Arbeitsmarktentwicklung – scheinbar alles gut. Und wo bleiben die Flüchtlinge?

Man hat sich fast schon daran gewöhnt – positive Nachrichten aus Nürnberg zur Arbeitsmarktentwicklung in Deutschland: »Die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung und die Nachfrage nach neuen Mitarbeitern nehmen auf hohem Niveau weiter zu. Die Herbstbelebung setzt im September stärker ein als üblich, so dass Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung saisonbereinigt sinken. Auch im Vergleich zum Vorjahr sind Abnahmen zu verzeichnen, obwohl sich mehr geflüchtete Menschen in Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung befinden.« So beginnt der Monatsbericht September 2017 der Bundesagentur für Arbeit. Die Pressemitteilung der BA vom 29.09.2017 ist so überschrieben: Herbstbelebung setzt stärker ein als üblich. Erwerbstätigkeit und sozialversicherungspflichtige Beschäftigung haben im Vergleich zum Vorjahr weiter kräftig zugenommen. Mit 44,50 Millionen Personen fiel sie im Vergleich zum Vorjahr um 692.000 höher aus. Der Anstieg geht allein auf mehr sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zurück.
Auch die offiziell ausgewiesene Arbeitslosigkeit ist weiter auf dem Sinkflug. Also alles gut. Oder?
Natürlich könnte man an dieser Stelle auf die immer wieder vorgetragene Kritik verweisen, dass die tatsächliche Zahl der Arbeitslosen höher ist als die offizielle Zahl vermuten lässt. Für September 2017 spricht die BA von 2.449.000 Arbeitslosen – tatsächlich sind es aber mehr: 932.000 „De-facto-Arbeitslose sind nicht in der Arbeitslosen-, sondern in der separaten Unterbeschäftigungsstatistik enthalten“, so der Artikel Was die offizielle Arbeitslosenzahl verschweigt: 3,38 Millionen Menschen ohne Arbeit. Und noch beeindruckender ist vielleicht so eine Größenordnung: 7,08 Millionen Menschen leben von Arbeitslosengeld oder Hartz-IV-Leistungen. Knapp 790.000 Menschen bezogen Arbeitslosengeld I und rund 6,36 Millionen Menschen lebten in einem Hartz-IV-Haushalt mit Arbeitslosengeld II- und Sozialgeld-Bezug, einer so genannten Bedarfsgemeinschaft, darunter über 2 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren (Juni 2017).

Nun wird sich der eine oder andere fragen, wo denn die Flüchtlinge geblieben sind. Haben die alle Arbeit gefunden? Und wenn nicht: Warum steigt die Zahl der Arbeitslosen nicht an? Wo sind sie geblieben?

Verdeutlichen wir das an einem Beispiel: Rheinland-Pfalz. Auch aus diesem Bundesland werden erfreuliche Botschaften vom Arbeitsmarkt ausgesendet. »In Rheinland-Pfalz ist die Zahl der Arbeitslosen im September zurückgegangen auf rund 100.800 Frauen und Männer … Damit ist die Arbeitslosenquote im September … auf 4,6 Prozent zurückgegangen«, berichtet der SWR auf Basis der Arbeitsmarktzahlen der BA. »Die Quote sei noch nie geringer gewesen, sagte die Chefin der regionalen Arbeitsagentur, Heidrun Schulz … Auf dem rheinland-pfälzischen Arbeitsmarkt werden Kräfte so dringend gesucht, wie seit Jahren nicht mehr … Landesweit waren der Agentur im September 40.500 offene Arbeitsstellen gemeldet. Das waren 6.400 oder 18,7 Prozent mehr als vor einem Jahr.« Der Laden brummt. Und auch die Flüchtlinge tauchen in dem Bericht auf:

»Den rund 8.300 arbeitslosen Flüchtlingen rät die Arbeitsagentur nicht zu Helferjobs … Sie sollten eher eine Ausbildung machen – auch wenn diese zunächst oft schlechter bezahlt ist. Insgesamt haben 583 geflüchtete Menschen in diesem Jahr in Rheinland-Pfalz eine Ausbildung begonnen.«

Wir halten an dieser Stelle mal fest: Es wird von 8.300 arbeitslosen Flüchtlingen berichtet und von 583, die eine Berufsausbildung begonnen haben. Man muss diese Zahlen einordnen. Dazu die nebenstehende Abbildung mit Daten der Bundesagentur für Arbeit.

Und hier wird erkennbar, was in der bislang zitierten Berichterstattung nicht auftaucht. Wir sehen einen massiven Anstieg der Zahl der geflüchteten Menschen im Hartz IV-System. Am Beispiel des Bundeslandes Rheinland-Pfalz kann man sich die Niveauunterschiede in den folgenden Schritten verdeutlichen – in Rheinland-Pfalz waren unter den Migranten aus den zuzugsstärksten, außereuropäischen Asylherkunftsländern

  • knapp 5.500 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte (0,4 Prozent Anteil an allen Beschäftigten in Rheinland-Pfalz, + 54,4 Prozent gegenüber dem Vorjahr)
  • rund 9.000 Arbeitslose (8,5 Prozent Anteil an allen Arbeitslosen in Rheinland-Pfalz, + 145,9 Prozent gegenüber dem Vorjahr)
  • sowie über 43.000 Regelleistungsberechtigte Hartz-IV-Empfänger (16,4 Prozent Anteil an allen Regelleistungsberechtigten in Rheinland-Pfalz, + 179,1 Prozent gegenüber dem Vorjahr) 

Offensichtlich tauchen viele Flüchtlinge (noch) nicht auf in der Zahl der offiziell ausgewiesenen Arbeitslosen, aber im Hartz IV-System sehr wohl. Und mit Blick auf die Zukunft ist die Zahl der Hartz IV-Empfänger höchst relevant. Denn zum jetzigen Zeitpunkt gibt es einige Aspekte, die darauf hindeuten, dass viele derjenigen Menschen mit einem Fluchthintergrund, die jetzt in das Grundsicherungssystem kommen, auf Jahre hinweg in diesem System bleiben werden – selbst viele von denen, die eine Arbeit gefunden haben und Geld verdienen, was ja derzeit insgesamt gesehen (noch) eine sehr überschaubare Gruppe darstellt.

Dazu ein Blick auf die Zusammensetzung der Bedarfsgemeinschaften im Hartz IV-System – einmal bezogen auf alle Leistungsempfänger, zum anderen mit Blick auf die Bedarfsgemeinschaften mit mindestens einem Flüchtling, sowohl für Deutschland insgesamt wie auch in Rheinland-Pfalz.
In der öffentlichen Diskussion dominiert (immer noch) die Vorstellung der alleinstehenden männlichen Flüchtlinge in einem eher jüngeren Alter, die hierher gekommen sind. Gut die Hälfte der Bedarfsgemeinschaften im Hartz IV-System, in denen Flüchtlinge leben, besteht aus einer Person. Aber man muss zur Kenntnis nehmen, dass jede vierte Bedarfsgemeinschaft aus vier oder mehr Personen besteht – und das bereits heute, vor dem eigentlich anstehenden, aus politischen Gründen allerdings aufgeschobenen Familiennachzug, der viele Einzel-Bedarfsgemeinschaften zu größeren Haushalten machen wird bzw. würde, wenn er denn kommt.

Und man wird deutlich aussprechen müssen, dass sehr viele Flüchtlinge wahrscheinlich auf viele Jahre im Hartz IV-System bleiben werden. Denn selbst wenn einer irgendeine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung aufnimmt, dann wird es sich häufig um Tätigkeiten im unteren Lohnsegment handeln, von dem man kaum bis sicher gar nicht eine Familie über Wasser halten kann, so dass die Bedarfsgemeinschaft weiter im SGB II verbleiben muss. Zugleich wird zwar seit langem darauf hingewiesen, dass es viel mehr Sprach- und Integrationsangebote geben müssen, nicht nur, aber eben auch, weil die Sprache nun mal das Nadelöhr ist, durch das man mit Blick auf eine Arbeit muss. Hier haben wir auf der einen Seite ein beklagenswertes Systemversagen.
Aber wie jede Medaille hat auch diese eine andere. Denn auch die geflüchteten Menschen müssen sich bewegen und anstrengen. Und immer wieder und zunehmend wird vor Ort berichtet, dass zur Verfügung gestellte Sprachkurse nicht angetreten oder abgebrochen werden – und immer wieder stößt man in den Gesprächen auf den Hinweis, dass es vor allem die Frauen sind. Regelmäßig wird eine Schwangerschaft als Grund für eine angebliche Nicht-Teilnahmemöglichkeit vorgetragen, was natürlich mehr als zweifelhaft ist, denn von Einzelfällen abgesehen ist eine Schwangerschaft bekanntlich keine Krankheit. Dahinter stehen dann auch diskussionsbedürftige Aspekte, die sich niederschlagen in Äußerungen, man brauche ja keinen Sprachkurs, weil man zu Hause bleiben wird oder auch der Druck seitens des Ehepartners, sich vom Erwerbsarbeitsmarkt fern zu halten (vgl. hierzu bereits die kritischen Anmerkungen in dem Beitrag Ein Scheitern mit klarer und frühzeitiger Ansage: Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen. Und nicht wenige Integrationskursteilnehmer sind auf der Flucht vom 18. September 2017).

