Endlich viele neue Jobs. Und dann wieder: Aber. Die Deutsche Post DHL als Opfer und Mittäter in einem Teufelskreis nach unten

Sie arbeiten, kommen aber trotzdem kaum über die Runden: Mehr als drei Millionen Erwerbstätige in Deutschland leben unterhalb der Armutsschwelle. Ihre Zahl ist in den vergangenen Jahren um 25 Prozent angestiegen. Solche Meldungen basieren auf einer Sonderauswertung des Statistischen Bundesamtes, über die in diesen Tagen berichtet wird: Danach lagen Ende 2013 rund 3,1 Millionen Erwerbstätige mit ihrem Einkommen unterhalb der „Armutsschwelle“ –  das waren immerhin 25 Prozent mehr als 2008. Über welche Beträge wir hier reden, verdeutlicht diese Erläuterung: »Als armutsgefährdet gilt, wer einschließlich aller staatlichen Transfers wie zum Beispiel Wohn- oder Kindergeld weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens erzielt. 2013 lag diese Schwelle den Angaben zufolge in Deutschland bei 979 Euro netto im Monat.« Ebenfalls mit Schwellenwerten arbeiten auch die Wissenschaftler des Instituts Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen (IAQ), die jährlich ihre Berechnungen auf der Basis von SOEP-Daten zum Anteil der „Niedriglohnbeschäftigten“ in Deutschland aktualisieren. Das IAQ verwendet – wie auch das Statistische Bundesamt und Eurostat – eine „Niedriglohnschwelle“ von zwei Dritteln des mittleren Stundenlohns (gemessen am Median) in Deutschland. »Die Stundenlöhne wurden auf der Basis der Angaben zum Bruttomonatsverdienst und zur tatsächlich geleisteten Arbeitszeit berechnet. Es handelt sich demnach um die effektiven Stundenlöhne, die von vertraglich vereinbarten Stundenlöhnen abweichen können – etwa, wenn unbezahlte Mehrarbeit geleistet wurde«, so die Erläuterungen im neuesten Bericht zur Niedriglohnbeschäftigung (Thorsten Kalina und Claudia Weinkopf: Niedriglohnbeschäftigung 2012 und was ein gesetzlicher Mindestlohn von 8,50 € verändern könnte, IAQ-Report 2014-02). Ihre wichtigsten Befunde: »Im Jahr 2012 arbeiteten 24,3% aller abhängig Beschäftigten für einen Stundenlohn unterhalb der bundeseinheitlichen Niedriglohnschwelle von 9,30 €.« Und: »Die Zahl der Niedriglohnbeschäftigten ist seit 1995 von 5,9 auf 8,4 Millionen im Jahr 2012 gestiegen, was einer Zunahme um rund 2,5 Millionen (bzw. 42,1%) entspricht. Der prozentuale Anstieg der Niedriglohnbeschäftigung war in Westdeutschland weitaus höher als in Ostdeutschland.« So weit, so schlecht – aber was hat das nun mit der Deutsche Post DHL zu tun?

Die hat in diesen Tagen mal wieder für Aufmerksamkeit gesorgt – mit der erst einmal positiv daherkommenden Nachricht, dass das Unternehmen aufgrund des boomenden Paketgeschäfts zahlreiche neue Arbeitsplätze schaffen will: „Wir rechnen mit 10.000 neuen Stellen bis 2020 und wahrscheinlich 20.000 in Summe bis 2025“, so wird der für das Brief- und Paketgeschäft zuständige Vorstand Jürgen Gerdes zitiert. Eigentlich ein Grund zur Freude, die allerdings sogleich wieder getrübt wird, wenn man zur Kenntnis nehmen muss, dass die neuen Mitarbeiter in eigens gegründeten Gesellschaften arbeiten sollen. »Der Hausvertrag der Post gilt für sie damit nicht, vielmehr sollen sich ihre Löhne an den Tarifen der Logistikbranche orientieren. Diese liegen vielfach unter denen des Bonner Konzerns.« Und auch hier wieder der bereits zitierte Post-Vorstand Gerdes im Original die Motivation zu diesem Vorgehen erklärend: „Die Paketzustellung ist auf Dauer nicht innerhalb der existierenden Tarifverträge machbar, weil der Wettbewerbsnachteil zu groß ist“, die Personalkosten bei der Deutschen Post DHL seien im Durchschnitt doppelt so hoch wie die der Wettbewerber.

