Vom „solidarischen Grundeinkommen“ jetzt zum „Grundeinkommensjahr“? Neues aus der sozialdemokratischen Debattenwelt

Vor einigen Monaten wurde einen Moment lang heftig diskutiert über das Grundsicherungssystem, landläufig als Hartz IV tituliert. Sogar eine Abschaffung des bei vielen Menschen und vor allem bei enttäuschten Sozialdemokraten oder ihren (früheren) Wählern verhassten Erbes der Agenda 2010 der rot-grünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder wurde in den medialen Raum gestellt. Auslöser waren Vorschläge des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Michael Müller (SPD). Der hatte bereits im Oktober 2017 geschrieben: »Ich halte in diesem Zusammenhang nichts von einem bedingungslosen Grundeinkommen … Sehr wohl kann ich mir aber ein solidarisches Grundeinkommen vorstellen.« Was man sich darunter vorstellen muss? » Ich bin sicher, jedem von uns fällt einiges ein, was wegen klammer staatlicher Kassen heute nicht möglich ist: Sperrmüllbeseitigung, Säubern von Parks, Bepflanzen von Grünstreifen, Begleit- und Einkaufsdienste für Menschen mit Behinderung, Babysitting für Alleinerziehende, deren Arbeitszeiten nicht durch Kita- Öffnungszeiten abgedeckt werden, vielfältige ehrenamtliche Tätigkeiten wie in der Flüchtlingshilfe, als Lesepatin oder im Sportverein als Übungsleiter und und und.« Der Kern des Vorschlags von Müller ist also eine spezifische Form der öffentlich geförderten Beschäftigung für einen Teil der langzeitarbeitslosen Menschen – spezifisch, weil die Tätigkeiten beschränkt sein sollen auf bestimmte „Zulieferer“-Arbeiten im kommunalen Bereich, die vor allem aus finanziellen Gründen derzeit nicht erledigt werden (können) und das dann begrenzt auf Menschen unter den Langzeitarbeitslosen, die derart viele und/oder schwerwiegende „Vermittlungshemmnisse“ haben, dass sie kaum oder absehbar keine Chancen mehr haben werden, auf dem „normalen“ Arbeitsmarkt landen zu können.

Dass das nichts mit einer „Abschaffung“ von Hartz IV zu tun hat und – wenn überhaupt – nur einen sehr kleinen Ausschnitt eines Systems adressiert, in dem sich über sechs Millionen ganz unterschiedliche Menschen und das teilweise seit vielen Jahren befinden, vorbeigeht, wurde hier bereits in diesem Beitrag vom 8. April 2018 ausführlich analysiert und bewertet: Die abgehobene und letztendlich verlogene Hartz IV-Debatte. Nun aber werden wir Zeugen eines weiteren Versuchs, die weitaus größere und bei vielen Menschen durchaus mit großen Sympathien versehene Grundeinkommensdebatte zu kapern und für die Neuausrichtungsdiskussion innerhalb der SPD zu nutzen.

»Die Debatte über das Grundeinkommen ist richtig. Umbrüche in der Arbeitswelt, die Digitalisierung, die Arbeitsverdichtung, die Sehnsucht nach einer neuen Balance von Arbeit und Freizeit heizen diese Diskussion an. Die SPD muss die Debatte über ein Grundeinkommen als Chance begreifen und in unserem Sinne gestalten.« Die Formulierung „in unserem Sinne“ verweist bereits darauf, dass diese Worte aus sozialdemokratischen Munde kommen. In diesem Fall nicht vorn irgendeinem Sozialdemokraten, sondern vom SPD-Generalsekretär höchstpersönlich. Lars Klingbeil hat diesen Debattenbeitrag veröffentlicht: Für ein Grundeinkommensjahr! Allein an der Überschrift lernt man schon: das „solidarische“ ist weg und das Dauerhafte im Grundeinkommen wird auf ein Jahr verdichtet. Was genau schlägt Klingbeil vor?