Selbst unabhängig von der Frage einer möglichen Integration in Erwerbsarbeit wird sich das gesellschaftlich bitter rächen, denn die Sprache ist keine hinreichende, aber ein unverzichtbare Voraussetzung für eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Man muss hier schon den Eindruck bekommen, dass man offensichtlich die gleichen Fehler zuzulassen bereit ist, die schon in der Vergangenheit zu beklagen waren.

Das betrifft die Menschen, die schon da sind. Zuweilen kann man den Eindruck bekommen, dass da seit einiger Zeit keine geflüchteten Menschen mehr kommen, was aber nicht den Tatsachen entspricht. So kann man der September-Ausgabe des IAB-Zuwanderungsmonitors entnehmen: »Nach Angaben der Asylgesuch-Statistik des BAMF wurden im August 2017 etwa 16.000 neuzugezogene Flüchtlinge gezählt …  Seit April 2016 bewegt sich die Zahl der monatlich erfassten Geflüchteten etwa auf dem Niveau von 15.000 Personen.« Das wären dann trotz der Schließung der Balkan-Route aufs Jahr gerechnet mehr als 180.000 neue Flüchtlinge, die es nach Deutschland schaffen. Und auch die müssen aufgenommen und versorgt werden. Und an Sprache und Arbeit herangeführt werden.

Und bereits mit Blick auf diejenigen, die da sind (und die teilweise seit Jahren da sind), wird verständlicherweise kritisiert, dass es zu wenig Beschäftigungsangebote gibt. Wenn die enorme Einstiegshürden in den „normalen“ Arbeitsmarkt haben, dann ist es besonders angezeigt, ihnen auch öffentlich geförderte Angebote zu machen, in denen Arbeit verbunden werden kann mit dem Erlernen der deutschen Sprache. Das gilt natürlich auch für die Neuankömmlinge. Je länger man da wartet, um so größer werden die Folgeprobleme werden, die man sich durch unterlassenes Tun selbst schafft. Über die in mehrfacher Hinsicht zerstörerischen Wirkungen lang anhaltender Erwerbslosigkeit wurde ja nun vielfach berichtet.

Und da muss man auch kritisch auf die Situation im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) schauen. Bereits Anfang September wurden solche Meldungen bekannt, die angesichts der zentralen Bedeutung des BAMF zu Pessimismus Anlass geben: Tausende Bamf-Mitarbeiter bangen um ihre Zukunft: »Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bietet mehr als tausend befristet eingestellten Mitarbeitern keine Weiterbeschäftigung an. Stattdessen stellt es neue, unerfahrene Kräfte ein, die noch eingearbeitet werden müssen.« Damit schafft man eine weitere sichere Quelle für Verzögerungen bei den notwendigen Entscheidungen wie aber auch bei deren Qualität, was sich dann an anderer Stelle, beispielsweise in Form von vielen Klagen vor den zuständigen Gerichten niederschlägt. Wenigstens da, so könnte man zynisch einwenden, werden sichere und nicht schlecht dotierte Arbeitsplätze geschaffen, also für Richter.

Das ist übrigens keine Neuigkeit: »Unternehmensberater haben das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge auf Effizienz getrimmt. Zulasten der Flüchtlinge – und der Gerichte, bei denen sich die Klagen stapeln.« So bereits am 30. März 2017 Caterina Lobenstein in ihrem Artikel Behörde auf Speed. Frank-Jürgen Weise, der ehemalige Chef der Bundesagentur für Arbeit, der dann auch noch die Leitung des BAMF übernommen hatte, ließ sich für seine „Reform“ der Behörde feiern bei seinem Abgang. Ausbaden müssen das jetzt andere.

Arbeitsrecht: Wenn man unwillig ist, unbillige Weisungen zu befolgen. Das Bundesarbeitsgericht will seine Rechtsprechung ändern

Das Arbeitsrecht ist eine komplizierte Angelegenheit. Dies auch deshalb, weil weite Teile des Arbeitsrechts Richterrecht sind, also durch die Rechtsprechung konstituiert werden. Ein einheitliches Arbeitsgesetzbuch gibt es in Deutschland nicht – immer wieder hatte es dazu Aufforderungen und Absichtserklärungen gegeben. Nach der Wiedervereinigung hat man beispielsweise im Einigungsvertrag im Art. 30 EinigVtr ein solches Vorhaben als Auftrag an den Gesetzgeber formuliert: Dort heißt es im Absatz 1 unter der Nummer 1:

1) Es ist Aufgabe des gesamtdeutschen Gesetzgebers,

1. das Arbeitsvertragsrecht sowie das öffentlich-rechtliche Arbeitszeitrecht einschließlich der Zulässigkeit von Sonn- und Feiertagsarbeit und den besonderen Frauenarbeitsschutz möglichst bald einheitlich neu zu kodifizieren.

Das ist bis heute nicht erfolgt und es sieht auch nicht so aus, als ob das demnächst in Angriff genommen wird. Also muss man neben dem Rückgriff auf zahlreiche Einzelgesetze weiter vor allem die arbeitsgerichtliche Rechtsprechung verfolgen.

Hinzu kommt, dass sich das Arbeitsrecht nicht in einem gleichsam aseptischen Raum gleichwertiger Interaktionen bewegt, sondern Fragen und vor allem Konflikte betrifft, die stattfinden in asymmetrischen Machtverhältnissen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Aus dieser Konfiguration entspringt dann auch die – wie manche von der anderen Seite meinen: überspannte – Funktion eines Schutzrechtes für Arbeitnehmer.

Hierzu ein konkretes und aktuelles Beispiel, das zugleich von grundsätzlicher Bedeutung ist. Es geht um einen Grundtatbestand des Arbeitsverhältnisses – die Weisungsgebundenheit des Arbeitnehmers. Der hat Weisungen des Arbeitgebers Folge zu leisten, hat dieser ihn doch ökonomisch gesprochen „eingekauft“ und vergütet ihn dafür.

Wir ahnen schon, was jetzt kommt. Denn es gibt solche und andere Weisungen und ein nicht seltener Streitfall in der Lebenswirklichkeit bezieht sich darauf, dass der Arbeitnehmer der Ansicht ist, eine konkrete Weisung des Arbeitgebers sei unangemessen, überzogen – oder dient nicht wirklich der Erfüllung des Arbeitsverhältnisses, sondern man versuche, über eine solche überzogene Weisung den Arbeitnehmer unter Druck zu setzen, ihn möglicherweise aus dem Arbeitsverhältnis heraus zu drängen. Das kann man sich durchaus vorstellen, man denke hier an die Fälle, in denen unliebsame Mitarbeiter, die beispielsweise einen Betriebsrat ins Leben rufen wollen, „bearbeitet“ werden.
Auf der anderen Seite steht das für sich genommen durchaus nachvollziehbare Interesse des Arbeitgebers, dass die Beschäftigten sich an seine Vorgaben halten, auch wenn die denen nicht schmecken. Und dass sie Weisungen, auch wenn sie unangenehm sein sollten, nicht über eine längere Zeit blockiert werden können.

Wir haben es hier mit fließenden und nicht immer klar abgrenzbaren Übergängen zwischen „noch in Ordnung“ und „nicht mehr in Ordnung“ zu tun. Die Juristen haben für den letzten Fall einen eigenen Terminus zur Hand: „unbillige Weisungen“. Die muss ein Arbeitnehmer nicht befolgen, aber das muss erst einmal arbeitsgerichtlich festgestellt werden. Und bis das passiert ist, gilt bzw. galt bislang die höchstrichterliche Rechtsprechung, dass der Arbeitnehmer auch (später als solche festgestellte) „unbillige Weisungen“ erst einmal befolgen muss, ansonsten riskiert er Folgen wie eine Kündigung des Arbeitsverhältnisses.

Aber wie weit geht das Weisungsrecht des Arbeitgebers? Hierzu der Beitrag Unbillige Weisungen im Arbeitsrecht – Umschwung der Rechtsprechung? von Sebastian Schröder aus dem vergangenen Jahr, der zugleich schon im Titel noch mit Fragezeichen andeutet, was aktuell passiert ist:
Auf die Frage nach der Reichweite des Weisungsrechts des Arbeitgebers gibt das Gesetz »eine – zunächst – simple Antwort: Nach § 106 Gewerbeordnung (GewO) kann er Inhalt, Ort und Zeit (gemeint ist die Lage der Arbeitszeit) der Arbeitsleistung nach billigem Ermessen näher bestimmen, soweit diese Arbeitsbedingungen nicht durch Arbeitsvertrag, Betriebsvereinbarung, Tarifvertrag oder gesetzliche Vorschriften festgelegt sind.« Dazu ein Beispiel:

»Legt ein Arbeitsvertrag ohne Versetzungsvorbehalt abschließend fest, dass der Arbeitnehmer seine Arbeitsleistung ausschließlich in einer bestimmten Filiale in einer bestimmten Stadt zu erbringen hat, ist das Versetzungsrecht beschränkt. Versetzungen in andere Filialen des Unternehmens sind ausgeschlossen. Eine entsprechende Weisung verstieße gegen den Arbeitsvertrag. Sie ist schlicht nichtig und muss nicht befolgt werden.«

Aber es gilt eben auch: »Wurde die Festlegung des Arbeitsortes jedoch mit einem üblichen Versetzungsvorbehalt kombiniert und verfügt das Unternehmen über weitere Filialen im gesamten Bundesgebiet, ist eine Versetzung auch in andere Städte zulässig. Das örtliche Versetzungsrecht gilt grundsätzlich bundesweit!« Und Schröder weist auf eine nicht selten zu beobachtende Quelle für Konflikte hin: »Arbeitnehmer, die bereits seit vielen Jahren am selben Standort eines bundesweit tätigen Unternehmens eingesetzt werden, wähnen sich oft in vermeintlicher Sicherheit, was eine Versetzungsmöglichkeit angeht.« Die Enttäuschung folgt dann für die Arbeitnehmer oft auf dem Fuße: »Hier ist die Rechtsprechung zugunsten der Arbeitgeber jedoch sehr großzügig. Auch wenn der Arbeitgeber von seinem Versetzungsrecht über Jahre hinweg keinen Gebrauch gemacht hat, bedeutet das nicht unbedingt, dass er diesbezüglich eingeschränkt ist.«

Auch bei der Lage der Arbeitszeit gelten vergleichbare flexible Spielräume für den Arbeitgeber, wenn nichts anderes im Arbeitsvertrag fixiert wurde.