Über was und wen wird hier gesprochen? Es geht um den Paketmarkt in Deutschland, der schon 2013 ein Marktvolumen von 8, 2 Mrd. Euro auf die Waage gebracht hat. Der Marktanteil der DHL lag bei beeindruckenden 42,3%, die anderen 57,7% entfielen – wenn man die Daten aus dem Geschäftsbericht der Deutschen Post DHL zugrunde legt – auf die Wettbewerber der DHL. Zu denen zählen Unternehmen wie die zur Otto-Gruppe gehörende Hermes, die seit 2011 mehrheitlich zur französischen Post gehörende DPD, die amerikanische UPS sowie die GLS, eine Tochter der britischen Staatspost Royal Mail. Der Paketmarkt macht seit geraumer Zeit einen gewaltigen Strukturwandel durch, dessen Verständnis für das, was jetzt bei der Deutschen Post DHL passiert, hilfreich ist. Dieser Strukturwandel besteht grob gesagt aus zwei Komponenten. Zum einen erleben wir eine gewaltige quantitative Ausweitung des Paketmarktes an sich, vor allem natürlich bedingt durch die Expansion der Online-Versandhändler wie Amazon und Zalando. Immer mehr Pakete müssen also transportiert werden, eine scheinbar sehr gute Nachricht für die Anbieter dieser Dienstleistungen. Marktbeobachter sprechen Unternehmen wie Amazon und Zalando aufgrund ihres stetig wachsenden Gewichts den Status von „systemrelevanten Kunden“ zu, die natürlich gegenüber den Paketdiensten über eine entsprechende und wachsende Marktmacht verfügen, die sie auch ausüben (müssen), man denke hier nur beispielsweise an deren Problematik, dass die Kosten durch viele Retouren (die gleichsam die Folge von in die Haushalte der Online-Käufer ausgelagerten Umkleidekabinen sind).

Jacqueline Goebel hat es mit der Überschrift ihres Artikels Wie das eigene Wachstum für Paketdienste zum Fluch wird auf den Punkt gebracht, was als zweite Komponente des Strukturwandels des Paketmarktes zur Kenntnis genommen werden muss: »Die Paketdienste stehen nicht erst seit dem Boom des Online-Handels unter Druck. Ausbaden müssen diesen Druck die Fahrer.« Dies hängt auch damit zusammen, dass früher überwiegend Material oder Waren versandt und ausgeteilt wurden, die sich Unternehmen untereinander geschickt haben – was heute aber nur noch auf 42% der Pakete zutrifft. Die Mehrheit des Paketaufkommens entfällt nun auf Privathaushalte, die bei den Versandhändlern bestellt haben. Das ist aber mit erheblichen betriebswirtschaftlichen Herausforderungen verbunden: Die Zahl der Pakete nimmt erheblich zu und gleichzeitig die Zahl der Haushalte, die jeweils einzeln beliefert werden müssen und von denen viele – anders als Unternehmen, die meistens mehrere Sendungen geliefert bekommen – während der Auslieferungszeiten nicht anzutreffen sind. Logische Folge ist, dass die Kosten pro Paket für die Zustelldienste steigen, besonders wenn es um Pakete in ländlichen Räumen geht. Nun könnte man natürlich theoretisch die steigenden Zustellkosten an die Auftraggeber weiterreichen, aber dieser Mechanismus ist gestört, wenn nicht sogar ausgehebelt, sollte man aufgrund der Konkurrenzsituation mit anderen Anbietern das nicht durchsetzen können.