»So funktioniert das Grundeinkommensjahr: Jeder soll für ein Jahr Arbeit den Anspruch auf einen Monat Grundeinkommen in Höhe von 1000 Euro bekommen. Wer also 6 Jahre gearbeitet hat, hat Anspruch auf ein halbes Jahr Grundeinkommen. Wer 12 Jahre gearbeitet hat, hat Anspruch auf ein ganzes Jahr Grundeinkommen. Das ist einfach. Das gilt für alle.«

Und etwas genauer beschreibt Klingbeil sein Konzept so:

»Der Vorschlag für ein Grundeinkommensjahr ist unkompliziert: Mit Eintritt in das Berufsleben bekommen alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ein Grundeinkommenskonto. Mit jedem Jahr Berufstätigkeit erwirbt man den Anspruch auf einen Monat Grundeinkommen. Dieses Grundeinkommen von 1.000 Euro netto kann für sechs bis maximal zwölf Monate in Anspruch genommen werden. Hat man das Konto wieder aufgefüllt, kann man nach frühestens sechs Jahren die nächste Auszeit nehmen. Auf das Grundeinkommen müssen keine Steuern gezahlt werden. Die Beiträge für die Krankenversicherung übernimmt der Staat.
Diese Arbeitsauszeiten von maximal einem Jahr können für ganz unterschiedliche Zwecke genutzt werden: Man kann die Zeit nutzen, um über die eigene Idee der Selbständigkeit nachzudenken und konkrete Vorbereitungen zur Gründung des eigenen Unternehmens zu treffen. Man kann sich von der anstrengenden Arbeit als Erzieher oder Pflegerin erholen, obwohl man den Beruf liebt und ihn danach weiter ausüben will. Oder man kann sich beruflich umorientieren und durch Weiterbildungen einen neuen Weg einschlagen. Vorgaben dafür, wie man diese Zeit nutzt, gibt es nicht.«

Man muss diesen Vorschlag vor dem von Klingbeil selbst beschriebenen Hintergrund sehen: Die »Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens (findet) bei immer mehr Menschen und in sehr unterschiedlichen politischen Strömungen Zuspruch.« Diese mit dem Begriff (und den damit erhofften Verbesserungen der eigenen Existenz) verbundene Sympathiewelle möchte man offensichtlich aufgreifen (was auch eine Motivationsquelle bei den Müller-Vorschlägen war) – aber bei weitem gerade nicht im Sinne der Befürworter eines wie auch immer ausgestalteten bedingungslosen Grundeinkommens. So auch Klingbeil: »Die Wertschätzung von Arbeit prägt auch meine Sicht auf die Idee des Grundeinkommens, die wir als SPD nicht einfach links liegen lassen sollten. Im Gegenteil: Wir sollten den Gedanken offensiv aufgreifen.«

Nun ist der Vorschlag von Klingbeil wie man unschwer erkennen kann, wenn, dann nur ein „Grundeinkommens-Häppchen“, denn er ist ja gerade nicht auf eine kontinuierliche Existenzsicherung ausgerichtet, sondern eine Art temporäre „Belohnung“, die aber voraussetzt, dass man Jahre der Erwerbsarbeit nachweisen kann. Überaus bedingungsvoll und eben nicht bedingungslos.

