Hartz IV kann jetzt weg. Sagt die SPD. Von Verbesserungen für die einen und Stillstand für die anderen. Allerdings semantisch zu einem „Bürgergeld“ aufgehübscht

Keine Frage, Hartz IV hängt der deutschen Sozialdemokratie schwer in den Kleidern. Und bereits in der Vergangenheit gab es immer wieder zumeist verzweifelt daherkommende Versuche, den Begriff zu entsorgen. Im vergangenen Jahr war es beispielsweise der Vorstoß des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Michael Müller, ein Beschäftigungsprogramm zum „solidarischen Grundeinkommen“ aufzublasen und damit nicht nur den Hartz loszuwerden, sondern gleich auch noch den bei vielen positiv besetzten Begriff des Grundeinkommens zu kapern (vgl. dazu ausführlicher Die abgehobene und letztendlich verlogene Hartz IV-Debatte vom 8. April 2018). Und am Ende des vergangenen Jahres wurde in weiterer Vorstoß aus dem SPD-Lager bekannt: der Generalsekretär Lars Klingbeil hat ein „Grundeinkommensjahr“ in die Debatte geworfen (vgl. dazu Vom „solidarischen Grundeinkommen“ jetzt zum „Grundeinkommensjahr“? Neues aus der sozialdemokratischen Debattenwelt vom 8. November 2018). Das alles war mehr als durchsichtig der Versuch, den Zementblock Hartz IV loszuwerden.

Aber jetzt endlich meldet die Zentrale der deutschen Sozialdemokratie auch (oder vor allem?) angesichts der miserablen Umfragewerte und der anstehenden Wahlen (nicht nur hinsichtlich der Europa- und der parallel stattfindenden Bürgerschaftswahl in Bremen am 26. Mai, sondern gerade mit Blick auf die ostdeutschen Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen am 1. September und in Thüringen am 27. Oktober 2019) Vollzug: Hartz IV kann weg und das „Bürgergeld“ könnte kommen, wenn man die SPD machen ließe.

Die mittlerweile intensiv diskutierten Vorschläge finden sich in diesem Papier:

➔ SPD-Parteivorstand (2019): Arbeit – Solidarität – Menschlichkeit: Ein neuer Sozialstaat für eine neue Zeit. Teil 1: Arbeit, Berlin, Februar 2019

Mit diesem Konzept eröffnet die SPD eine Reihe von Reformvorschlägen zum „Sozialstaat für eine neue Zeit“, hier mit dem Fokus auf „Chancen und Schutz in der neuen Arbeitswelt“. Antworten für die Sozialstaatsbereiche der Alterssicherung, Gesundheit sowie Pflege und Wohngeld sollen folgen.

Nicht wenige in der SPD berauschen sich an der ausgegebenen Parole, mit dem Konzept „Sozialstaat für eine neue Zeit“ habe die Partei die Blaupause für eine moderne soziale Sicherheitsarchitektur vorgelegt und mit dem wesentlich netter daherkommenden Begriff „Bürgergeld“ könne man nun endlich das für die Sozialdemokratie existenzbedrohende „Hartz IV“ entsorgen. Insgesamt ein erfolgreicher sozialstaatlicher Frühjahrsputz, der da hingelegt wurde. Schauen wir einmal genauer hin.

Um eine erste Einordnung den weiteren Ausführungen voranzustellen: Das Konzept der SPD enthält für bestimmte Personen eindeutig Verbesserungen ihrer sozialen Absicherung sowie der Optionen, die ihnen seitens des Sozialstaats angeboten werden (sollen). Das darf man gerade mit Blick auf die Menschen durchaus positiv hervorheben.

Auf der anderen Seite aber ist die Behauptung, man würde nun Hartz IV durch ein „Bürgergeld“ und damit durch eine substanziell andere Leistung ersetzen (dieser Eindruck soll ja explizit über den neuen Terminus transportiert werden), eine Fata Morgana, handelt es sich doch im Kern lediglich um eine semantische Umetikettierung des Bestehenden mit einigen wenigen in Aussicht gestellten Modifikationen.

Im ersten Teil des Konzepts geht es um „Chancen und Schutz in der neuen Arbeitswelt“. Darunter befinden sich Punkte, die als Botschaft an die Gewerkschaften zu verstehen sind, wie beispielsweise „Tarifbindung stärken“ und „mehr Mitbestimmung“, was das gewerkschaftliche Ohr sicher gerne hört. Wie das genau gehen soll? »Wir werden daher tarifgebundene Unternehmen steuerlich besserstellen als nicht-tarifgebundene Unternehmen. Es muss darüber hinaus einfacher werden, Tarifverträge für ganze Branchen verbindlich zu machen. Dafür werden wir das Vetorecht der Arbeitgeber bei Allgemeinverbindlicherklärungen von Tarifverträgen abschaffen, damit sie diese nicht mehr blockieren können.« Schon dieses Beispiel verdeutlicht zugleich, dass es sich hier um ein erst einmal rein programmatisches Papier handelt, auch wenn da steht „wir werden“, denn das werden die Sozialdemokraten mit den Unionsparteien sich nie machen können. Die übrigens schon seit langem und von unterschiedlichen Seiten immer wieder vorgetragene Forderung, die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen zu erleichtern, ist wohlfeil – im Koalitionsvertrag der jetzigen GroKo hat die SPD überhaupt keinen Forderungspunkt die Weiterentwicklung des tarifpolitischen Instrumentariums betreffend untergebracht. Und die Mitbestimmung? Hier verliert man sich im Nebulösen: »Wir werden die Mitbestimmung als das demokratische Prinzip und stabile Rückgrat der deutschen Wirtschaft stärken. Die Unterdrückung von Mitbestimmung wird härter bestraft.«