Und die anderen Anbieter im Paketmarkt haben – das wurde bereits mit Blick auf die zwei bis zweieinhalb Mal so hohen Personalkosten der DHL angedeutet – Geschäftsmodelle, die auf eine Preisunterbietung der DHL durch niedrigere Personalkosten setzen und die natürlich gezielt von den sehr großen Auftraggebern gegen mögliche Preiserhöhungsforderungen der „teureren“ DHL in Stellung gebracht werden können. Hier nur ein Hinweis, über welche Beträge wir reden, wenn es um die mindestens doppelt so hohen Personalkosten der DHL geht: Der Einstiegslohn dort liegt bei 14 Euro, der durchschnittliche Stundenlohn wird mit 18 Euro angegeben, somit bekommt man einen ersten Eindruck, von welchen Stundenlöhnen wir bei den Konkurrenz-Unternehmen ausgehen (müssen). Das muss auch und gerade vor dem Hintergrund unterschiedlicher Geschäftsmodelle der Paketdienste gesehen und bewertet werden: Die DHL beschäftigt überwiegend eigene Paketzusteller, bislang war es so, dass von den 10.000 Zustellbezirken maximal 990 und damit weniger als 10% von Fremdfirmen abgedeckt werden dürfen. UPS beschäftigt je nach Quelle zwischen 60 und 70 Prozent der Fahrer als eigene Angestellte und auch die restlichen Fremdfirmenbeschäftigten haben vergleichsweise faire Bedingungen. Vergleichsweise zu wem? Am anderen Ende der Skala stehen Unternehmen wie DPD oder GLS, die gar keine eigenen Fahrer haben und die alles über ein Subunternehmer-Modell laufen lassen, über das man „hervorragend“ den Kostendruck von oben nach unten weitergeben kann, ohne pro forma die Verantwortung übernehmen zu müssen für die daraus resultierenden Zustände, unter denen vor allem die Fahrer zu leiden haben.

Die Deutsche Post DHL will nun die aktuelle Situation nutzen, um gleichsam in einem „Doppelschlag“ das angesprochene Kostendilemma zu den Wettbewerbern kleiner zu machen. Denn zum einen gibt es seit dem 1. Januar 2015 den allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn, der – wenn er denn eingehalten wird – bei den Subunternehmern und darüber vermittelt dann auch bei den Paketdiensten insgesamt einen entsprechenden Kostendruck nach oben ausüben wird, zum anderen will man perspektivisch bei den eigenen Beschäftigten vom „hohen“ Lohnniveau runter und sich dem darunter liegenden Lohnniveau der Konkurrenten annähern. Erreicht werden soll dies über eine Spaltung der Belegschaft in „alte“ Bestandsfälle, die weiter unter den bestehenden Haustarifvertrag fallen und „neuen“ armen Schluckern, die man in eigens dafür gegründete Gesellschaften auslagern und deutlich schlechter vergüten will. Die Post beschäftigt derzeit im Brief- und Paketgeschäft in Deutschland rund 180.000 Mitarbeiter. „Diejenigen Menschen, die bereits bei uns unbefristet beschäftigt sind, sind nicht Zielgruppe der neuen Gesellschaften. Für sie gilt der Haustarifvertrag weiter“, so wird Post-Vorstand Jürgen Gerdes zitiert. Die Post hat nach seinen Angaben bereits 49 neue Gesellschaften gegründet, die die neuen Mitarbeiter einstellen sollen. Die neu gegründeten Gesellschaften laufen unter dem Namen DHL Delivery GmbH. Dieses Unternehmen gibt es schon seit längerem und es hat auch schon in der Vergangenheit für unrühmliche Schlagzeilen gesorgt (vgl. hierzu beispielsweise den Artikel Eine kleine Tochter macht der Post großen Ärger aus dem September 2013).

Nach Angaben der Post würden die ersten Gesellschaften ab sofort neue Mitarbeiter einstellen. Dabei würden befristet Beschäftigte der Post, deren Verträge auslaufen, bevorzugt. Die Post beschäftigt nach eigenen Angaben derzeit 14.700 Arbeitskräfte mit zeitlich befristeten Verträgen. Das ist knapp ein Zehntel der Gesamtbelegschaft in der Brief- und Paketsparte. Unter anderem in Rostock, Bremen und Frankfurt am Main sollen die Mitarbeiter der neuen Gesellschaften bald komplette Bezirke für die Paketzustellung übernehmen. Es geht bei der Nutzung der Auslagerung in neue Gesellschaften nicht nur um eine bedeutsame Lohnsenkung – nach Berechnungen der Gewerkschaft drohen den Betroffenen allein mit Blick auf den Stundenlohn Absenkungen von bis zu rund 20 Prozent. Die Tarifentgelte in der Logistik, an denen sich die neuen Post-Tochtergesellschaften orientieren sollen, beginnen bei Stundenlöhnen von knapp mehr als zehn Euro. An dem Logistik-Tarif orientiert sich auch der Versandhändler Amazon, der deshalb schon lange kritisiert wird. Verdi verlangt von dem US-Händler, die Löhne in seinen Verteilzentren an die des Einzelhandels anzupassen. Bei der Post geht’s jetzt also von oben nach unten.