Und jetzt kommt das arbeitsrechtliche „aber“: Die schier grenzenlose Reichweite des Weisungsrechts wird durch die „Billigkeitskontrolle“ kompensiert, ein ganz praktischer Ausdruck der eingangs hervorgehobenen Schutzfunktion des Arbeitsrechts:

»Die Arbeitsgerichte prüfen hierbei, ob die Interessen des Arbeitgebers an der Befolgung der Weisung und die Interessen des Arbeitnehmers miteinander abgewogen wurden. Hierbei spielen in der Praxis unter anderem die Vermögens- und Einkommensverhältnisse oder familiäre Pflichten und Unterhaltsverpflichtungen des Arbeitnehmers eine Rolle. Im Kern gilt freilich, dass nur eklatant willkürliche oder rechtsmissbräuchliche Weisungen unbillig sein werden.«

Das hört sich erst einmal sehr abstrakt an, aber der Verfasser des Beitrags liefert uns ein konkretes Beispiel, was das bedeuten kann:

»Ein Arbeitnehmer – ledig, kinderlos – ist in einer Kölner Filiale eines bundesweit tätigen Einzelhandelsunternehmens als Metzger beschäftigt. Sein Arbeitsvertrag enthält eine zulässige Versetzungsmöglichkeit. Er wird (mit einer angemessenen Ankündigungsfrist) angewiesen, seine Tätigkeit künftig in einer Hamburger Filiale zu erbringen. Die Weisung ist im Ergebnis wirksam und billig. Der Mitarbeiter wird seinen Wohnort verlegen und der Weisung nachkommen müssen.

Anders sieht es aus, wenn er verheiratet und seiner schwangeren Frau sowie den drei schulpflichtigen Kindern zum Unterhalt verpflichtet ist. Dann dürfte die Weisung in einem ersten Schritt von der arbeitsvertraglichen Regelung zwar gedeckt sein. Jedoch wird die Versetzung nicht mehr billigem Ermessen entsprechen.«

Die Ähnlichkeiten zu dem aktuell für einige Diskussionen sorgenden Fall sind offensichtlich. Dazu Christoph Bergwitz in seinem Artikel Diver­genz am BAG vom 16.06.2017:

»Der Arbeitnehmer des zugrunde liegenden Falls war als Immobilienkaufmann am Standort Dortmund des beklagten Unternehmens beschäftigt. Mehrere Mitarbeiter seines Teams lehnten im März 2014 gegenüber dem Betriebsratsvorsitzenden eine weitere Zusammenarbeit mit dem als unkollegial und unkooperativ bezeichneten Arbeitskollegen ab. Daraufhin versetzte der Arbeitgeber ihn für die Zeit vom 16. März bis 30. September 2015 an den Standort Berlin. Der Arbeitnehmer leistete dieser Versetzungsanordnung trotz zweimaliger Abmahnung nicht Folge und wurde deshalb fristlos gekündigt. Der entsprechende Kündigungsrechtsstreit ist noch beim 2. Senat des BAG anhängig (Az. 2 AZR 329/16).

Mit seiner vor dem 10. Senat anhängigen Klage wandte sich der Kläger gegen seine Versetzung sowie die Abmahnungen und machte die Fortzahlung seiner Vergütung geltend. Die Vorinstanzen haben festgestellt, dass der Arbeitnehmer nicht verpflichtet war, seine Arbeitsleistung am Standort Berlin zu erbringen. Sie haben das Unternehmen verurteilt, die Abmahnungen aus der Personalakte zu entfernen und dem Kläger die vorenthaltene Vergütung nachzuzahlen. Ausdrücklich hat das Landesarbeitsgericht (LAG) Hamm dem 5. Senat des BAG die Gefolgschaft verweigert und eine vorläufige Bindungswirkung der als unbillig erachteten Versetzungsanordnung verneint.«

Das Kernargument des LAG Hamm gegen die (bisherige) Rechtsprechung geht so: »Die Rechtsprechung des 5. Senats führe zu einer für den Arbeitnehmer untragbaren Risikoverlagerung. Er müsse auch einer unbilligen Leistungsanordnung zunächst Folge leisten, wenn er nicht Gefahr laufen will, seine Vergütungsansprüche zu verlieren oder wegen Arbeitsverweigerung gekündigt zu werden (Urt. v. 17.03.2016, Az. 17 Sa 1660/15).«

Man muss dazu anmerken, dass die (bisherige) Rechtsprechung des 5. Senats zur vorläufigen Verbindlichkeit einer unbilligen Arbeitgeberweisung auch bei anderen auf Kritik gestoßen ist: »Sie belaste den Arbeitnehmer als „Gestaltungsopfer“ einseitig, weil er zunächst eine gerichtliche Klärung über die Rechtmäßigkeit der Weisung herbeiführen müsse, wenn er keine arbeitsrechtlichen Sanktionen riskieren will.«

Offensichtlich gibt es nun innerhalb des Bundesarbeitsgerichts Differenzen, denn der 10. Senat hat sich der skizzierten Kritik angeschlossen. Bergwitz berichtete dazu, dass der 10. Senat die Auffassung vertreten möchte, dass der Arbeitnehmer einer unbilligen Weisung des Arbeitgebers nicht – auch nicht vorläufig – folgen muss. Er hat daher nach § 45 Abs. 3 Satz 1 Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG) beim 5. Senat angefragt, ob dieser an seiner gegenteiligen Rechtsauffassung festhält.

Und der hat nun geantwortet: Unter der Überschrift Versetzung – Verbindlichkeit einer unbilligen Weisung – Antwort des 5. Senats hat das Bundesarbeitsgericht eine Pressemitteilung veröffentlicht, die eine offensichtliche Änderung der bisherigen Rechtsprechung in Aussicht stellt – und das mit einem einzigen Satz:

»Der Fünfte Senat des Bundesarbeitsgerichts hat auf die Anfrage mitgeteilt, dass er an dieser Rechtsauffassung nicht mehr festhält.«

Der DGB Rechtsschutz hat seine Berichterstattung dazu unter diese Überschrift gestellt: Unbillige Weisungen: 5. Senat gibt bisherige Rechtsprechung auf. Mit der Antwort des 5. Senats steht einer Entscheidung des 10. Senats in der Sache nichts mehr entgegen. Die vielkritisierte Rechtsprechung zu unbilligen Weisungen findet also in naher Zukunft ein Ende, was hier offensichtlich begrüßt wird.

Es gibt aber auch kritische Stimmen, so die von Günther Heckelmann in seinem Beitrag Senat gibt Recht­sp­re­chung auf. Seine Argumentation geht so:

»Nach der bevorstehenden Rechtsprechungsänderung des Zehnten Senats trägt der Arbeitnehmer das Abschätzungsrisiko, will er der angeblich unbilligen Weisung nicht unter Vorbehalt bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung nachkommen. Stellt sich nach einer häufig mehrere Monate dauernde arbeitsgerichtliche Auseinandersetzung heraus, dass die Weisung doch wirksam war, muss er auch die arbeitsrechtlichen Konsequenzen bis hin zu einer Kündigung tragen.