Natürlich darf der Mindestlohn nicht fehlen. »Die Einführung des Mindestlohns war ein Quantensprung. Er muss aber weiter steigen. Die Sozialpartner brauchen daher einen besseren Rahmen, um ihrer Aufgabe für die Aushandlung eines angemessenen Mindestlohns in der Mindestlohnkommission gerecht werden zu können. Dafür werden wir das Mindestlohngesetz wie vereinbart 2020 evaluieren und weiterentwickeln. Unser Ziel ist die perspektivische Anhebung des Mindestlohns auf 12 Euro. Hier sollte die öffentliche Hand bei der Auftragsvergabe mit gutem Beispiel vorangehen. Dafür wollen wir auf Bundesebene ein Tariftreuegesetz mit einem Mindestlohn von 12 Euro schaffen.« Das sind sie wieder, die 12 Euro gesetzlicher Mindestlohn. Hier wenigstens halb-ehrlich mit dem Zusatz „perspektivisch“ wollen man dahin kommen versehen. Noch im vergangenen Jahr forderte der Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) burschikos die sofortige Anhebung auf 12 Euro. Dazu kritisch der Beitrag Der nicht-politische Mindestlohn und seine regelmäßige Politisierung, wenn es gelegen kommt. Ein erneuter Vorschlags-Luftballon, diesmal von Herrn Scholz vom 3. November 2018. Dort wurde nochmals dargestellt, dass man sich mit der Mindestlohnkommission und den Vorgaben für die Anpassung der Mindestlohnbeträge selbst dermaßen einzementiert hat, dass selbst wenn man wollte, ein solcher Sprung schlichtweg nicht realisierbar wäre. Und nun wird uns eine „Evaluierung“ des Mindestlohngesetzes 2020 in Aussicht gestellt, um danach das Gesetz „weiterzuentwickeln“. So gewinnt man Zeit.

Dann werden die Bruchstücke einer überaus komplexen und vielfältigen und derzeit hinsichtlich dessen, was man machen müsste und könnte oftmals nur in ersten Umrissen erkennbaren Diskussion über die Frage der Einbeziehung der Selbstständigen in den Schutz der gesetzlichen Alterssicherung sowie den Bedarf nach einem neuen Betriebs- und Arbeitnehmerbegriff präsentiert, das alles zugleich reduziert auf die sogenannte „Plattformökonomie“. Das kommt irgendwie bemüht, aber auch nebulös rüber.

Und dann versucht man die (scheinbare) Modernität vor allem durch eine Auflistung weiterer gesetzgeberischer Aktivitäten im Sinne einer Ausweitung von Rechtsansprüchen der Arbeitnehmer unter Beweis zu stellen. So soll das (angebliche) „Erfolgsmodell der Brückenteilzeit“ deutlich ausgeweitet werden, ein Recht auf mobiles Arbeiten und Homeoffice soll gesetzlich verankert werden, ein „Recht auf Nichterreichbarkeit“ darf natürlich auch nicht fehlen. Nicht zu vergessen ein „Modell der Familienarbeitszeit“ und die Idee eines „persönlichen Zeitkontos“.

Nun nähern wir uns den etwas handfesteren Forderungen. Die werden abgeleitet von einem „Recht auf Arbeit“, das die SPD in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen stellen will – man sollte allerdings genauer formulieren: ein „Recht auf Erwerbsarbeit“, denn darum geht es der SPD offensichtlich. Und daraus abgeleitet soll die klassische Arbeitslosenversicherung, wie sie 1927 ins Leben gerufen wurde, durch eine „solidarische Arbeitsversicherung“ abgelöst werden.

Dazu wird auf Vorarbeiten verwiesen, die bereits Wirklichkeit geworden sind: »Das am 1. Januar 2019 in Kraft tretende Qualifizierungschancengesetz ist dafür ein Meilenstein, weil es die Weiterbildungsförderung Beschäftigter verbessert, deren berufliche Tätigkeiten durch Technologien ersetzt werden können. Mit dem Qualifizierungschancengesetz geht bereits jetzt ein Recht auf Weiterbildungsberatung einher.« Dabei soll es aber nicht bleiben: »Wir werden dieses Beratungsrecht zu einem gesetzlich verankerten Rechtsanspruch auf Weiterbildung ausweiten.« Und weiter mit Blick auf die vieldiskutierten möglichen Auswirkungen der Digitalisierung und anderer Umbrüche auf die Arbeitsmärkte: »Für diejenigen, deren Jobs durch den technologischen Wandel wegfallen, schaffen wir darüber hinaus eine Qualifizierungsgarantie. Kern dieser Qualifizierungsgarantie ist der Anspruch auf Umschulung, sofern der Arbeitsplatz wegzufallen droht, gepaart mit der Absicherung durch eine Lohnersatzleistung.« Abgerundet wird das mit dieser Aussage: »Daneben ist ein fehlender Berufsabschluss weiterhin der größte persönliche Risikofaktor sowohl für den Verlust des Arbeitsplatzes wie für eine spätere Bedürftigkeit. Deswegen werden wir auch das dritte Umschulungsjahr finanzieren.«

Damit wird eine seit langem geführte arbeitsmarktpolitische Debatte, in der immer wieder auf den Stellenwert von Qualifizierung und vor allem einer qualitativ hochwertigen abschlussorientierten Qualifizierung aufgegriffen – und übernommen. Also auf dem Papier.