Der Konzern werde auch bei den Arbeitszeiten flexibler, Überstunden würden leichter möglich. Mitbewerber wie Hermes liefern Pakete bereits jetzt regelmäßig bis in die Abendstunden aus, so die „Positivliste“ des Post-Vorstandes Gerdes. Billiger und flexibler, so lässt sich die Zielsetzung der Post auf den Punkt bringen.

Das verursacht nicht wirklich überraschend erhebliche Spannungen im Unternehmen: Verdi kritisiert neuen Tarifkurs der Post. Die Gewerkschaft spricht vom „Einstieg in den Ausstieg aus der Sozialpartnerschaft“, so Andrea Kocsis, die stellvertretende ver.di-Vorsitzende. Aus gewerkschaftlicher Sicht handelt es sich um einen klaren Fall von Tarif- und Mitbestimmungsflucht. Ein „sozialpolitischer Skandal ersten Ranges“ sei das, so die Gewerkschaft in einer Stellungnahme. Und ver.di hat gute Gründe, mehr als sauer zu sein über die Deutsche Post DHL:

»Nachdem das Unternehmen unter Ausnutzung des Teilzeit- und Befristungsgesetzes mehr als 24.000 befristet Beschäftigte in Geiselhaft genommen habe, so Kocsis …, solle jetzt aus bestehenden Verträgen ausgestiegen werden. Mit der Post sei Ende 2011 vereinbart worden, im Falle des „signifikanten Absinkens der wirtschaftlichen Ergebnisse“ Gespräche aufzunehmen. Dieser Fall sei aber bislang nicht eingetreten. „Umso unerträglicher ist für uns, dass die Post mit diesem Manöver offensichtlich unseren Vertrag zum Ausschluss der Fremdvergabe und den Entgelttarifvertrag unterlaufen will“, sagt Kocsis.
Der Vertrag zum Ausschluss der Fremdvergabe läuft bis zum 31. Dezember 2015 und legt fest, dass maximal 990 Paketzustellbezirke von Konzerntöchtern oder Dritten betrieben werden dürfen.«

Apropos wirtschaftliche Lage des Konzerns: Bereits 2013 hat die Deutsche Post DHL bei 55 Mrd. Euro Umsatz mehr als 2 Mrd. Euro Jahresüberschuss gemacht (2,091 Mrd. Euro). Die Umsatzrendite lag bei 5,2% (gemessen am EBIT). Und die Prognosen für die Sparte, in dem sich die Paketdienste der DHL bewegen, klingen nicht nach einem echten Sozialfall: »Der operative Gewinn soll demnach 2014, 2015 und 2016 bei jeweils mindestens 1,3 Milliarden Euro liegen«, so Maris Hubschmid in dem Artikel Viele neue Jobs, aber schlechtere Bezahlung.