Aber selbst wenn sich am Ende die Unbilligkeit der Weisung herausstellt, wird das Arbeitsverhältnis in aller Regel irreparabel beschädigt sein. Der Arbeitnehmer wird nach einem langen Rechtsstreit bei ausgesprochener außerordentlicher Kündigung über einen längeren Zeitraum freigestellt gewesen und damit nicht mehr in den Arbeitsablauf integriert sein. In der Praxis werden die Arbeitsvertragsparteien danach nicht mehr erfolgreich zusammenarbeiten können und am Ende wird häufig die (einvernehmliche) Beendigung des Arbeitsverhältnisses stehen. Gewonnen hat damit keine Seite etwas.«

Aber was ist mit dem Argument der Kritiker der bisherigen Rechtsauffassung, dass angesichts der unsachgemäßen, weil langen Verfahrensdauer vor den Arbeitsgerichten und des damit fehlenden Rechtsschutzes gegen unbillige Weisungen der Arbeitnehmer durch die Verweigerungsmöglichkeit geschützt werden müsse? Hierzu Heckelmann:

»Genau für diese Fälle sieht das Gesetz das einstweilige Verfügungsverfahren vor, in dem eine schnelle Klärung der Verbindlichkeit der Weisung erfolgen kann. Da jede Partei im ersten Rechtszug nur ihre eigenen Kosten trägt und viele Arbeitnehmer rechtschutzversichert sind, bleiben die Kosten überschaubar. Für den betroffenen Arbeitnehmer ist es regelmäßig zumutbar für die Dauer des einstweiligen Verfügungsverfahrens der Weisung in jedem Fall nachzukommen. Berücksichtigt man die Möglichkeit, durch einstweiligen Rechtsschutz schnell eine Entscheidung zu erhalten, sind durch dieses Instrument die Interessen beider Parteien des Arbeitsvertrages ausgewogen berücksichtigt.«

Wie immer – ein kompliziertes Ding, das Arbeitsrecht.

Licht und Schatten. Die Arbeitsmarkt-Prognose des IAB für 2017 und 2018

Der Job-Boom der vergangenen Monate wird sich nach Einschätzung von Arbeitsmarktforschern im nächsten Jahr deutlich abschwächen. Das kann man beispielsweise in diesem Artikel lesen: Job-Boom dürfte sich 2018 deutlich abschwächen. Der bezieht sich auf eine neue Prognose des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit. Wenn man bei denen vorbeischaut, dann findet man den entsprechenden Bericht unter dieser Überschrift mit einer anderen Melodie: IAB-Prognose für 2017/2018: Arbeitsvolumen so hoch wie nie. Das klingt doch vielversprechender als die Headline des erstgenannten Artikels.

Dort wird dieser Befund hervorgehoben: »Im Jahresschnitt 2018 werde die Arbeitslosigkeit nur noch um rund 60.000 auf 2,48 Millionen sinken … Für dieses Jahr rechnet die Denkfabrik der Bundesagentur für Arbeit (BA) dagegen mit einem fast dreimal so hohen Rückgang der Erwerbslosenzahl auf 2,54 Millionen.« Auch einen Erklärungsversuch liefert der Artikel gleich mit: Einen stärkeren Rückgang der Zahl der Arbeitslosen verhinderten die „vorübergehend zunehmenden Arbeitslosenmeldungen von Flüchtlingen“, wird der IAB-Arbeitsmarktforscher Enzo Weber zitiert.
Wenn die nicht wären, würde die Lage noch schöner sein: »Denn die hohen Arbeitskräftenachfrage der Unternehmen wirke weiter als Jobmaschine: Nach der IAB-Prognose dürften im kommenden Jahr 545.000 neue Arbeitsplätze entstehen. Die Zahl der Erwerbstätigen würde damit auf 44,83 Millionen steigen – einen neuen Rekordwert.«

Was aber schreiben Johann Fuchs, Markus Hummel, Christian Hutter, Sabine Klinger, Susanne Wanger, Enzo Weber und Gerd Zika in dem Originalbericht sonst noch so?

Die Arbeitsmarktentwicklung ist bekanntlich immer abhängig von der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Und die wird in warmen Farben gezeichnet: »Die Wirtschaft in Deutschland befindet sich im Aufschwung. Nach 1,9 Prozent für das laufende Jahr erwarten wir für 2018 ein Wachstum des realen Bruttoinlandsprodukts von 1,7 Prozent.«

Daraus folgt eine entsprechende Entwicklung bei der Beschäftigung, wenn man die an der Zahl der Erwerbstätigen misst, die bekanntlich alle Beschäftigungsformen enthält, von den ausschließlich geringfügig Beschäftigten über die „richtig“, also sozialversicherungspflichtig Beschäftigten bis hin zu den Selbständigen und mithelfenden Familienangehörigen (vgl. für eine genauere Analyse den Beitrag Sie wächst und wächst, „die“ Beschäftigung. Aber welche eigentlich? Eine Dekomposition der Erwerbstätigenzahlen vom 3. Mai 2017). Zur erwarteten Entwicklung schreiben die IAB-Forscher das, was bereits zitiert wurde: »Der Aufwärtstrend der Erwerbstätigkeit setzt sich fort: Für das Jahr 2018 prognostizieren wir ein Plus von 550.000 Personen, nach 650.000 im Jahr 2017.«

Auch die erwähnte Berichterstattung über die Entwicklung der Arbeitslosigkeit kann man dem Original-Bericht entnehmen: »Nach unserer Prognose sinkt die Arbeitslosigkeit im Jahresdurchschnitt 2017 um 150.000 Personen und 2018 um weitere 60.000 auf unter zweieinhalb Mio. Personen. Vorübergehend zunehmende Arbeitslosmeldungen von Flüchtlingen werden von der grundsätzlich guten Entwicklung kompensiert, verlangsamen aber den Rückgang der Arbeitslosigkeit.«

Interessant sind die Hinweise auf die Entwicklung des Arbeitsangebots, das gemessen wird am Erwerbspersonenpotenzial: »Vor allem aufgrund der hohen Zuwanderung wächst das Erwerbspersonenpotenzial im Jahr 2017 um 570.000 und 2018 um weitere 260.000 Personen.«

Also alles gut? Man muss weiterlesen: »Die Erwerbstätigkeit folgt seit elf Jahren einem Aufwärtstrend, mit kurzer Unterbrechung im Krisenjahr 2009. Die Arbeitslosigkeit nahm längerfristig deutlich ab, zuletzt sank sie eher moderat. Mittlerweile ist der tiefste Stand seit 25 Jahren erreicht. Dennoch sind strukturelle Probleme sichtbar. Dazu gehört beispielsweise, dass Arbeitslose mit ihrer Qualifikation oft nicht zu den Bedarfen der Betriebe passen oder regionale Diskrepanzen von Angebot und Nachfrage auftreten. Auch ist ein beträchtlicher Teil der Arbeitslosen in der Grundsicherung sehr lange ohne Beschäftigung.«

Ein differenzierter Blick auf die Arbeitslosenversicherung (SGB III) und das angesprochene Grundsicherungssystem (SGB II) ist notwendig. Nur ein Drittel der Arbeitslosen sind noch im SGB III abgesichert, zwei Drittel befinden sich im Hartz IV-System – und beide Systeme unterscheiden sich teilweise erheblich:

»Zwischen September 2016 und August 2017 fanden in jedem Monat durchschnittlich 14,8 Prozent der SGB-III-Arbeitslosen eine neue Stelle auf dem ersten Arbeitsmarkt, im SGB II waren dies nur 3,2 Prozent. Fast jeder Zweite (47,5 %) im SGB II ist länger als ein Jahr arbeitslos, im SGB III dagegen nur jeder Zehnte (10,8 %). Die Arbeitslosigkeit im SGB II ist eher strukturell bedingt und reagiert deutlich schwächer und zeitverzögert auf die Konjunktur. Zudem befindet sich dort der überwiegende Teil der arbeitslosen Flüchtlinge.«

Zu welchem Fazit kommen die Arbeitsmarktforscher in ihrer Prognose? Dazu Fuchs et al. (2017: 12):

»Die vorliegende Prognose zeigt gute Aussichten für Konjunktur und Arbeitsmarkt. Die Erwerbstätigkeit steigt kräftig, die Arbeitslosigkeit sinkt selbst zu Zeiten, in denen hunderttausende Flüchtlinge in Beschäftigung integriert werden müssen. Der Arbeitskräftebedarf ist nach wie vor hoch. Das Potenzial für weitere Beschäftigungszunahmen ist mittelfristig allerdings begrenzt, weil Arbeitskräfte zunehmend knapper werden.

Negative demografische Effekte wurden bisher noch durch die hohe Zuwanderung überkompensiert, vor allem aus Ost- und Südeuropa. Dies wird nicht immer so bleiben. Da der demografische Wandel dort ähnlich verläuft wie in Deutschland, ist das weitere Zuwanderungspotenzial aus diesen Ländern begrenzt. Zudem gab es in der Vergangenheit Sondereffekte durch die Aufhebung der Freizügigkeitsbeschränkungen sowie die starke Zuwanderung im Zuge der europäischen Wirtschaftskrise. Soll der Demografieeffekt auch in Zukunft durch Migration abgemildert werden, muss Deutschland eine offene und erwerbsorientierte Zuwanderungspolitik stärken.

Arbeitslose könnten von der demografischen Verknappung profitieren, weil die Marktkräfte ihre Jobchancen erhöhen könnten … Dies ist angesichts struktureller Probleme allerdings kein Automatismus. Arbeitsmarktpolitische Anstrengungen in der Vermittlung und Qualifizierung könnten unter diesen demografischen Rahmenbedingungen aber eine größere Hebelwirkung entfalten.«

„Arbeitsmarktpolitische Anstrengungen in der Vermittlung und Qualifizierung könnten …“ – da ist sie wieder, diese wohlfeile Formulierung für etwas, was man schon lange hätte machen müssen. Eine massive und finanziell gut hinterlegte und mit neuen, echten Förderinstrumenten ausgestaltete Qualifizierungs- und Beschäftigungsinitiative gerade im Bereich der sich weiter verfestigenden und verhärteten Langzeitarbeitslosigkeit. Vorschläge dafür werden seit Jahren gemacht – aber die vergangenen vier Jahre der GroKo waren hier verlorene Jahre. Nichts von Relevanz ist in diesem Kernbereich der Arbeitsmarktpolitik im engeren Sinne passiert, von den so typischen und entnervenden Modell- und Sonderprogrammen abgesehen.

