelle: Stefan Sell (2020): Die Speerspitze der neuen systemrelevanten Berufe: Was ein Teil der Pflegekräfte in Krankenhäuser und in der Altenpflege in der Mitte verdient. Und was die Zahlen nicht zeigen (können), in: Aktuelle Sozialpolitik, 4. April 2020)
Und dann noch dieses Durchschnittsproblem …
Durchschnitte sollen bekanntlich eine komplexe Datenlage vereinfachen und auf eine Zahl verdichten – aber das kann zuweilen auch nach hinten losgehen. So glauben dann viele (selbst und nicht selten gerade Wissenschaftler), dass „die“ Fachpflegekräfte in der Altenpflege 3.032 Euro brutto im Monat bekommen. Das ist ja der auch hier ausgewiesene mittlere Wert. Aber sogleich wird es selbst viele Vollzeitkräfte, denn nur deren Verdienste gehen ein in den mittleren Wert (hier wird völlig richtig der Median verwendet, also 50 Prozent verdienen weniger und 50 Prozent verdienen mehr als den Medianwert, nicht das arithmetisches Mittel, das besonders empfindlich ist gegen Ausreißerwerte, so dass einige wenige Fälle mit sehr hohen Einkommen den Durchschnittswert viel stärker nach oben ziehen als das beim Medianwert passieren kann), geben, die sich verwundert die Augen reiben und die dann darauf hinweisen, dass sie selbst viel weniger Geld bekommen für ihre Arbeit. Statistisch und darüber hinaus ganz praktisch gesehen ist hier entscheidend: Auf die Streuung der vielen Einzelwerte kommt es an, die alle in den Durchschnitt oder den mittleren Wert einfließen. Wenn wir also eine Lohnverteilung hätten, bei der es eine starke Streuung der Einzelwerte gibt, dann kann ein durchschnittlicher Wert zuweilen mehr verdecken als er an Aufklärung bringt.
In der hier vorgestellten Publikation des IAB gibt es keine Hinweise auf die Streuung der Werte. Um einen ersten Eindruck von der tatsächlichen Streubreite zu vermitteln, habe ich mir die Daten aus dem Entgeltatlas der BA angeschaut, wo ebenfalls mit den Angaben aus der Beschäftigungsstatistik gearbeitet wird. Daraus ergibt sich dann das folgende Bild:
So kann man diesen Zahlen entnehmen, dass immerhin jede vierte Fachkraft in der Altenpflege in Deutschland, die in Vollzeit arbeitet, weniger als 2.600 Euro brutto im Monat mit nach Hause bringt.
Das passt dann leider auch zu solchen Feststellungen (vgl. dazu den Beitrag Das kann es doch gar nicht geben: Ein Anstieg der Arbeitslosigkeit unter den Pflegekräften. Anmerkungen zu einem scheinbaren Widerspruch – und zu den immer noch vielen Niedriglöhnern in den Pflegeberufen vom 26. August 2020):
Mehr als jede vierte Pflegekraft in Deutschland zählt zum Niedriglohnsektor. Als Niedriglohn gilt eine Entlohnung, die weniger als zwei Drittel des durchschnittlichen Stundenlohns von Vollzeitbeschäftigten beträgt. 28,3 Prozent der Altenpflegerinnen und Altenpfleger fallen laut den Zahlen der Bundesagentur in diese Kategorie. Im Osten Deutschlands liegt der Anteil demnach mit 40,7 Prozent deutlich höher, im Westen beträgt er 25,3 Prozent. Betroffen sind besonders Helfer in der Altenpflege, die keine Fachausbildung absolviert haben. Hier betrage der Niedriglohnanteil bundesweit 58 Prozent und in Ostdeutschland sogar 78,5 Prozent.
Man muss solche Zahlen nicht weiter kommentieren.