Das kann es doch gar nicht geben: Ein Anstieg der Arbeitslosigkeit unter den Pflegekräften. Anmerkungen zu einem scheinbaren Widerspruch – und zu den immer noch vielen Niedriglöhnern in den Pflegeberufen

Dass es in „der“ Pflege einen Fachkräfte- und sogar einen generellen Arbeitskräftemangel gibt, das würden sicher viele unterschreiben und als Tatbestand nicht in Zweifel ziehen. Zu lange schon gibt es zu viele Berichte über die vielfältigen Mangellagen in „der“ Pflege. Vor diesem generellen Hintergrund werden dann auch viele ungläubig auf solche Meldungen schauen: Arbeitslosigkeit steigt auch bei Pflegekräften: »In der Coronakrise ist auch die Arbeitslosigkeit von Pflegekräften gestiegen. In der Altenpflege erhöhte sich die Zahl der arbeitslosen deutschen Beschäftigten seit dem Jahreswechsel bis Ende Juni um 27 Prozent auf etwa 27.700, bei den ausländischen um 37 Prozent auf rund 10.000, wie die Bundesagentur für Arbeit mitteilte.«

Und Jochen Knoblach berichtet aus Berlin: Mehr als 800 Berliner Pflegekräfte haben ihren Job verloren: So »gab es in der Berliner Krankenpflege im Juli etwa 200 Arbeitslose mehr als im Juli vergangenen Jahres, was einem Anstieg um 27 Prozent entspricht. In der Altenpflege wurden 2.740 Arbeitslose gezählt. Das waren sogar über 600 mehr als im Juli 2019, ein Anstieg um 30 Prozent.«

Da werden sich viele fragen: Wie kann das denn sein?

»Über die Gründe dafür ist man sich in der Berliner Arbeitsagentur im Unklaren. Schließlich ist dort der Fachkräftemangel im Pflegebereich bekannt. Bei der Gewerkschaft Verdi vermutet man, dass Jobs vor allem bei ambulanten Pflegediensten gestrichen wurden, weil Familienmitglieder im Homeoffice während Corona die häusliche Pflege eines Angehörigen oft selbst übernahmen oder sie den Kontakt der Betreuungsperson mit dem Pflegepersonal vermeiden wollten. Meike Jäger, bei Verdi für den Bereich Gesundheit und Pflege in Berlin verantwortlich, geht daher davon aus, dass viele Jobs dort wieder zurückkehren werden. Sie hat aber auch erfahren, wie in Altenheimen Stellen für Ergo- und Physiotherapeuten unter dem Vorwand von Corona gestrichen wurden, um Kosten zu sparen«, so Knoblach in seinem Artikel über die Situation in Berlin.

Dieser Erklärungsansatz verweist auf zwei relevante Aspekte, die beide zugleich untermauern, dass man nicht von „der“ Pflege sprechen kann, sondern einen differenzierten Blick auf die unterschiedlichen Bereiche werfen muss, weshalb auch am Anfang dieses Beitrags „die“ Pflege in Anführungszeichen gesetzt wurde, weil es eben „die“ Pflege nicht gibt:

➞ Zum einen sind die einzelnen Pflegebereiche von der Corona-Krise unterschiedlich stark getroffen worden. Da gab es Bereiche, in denen nur mit viel Müh und Not die Versorgung aufrechterhalten werden konnte und das auch nur unter wahrlich überdurchschnittlichen und höchst riskantem Einsatz der Pflegekräfte. Man denke hier an die vielen Pflegeheime. Und die oftmals in der Berichterstattung vergessenen ambulanten Pflegedienste standen vor dem Problem, dass sie am schlechtesten ausgestattet waren mit elementaren Schutzmaterialien, zugleich aber zahlreiche Patienten pro Tag zu Hause besucht haben, was eine Vielzahl an Risikoquellen für die Pflegebedürftigen wie auch für die Mitarbeiter selbst mit sich bringt. Zum anderen aber gab es teilweise erhebliche „Umsatzrückgänge“ mit entsprechenden Folgen für einzelne Dienste, da teilweise auf die Dienstleistungen seitens der Betroffenen und ihrer Angehörigen verzichtet wurde aus Angst vor einer Ansteckung. Bei den oftmals sehr kleinen und finanziell mit wenig bis kaum vorhandenen finanziellen Reserven ausgestatteten Pflegediensten kann das zu nur auf den ersten Blick paradox erscheinenden Entlassungen beigetragen haben.