Und eine kritische Anmerkung zu den vom IAB  präsentierten Zahlen muss vorgetragen werden: Die Zahlenangaben zu den (Nicht-)Auswirkungen der Flüchtlinge auf die Arbeitsmarktzahlen erscheinen auf den ersten Blick eigenartig weichgespült, was auch daran liegen mag, dass der Übergang in den offiziellen Arbeitslosenstatus nur sehr langsam und eingeschränkt erfolgt. Schaut man sich hingegen an, wie Zahl und Anteil der Flüchtlinge im Hartz IV-System nach oben gehen, dann muss darüber auch arbeitsmarktpolitisch viel intensiver diskutiert werden – es ist nicht unplausibel, dass hier jetzt die gleichen Fehler gemacht werden, die schon vorher zum Aufbau und Verhärtung der Langzeitarbeitslosigkeit im Hartz IV-System beigetragen haben. Man wartet zu lange, macht zu wenig und wundert sich später, dass die nicht mitgenommen werden können auf dem schönen Pfad der Arbeitsmarktentwicklung aus der Vogelperspektive. Und selbst wenn die offensichtlich sehr optimistischen Einschätzungen, was Übergänge in Beschäftigung angeht, zutreffen sollten, werden das wenn, dann verständlicherweise oftmals Jobs sein, die im Niedriglohnsektor angesiedelt sind. Von denen man kaum bzw. sicher gar nicht eine Familie ernähren kann, so dass die Betroffenen auf Jahre im Hartz IV-Bezug als Aufstocker verbleiben werden, neben den Bedarfsgemeinschaften, die im Vollbezug der Leistungen sind, weil keiner einen Fuß auf den Boden des deutschen Arbeitsmarktes hat setzen können. Hinzu kommt die teilweise erheblich unterdurchschnittliche Erwerbsbeteiligung der Frauen aus den Fluchtländern, was durch den anstehenden Familiennachzug sicher weiter erhöht werden wird. Hier sollte man nicht abwarten, sondern aus arbeitsmarkt-, vor allem aber auch aus gesellschaftspolitischen Gründen rechtzeitig und deutlich intervenieren.

„Jamaika“ ante portas nach der Bundestagswahl – und was das für die Sozialpolitik bedeuten kann. Am Beispiel der Leiharbeit

Nun sind die Wählerwürfel gefallen und wir wissen, dass es mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit für die kommenden Jahre zu einer „Jamaika“-Koalition aus CDU/CSU, FDP und Grünen kommen muss, denn die einzige rechnerische Alternative, also eine Fortführung der „Großen Koalition“ zwischen Union und SPD, ist nach dem sozialdemokratischen Schwur, man werde nach dem schlechtesten Wahlergebnis seit 1949 den Gang in die Opposition antreten, nur dann noch möglich, wenn die Verhandlungen über eine „Jamaika“-Koalition scheitern sollten und die SPD von ihrer Aussage, nicht mehr mit Merkels Union koalieren zu wollen, im Fall des Scheiterns von „Jamaika“-Verhandlungen abweichen würde, was aber nicht wirklich plausibel erscheint, auch wenn im schlimmsten Fall Neuwahlen drohen – denn könnte es wirklich noch schlimmer kommen für die SPD?

Also kann man zum jetzigen Zeitpunkt davon ausgehen, dass wir nach längeren Verhandlungen, die sich sehr schwierig gestalten werden, eine Koalition von Union (die durch ein ebenfalls historisch schlechtes Wahlergebnis verunsichert ist), mit einer von Null auf Hundert katapultierten, aber inhaltlich und personell auf sehr wackeligen Füßen stehenden FDP und den angesichts mieser Umfragewerte davongekommenen, allerdings inhaltlich sehr heterogen aufgestellten Grünen bekommen werden.

Und da wird es eine Menge Stress geben, vor allem zwischen der FDP und den Grünen (oder einem Teil der Grünen), vor allem in dem hier relevanten Bereich der Sozialpolitik – und das vor dem Hintergrund, dass die Grünen der kleinste Koalitionspartner sein werden.

Nun kann man viel spekulieren auf einer allgemeinen, abstrakten Ebene, was das für die anstehenden schwierigen Sondierungsgespräche und Koalitionsverhandlungen bedeuten kann und wird.

Man kann aber auch – und das soll hier exemplarisch versucht werden am Beispiel der Leiharbeit – an einem konkreten Teilbereich der Sozialpolitik ansetzen und darüber nachdenken, was die neue Konstellation bedeuten könnte vor dem Hintergrund, dass es im Bereich der Leiharbeit und Werkverträge gerade am Ende der letzten Legislaturperiode durchaus kontroverse gesetzgeberische Veränderungen gegeben hat (vgl. hierzu kritisch den Beitrag Eine weichgespülte „Reform“ der Leiharbeit und Werkverträge in einer Welt der sich durch alle Qualifikationsebenen fressenden Auslagerungen vom 1. April 2017).

Dieses Thema ist auch deshalb interessant, weil die Grünen – neben den Linken – 2016 als Opposition im Deutschen Bundestag massiv gegen die aus ihrer Sicht halbgare Reform des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes Sturm gelaufen sind. Und in den ganzen vier zurückliegenden Jahren waren die Grünen immer mit kritischen Stimmen im Bereich der Arbeitsmarktpolitik präsent gewesen – was natürlich auch, man sollte das nicht unterschätzen, an einzelnen Abgeordneten lag. Grüne MdBs wie Brigitte Pothmer (die nicht mehr für den neuen Bundestag kandidiert hat), Beate Müller-Gemmeke und Wolfgang Strengmann-Kuhn haben sich hier deutlich positioniert und engagiert, um nur drei Beispiele zu nennen.

Und als die Reform der Leiharbeit im April dieses Jahres in Kraft trat, feierte die zuständige Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) das pflichtgemäß als eine große Verbesserung für die Leiharbeiter in unserem Land. »Leiharbeit und Werkverträge geben unserer Wirtschaft Flexibilität. Wir wollen verhindern, dass sie missbraucht werden, um Druck auf Beschäftigte, Löhne und Arbeitsbedingungen zu machen. Daher führen wir die Leiharbeit auf ihre Kernfunktion zurück und schieben dem Missbrauch von Werkverträgen einen Riegel vor.« So die Ministerin, die nun in Zukunft offensichtlich, folgt man den aktuellen Meldungen, das Amt der Fraktionsvorsitzenden der geschrumpften SPD-Fraktion übernehmen soll.

Das mit der angeblichen deutlichen Verbesserung der Situation der Leiharbeiter in unserem Land haben schon damals viele anders gesehen – und auch die Grünen waren in ihrer Ablehnung dessen, was die Große Koalition da vorgelegt hat, mehr als deutlich. Vgl. dazu beispielsweise den Antrag der Grünen vom 27.01.2016: Missbrauch von Leiharbeit und Werkverträgen verhindern (BT-Drs. 18/7370). Dort wurde nicht nur die konsequente Anwendung des „equal pay“-Grundsatzes vom ersten Tag der Beschäftigung eines Leiharbeiters gefordert, sondern auch eine „Flexibilitätsprämie“ in Höhe von 10 Prozent des Bruttolohns als Ausgleich für höhere Flexibilitätsanforderungen in offensichtlicher Anlehnung an das französische Beispiel (vgl. dazu den Beitrag Leiharbeit in Frankreich: Mehr Lohn gegen weniger Sicherheit von Bernard Schmid). Das waren und sind erhebliche Abweichungen von dem, was die GroKo dann beschlossen hat.

Und die skeptischen Einschätzungen der Kritiker der Neuregelungen der Leiharbeit sind offensichtlich nicht aus der Luft gegriffen. Dem Business des Menschenverleihs geht es nicht schlecht, wie solche Zahlen verdeutlichen: Zeitarbeit erreicht Eine-Million-Marke: »In diesen Tagen übersteigt die Belegschaft der etwa 11.000 Zeitarbeitsfirmen die Marke von einer Million Menschen, das sind doppelt so viele wie noch vor zehn Jahren. Eine genauere Analyse wurde hier bereits im Juli 2017 veröffentlicht: Sie wächst und gedeiht, die Leiharbeit. Die Probleme, die aus der Branche gemeldet werden, sind denn auch weniger Probleme mit der vielbeschworenen „Strangulierung“ durch den Gesetzgeber, sondern strukturelle Wachstumsbremsen, die sich aus dem Geschäftsmodell in Verbindung mit der allgemeinen Arbeitsmarktentwicklung ergeben: »Die offensichtlich trotz der angeblich existenzbedrohenden Regulierung seitens der Politik florierende und expandierende Branche hat mittlerweile erhebliche Probleme, genügend Arbeitskräfte für die Aufträge zu rekrutieren. Da überrascht es nicht, dass sie Ausschau hält nach neuen Quellen für die Rekrutierung von Leiharbeitern. Dass man dabei ein Auge auf die Flüchtlinge geworfen hat, überrascht dann auch nicht mehr.«

Damit aber nicht genug – auch die Tarifparteien, also Arbeitgeber und Gewerkschaften – haben zwischenzeitlich reagiert, aber sicher nicht so, wie sich das viele zumindest hinsichtlich der Gewerkschaften so vorstellen würden.