Man will die Qualifizierungsmöglichkeiten ausbauen, diese stärker fördern und bei den Betroffenen auch überschaubare monetäre Anreize setzen. Damit folgt man der Philosophie, dass das Fördern gestärkt und sich „Leistung“ lohnen soll. Weit ausgreifend wird mit Rechtsansprüchen hantiert – aber die aus Sicht der Praxis entscheidende Frage lautet: Welche Qualifizierung soll es denn sein? In dem SPD-Papier wird richtigerweise auf Umschulungen verwiesen, die zu einem (neuen) Berufsabschluss führen. Das wurde seit Jahren auch gefordert. Nur sind gerade diese erst einmal „teuren“ Maßnahmen in der Vergangenheit gerade im Hartz IV-Bereich runtergefahren worden. Stattdessen haben viele Betroffene teilweise traumatische Erfahrungen machen müssen mit kurzen „Aktivierungsmaßnahmen“, deren qualifikationssteigerndes Potenzial gegen Null gehen und die oft als „quick and dirty“ charakterisiert werden. Ein gefordertes „Recht auf Weiterbildung“ klingt gut – solange aber nicht geklärt ist, um was für eine Weiterbildung es sich am Ende handeln soll, gibt es gute Gründe für eine skeptische Haltung.

Und auf dem Papier soll die Stärkung der Qualifizierung nach den Vorstellungen der SPD auch Auswirkungen auf der Leistungsseite haben, womit wir bei der einen bedeutsamen Dimension der SPD-Vorschläge angekommen sind: eine gewisse Wiederbelebung der Sicherungsfunktionalität der Arbeitslosenversicherung (für Teilgruppen der Arbeitslosen) und deren Anreicherung mit Elementen einer Qualifizierungsförderung. Man kann zusammenfassend von einer Stärkung des Leistungsprinzips in der Arbeitslosenversicherung, die dann Arbeitsversicherung heißen soll, sprechen. Im Mittelpunkt steht dabei die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I, also die klassische Versicherungsleistung der Bundesagentur für Arbeit.

In der solidarischen Arbeitsversicherung soll die „Lebensleistung“ stärker gewichtet werden und außerdem sollen Anreize gesetzt werden, sich auf den Qualifizierungsweg zu begeben. Dazu soll die Bezugszeit des Arbeitslosengeld I (ALG I) „deutlich verlängert“ werden. Konkret geht es um zwei Ansatzpunkte – deren Bedeutung man besser einordnen kann, wenn man sich die derzeitige Regelung die maximal möglichen Bezugsdauern beim ALG I betreffend anschaut. Dazu diese Abbildung :

Man erkennt, dass derzeit die immer wieder beschworenen 12 Monate, nach denen man bei Bedürftigkeit in das Hartz IV-System abstürzt, für die Arbeitslosen nach hinten verlängert werden (bis auf maximal 24 Monate), die älter als 50 Jahre sind und die entsprechenden Voraussetzungen bei der vorangegangenen versicherungspflichtigen Beschäftigung innerhalb der Rahmenfrist erfüllen. Wir haben also bereits heute eine partielle Besserstellung der älteren Arbeitslosen bei der Bezugsdauer der Versicherungsleistung ALG I. Die Vorschläge der SPD setzen nun an zwei Stellschrauben an:

➔ »Wir wollen erstens einen Leistungsanspruch für Qualifizierung einführen, das Arbeitslosengeld-Q: Alle, die nach drei Monaten im ALG-I keine neue Arbeit gefunden haben, erhalten einen Anspruch auf eine gezielte Weiterbildungsmaßnahme und auf das damit verbundene Arbeitslosengeld-Q, das in der Höhe dem ALG-I entspricht. Das ALG Q wird in Zukunft 12 Monate lang nicht mehr auf den ALG I- Anspruch angerechnet, danach bleibt es dabei, dass der ALG-I Anspruch zur Hälfte anrechnungsfrei ist. Die Weiterbildung mit ALG Q kann insgesamt bis zu 24 Monaten gewährt werden.«

Da ist es wieder, dass „Arbeitslosengeld-Q“, das manchen an den Wahlkampf eines SPD-Kanzlerkandidaten Schulz erinnern wird. Dazu ausführlicher diese Beiträge: Am Welttag für soziale Gerechtigkeit mehr Gerechtigkeit für (ältere) Arbeitslose? Martin Schulz und der alte Wein in alten Schläuchen vom 20. Februar 2017 und vom  vom 5. März 2017: Schon wieder alter Wein? „Arbeitslosengeld Q“ für einen längeren Arbeitslosengeld-Bezug. Ein Rechtsanspruch – auf was? – und eine Behörde für Qualifizierung werden in Aussicht gestellt. Nur so am Rande: bei Schulz waren die Forderungen schon mal ambitionierter. Dazu dieses Zitat aus der Berichterstattung des Jahres 2017 (und der aufmerksame Leser wird sofort merken, dass der Textbaustein von damals mit einer kleinen Modifikation 2019 im Konzept der SPD wieder auftaucht):
»Künftig sollen Arbeitslose ein Recht auf Weiterbildung haben, das es so bisher nicht gibt. Finden sie innerhalb von drei Monaten keine neue Stelle, sollen sie ein Angebot für eine „Qualifizierungsmaßnahme“ bekommen. Zuständig sein soll die Bundesagentur für Arbeit, die in „Bundesagentur für Arbeit und Qualifizierung“ umbenannt würde. Für die Dauer der Qualifizierung soll der Teilnehmer ein neues „Arbeitslosengeld Q“ in Höhe des Arbeitslosengeldes I bekommen. Nach Ende der Qualifizierung bekommt der Betroffene dann wieder das normale Arbeitslosengeld. Neu daran ist, dass die Bezugsdauer des „Arbeitslosengelds Q“ nicht auf die Zeit angerechnet wird, die ein Betroffener Anspruch auf Arbeitslosengeld I hat. Bislang war es so, dass für die Zeit der Qualifizierung die Bezugsdauer des Arbeitslosengelds um die Hälfte gemindert wurde«, kann man diesem Artikel von Christoph Hickmann entnehmen: So will Schulz bei der Agenda 2010 nachbessern.