Die Deutsche Post DHL hat sich auf eine Rutschbahn nach unten gesetzt, aus einer vermeintlichen Marktlogik heraus, die rein betriebswirtschaftlich gesehen durchaus logisch ist und angesichts des immer wieder herausgestellten Lohngefälles zwischen Post und Konkurrenzunternehmen führt für die DHL aus deren Binnenperspektive auch kein Weg daran vorbei, eine solche Strategie zu versuchen (vgl. hierzu auch den Blog-Beitrag Was Amazon, die Deutsche Post und Daimler gemeinsam haben vom 28.12.2014). Das gleiche Muster erleben wir ja in vielen anderen Branchen auch, vor allem im hier besonders interessierenden Bereich der personenbezogenen Dienstleistungen. Hier handelt es sich um Dienstleistungen, die in aller Regel nicht verlagerbar sind ins Ausland und die man auch nicht annähernd so rationalisieren kann wie beispielsweise die industrielle Produktion. Zumindest die letzte Meile zu den immer zahlreicher werdenden Kunden muss (noch) händisch abgearbeitet werden. Aber was betriebswirtschaftlich durchaus rational sein kann, erweist sich volkswirtschaftlich als Schuss ins eigene Knie und man landet dann dort, wo dieser Blog-Beitrag begonnen hat. Und um den Zynismus gleichsam „abzurunden“: Die Strategie der Lohnsenkung und der weiteren „Flexibilisierung“ wird scharf gestellt in einer Phase, in der sich die Arbeitsbedingungen in den Paketdiensten bereits erheblich verschlechtert haben (vgl. hierzu den Blog-Beitrag Paketdienste segeln auf der Sonnenseite der „Amazon-Gesellschaft“. Aber das hat seinen Preis, dessen Bezahlung wieder mal ungleich verteilt ist vom 09.12.2014). Die wahren „Helden“ der Amazon-Gesellschaft werden uns noch weiter beschäftigen.

Und abschließend nur noch eine Anmerkung zu einem Zusammenhang mit einem anderen, sozialpolitisch hoch brisanten Thema der Gegenwart: Die so genannte „Tarifeinheit“. In diesem Kontext haben die Arbeitgeber in ihrem Bemühen, die große Koalition zu einer gesetzgeberischen Regelung zu treiben, immer wieder als ein Argument darauf hingewiesen, sie wären total überfordert, mit einer Belegschaft, in der beispielsweise zwei Gewerkschaften um die Gunst der Arbeitnehmer und für deren Interessen agieren. Das wäre viel zu komplex. Ach ja, aber die Belegschaft zu spalten und mal eben 49 Tochtergesellschaften zu gründen, in denen dann die Mitarbeiter zu anderen Tarifen und Regelwerken arbeiten (müssen), das ist offensichtlich kein Problem. Da verstehe noch einer die Welt der Wirtschaft. Auch dort malt man sich die offensichtlich so, wie es gerade gefällt.

Foto: © Stefan Sell

Paketdienste segeln auf der Sonnenseite der „Amazon-Gesellschaft“. Aber das hat seinen Preis, dessen Bezahlung wieder mal ungleich verteilt ist

Jetzt ist wieder Hochsaison für die Paketdienste. Unmengen werden in diesen und den kommenden Tagen verschickt und müssen zugestellt werden. Aber auch unabhängig vom Weihnachtsgeschäft boomt die Branche. Denn unsere Gesellschaft mutiert immer mehr zu einer „Amazon-Gesellschaft“. Online bestellen und real an- und beliefern lassen setzt sich immer mehr durch. Laut einer Studie des Bundesverbandes Internationaler Express- und Kurierdienste (BIEK) wurden im Jahr 2013 knapp 2,7 Milliarden Sendungen verschickt. Das sind 57 % mehr als im Jahr 2000. Immer mehr gelbe, braune oder weiße Laster quälen sich im Schneckentempo durch die überfüllten Straßen – und dass sie in vielen Städten schon heute ein veritables Verkehrschaos anrichten, wie Michael Haberland in seinem Artikel Sie parken mitten auf der Straße: Wie Paket-Dienste Städte verstopfen beklagt, ist die eine durchaus problematische Auswirkung dieser Erfolgsstory. Besonders problematisch ist aber die Tatsache, dass die Expansion der Branche in vielen Fällen auf Kosten der dort arbeitenden Menschen vorangetrieben wird. Die teilweise skandalösen Arbeitsbedingungen sind schon oft und von vielen beleuchtet worden (vgl. beispielsweise den Blog-Beitrag Da schreit jemand – nicht – vor Glück. Die (noch) Zwei-Klassen-Gesellschaft bei den Paket- und Kurierdiensten und Wildwest bei den Arbeitsbedingungen oder auch Amazon mal wieder. Ab in den Osten und zurück mit dem Paketdienst).