Das schlägt sich dann in solchen Schlagzeilen nieder: Gesetz als Mogelpackung? Metallindustrie unterläuft Regeln zu Leiharbeit. Um gleich am Anfang eine mögliche Fehlinterpretation zu vermeiden, sei hier darauf hingewiesen, dass es nicht „die bösen“ Arbeitgeber sind, die sich hier gegen eine arbeitnehmerorientierte Schutzgesetzgebung stellen und diese zu unterlaufen versuchen – sondern das passiert ganz legal über – ja, das ist kein Druckfehler – Tarifverträge, die von den Arbeitgebern gemeinsam mit den Gewerkschaften abgeschlossen worden sind. Den Hinweis darauf findet man auch in den aufgerufenen Artikel:

»Schon 13 regional geltende Tarifverträge erlauben Abweichungen von der gesetzlichen Regelung, wonach Leiharbeiter höchstens 18 Monate lang in einer Firma eingesetzt werden dürfen … Das Bundesarbeitsministerium verwies darauf, dass die Tarifvertragsparteien der Einsatzbranchen „noch bis Oktober 2018 Zeit haben, um abweichende Regelungen zu treffen.“ Experten gehen davon aus, dass noch zahlreiche weitere Branchentarifverträge hinzukommen, um die Höchsteinsatzdauer zu umgehen.«

Was passiert hier? Dem aufmerksamen Leser dieses Blogs wird das nicht unbekannt sein, denn bereits am 19. April 2017 wurde hier dieser Beitrag veröffentlicht: Wenn die Leiharbeiter in der Leiharbeit per Tarifvertrag eingemauert werden und ein schlechtes Gesetz mit gewerkschaftlicher Hilfe noch schlechter wird. Früher hat man noch lernen dürfen, das Tarifverträge dazu dienen, die Situation der Arbeitnehmer zu verbessern. Das reformierte AÜG hingegen produziert eine irritierende Rolle rückwärts. Das von Andrea Nahles immer wieder vorgetragene Ziel einer Stärkung der Tarifparteien wird im AÜG jetzt so umgesetzt, dass zum einen die Besserstellungsabsicht der Tarifebene konterkariert wird, da den nicht-tarifgebundenen Unternehmen ein weitgehend gleicher Vorteil ermöglicht wird. Aber noch schlimmer: Die Tarifvertragsparteien (wohlgemerkt der Entleihbetriebe) können schlechtere Bedingungen für die Leiharbeiter vereinbaren und das auch noch verlängern. Tarifpolitik absurd, mag der eine oder andere an dieser Stelle denken.

In dem bereits zitierten Artikel über die tarifvertragliche Umgehungsstrategie finden wir diese Hinweise: »Die neue Vorschrift war mit der Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes am 1. April eingeführt worden. Sie soll Leiharbeiter – die zumeist schlechter bezahlt werden – davor schützen, dass sie immer wieder auf derselben Stelle eingesetzt werden, ohne eine Festanstellung zu bekommen. In der Praxis verlängern viele Unternehmen, etwa Autohersteller, die Einsatzzeit von Leiharbeitern einfach auf 48 Monate, um Lohnkosten zu sparen. Aber auch die Gewerkschaften haben durchaus ein Interesse daran, um die Stammbelegschaft zu schützen.«

Und dort werden auch die Grünen zitiert, in Gestalt der Bundestagsabgeordneten Beate Müller-Gemmeke:

„Die Höchstüberlassungsdauer ist eine Mogelpackung, denn sie begrenzt Leiharbeit in keiner Weise.“ Sie warf der Bundesregierung vor, es mit der Höchstüberlassungsdauer nicht ernst gemeint zu haben: „Sonst hätte sie keine Verlängerung ermöglicht, zumal die meisten Leiharbeitskräfte viel kürzere Einsatzzeiten haben.“

In ihrem Wahlprogramm fordern die Grünen, dass Leiharbeiter vom ersten Tag an mindestens den gleichen Lohn erhalten wie Stammbeschäftigte – und zusätzlich eine Flexibilitätsprämie. Müller-Gemmeke sagte: „Das wäre gerecht und davon würden die Leiharbeitskräfte tatsächlich profitieren. Leiharbeitskräfte bekämen einen höheren Lohn und für Unternehmen wäre eine Festanstellung betriebswirtschaftlich günstiger.“

Wie könnte sich das nun in einer „Jamaika“-Koalition mit Union und FDP ausgestalten? Die haben ganz andere Vorstellungen. Nehmen wir als Beispiel das Wahlprogramm der FDP: Dort findet man unter der Überschrift „Abbau überflüssiger Regulierung in der Zeitarbeit“ die Aussage:

»Wir Freie Demokraten wollen über üssige Regulierungen bei der Zeitarbeit abbauen … die Große Koalition (hat) hier bürokratisiert. Die unnötigen gesetzlichen Vorschriften zur Überlassungsdauer und Entlohnung führen zu Unsicherheiten und Aufwand. Dies wollen wir ändern.«

Keine vielversprechende Basis für eine Zusammenarbeit mit den Grünen an dieser Stelle – sollten denn die Grünen an ihrer bisherigen Positionierung festhalten. Die Union hat dem Regulierungsansatz der GroKo-Partners SPD nur unter Bauchgrimmen zugestimmt und im parlamentarischen Prozess dem Gesetzentwurf einige Zähne gezogen. Sie wird kein besonderes Interesse haben an der Eingrenzung der Leiharbeit, geschweige denn an ihrer Verschärfung. Ganz im Gegenteil, die Union trifft sich mit der FDP in der Zielsetzung, auf dem Arbeitsmarkt weitere Deregulierungen durchzusetzen. Zu Zeit- oder Leiharbeit findet man im „Regierungsprogramm 2017-2021“ nichts, aber sehr wohl zum Mindestlohn, der ja auch von den Grünen begrüßt wird:

»Die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns in Deutschland hat sich grundsätzlich bewährt. Jeder soll von seiner Arbeit leben können. Deshalb halten wir daran fest. In der Praxis hat sich allerdings gezeigt, dass viele Regelungen zu bürokratisch und wenig alltagstauglich sind. Dies trifft insbesondere unsere Landwirtschaft und die Gastronomie sowie weitere Be- triebe. Unser erklärtes Ziel ist daher der Abbau unnötiger Bürokratie gleich zu Beginn der neuen Wahlperiode.«

Jeder, der sich in dieser Materie etwas auskennt, weiß, dass das als Drohung zu verstehen ist: Bei den angedeuteten „bürokratischen Regelungen“ geht es weniger bis gar nicht um die Höhe des gesetzlichen Mindestlohns, sondern um die Arbeitszeitregelungen, wie wir sie bislang (noch) im Arbeitszeitgesetz haben, sowie um die Dokumentationspflichten für die Arbeitgeber. Und auch die sind nicht wirklich das Problem (man kann das heute in Zeiten der Digitalisierung über eine kostenlose App-Lösung realisieren, wenn man denn will), sondern die damit verbundene Transparenz über mögliche Verstöße gegen das Arbeitszeitgesetz. Vor diesem Hintergrund – an dem sich die Union klassisch mit der FDP treffen kann – wird eine der großen Baustellen der Koalitionsverhandlungen und des Regierungshandelns die angestrebte und arbeitgeberorientierte „Flexibilisierung“ der Arbeitsbedingungen, vor allem, was die Arbeitszeit angeht, werden.

Nun könnte man an dieser Stelle argumentieren, gut, dass dann wenigstens die Grünen die arbeitnehmerorientierten Positionen in der neuen Regierung verteidigen und hochhalten kann. Wenn, dann wäre das sicher gut. Aber die abschließende Frage bleibt doch – werden die Grünen (selbst wenn sie das wollten, was man auch noch mal detaillierter diskutieren müsste) das auch können bzw. dürfen?

Vom jetzigen Standpunkt aus betrachtet spricht vieles dafür, dass sie das und auch andere progressiv angelegte sozialpolitische Inhalte, nicht werden können und dürfen. Denn die Grünen wären der kleinste Koalitionspartner unter der Jamaika-Flagge, sie haben in zentralen Politikfeldern teilweise konträre Positionierungen vorgenommen im Vergleich zur Union und FDP und sie werden versuchen müssen, wenigstens einige „ihrer“ Inhalte in der neuen Regierung zu verankern. Und da muss man dann Prioritäten setzen, denn die Grünen haben sicher – und sei es semantisch – progressive Positionen in der Sozialpolitik vertreten, aber wenn sie sich entscheiden müssten zwischen Hartz IV, Mindestlohn und Leiharbeit auf der einen und Umwelt- und Klimapolitik auf der anderen Seite, dann gibt es plausible Prognosen, dass das Pendel zu den Umweltthemen schwingen wird.