Heute sollen es „nur“ noch 12 Monate sein, die anrechnungsfrei bleiben und dann die Fortführung der hälftigen Anrechnung, wie sie auch schon derzeit praktiziert wird.

➔ »Zweitens wollen wir zusätzlich zu den gelten Regelungen die Bezugszeit des Arbeitslosengeldes stärker an der Lebensleistung ausrichten indem wir Beschäftigten, die langjährig Beiträge zur Arbeitslosenversicherung entrichtet haben, auch einen längeren Arbeitslosengeldanspruch sichern. Unabhängig vom Alter erhöht sich die Anspruchszeit bei mindestens 20 Jahren Beitragszeit um 3 weitere Monate, ab 25 Jahren um 6 Monate und ab 30 Jahren um 9 Monate.«

Gerade dieser zweiter Ansatzpunkt für eine Verlängerung der maximalen Bezugsdauer der Versicherungsleistung Arbeitslosengeld I ist für eine Bewertung des SPD-Konzepts von nicht zu unterschätzender Bedeutung:

Man muss deutlich hervorheben, dass einige Vorschläge nicht nur tief verankerte Gerechtigkeits- bzw. Fairnessvorstellungen bei vielen Menschen adressieren, was ja auch eine gewichtige Rolle bei der sogenannten „Grundrente“ von Hubertus Heil spielt. Es geht um den Aspekt der Berücksichtigung der „Lebensleistung“ der Menschen, anders formuliert: Jemand, der gearbeitet und Beiträge geleistet hat, soll vor allem nach langer Dauer nicht so behandelt werden wie jemand, der das nicht erfüllt (oder erfüllen konnte). Darauf reagieren die Vorschläge, in dem die Sicherungsfunktion der Arbeitslosenversicherung gestärkt werden soll – für bestimmte Arbeitslose. Vor allem in Form längerer Bezugsdauern der Versicherungsleistung Arbeitslosengeld I für ältere Arbeitslose und für alle anderen auch, wenn sie eine „Leistung“ erbringen, in diesem Fall einer Weiterbildung. Von einer Umsetzung würden diese Arbeitslosen profitieren.

Und genau an dieser Stelle nähern wir uns dem Grundsicherungssystem, umgangssprachlich als Hartz IV bezeichnet, der ja in Zukunft als „Bürgergeld“ tituliert werden soll. Denn die „Leistungsorientierung“ der SPD wird in die Kelleretage des Sozialstaates verlängert: Denn man will die Besserstellung von Arbeitslosen, die in der Arbeitslosenversicherung waren, verlängern in den Grundsicherungsbereich, in dem man für die, die aus dem Versicherungssystem abrutschen in Hartz IV, eine zweijährige Übergangszeit schafft, in der sie besser behandelt werden hinsichtlich der vorübergehenden Aussetzung der Überprüfung des Vermögens und der Wohnungsgröße. Beim Einkommen allerdings bleibt es bei der Bedürftigkeitsprüfung wie bei den anderen auch – und hinsichtlich des Verzichts auf Vermögensüberprüfung in den ersten zwei Jahren muss man anmerken, dass das bei denen, die bislang im Hartz IV-System aufgeschlagen sind, so gut wie keine Relevanz hatte. Hier nun der Passus aus dem SPD-Papier:

»Beim Übergang von ALG-I in das Bürgergeld muss die Lebensleistung besser anerkannt und geschützt werden. Der vorübergehende Bezug des Bürgergeldes darf sich nicht sofort auf den Wohnort auswirken oder Menschen zwingen, das Gesparte aufzubrauchen. Wir wollen Menschen diese Sorgen nehmen und sie dabei unterstützen, sich auf die Arbeitsplatzsuche konzentrieren zu können. Deswegen werden wir bei denjenigen, die aus dem Bezug von ALG I kommen, für zwei Jahre Vermögen und die Wohnungsgröße nicht überprüfen … Niemand, der auf den Bezug des Bürgergelds angewiesen ist, soll in dieser Zeit seine Wohnung verlassen müssen.«

Um diese wirkliche Verbesserung an dieser Stelle deutlich hervorzuheben hinsichtlich ihrer Begrenzung: Diese Regelung soll „nur“ für die Arbeitslosen gelten, die aus dem Versicherungssystem mit dem Arbeitslosengeld I abrutschen in das bedürftigkeitsabhängige Grundsicherungssystem. Man muss also vorher ALG I bezogen haben, um in den Genuss dieser temporären Schutzvorschrift zu kommen. Nun muss man aber wissen, dass jeder fünfte Arbeitslose aus einer Beschäftigung beim Übergang in die Arbeitslosigkeit direkt in das Hartz IV-System geht, da er oder sie die Anspruchsvoraussetzungen des SGB III nicht erfüllen kann. Für die gelten diese Schutzvorschriften aber nicht und man könnte hier natürlich die Frage aufwerfen: Sollen die sich nicht auf die Jobsuche konzentrieren können, ohne Angst haben zu müssen, die Wohnung aufgeben zu müssen oder das Gesparte aufzubrauchen?