Die Abbildung verdeutlicht einen trockenen, für die Betroffenen aber teilweise im wahrsten Sinne des Wortes schmerzhaften Aspekt: In den vergangenen Jahren hat es bei den Paketdiensten eine enorme Produktivitätssteigerung gegeben, gemessen an der Zahl der zugestellten Sendungen je Beschäftigten. Fast 22% mehr innerhalb der vergangenen zehn Jahre. Nun ist sicher jedem klar, dass man in diesem Bereich kaum durch technische Innovationen einen solchen Produktivitätssprung hinbekommen hat, sondern hier spiegelt sich u.a. eine massive Arbeitsverdichtung und eine Ausweitung der Zustellbezirke. Frank-Thomas Wenzel hat das, was hier angesprochen wird, schon in der Überschrift zu seinem Artikel auf den Punkt gebracht: Lange Tage, wenig Geld: »Unter den Paketdiensten herrscht ein gnadenloser Konkurrenzkampf. Leidtragende sind die Zusteller. Sie müssen oft unter massivem Zeitdruck und für einen Hungerlohn die Sendungen zum Kunden bringen.«

Da kann es dann nicht überraschen, wenn man beispielsweise in der Deutschen Verkehrs-Zeitung lesen muss: Paketdienste suchen Fahrer. „Gegenüber Branchen, die schrumpfen, ist das Schöne bei uns, dass der Paketmarkt wächst“, so wird Rico Back, Chief Executive Officer (CEO) der GLS-Gruppe, in dem Artikel zitiert. Doch die steigenden Mengen bescheren den Dienstleistern ein ganz praktisches Problem: Ihnen könnten eines Tages die Zustellfahrer ausgehen.

»Derzeit sind schätzungsweise rund 110.000 Fahrer für die Kurier-, Express- und Paketdienste in Deutschland unterwegs sind. Allein die Deutsche Post setzt aktuell rund 60.000 Mitarbeiter in der Paket- und Verbundzustellung ein. Knapp 15.000 davon sind Paketzusteller. Die vor allem auf dem Land tätigen sogenannten Verbundzusteller liefern Briefe und Pakete zusammen aus. Sie sind in der Regel mit dem Auto unterwegs.
Zu ihren jetzigen 50.000 Fahrern brauchen die Wettbewerber des Bonner Logistikkonzerns angesichts der erwarteten Zuwächse an Paketen pro Jahr sechs bis sieben Prozent mehr Fahrer, schätzt Back. Allein für GLS sind derzeit 5000 Fahrer im Einsatz. „Bis Ende dieses Jahrzehnts werden 20.000 weitere Fahrer benötigt“, ergänzt Boris Winkelmann, CEO beim DPD.«

Und was bedeutet das für die Branche? »Um diesen Bedarf zu decken, schaut sich der Paketdienst auch jenseits der Grenzen um. „Wir sind im Gespräch mit unserem spanischen Partner Seur, um Fahrer bei uns zu beschäftigen“, erläutert Winkelmann«, der CEO beim DPD. Das nun aber kann sich dann mit einer anderen Klage seitens der Unternehmen überschneiden: »Hermes-Geschäftsführer Thomas Horst weist auf einen anderen Aspekt hin: „Es wird immer schwieriger, Zusteller zu finden, die die qualitativen Anforderungen der Kunden auch tatsächlich erfüllen können. In Berlin ist es beispielsweise schwierig, überhaupt noch deutschsprachige Zusteller zu gewinnen.“« Ob das nun durch Fahrer aus Spanien besser werden würde?

Man könnte ja an dieser Stelle durchaus auch auf die Idee kommen, die Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten zu verbessern und dadurch die Attraktivität zu steigern. Davon findet man nichts. Lediglich einen Hinweis, dass das durchaus ein wichtiger Punkt sein kann, um genügend geeignetes Personal finden zu können: »Die Deutsche Post geht davon aus, durch die steigenden Paketvolumina bis 2020 weitere 12.000 Arbeitsplätze in der Paket- und Verbundzustellung zu schaffen. Zugleich verweist eine Pressesprecherin des Logistikkonzerns auf die tarifgebundenen und sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze, die das Unternehmen biete. Deshalb, so die Schlussfolgerung, „sehen wir derzeit keinen echten Mangel an Kräften in der Paketzustellung“.« Man achte auf die Formulierungskunst der Pressesprecherin: „derzeit keinen echten Mangel“.