Das wird sich dann sicher auch in der Ressortverteilung einer „Jamaika“-Koalition niederschlagen. Man wird den Grünen das Umweltministerium geben und das Bundesfamilienministerium, das vielleicht noch aufgepeppt um Integration (von Flüchtlingen und anderen Zuwanderern). Man schaue sich beispielsweise die Ressortverteilung einer anderen Dreier-Koalition mit einem etwas anderen Vorzeichen an, auch als „Ampel“-Koalition bezeichnet: In Rheinland-Pfalz, wo die SPD und die FDP mit den Grünen als kleinstem Partner zusammen regieren, ist genau das passiert.

Bleibt wenigstens noch die Opposition, wird der eine oder andere denken. Die werden dann die sozialpolitische Flanke der neuen Bundesregierung massiv angreifen. Aber auch hier sollte man prophylaktisch Wasser in den Wein kippen. Denn die Linken haben sich zwar leicht verbessern können, sind aber weiterhin relativ isoliert im Bundestag, selbst die punktuellen Bündnisse mit den bislang ebenfalls oppositionellen Grünen werden wegfallen. Und die SPD, wenngleich auf der Oppositionsbank, wird wohl nach der Hinterzimmerentscheidung am Wahltag von der bisherigen Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles geführt werden, die bei allen Angriffen immer berücksichtigen muss, dass sie selbst viele der kritisierten (Nicht-)Entscheidungen der vergangenen vier Jahre wie die Reform des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes zu verantworten hat und sich zugleich den großen Industriegewerkschaften verpflichtet fühlt, die – wie wir am Beispiel der Leiharbeit gesehen haben – ihre ganz eigenen Interessen im Spiel haben.

Was die Sozialpolitik angeht, muss man zum jetzigen Zeitpunkt hinsichtlich einer „Jamaika“-Koalition mehr als skeptisch sein, auch wenn man sich gerne überraschen lassen würde. Den Leiharbeitern und den Mindestlöhnern kann man hingegen schon relativ gesichert in Aussicht stellen, dass sich an ihrer Situation wenig bis gar nichts verbessern wird. Eher im Gegenteil werden sie als erste unter die Räder des großen politischen Basars, den wir zu erwarten haben, geraten.

Hartz IV, die Wahlprogramme und ein Blick hinter die Kulissen

Am morgigen Sonntag wird der neue Bundestag gewählt. Die Grundsicherung nach dem SGB II, umgangssprachlich Hartz IV genannt, war im Wahlkampf nicht wirklich ein Thema, obgleich es Millionen Menschen betrifft. Und die haben teilweise richtig große Probleme, über die Runden zu kommen – auch aufgrund von Schwierigkeiten, die sich aus der Konstruktion der Grundsicherung ergeben. Vgl. dazu beispielsweise den Beitrag Hartz IV-Empfänger bekommen 1,63% mehr Geld. Von der Angemessenheit, ungedeckten Stromkosten und Mieten mit Selbstbeteiligung vom 22. September 2017. Vor diesem Hintergrund macht es durchaus Sinn, in die Wahlprogramme der Parteien zu schauen – denn entweder finden sich dort weiterführende Hinweise auf Änderungsbedarf und Änderungsvorschläge, die nur keinen Eingang gefunden haben in den Wahlkampf oder aber die Nicht-Befassung mit dieser nun wirklich sehr großen sozialpolitischen Baustellen spiegelt sich auch in den Wahlprogrammen der Parteien. Dann müsste man zu der Feststellung kommen, dass dieser Bereich aus dem Blickwinkel der politisch Verantwortlichen gerutscht ist.

Insgesamt wird man mit Blick auf die Arbeitsmarktpolitik zu dem Ergebnis kommen müssen, dass in den Wahlprogrammen der Parteien eine gewisse „arbeitsmarktpolitische Müdigkeit“ zu erkennen ist im Vergleich zu den zurückliegenden Wahlkämpfen (vgl. dazu ausführlicher Stefan Sell: Arbeitsmarktpolitik in den Wahlprogrammen der Parteien. Eine Bestandsaufnahme vor der Bundestagswahl 2017, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 26/2017, S. 18-24).

Hinsichtlich des hier interessierenden Grundsicherungssystems (SGB II) gilt das ganz besonders – man muss teilweise sogar zur Kenntnis nehmen, dass das gar nicht auftaucht. So findet man beispielsweise im Wahlprogramm der CDU/CSU (das übrigens gleich Regierungsprogramm 2017-2021 genannt wird) gar keine Ausführungen zu Themen wie Hartz IV, oder Arbeitslosengeld (II). Ausschließlich dieser sehr wolkig gehaltene Passus unter der Überschrift „Langzeitarbeitslosen helfen“ kann zitiert werden (S. 12):

  • CDU und CSU wollen eine Chance auf Arbeit für jeden Menschen in Deutschland. Denn Arbeit dient der Selbstverwirklichung des Einzelnen und schafft Lebensqualität. Wir finden uns mit der hohen Zahl von Langzeitarbeitslosen nicht ab. Wir werden ihre Qualifizierung, Vermittlung und Re-Integration in den Arbeitsmarkt deutlich verbessern.
  • Langzeitarbeitslosen, die aufgrund der besonderen Umstände auf dem regulären Arbeitsmarkt keine Chance haben, werden wir verstärkt die Möglichkeit geben, sinnvolle und gesellschaftlich wertige Tätigkeiten auszuüben. Das ist ein starker Beitrag für den Zusammenhalt in unserem Land.
  • Wir werden finanzielle Mittel bereitstellen, damit jungen Menschen, deren Eltern von Langzeitarbeitslosigkeit betroffen sind, in ganz Deutschland der Weg in Ausbildung und Arbeit geebnet wird.

Ansonsten – nichts.

Sieht es denn bei den anderen Parteien anders aus? Ordnen wir die bzw. deren Aussagen in den jeweiligen Wahlprogrammen so, dass wir mit den Parteien beginnen, wo sehr weitreichende Forderungen gestellt werden.

Die Linke: Im Bereich der Grundsicherung finden wir hier zahlreiche Vorschläge, die auf einen Systemwechsel abzielen:

  • Gefordert wird eine „Mindestsicherung“ statt Arbeitslosengeld II (ALG II). Der Regelleistungssatz dieser Mindestsicherung soll bei 1.050 Euro für Erwerbslose, aufstockende Erwerbstätige, Langzeiterwerbslose und Erwerbsunfähige liegen, bei Bedarf Wohngeld (auf Basis der Bruttowarmmiete) und für Kinder eine Grundsicherung in Höhe von 564 Euro. Die Mindestsicherung soll für alle dauerhaft in Deutschland lebenden Menschen gewährt werden, damit einher geht die Forderung nach einer Abschaffung das Asylbewerberleistungsgesetzes.
  • Die Linke plädiert für die Abschaffung von Sanktionen im Grundsicherungssystem 
  • sowie die Abschaffung der Bedarfsgemeinschaften (also ein Wechsel zum Individualprinzip).
  • Gefordert wird die Schaffung eines öffentlichen Beschäftigungssektors, für Menschen, die derzeit keiner regulären Beschäftigung nachgehen können. 
  • Abgerundet wird das durch die Forderung, ein Recht auf Arbeit sowie das Recht, eine konkrete Arbeit abzulehnen, zu verankern.

Für den Bereich der Arbeitslosenversicherung (SGB III) wird vorgeschlagen, eine längere Zahlung von Arbeitslosengeld I sowie kürzere Anwartschaftszeiten als erleichterte Zugangsvoraussetzung zu ermöglichen. Auch hier wird das Sanktionsinstrumentarium kritisiert und für eine Abschaffung von Sperrzeiten plädiert. Die Linken fordern ein Recht auf (arbeitgeberfinanzierte) Weiterbildung.

Bündnis 90/Die Grünen: Auch die Grünen haben einige substanzielle Veränderungsvorschläge die Grundsicherung betreffend, die aber nicht so weitreichend ausfallen wie die der Linken:

  • Erhöhung des Regelsatzes beim Arbeitslosengeld II, vor allem für Kinder wird eine bedarfsgerechte Neuberechnung der Leistungshöhe gefordert. 
  • Für Stromkosten soll es eine gesonderte Pauschale geben. 
  • Die Grundsicherung soll als individuelle Leistung ausgestaltet werden, mithin also eine Abschaffung der Bedarfsgemeinschaften. 
  • Auch die Grünen fordern eine Abschaffung von Sanktionen 
  • und sie plädieren für die Schaffung eines „sozialen Arbeitsmarktes“ für Langzeitarbeitslose.

Im Bereich der Arbeitslosenversicherung fordern die Grünen einen Wechsel hin zu einer „Arbeitsversicherung“, die auch Selbstständige miteinbezieht. Hinsichtlich der Weiterbildung wird gefordert, dass diese nicht nur bei Arbeitslosigkeit gefördert werden soll.

SPD: Im Wahlprogramm fallen hinsichtlich der Grundsicherung diese Punkte auf:

  • Eine Verdopplung des Schonvermögens im SGB II, 
  • eine Streichung der schärferen Sanktionen für unter 25-Jährige im SGB II 
  • sowie eine Überführung des Bundesprogramms „Soziale Teilhabe“, das sich an Langzeitarbeitslose richtet, als Regelleistung in das SGB II.