Und schon sind wir mittendrin im Hartz IV-System, das ja nun „Bürgergeld“ heißen und anders sein soll. An dieser Stelle werden wir dann mit einer großen Enttäuschung konfrontiert, die gewissermaßen die skizzierten Verbesserungen für einen Teil der Arbeitslosen kontrastieren. Was soll denn neben dem Namen anders sein zum bisherigen Zustand?

Auch hier wird mit dem Versprechen auf ein „Recht auf Arbeit“ gearbeitet:

»Das „Recht auf Arbeit“ heißt für uns, dass die Bürgerinnen und Bürger ein passgenaues Angebot auf Weiterbildung/Qualifizierung oder auch ein Angebot auf Arbeit erhalten. Dafür werden wir perspektivisch den sozialen Arbeitsmarkt ausweiten.«

Eine „perspektivische“ Ausweitung des „sozialen Arbeitsmarktes“, um vielen Menschen ein Angebot auf Arbeit zu eröffnen? Also da kann man nur schmunzeln. Der „soziale Arbeitsmarkt“, vor kurzem eingeführt, richtet sich an besonders arbeitsmarktferne Langzeitarbeitslose und wird – wenn überhaupt – maximal einigen Zehntausend von ihnen eine auf maximal fünf Jahre befristete Förderung über das Instrumentarium des Lohnkostenzuschusses ermöglichen. Das konnte nur mit Müh und Not für eine überschaubare Teilgruppe langzeitarbeitsloser Menschen überhaupt erreicht und als befristete Regelung in das SGB II eingebaut werden.

Und bei der anderen Alternative – „ein passgenaues Angebot auf Weiterbildung/Qualifizierung“ – stellt sich die bereits aufgeworfene Frage: Was versteht man denn darunter? Vor dem Hintergrund der nun wirklich nicht zu leugnenden extremen Spannbreite von unsinnigen bis entwürdigenden „Maßnahmen“ auf der einen und qualitativ hochwertigen Qualifizierungen auf der anderen Seite ist die in der Frage mitschwingende Skepsis mehr als berechtigt. Und zu einer skeptischen Sichtweise gehört auch der Hinweis, dass es in den Jahren von 2009 bis 2016 einen massiven Rückgang der Zahl der mit arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen geförderten Personen gegeben hat, vor allem im SGB II. Und nach einem leichten Anstieg 2016 und 2017 hat es im vergangenen Jahr erneut wieder einen Rückgang gegeben (ausführlicher dazu: Arbeitsmarktpolitische Förderung: Weniger Teilnahmen in 2018). Aber auch hier reden wir nur von den Quantitäten, nicht von den Inhalten.

Allerdings findet man in dem SPD-Konzept einen Hinweis auf eine auch qualitativ bedeutsame Ausrichtung der versprochenen Förderung: »… einführen wollen wir für alle diejenigen, das Bürgergeld erhalten und ohne Berufsabschluss sind, ein gesetzliches Recht auf Förderung des Nachholens eines Berufsabschlusses, das mit Unterstützungsangeboten flankiert wird. Die bisherige Regelung, dass nur zwei Jahre gefördert werden, halten wir für unsinnig, da viele Abschlüsse drei Jahre dauern, daher wollen wir auch Qualifizierungsmaßnahmen förderfähig machen, die länger als zwei Jahre dauern oder auch eine vollständige Berufsausbildung umfassen. Zum Bürgergeld gehört für uns auch ein monatlicher Bonus für Weiterbildung

Und die so umstrittenen Sanktionen? Wer sich Hoffnung auf eine grundsätzliche Infragestellung gemacht hat, der wird enttäuscht werden, denn dazu findet man in dem Konzept die folgenden Ausführungen:

Das Bürgergeld »basiert auf dem Solidaritätsprinzip und auf der Grundannahme, dass die Menschen den Sozialstaat brauchen und ihn nicht missbrauchen. Natürlich brauchen wir Mitwirkungspflichten, denn Rechte und Pflichten sind in einer Solidargemeinschaft zwei Seiten einer Medaille. Beim Bürgergeld sind Anreize, gezielte Hilfen und Ermutigung wichtiger als Sanktionen. Sinnwidrige und unwürdige Sanktionen gehören abgeschafft. Die strengeren Sanktionen von unter 25-Jährigen sind sogar offenkundig kontraproduktiv. Auch darf niemand wegen Sanktionen Angst haben, obdachlos zu werden, daher wollen wir die Kürzung der Wohnkosten abschaffen. Eine komplette Streichung von Leistungen soll es nicht mehr geben.«

Das kann man auch so zusammenfassen: Handfeste Forderungen nach Veränderungen im Sanktionsregime findet man bei den heute verschärften Sanktionen für die unter 25-Jährigen (eine seit Jahren im Konsens fast aller Akteure geforderte Korrektur des Systems, deren Umsetzung bislang vor allem an Bayern und einigen in der Union gescheitert ist), die Abschaffung der Kürzung der Wohnkosten und die tatsächlich in mehreren tausend Fällen vorkommende Vollsanktionierung von Hilfebedürftigen – damit aber werden lediglich die Korrekturen aufgezählt, die mit einer hohen Wahrscheinlichkeit sowieso durch das anstehende Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Kontext der derzeit dem Gericht vorliegenden Prüfung der Verfassungswidrigkeit (oder nicht) von Sanktionen als Auftrag an den Gesetzgeber zu erwarten sind.