➞ Zum anderen gab es aber auch Bereiche, in denen die Corona-Krise zu einer Art Vollbremsung geführt hat, man denke hier an viele Krankenhäuser, in denen zahlreiche diagnostische und therapeutische Verfahren aufgeschoben bzw. abgesagt wurden, um für eine damals erwartete Welle an Covid-19-Patienten gerüstet zu sein. Dies wurde ja auch von der Politik so vorgegeben und mit einer Ausfallfinanzierung der dadurch nicht belegten Betten über das COVID-19-Krankenhausentlastungsgesetz* aufgefangen. Faktisch gab es nicht wenige klinische Bereiche, in denen das Personal und darunter auch die Pflegekräfte sogar „unterbeschäftigt“ waren. Möglicherweise wurde das von dem einen oder anderen Klinikträger ausgenutzt, um „Personalanpassungen“ vorzunehmen.

*) Mit dem COVID-19-Krankenhausentlastungsgesetz, das am 28. März 2020 in Kraft getreten ist, wurden mehrere Regelungen zum Ausgleich von Sonderbelastungen durch das neuartige Coronavirus SARS-CoV-2 geschaffen, darunter eine Freihaltepauschale in Höhe von einheitlich 560 Euro kalendertäglich für jedes nicht belegte Klinikbett. Die für alle Krankenhäuser gleiche Pauschale hat vereinfacht gesagt dazu geführt, dass kleinere Kliniken einen Vor- und vor allem die sehr großen Kliniken mit deutlich „teureren“ Patienten einen Nachteil hatten. Darauf wurde zwischenzeitlich bereits reagiert: Seit dem 13. Juli 2020 gelten anstelle der bis dahin einheitli- chen Pauschale für alle Krankenhäuser differenzierte Beträge in fünf Stufen zwischen 360 und 760 Euro. Die Zuordnung der Krankenhäuser zu den Stufen erfolgt auf Basis des durchschnittlichen Schweregrades (Casemixindex), geteilt durch die durchschnittliche Verweildauer im jeweiligen Krankenhaus (Datenbasis 2019). Zugleich wurden die Pauschalen für Krankenhäuser, die ausschließlich teilstationäre Leistungen erbringen, sowie von psychiatrischen und psychosomatischen Einrichtungen, deren Leistungen nach der Bundespflegesatzverordnung vergütet werden, abgesenkt und angepasst. Für diese Einrichtungen wurde eine systematische Überkompensation durch die ursprünglich einheitliche Pauschale festgestellt. So eines der Ergebnisse aus dem Abschlussbericht zur Überprüfung der Auswirkungen der Regelungen in den §§ 21 bis 23 auf die wirtschaftliche Lage der Krankenhäuser durch den Beirat gemäß § 24 Krankenhausfinanzierungsgesetz, August 2020).

Die Daten zur Arbeitslosigkeit unter den Pflegeberufen stammen aus dieser Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage im Bundestag:

➔ Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage Beschäftigte in der Alten- und Krankenpflege, Bundestags-Drucksache 19/21684 vom 17.08.2020

Aber diese Antwort der Bundesregierung gibt noch mehr her. Denn dort finden wir auch aktuelles Zahlenmaterial zu einem ebenfalls seit Jahren kritisch diskutierten Tatbestand: der von vielen Seiten als zu niedrig beklagten Vergütung der Pflegekräfte.