Für die Arbeitslosenversicherung wird vorgeschlagen, Selbständige, die sich in der Arbeitslosenversicherung absichern wollen, das durch einkommensbezogene Beiträge zu ermöglichen. Eine kürzere Anwartschaft für Arbeitslosengeld I: Ein Anspruch soll ermöglicht werden, wenn innerhalb von drei Jahren vor der Arbeitslosigkeit mindestens zehn Monate sozialversicherungspflichtig Beschäftigung gegeben ist, was einen erleichterten Zugang zu Leistungen der Arbeitslosenversicherung ermöglichen würde. Gefordert wird die flächendeckende Einführung von Jugendberufsagenturen.

Ein wichtiger Baustein im Programmentwurf der SPD ist der angestrebte Umbau der Bundesagentur für Arbeit zu einer „Bundesagentur für Arbeit und Qualifizierung“ und die damit einhergehende Transformation der Arbeitslosen- zu einer „Arbeitsversicherung“. Gefordert wird damit einhergehend ein Recht auf Weiterbildung, das im Bedarfsfall auch berufsbegleitend umgesetzt werden soll. Hier taucht dann auch der bereits in der Öffentlichkeit heftig diskutierte Vorschlag des Kanzlerkandidaten Martin Schulz auf, ein „Arbeitslosengeld Q (ALG Q)“ für die Dauer von Qualifizierungsmaßnahmen einzuführen: Der Bezug des ALG Q soll nicht auf das Arbeitslosengeld I-Anspruch angerechnet werden (was diesen verlängern würde), die Höhe entspricht dem Arbeitslosengeld I, nach Beendigung einer Qualifizierungsmaßnahme gibt es dann erneut einen Anspruch auf Arbeitslosengeld I nach den bisherigen Regeln.

AfD: Auch die AfD hat sich positioniert zur Grundsicherung und Arbeitslosenversicherung.

  • Gefordert werden höhere Arbeitslosengeld-II-Leistungen bei einer Vorbeschäftigung von mindestens zehn Jahren, 
  • eine bedarfsangepasste Qualifizierung von Arbeitslosen in enger Abstimmung insbesondere mit der mittelständischen Wirtschaft 
  • sowie eine realistische Datenerhebung und eine Reform bei der Errechnung der offiziellen Arbeitslosenzahl.

Für die Arbeitslosenversicherung wird eine längere Bezugsdauer gefordert, wenn eine mindestens zehnjährige Vorbeschäftigungszeit erfüllt ist. Ebenfalls länger bezugsberechtigt beim Arbeitslosengeld I sollen Eltern sein.
Sozialleistungen für EU-Bürgern sollen erst dann gewährt werden, wenn diese zuvor vier Jahre versicherungspflichtig in Deutschland beschäftigt waren und ihren Lebensunterhalt damit vollständig selbst decken konnten. Ansonsten sollen sie von Sozialleistungen ausgeschlossen werden. Bei den Leistungen für Asylbewerber soll der Grundsatz gelten: „Sachleistungen vor Geldleistungen“.

FDP: Im Bereich der Grundsicherung wird

  • die Einführung eines „liberalen Bürgergeldes“ gefordert, also eine Zusammenfassung von Arbeitslosengeld II, Grundsicherung im Alter, Hilfe zum Lebensunterhalt nach SGB XII, Kinderzuschlag und Wohngeld zu einer Transferleistung.  
  • Die Zuverdienstgrenzen bei Arbeitslosengeld II-Bezug sollen erhöht werden durch eine Absenkung des Anrechnungssatzes. 
  • Für Langzeitarbeitslose wird ein „Training on the Job“ gefordert sowie eine Kombination von Grundsicherung und Lohn des Arbeitgebers (also ein Kombi-Lohn), falls erforderlich auch die Ermöglichung einer psychosozialen Begleitung. 

In der Arbeitslosenversicherung wird jede Verlängerung der Arbeitslosengeld I-Bezugsdauer abgelehnt. Auch die FDP fordert eine Förderung der Weiterbildung von Beschäftigten, die allerdings arbeitgeber- und arbeitnehmerfinanziert stattfinden soll sowie mit einer öffentlichen Förderung in Höhe von maximal 50 Prozent der Kosten.

Soweit die wahlprogrammatische Ebene. Aber wie sieht es hinter den Kulissen aus, also in der Fachdiskussion? Denn offensichtlich ist, dass es zahlreiche Probleme und ungelöste Aufgaben im Grundsicherungssystem gibt, die unbedingt zu bearbeiten wären.
Nun gibt es an dieser Stelle je nach Interessenlage und politischer Ausrichtung ganz unterschiedliche Reformvorschläge. Eine vertiefende Analyse würde den Rahmen dieses Beitrags völlig sprengen. Aber es gibt in Deutschland eine Institution, in der fast alle Akteure der Sozialpolitik mit ihren teilweise erheblich abweichenden Interessen vertreten sind und diese Institution meldet sich regelmäßig zu Wort mit Stellungnahmen und Empfehlungen, die sich natürlich dadurch „auszeichnen“ müssen, dass sie eher konsensorientierte Ausarbeitungen darstellen: Gemeint ist der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge. Für viele mag der Name irgendwie angestaubt klingen, was aber an der nun wirklich beeindruckend langen Geschichte dieser Institution liegt – immerhin wurde die Organisation 1880 als „Deutscher Verein für Armenpflege und Wohlthätigkeit“ gegründet. Während der Weimarer Republik wurde der Verein zu einem professionellen Interessenverband, der großen Einfluss auf die Fürsorgegesetzgebung nahm. Während der Zeit des Nationalsozialismus wurde der DV gleichgeschaltet und entging so seiner Auflösung. Nach 1945 erfolgte der Neuaufbau.

Der Deutsche Verein ist ein Zusammenschluss der öffentlichen und freien Träger sozialer Arbeit. Er  hat über 2.500 Mitglieder, hierzu gehören Landkreise, Städte und Gemeinden sowie deren Spitzenverbände und die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege ebenso wie Bundesministerien und -behörden, Länderverwaltungen, überörtliche Träger der Sozialhilfe, Universitäten und Fachhochschulen, Vereine, soziale Einrichtungen, Ausbildungsstätten, Einzelpersonen und Unternehmen der Sozialwirtschaft. Also die gesamte „Sozialszene“ ist da irgendwie vertreten – vor allem aber sowohl die „Leistungserbringer“ wie die „Kostenträger“, was gerade für das hier interessierende Thema Hartz IV von besonderer Bedeutung ist.
Und der Deutsche Verein hat sich gerade aktuell erneut in diesem Themenfeld mit zwei Empfehlungen an die Öffentlichkeit gewandt.
Es wurde eingangs bereits auf das besondere Problem der Kosten für Unterkunft und Heizung hingewiesen (dazu der Beitrag Hartz IV-Empfänger bekommen 1,63% mehr Geld. Von der Angemessenheit, ungedeckten Stromkosten und Mieten mit Selbstbeteiligung vom  22. 09.2017). Hierzu hat der Deutsche Verein am 12. September 2017 Empfehlungen zur Herleitung existenzsichernder Leistungen zur Deckung der Unterkunftsbedarfe im SGB II und SGB XII veröffentlicht.

Dort werden Empfehlungen zur „Ausfüllung des Angemessen­heitsbegriffs nach geltendem Recht“ gegeben, darüber hinaus aber auch in einem eigenen Teil eine „Erste Positionierungen zur gesetzlichen Neu­gestaltung der Rechtssituation“ dargelegt, was für die Reform dieses so wichtigen Bereichs besonders interessant ist.
Über diesen Teilbereich hinaus hat der Deutsche Verein ebenfalls am 12. September 2017 Empfehlungen für eine Weiterentwicklung der Grundsicherung für Arbeit­suchende (SGB II) veröffentlicht, also das ganze SGB II in den Blick nehmend.
Darin geht es nach einer Bestandsaufnahme der Probleme im SGB II vor allem um drei große Baustellen, die identifiziert und mit Reformvorschlägen versehen werden:
  1. Konsistente Neuausrichtung der Beschäftigungsförderung
  2. Verbesserung der Existenzsicherung
  3. Aufgabengerechte Ausgestaltung der vorgelagerten Sicherungssysteme
Die einzelnen Vorschläge können hier nicht im Detail vorgestellt oder gar bewertet werden. Wer sich aber die Mühe macht, in die Empfehlungen zu schauen, der wird zum einen eine Übersicht über den gegenwärtigen Änderungsbedarf im SGB II – wohlgemerkt aus einer konsensual angelegten Perspektive ganz unterschiedlicher Interessengruppen – bekommen und zum anderen wird man erkennen können, dass die weit verbreitete Nicht-Thematisierung des Hartz IV-Systems im Wahlkampf und auf der politischen Bühne dem Problemdruck innerhalb des Systems (von dem für die betroffenen Menschen ganz zu schweigen) in keiner Weise gerecht wird. 
Man wird das Wahlergebnis und die sich anschließende Koalitionsbildung abwarten müssen, um zu sehen, ob der drängende Handlungsbedarf dann wenigstens in der Koalitionsvereinbarung aufgegriffen wird.