Die Formulierung „sinnwidrige und unwürdige Sanktionen“, die abgeschafft gehören, kommt irgendwie nett daher – aber aus Sicht der Praxis muss man natürlich anmerken, dass das keine Kategorien sind, die man so in ein Gesetz schreiben kann. Das muss schon genauer operationalisiert werden.

Und bei allem Anerkenntnis des Bemühens gehört auch der nächste Punkt in die Kategorie der semantischen Aufhübschung und des Versprechens, in Zukunft irgendwie netter mit den Betroffenen umgehen zu wollen:

Man will »kurzfristig die Formulare, Anträge und Bescheide überarbeiten und schrittweise durch schlanke, verständliche und transparente Lösungen vereinfachen. Sollte das nicht ausreichen, werden wir über die Einführung von Lotsen nachdenken, die den Betroffenen beim Ausfüllen der Formulare zur Seite stehen und sie durch den Prozess der Antragsstellung begleiten. Vor allem aber werden wir die Eingliederungsvereinbarung, den grundlegenden Vertrag zwischen den Erwerbssuchenden und dem Jobcenter, ablösen durch eine Teilhabevereinbarung, die die Interessen der Bürgergeldbezieher stärker berücksichtigt und einer partnerschaftlichen Vereinbarung auf Augenhöhe besser entspricht.«

Das ist ein lobenswertes Ziel, aber der Skeptiker könnte zum einen anmerken, dass hier die Illusion der Möglichkeit einer partnerschaftlichen Vereinbarung auf Augenhöhe aufgebaut wird, die das System als solches gar nicht hergeben kann, solange wir es mit einer bedürftigkeitsabhängigen Fürsorgeleistung zu tun haben, wo es trotz aller heute schon verwendeten Sprachbeugung eben nicht um „Kunden“ geht, die in ein Jobcenter gehen wie echte Kunden zum Edeka oder Aldi. Zum anderen kann man ja die bisherige Eingliederungsvereinbarung auch eine „Teilhabevereinbarung“ ersetzen – am Ende bleibt aber als materieller Kern die mit der Vereinbarung eben auch verbundene rechtsverbindlich formulierte Androhung von Sanktionen, wenn man denn die Auflagen nicht erfüllt. Man sollte sich keinen Illusionen hingeben: Ein tatsächliches Mitspracherecht würden die Bezieher auch mit der „Teilhabevereinbarung“ nicht erhalten, weil die Möglichkeit zur Sanktion auch beim Bezug von Bürgergeld ihre strukturelle Unterlegenheit in der Arbeitsvermittlung zementiert. Positiv bleibt als Restgröße der Appell, den Menschen mit einer anderen Haltung zu begegnen.

Aber wieder zurück in die Welt der konkreten Änderungsvorschläge. Da ist ja die große Gruppe der „Aufstocker“, also Menschen, die irgendeiner Erwerbstätigkeit nachgehen, aber so wenig Geld verdienen (können), dass sie Anspruch haben auf aufstockende Leistungen aus dem Grundsicherungssystem. Dazu kommen erst einmal wohlfeile Ausführungen, über die man allerdings teilweise nur den Kopf schütteln kann:

»Viele Beschäftigte sind derzeit aufgrund von niedrigen Löhnen und/oder reduzierter Arbeitszeit auf ergänzendes Arbeitslosengeld II angewiesen. Das wird von vielen täglich arbeitenden Menschen als ungerecht und als Mangel an Respekt vor ihrer Leistung empfunden. Niemand, der arbeitet – schon gar nicht jemand, der Vollzeit arbeitet – sollte sein Einkommen aufstocken müssen. Ausnahmslos jede von Menschen verrichtete Arbeit ist es wert so bezahlt zu werden, dass man davon leben kann.«

Wer kann was dagegen haben? Aber so, wie es in dem Passus beschrieben wurde, ist es natürlich teilweise hanebüchener Unsinn. Natürlich gibt es Erwerbsarbeit gerade mit reduzierter Arbeitszeit, bei denen kann man gar kein Einkommen erwirtschaften, das über der Hartz IV-Schwelle liegt, selbst wenn wir mit einem hohen Stundenlohn beglückt werden. Man denke hier nur an die weit verbreitete Form der Minijobs. Und selbst bei Vollzeitbeschäftigung kann es Konstellationen geben, bei denen ein Lohn, der sogar über dem gesetzlichen Mindestlohn liegt, nicht ausreichen kann, um einen aufstockenden Leistungsbezug zu vermeiden – vor allem dann nicht, wenn der vollzeitarbeitende Mensch in einer Bedarfsgemeinschaft mit Partner und Kindern lebt und sich für die Bedarfsgemeinschaft eine Bedarfskonfiguration ergibt, die mit einem Erwerbseinkommen auch aus Vollzeit eben nicht abbilddbar ist.

Aber die SPD plädiert für eine substanzielle Änderung bei der Frage der Zuständigkeit für diese Gruppe, die zu verstehen ist als eine weitere Ableitung aus dem grundsätzlichen Anliegen, das Hartz IV vorgelagerte Versicherungssystem und die dafür zuständige Bundesagentur für Arbeit zu stärken:

»Diejenigen, die arbeiten und Beiträge zur Arbeitslosenversicherung zahlen, aber trotzdem auf ergänzende Leistungen angewiesen sind, sollen in Zukunft von der Bundesagentur für Arbeit betreut werden. Bislang gilt das nur für diejenigen „Aufstocker“, deren ALG I nicht ausreicht. In Zukunft sollen aber alle beitragszahlenden Erwerbstätigen bei der BA betreut werden.«