Ach, die Deutsche Post. Ist sie im Vergleich mit den rabenschwarzen Konkurrenten vielleicht so etwas wie eine ziemlich graue Lichtgestalt, so transformiert sie sich derzeit eher in Richtung auf die Dunkelheit, um in der bildlichen Sprache zu bleiben. Diese Tage erst war sie wieder in der öffentlichen Diskussion angesichts der Klagen der Gewerkschaft ver.di über die vielen Befristungen: »Von den bundesweit insgesamt rund 127 000 Beschäftigten in den 49 Niederlassungen Brief arbeiten gut 21 000 Beschäftigte dauerhaft oder als Aushilfe mit einem befristeten Arbeitsvertrag. Das sind 17 Prozent aller Beschäftigten«, so ver.di in einer Pressemitteilung bereits im August dieses Jahres.

Und man kann es auch so aufrufen, wie das bereits in einem früheren Beitrag zum Thema formuliert wurde: »Inzwischen hat sich in der Branche eine Zwei-Klassengesellschaft entwickelt. Viele große Paketdienste haben Tarifverträge, die halbwegs akzeptable Konditionen bieten. Allerdings hat Postchef Frank Appel gerade angekündigt, dass neu Eingestellte künftig mit niedrigeren Löhnen rechnen müssen. Zugleich lagern die Konzerne einen großen Teil ihrer Aufträge aus. Daraus entsteht ein System von Sub-Sub-Unternehmen. Am Ende der Kette stehen Zusteller, die als Selbstständige arbeiten und mit Privatwagen die Pakete ausfahren. Als Lohn bleiben dann nach Recherchen des WDR  nicht selten gerade einmal 1000 Euro brutto im Monat übrig. Diese „Selbstständigen“ müssen dann ihren Verdienst mit Hartz IV aufstocken, um über die Runden zu kommen« (vgl. Frank-Thomas Wenzel: „Sklavenähnliche“ Arbeitsbedingungen).

Wie bekannt, jede Medaille hat zwei Seiten und die eine kann manchmal ganz schön hässlich sein.

Amazon mal wieder. Ab in den Osten und zurück mit dem Paketdienst

Amazon mal wieder. In mehrfacher Hinsicht. Sozialpolitisch besonders interessant ist natürlich so eine Botschaft: Amazon trickst deutsche Gewerkschaft aus. Dort kann man lesen: »Der Onlinehändler fordert deutsche Verlage auf, Bücher über Logistikzentren in Polen und Tschechien zu verschicken – und die Kosten dafür selbst zu tragen. Ein Kniff, um Gewerkschaften zu entmachten.«

Polen, Tschechien – da war doch was. Genau, ein Blog-Beitrag auf dieser Seite am 25. November 2013 mit einer Aussicht auf das, was jetzt genauere Formen annimmt: Von „Work hard. Have fun. Make history“ bei Amazon zur Proletarisierung der Büroarbeit in geistigen Legebatterien. Streifzüge durch die „moderne“ Arbeitswelt.
Dort findet man gleich am Anfang des Blog-Beitrags diese Worte:

»Eines ist ganz sicher – die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di nervt Amazon mit ihrer impertinenten Forderung nach einem Tarifvertrag für die Beschäftigten in den deutschen Warenverteilzentren des Weltkonzerns. Deshalb lässt Amazon ja auch schon mal sicherheitshalber neue Logistik-Zentren in der Tschechei und Polen errichten – „natürlich“ auf gar keinen Fall mit der Absicht, die Arbeit dann aus dem für Arbeitgeber „anstrengenden“ Deutschland in die angenehmer daherkommenden Ostländer zu verlagern und die Standorte in Deutschland auszudünnen oder gar aufzugeben. Was natürlich nicht für die Belieferung des deutschen Marktes gilt, denn der ist richtig wichtig für Amazon, hier wird Marge gemacht und dass soll auch so bleiben – bereits 2012 hat Amazon in Deutschland 6,4 Milliarden Euro umgesetzt und damit seit 2010 um 60 Prozent zugelegt. Und geliefert werden kann auch aus Polen und der Tschechei.«