➔ Übrigens stellen sich dem Praktiker hier sofort zahlreiche und überaus komplexe Umsetzungsfragen: Was genau meint „Berufstätigkeit“? Muss man eine Mindeststundenzahl pro Woche bzw. pro Monat gearbeitet haben? Also beispielsweise mehr als 20 Stunden pro Woche? So Julia Wasenmüller in ihrem Artikel SPD träumt von Auszeit. Sie schreibt: »Die wöchentliche Mindestarbeitszeit muss 20 Stunden betragen, um vollständig auf das Grundeinkommenskonto angerechnet zu werden.« Wobei ich diese Bedingung in dem Original-Text von Klingbeil nicht gefunden habe. Also würde ein 450 Euro-Job nicht ausreichen, wenn das so wäre. Und was ist mit „selbständiger Tätigkeit“? Das ist ja auch Berufstätigkeit. Außerdem müsste mit dem Modell von Klingbeil ein Rechtsanspruch des Arbeitnehmers verbunden sein, sein Arbeitsauszeitjahr in Anspruch nehmen zu können, auch wenn der Arbeitgeber grundsätzliche oder bezogen auf einen bestimmten Zeitraum auch möglicherweise nachvollziehbar berechtigte Einwände gegen den zeitweisen Ausstieg seines Mitarbeiters hat. Und neben den steuerfreien 1.000 Euro pro Monat soll der Staat die Krankenversicherungsbeiträge übernehmen – aber offensichtlich nicht die anderen Sozialversicherungsbeiträge.

Natürlich stellt sich die Frage, wer hier überhaupt das Grundeinkommensjahr in Anspruch nehmen könnte bzw. würde. Man kann eine solche Vermutung vortragen wie Julia Wasenmüller in ihrem Artikel: Der Klingbeil-Vorschlag orientiert sich an dem unter gebildeten Bes­ser­verdie­ner beliebten „Sabbatjahr“. Stichworte: Selbstfindung, Spiritualität, Horizonte erweitern. Die meisten können sich damit nicht identifizieren. So bekommt der Vorstoß des Generalsekretärs den Beigeschmack von Klientelpolitik für Lehrer, meint Wasenmüller.

Und offensichtlich rechnet selbst Klingbeil mit einer überschaubaren Inanspruchnahme. In einem Interview mit ihm unter der Überschrift Zwölf Jahre arbeiten, ein Jahr frei wird er gefragt, warum er davon ausgeht, dass nur zwei bis drei Prozent der Arbeitnehmer pro Jahr davon Gebrauch machen würde. Seine Antwort: »In Belgien gibt es ein ganz ähnliches Modell, bei dem auch Teilzeitmodelle und Frühverrentungsmodelle gewählt werden können. Dieses Angebot nehmen dort rund drei Prozent der Erwerbstätigen in Anspruch. Eine komplette Auszeit nimmt sogar nur unter einem Prozent der Berechtigten. Wir rechnen daher mit ähnlichen Zahlen. Das würde sieben bis neun Milliarden Euro im Jahr kosten. Menschen, die kurz vor der Rente stehen, würden wir von dem Modell ausschließen, um zu vermeiden, dass das Grundeinkommensjahr als Frühverrentungsmodell genutzt würde.« Damit haben wir dann schon die nächste Bedingung, unter der die Möglichkeit (nicht) genutzt werden kann.

Exkurs: Das sich Klingbeil explizit auf belgische Erfahrungen bezieht, hier der Hinweis auf eine dazu passende Veröffentlichung aus dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, die im November 2017 publiziert wurde:

➔ Claire Samtleben und Philip Wotschack (2017): Sabbaticals in Deutschland und Belgien. Der gesetzliche Anspruch macht den Unterschied aus. WZBrief Arbeit Nr. 21, Berlin, November 2017