Man achte hier genau auf die Formulierung: alle „beitragszahlenden Erwerbstätigen“ sollen von der BA und ihren Arbeitsagenturen betreut werden. Das verweist darauf, dass hier eben nicht alle „Aufstocker“ gemeint sind. Dazu ein Blick auf die Zahlen aus dem vergangenen jähr (vgl. den Beitrag Arm trotz Arbeit? Jeder zweite Aufstocker ist sozialversicherungspflichtig beschäftigt): »Knapp 1,11 Millionen Erwerbstätige im Hartz-IV-Bezug zählte die Statistik der Bundesagentur für Arbeit (BA) im März 2018 … Die BA-Statistik … zeigt, dass mit einem Anteil von über einem Drittel Teilzeitbeschäftigte die größte Gruppe unter den Aufstockern ausmachen. Für sie dürfte eher der Beschäftigungsumfang denn unzureichende Löhne der Grund für das Aufstocken mit Hartz IV sein. Mit 17,2 Prozent geht hingegen nur ein geringer Anteil der Aufstocker einer sozialversicherungspflichtigen Vollzeitbeschäftigung nach. Dazu zählen auch knapp 60.000 Auszubildende, die 5,2 Prozent an allen Aufstockern ausmachen. In Bezug auf die knapp 4,26 Millionen erwerbsfähigen Hartz-IV-Empfänger reichte demnach lediglich für 3,1 Prozent von ihnen das Einkommen aus einer sozialversicherungspflichtigen Vollzeitbeschäftigung (ohne Auszubildende) nicht zur Existenzsicherung aus … Bei der Debatte um die Hartz-IV-Aufstocker dürfen zuletzt die knapp 360.000 ausschließlich geringfügig Beschäftigten („Minijobber“) nicht unerwähnt bleiben.«

Und diese Gruppe wäre von der Zuständigkeitsverschiebung der SPD nicht betroffen, denn die arbeiten ja nicht beitragszahlend.  Diejenigen Aufstocker, die sozialversicherungspflichtig tätig und somit Beitragszahler in der Arbeitslosenversicherung sind, würden beim Bezug von Bürgergeld in die Zuständigkeit der BA wechseln. Ihre Zahl lag im September 2018 bei knapp 570.000.

Nur was wäre damit praktisch verbunden? Offen ist, ob die BA dann ausschließlich für das Fallmanagement der Aufstocker oder auch für die Zahlung der aufstockenden Leistungen zuständig wäre. In jedem Fall wären hier neue bürokratische Schnittstellen und damit ein erheblicher Aufwand auf Seite der Verwaltung zu erwarten – in diesem Sinne würde der Entwurf der SPD sogar Mehrarbeit schaffen, angesichts der aktuell schon ausufernden Verwaltungskosten der Jobcenter (vgl. hierzu Die Hartz IV-Debatte brodelt weiter. Jenseits aller Visionen und Widerstände gibt es aber eine Gewissheit: Sie steigen und steigen. Die Verwaltungsausgaben des bestehenden Systems vom 6. Februar 2019) ist das aber eine mehr als diskussionsbedürftige Perspektive. Und eine Auszahlung des Arbeitslosengeldes II über die Arbeitsagenturen für die Aufstocker wäre mit erheblichen Aufwand verbunden, denn das machen ja bisher die Jobcenter und die Agenturen waren dafür nicht zuständig. Und was wäre mit den in der Regel vorhandenen Angehörigen der Aufstocker und deren Leistungsansprüche? Wird die ganze Bedarfsgemeinschaft von den Agenturen betreut mit allen Konsequenzen – oder sollen die Aufstocker neben dem Gang zum Jobcenter nun auch noch bei der Agentur vorbeischauen? Fragen über Fragen, die alle andeuten, dass man hier etwa schnell aus der Hüfte geschossen hat.

➞  Und an dieser Stelle nur ein gewichtiger Hinweis auf einen Tatbestand, der in der öffentlichen Diskussion in der Regel überhaupt nicht beachtet wird, wo es oftmals um die Frage geht, ob nicht der eine oder andere „missbräuchlich“ Hartz IV-Leistungen bezieht: Es gibt viele Menschen, die heute eigentlich Anspruch haben auf diese Leistung, aber aus unterschiedlichsten Gründen keinen Gebrauch davon machen. Beispiel: Offiziell gab es im Jahr 2017 laut Statistik der Bundesagentur für Arbeit (BA) rund 4,36 Millionen erwerbsfähige Hartz-IV-Empfänger. Ausgehend von einer Verzichtsquote von 33,8 Prozent hätten in diesem Jahr weitere rund 2,22 Millionen Erwerbsfähige einen Hartz-IV-Anspruch gehabt. Stellen diese Personen jedoch keinen Antrag auf Grundsicherungsleistungen, tauchen sie auch nicht in der Grundsicherungsstatistik der BA auf. In dem Beitrag Von abhängiger und selbständiger Einkommensarmut und vor allem von vielen, die einen Hartz IV-Anspruch nicht einlösen vom 25. Juni 2018 wurden Studien präsentiert, die sich mit der Nicht-Inanspruchnahme von Hartz IV-Leistungen beschäftigt haben. Zu der Dunkelziffer der Nichtinanspruchnahme kann man aus den vorliegenden Studien berichten: Die ermittelte Verzichtsquote reicht von 33,8 bis sogar 49,9 Prozent. Die von der Bundesregierung genannten Studien schätzen, dass mindestens die Hälfte der Anspruchsberechtigten mit Einkommen aus Erwerbstätigkeit freiwillig auf Hartz-IV-Leistungen verzichten. Je nach Erhebung wurde für diese Gruppe eine Verzichtsquote von 48,4 bis 63 Prozent berechnet. Diese Zahlen sollte man sich merken.