»Mehr als jede vierte Pflegekraft in Deutschland zählt zum Niedriglohnsektor. Als Niedriglohn gilt eine Entlohnung, die weniger als zwei Drittel des durchschnittlichen Stundenlohns von Vollzeitbeschäftigten beträgt«, können wir der Meldung Arbeitslosigkeit steigt auch bei Pflegekräften entnehmen: »28,3 Prozent der Altenpflegerinnen und Altenpfleger fallen laut den Zahlen der Bundesagentur in diese Kategorie. Im Osten Deutschlands liegt der Anteil demnach mit 40,7 Prozent deutlich höher, im Westen beträgt er 25,3 Prozent. Betroffen sind besonders Helfer in der Altenpflege, die keine Fachausbildung absolviert haben. Hier betrage der Niedriglohnanteil bundesweit 58 Prozent und in Ostdeutschland sogar 78,5 Prozent.«

Über welche Größenordnungen hinsichtlich der Arbeitsentgelte reden wir hier? Die folgende Abbildung kann eine erste grobe Annäherung liefern:

Man muss bei der Interpretation dieser Werte nicht nur berücksichtigen, dass es sich (nur) um die Bruttomonatsverdienste der Vollzeitbeschäftigten handelt – gerade in den Pflegeberufen ist der Teilzeitanteil aber sehr hoch.

➔ Hierzu mit Blick auf die Altenpflege nur ein Beispiel auf der Basis der Daten der Pflegestatistik 2017:
Ambulante Pflegedienste: Mit 69 Prozent war die Mehrheit des Personals teilzeitbeschäftigt. 28 Prozent der Beschäftigten arbeitete Vollzeit.
Pflegeheime: Weniger als ein Drittel (29 Prozent) der Beschäftigten arbeitete Vollzeit – also ein etwas höherer Anteil als im ambulanten Bereich. Teilzeitkräfte machten knapp zwei Drittel (63 Prozent) der Beschäftigten aus.

Fazit: Man erkennt bereits bei einem ersten und sehr groben Blick auf die durchschnittliche Vergütungssituation das weiterhin ausgeprägte Gefälle zwischen der Krankenhaus- und der Altenpflege, sowohl bei den Fachkräften wie auch bei den Helfern. Vereinfacht gesagt: Die Krankenhauspflegekräfte werden besser bezahlt als die in der Altenpflege Beschäftigten. Hinzu kommt: Das Gefälle zwischen Krankenhaus- und Altenpflege muss erweitert werden um ein Gefälle innerhalb der Altenpflege zwischen den Pflegeheimen und den ambulanten Pflegediensten. Vgl. dazu ausführlicher den Beitrag Die Speerspitze der neuen systemrelevanten Berufe: Was ein Teil der Pflegekräfte in Krankenhäuser und in der Altenpflege in der Mitte verdient. Und was die Zahlen nicht zeigen (können) vom 4. April 2020.

Man kann es drehen und wenden wie man will: Die Vergütung der Pflegeberufe ist vor dem Hintergrund der anspruchsvollen und in vielerlei Hinsicht sehr belastenden Arbeit in Verbindung mit der Tatsache, dass die betroffenen Patienten und Bewohner oftmals den in den Einrichtungen und Diensten arbeitenden Menschen ausgeliefert und von ihnen extrem abhängig sind, definitiv zu niedrig. Und besonders bedenklich ist das dann auch noch erkennbare Vergütungsgefälle zuungunsten der Altenpflege mit der ambulanten Altenpflege am Ende der Kette. Aber das wird ja schon seit langem problematisiert und diskutiert und ebenfalls seit langem werden den Pflegekräften nun aber wirklich deutliche Verbesserungen bei der Entlohnung ihrer so bedeutsamen Arbeit wie eine Wurst vor die Augen gehalten. Meinetwegen auch wie ein schönes Stück Obst, falls hier Vegetarier oder gar Veganer unter den Lesern sein sollten. Egal. Bald ist wieder Weihnachten, könnte ein zynisch bilanzierender Beobachter der letzten Jahre die wie Stehaufmännchen die Bühne schmückenden hoffnungsvollen Botschaften karikieren. Wenn es denn nicht wirklich so traurig wäre, dass viele hart arbeitende Menschen (das ist ja auch so ein Begriff aus der zeitgeistigen Mottenkiste) schlichtweg so mies bezahlt werden. Dass bei den Helferberufen in der Altenpflege mehr als jeder zweite Vollzeitbeschäftigte, im Osten sogar 78 Prozent unterhalb der Niedriglohnschwelle verdienen, ist einfach nur skandalös.