Zur derzeitigen Situation in Deutschland schreiben die Autoren: »Für eine finanziell und sozial abgesicherte Auszeit können derzeit zwei gesetzliche Regelungen in Anspruch genommen werden. Zum einen ist es möglich, auf Basis des Teilzeit- und Befristungsgesetzes (TzBfG) für einen bestimmten Zeitraum zwar eine Teilzeitbeschäftigung zu vereinbaren beziehungsweise auf Gehalt zu verzichten, dabei aber weiter Vollzeit zu arbeiten und die angesparte Mehrarbeit dann im Block als Freizeitausgleich zu nehmen. Hier spricht man auch vom Teilzeit-Ansparmodell. Die andere Variante regelt das sogenannte „Flexi II“-Gesetz: Der Arbeitgeber kann ein Langzeitkonto einrichten und es dem Beschäftigten damit ermöglichen, über viele Jahre Mehrarbeit, Sonderzahlungen und Zulagen anzusparen und diese für eine längere Freistellung zu nutzen. Beide Modelle setzen die Bereitschaft der Arbeitgeber voraus. Zudem tragen in beiden Fällen die Beschäftigten die Kosten des Sabbaticals; sie sparen sich ihre Auszeit durch Mehrarbeit oder Entgeltverzicht an. Hieraus resultiert eine Reihe von Problemen.« Samtleben und Wotschack identifizieren drei Probleme: Erstens gibt es zu wenig Möglichkeiten, ein Sabbatical zu nehmen. Von einem flächendeckenden Angebot kann keine Rede sein. Zweitens bestehen erhebliche soziale Ungleichheiten bei der Nutzung von Sabbatical-Angeboten. Beschäftigten mit niedrigen Einkommen fehlen die finanziellen Spielräume, um sich längere Auszeiten anzusparen. Beschäftigte in atypischen Arbeitsverhältnissen, wie befristete Beschäftigte, Freischaffende oder Soloselbständige, sind aufgrund einer fehlenden Bindung an den Betrieb von Regelungen ausgeschlossen. Drittens schließlich stoßen Sabbaticals in der betrieblichen Praxis oft auf Vorbehalte und werden nicht unterstützt. Die beiden Autoren gegen auch auf die Situation in Belgien ein: »Als beschäftigungsorientiertes Instrument entwickelt, stand das Ziel im Vordergrund, die Arbeitslosigkeit zu senken und für Langzeitarbeitslose eine Brücke in den Arbeitsmarkt zu schaffen. Zwar trug das Instrument kaum zur Verringerung der Arbeitslosenzahlen bei, doch es wurde deutlich, dass aufseiten der Beschäftigten eine große Nachfrage nach bezahlten Auszeiten zur Verbesserung der Work-Life-Balance bestand.« Man hat das Instrument nicht abgeschafft, sondern gleichsam umgewidmet. »Seit Inkrafttreten der gesetzlichen Regelung nutzen jedes Jahr circa drei Prozent der belgischen Beschäftigten diese Möglichkeit.« Das Instrument wurde zwischenzeitlich verändert. Die Autoren Bilanzen zu den Schattenseiten: »Drei Problemfelder zeichnen sich ab: Erstens gibt es deutliche soziale Unterschiede … Je höher das eigene Einkommen und auch das Haushaltseinkommen, desto wahrscheinlicher ist die Nutzung eines Sabbaticals. Personen und Haushalte mit geringem Einkommen sind hingegen nur selten in der Lage, eine finanzielle Überbrückung für die Zeit des Sabbaticals zu schaffen … Zweitens geht mit der Nutzung eines Sabbaticals im Anschluss oft eine geringere Arbeitsmarktbeteiligung einher … Drittens zeigen Längsschnittuntersuchungen, dass ein Sabbatjahr häufig mit Lohneinbußen verbunden ist. Wer ein Sabbatjahr nimmt, verdient danach weniger als die Kolleginnen und Kollegen, die keine Auszeit genommen haben.«

Ebenfalls sehr kritisch hinsichtlich der Bedingungen des Klingbeil-Vorschlags und aus einer grundsätzlichen Perspektive Jens Berger, der das schon in seine Überschrift gepackt hat: Sollen Sie sich doch einmal Auszeit gönnen! Die Idee des „Grundeinkommensjahres“ zeigt, wie weit die SPD sich mittlerweile von den Menschen entfernt hat. Auch Berger ruft die Frage auf: Für wen käme eigentlich ein solches Grundeinkommensjahr in Frage? Seine Antwort kann der SPD nicht wirklich gefallen:

»Nehmen wir doch mal die alleinerziehende Mutter, die heute am unteren Rand der Einkommensskala malocht und ihre Familie nur durch ergänzende Transferleistungen wie Kindergeld, Wohngeld oder ALG-II-Aufstockung über die Runden bringen kann. Würden gemäß des Grundeinkommens-Ansatzes alle Transferleistungen für die Dauer des Grundeinkommen-Bezuges ausgesetzt, könnte sie jedoch unmöglich ihre Kinder ernähren. Denn mit 1.000 Euro kommt man heutzutage mit Kindern nicht sehr weit. Das sollte Lars Klingbeil eigentlich wissen, obgleich er keine Kinder hat.
Und wie sieht es mit dem „normalen“ Facharbeiter oder Büroangestellten, der Krankenschwester oder dem Ingenieur aus? Wer Miete zahlt oder sein Wohneigentum noch nicht abbezahlt hat, wird über dieses Angebot in fast allen Fällen nicht lange nachdenken müssen – mit 1.000 Euro kommt man in der Regel nicht über die Runden. Schließlich laufen die Kosten ja weiter, das Auto will finanziert, Versicherungen bezahlt, die Heizung betankt und der Kühlschrank gefüllt werden. Es ist traurig, dass der Generalsekretär einer Partei, die sich immer noch als Arbeiterpartei versteht, sich offenbar nicht einmal im Ansatz in die Lebenswirklichkeit der arbeitenden Bevölkerung hineindenken kann.
Aber nicht nur das. Sicher haben der öffentliche Dienst und große Unternehmen wie VW die Möglichkeit, einen Arbeitsplatz, der für 12 Monate erst einmal verwaist ist, übergangsweise neu zu besetzen. Aber wie sieht es bei den unzähligen kleinen und mittleren Unternehmen aus? Glaubt die SPD ernsthaft, dass man die meisten Arbeitsplätze einfach so ersetzen kann? Wir reden hier ja nicht vom SPD-Vorsitz, sondern von Tätigkeiten, die oft von der Pike auf gelernt wurden und ohne eine sehr lange Einarbeitungszeit gar nicht neu besetzbar sind. Wer soll denn bitte auf die Schnelle eine Sachbearbeiterin, die alle Kunden namentlich kennt, einen Dachdecker auf dem Lande oder einen Ingenieur, der voll in die firmeninternen – und heute oft auch externen – Arbeitsprozesse eingebunden ist, ersetzen?«

Und Klingbeil ordnet seinen Grundeinkommensjahr-Vorschlag selbst ein in die Bewältigung der angeblichen Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt: »Durch die Digitalisierung werden in Zukunft Jobs wegfallen, Berufsbilder werden sich verändern oder ganz neu entstehen. Zugleich erleben viele Menschen ihren Arbeitsalltag als sehr stressig. Sie wünschen sich mehr Selbstbestimmung, sehnen sich nach einer Auszeit und nach der Möglichkeit, sich neu zu orientieren oder zu qualifizieren. Viele wollen einfach mal für eine Zeit lang raus.«

Das kann man dann durchaus so zynisch interpretieren, wie es Jens Berger macht: »Zugespitzt könnte man Klingbeils Angebot eher mit der französischen Königin Marie Antoinette vergleichen, die dem hungernden Volk entgegnet haben soll: „Wenn sie kein Brot haben, sollen sie doch Kuchen essen“. Heute heißt das dann: „Wenn sie im Beruf Stress haben, sollen sie sich doch ein Jahr Auszeit gönnen“. Marie Antoinette verlor ihren Kopf auf der Guillotine.«