Aber wieder und abschließend zurück zu dem SPD-Konzept. Wenn das „Bürgergeld“ nun in Zukunft „Hartz IV“ ersetzen soll, dann wird es doch auch bei der Höhe einen Unterscheid geben. Oder?

Einen Unterscheid deutet man in diesem Passus an: »Das Bürgergeld wird Regelungen beinhalten, mit denen speziellen Bedarfen und Härten begegnet werden kann, zum Beispiel für den Fall, dass plötzlich die Waschmaschine kaputtgeht und gleichzeitig die alte Winterjacke aufgetragen ist.« Das wäre also die Inaussichtstellung einer teilweisen Rückkehr zum alten System der Sozialhilfe nach dem BSHG vor den Hartz-Gesetzen, denn in der alten BSHG-Sozialhilfe gab es ausgehend von der Einzelfallorientierung eine Vielzahl an (möglichen) einmaligen Leistungen. Genau deren Zusammenfassung mit der Grundleistung der Hilfe zum Lebensunterhalt zu einem Pauschalbetrag war und ist ein Kern des neuen Grundsicherungssystems und insofern würde man hier von dem Pauschalierungsgrundsatz (wieder) abweichen.

Aber die für viele sicher größte Enttäuschung wird die Frage nach der Höhe der Leistungen sein. Dazu hat sich SPD-Führung klar und eindeutig positioniert: Da kommt nichts. Hören wir dazu die SPD-Vorsitzende Andrea Nahles höchstpersönlich: Bürgergeld, Bonuspunkte: Wie Hartz IV abgelöst werden soll, so ist ein Interview mit ihr überschrieben. Auf die Frage, ob die von vielen als zu niedrig dimensionierten Regelleistungen im Hartz IV-System im Zuge des Übergangs zu der „neuen“ Leistung „Bürgergeld“ angehoben werden, antwortet Nahles mehr als eindeutig: »Nein, die Höhe der Regelsätze bleibt. Wir haben auch eine Verantwortung gegenüber den Menschen, die für wenig Geld jeden Tag zur Arbeit gehen. Wenn wir denen das Gefühl geben, dass sich ihr Einsatz finanziell nicht mehr lohnt, zerstören wir jede Motivation.« Das nun hätte auch ein Textbaustein aus der Union oder der FDP sein können.

Und hier sind wir am Ende angekommen – und an einer erheblichen Problemstelle des SPD-Konzepts: Für die große Mehrheit der heutigen Hartz IV-Empfänger würde sich substanziell nichts ändern (außer das Etikett, das ihren Leistungen aufgeklebt wird). Und hier wird auch eine massive Engführung der Überlegungen der SPD sichtbar, mit der man auch in weiten Teilen der öffentlichen Debatte über Hartz IV konfrontiert wird: Gemeint ist die Reduktion von Hartz IV auf Arbeitslose bzw. Langzeitarbeitslose. Aber Hartz IV umfasst weitaus mehr Menschen und überaus heterogene Fallkonstellationen des Lebens, die offiziell als Arbeitslose bei den Jobcentern registrierten Hartz IV-Bezieher sind sogar mit 1,44 Millionen nur eine „Minderheit“ unter den 5,9 Millionen Menschen, die auf Grundsicherungsleistungen angewiesen sind. Und unter diesen „anderen“ Grundsicherungsbeziehern sind viele, bei denen „fehlende Arbeit“ gerade kein Problem ist, man denke hier an die Hunderttausenden Alleinerziehenden, an die pflegenden Angehörigen, an die bereits erwähnten Aufstocker, die alle aufgrund eines Einkommensmangels auf Leistungen angewiesen sind. Und für diese Mehrheit würde sich mit dem vorliegenden Konzept der SPD nicht wirklich etwas verändern und eine von vielen sicher dringlich erwartete und erhoffte Anhebung der Leistungen wurde sogar explizit ausgeschlossen.

Das Gesamtfazit muss zwiegespalten ausfallen:

Für einen Teil der Arbeitslosen, die im Versicherungssystem landen, würde sich einiges zum Besseren entwickeln können, wenn die Vorschläge der SPD das Licht der wirklichen Wirklichkeit erblicken würden. Das sollte man nicht geringschätzen. Es adressiert tief verankerte Gerechtigkeits- und Leistungsvorstellungen bei den Menschen und würde handfeste Verbesserungen für einen Teil der Arbeitslosen mit sich bringen. Ganz offensichtlich lassen sich die Vorschläge im SPD-Konzept leiten von dem, was aus dem DGB dazu gekommen und in diesem Papier veröffentlicht worden ist:
➔ DGB (2018): Soziale Sicherheit statt Hartz IV. Diskussionspapier des Geschäftsführenden Bundesvorstandes des DGB, Berlin, Dezember 2018.
Dort findet man allerdings noch einige weiterführende Vorschläge bzw. Konkretisierungen die Stärkung der Sicherungsfunktion der Arbeitslosenversicherung betreffend, die man hätte aufgreifen können in dem SPD-Papier.

Aber man muss eben auch feststellen: Das „Bürgergeld“ als Ersatz und Überwindung von Hartz IV ist und bleibt eine Fata Morgana. Es handelt sich eher um eine dieser so typischen Begriffshubereien und hat wahrscheinlich vor allem eine therapeutische Funktion für einen Teil der SPD. Die vielen, die nicht den Fallbedingungen der „normalen“ Arbeitnehmer entsprechen, deren (wieder) bessere Absicherung man vor allem im Visier hat, werden weiter warten müssen.

Foto: © Stefan Sell