Und jetzt, im August 2014, wird klar, dass es bei den neuen Logistik-Zentren in unseren Nachbarstaaten natürlich nicht um die Belieferung des osteuropäischen Marktes geht bzw. wenn, dann nur sekundär, sondern um eine strategische Alternative zu diesen unbotmäßigen und übergriffigen Arbeitnehmern bzw. Gewerkschaften in den deutschen Standorten.
Amazon verlangt von deutschen Verlagen, dass sie Bücher verstärkt über ausländische Versandzentren schicken, um als ein Ergebnis daraus die potenziell streikgefährdeten deutschen Logistikstandorte umgehen zu können.

»Die Verlagshäuser sollen, beginnend im September, rund 40 Prozent ihrer Bücher, Hörbücher und anderer Medien über neue Logistikstandorte in Polen und Tschechien an ihre inländischen Kunden schicken«, schreiben Michael Gassmann und Andre Tauber in ihrem Artikel. Von Posen und Breslau aus würden Kunden beliefert, die unter der deutschen Website des US-Versenders bestellt hätten, heißt es ausdrücklich in einem Schreiben des Unternehmens an deutsche Verlage. Aber Amazon macht seinem schlechten Ruf alle Ehre: »Nun sollen die Buchproduzenten nach dem Willen des US-Konzerns auch noch die Zusatzkosten für die weiten Entfernungen selbst tragen – zumindest, was den Hinweg betrifft.«

Diese ganze Strategie des amerikanischen Konzerns kann und muss man auch umweltpolitisch als höchst problematisch ansehen:

»Bestelle etwa ein Kunde in Frankfurt am Main ein Buch bei Amazon, so müsse es ab Verlag bei Auslieferung über das Lager Breslau im Schnitt rund 1200 Kilometer zurücklegen. Verlaufe die Lieferkette über ein deutsches Amazon-Lager, seien es im Schnitt nur 450 Kilometer – und nur 260 Kilometer bei einer direkten Verlagsauslieferung an den Buchhändler um die Ecke. In der ungünstigsten Variante entstehe ein Ausstoß des Klimagases CO2 von 58 Gramm pro Buch, gegenüber knapp 14 Gramm beim kürzesten Weg.«

Amazon also im Ergebnis als „Klimakiller“, um ver.di in Deutschland zu unterlaufen. Das entbehrt nicht einer zynischen Ironie.

Dass der Versender durch seine Umgehungstaktik mittelfristig massiv Arbeitsplätze an seinen deutschen Standorten gefährdet, liegt auf der Hand. Die Löhne in Polen und Tschechien liegen teilweise um mehr als die Hälfte niedriger als in Deutschland. Zudem ärgern sich die Amerikaner über das deutsche Konstrukt der betrieblichen Mitbestimmung:

»Dessen ungeachtet wählen die Beschäftigten des Zentrums Bad Hersfeld am 26. und 27. August erstmals einen paritätisch mitbestimmten Aufsichtsrat, nachdem das Unternehmen unter dem Druck eines – inzwischen eingestellten – Gerichtsverfahrens dazu gedrängt worden war.«

Nur um das Bild ein wenig abzurunden: Nicht nur die Gewerkschaften und die gewerkschaftlich engagierten Beschäftigten haben so ihre Probleme mit dem Unternehmen. Auch viele Schriftsteller, von den Verlagen mal ganz abgesehen: 909 Autoren gegen Amazon:

»Amazon-Chef Jeff Bezos erwartet Post, wenn auch unerfreuliche: Die Sonntagsausgabe der „New York Times“ wird einen ganzseitigen offenen Brief an ihn und sein Unternehmen Amazon enthalten, in dem schwere Vorwürfe zu lesen sind. 2,4 Millionen Käufer der Zeitung (Digitalverkauf inklusive) werden darin erfahren, wie Amazon Verlage unter Druck setze und Autoren schade. Unterzeichnet ist das Protestschreiben von 909 Autoren, von denen viele zu den Dauergästen auf den literarischen Bestsellerlisten zählen – auch bei Amazon.«