Nun könnte man abschließend bilanzieren: Erneut werden wir mit einer echten Schnapsidee konfrontiert, wieder wird, wie beim semantisch aufgeblähten Vorschlag eines „solidarischen Grundeinkommens“ von Müller, Kunstnebel in den medialen Raum geblasen. Aber die SPD muss aufpassen, dass es nicht erneut zu rezeptionsbedingten Missverständnissen kommt, die am Ende den Frust der Enttäuschten noch potenzieren wird. Und selbst unabhängig von solchen Erwägungen sind dann Schlagzeilen desaströs, die auch noch von Sozialdemokraten selbst befeuert werden: SPD will Hartz IV offenbar komplett abschaffen. Das hatten wir schon mal vor ein paar Monaten – und ist damals in sich zusammengefallen. Nun erneut dieser Unsinn, denn der Artikel bezieht sich explizit auf Lars Klingbeil: »Die SPD will nach den Worten ihres Generalsekretärs Lars Klingbeil ihre Sozialpolitik neu ausrichten und Hartz IV abschaffen. Dem „Focus“ sagte er: „Hartz IV ist von gestern. Wir arbeiten an einem neuen Konzept und damit ist Hartz IV passé – als Name und als System.“« Das wünscht man sich wohl in Berlin. Nur geben das die Luftschlösser nicht her, die man dafür anbietet.

Erneut wird mit den vielen Gefühlen von Millionen Menschen gespielt, die Erfahrungen mit dem Hartz IV-System gemacht haben oder seit Jahren darin hängen geblieben sind. Man kann an dieser Stelle den Verantwortlichen in der SPD nur zurufen: Denkt lieber mal nach, bevor ihre solche Luftballons startet. Das von vielen kritisierte Grundsicherungssystem ist von existenzieller Bedeutung für mehr als sechs Millionen Menschen. Viele dieser Menschen sind zwar pro forma erwerbsfähig, aber sie sind nicht arbeitslos, sie stehen aus ganz unterschiedlichen Gründen dem Arbeitsmarkt auch nicht zur Verfügung oder sie arbeiten, aber brauchen dennoch aufstockende Hilfen. Jeder, der behauptet, man müsse Hartz IV abschaffen, sollte Rechenschaft ablegen darüber, wie wir die Existenzsicherung von so vielen Menschen alternativ zum bestehenden und in vielen Punkten durchaus kritikwürdigen Hartz IV-System sicherstellen können. Mit dem Existenzminimum spielt man nicht.

Ist den Politikern in Berlin wirklich klar, dass derzeit sechs Millionen Menschen auf Hartz IV-Leistungen angewiesen sind, dass für die Regelleistungen und die Kosten der angemessen Unterkunft jährlich mehr als 43 Mrd. Euro ausgegeben werden (müssen), die oftmals und berechtigt als zu knapp bemessen charakterisiert werden? Aber die dennoch dafür sorgen, dass es eine Grundsicherung gibt?

Man könnte jetzt den Finger auf die zahlreichen praktischen Hartz IV-Wunden legen, also die Frage der in vielen Fällen nicht ausreichenden Unterkunftskosten, die Höhe der Regelleistungen, das Sanktionsregime – um nur einige Punkte zu nennen. Allein der Hinweis auf diese Fragen sollte genügen, um aufzuzeigen, warum es innerhalb des bestehenden Systems derart viele Reibungspunkte und Widersprüchlichkeiten gibt (was spiegelbildlich ja auch den Reiz eines „bedingungslosen Grundeinkommens“ für viele ausmacht, denn dort wird das (scheinbar) vermieden, weil es eben keine Bedingungen gibt, aus deren Operationalisierung dann die beschriebenen Widersprüche resultieren), so dass die Politik institutionenegoistisch gut beraten ist, bei den praktischen Fragen des Hartz IV-Systems toten Mann bzw. Frau zu spielen und lieber mit wolkiger Begriffshuberei jonglieren geht, die aber nach kurzer Erregungswelle wieder in der Sackgasse enden wird.

Das wird dann auch mit dem „Grundeinkommensjahr“ passieren.