Wenn sogar der Bundesrechnungshof mehr und nicht weniger fordert: Die Medizinischen Dienste der Krankenkassen (MDK) als unterfinanziertes Nadelöhr?

Immer wieder mal wird – meistens sehr kritisch – über die Arbeit der Medizinischen Dienste der Krankenkassen (MDK) berichtet. Da geht es um die Verweigerung einer „richtigen“ Einstufung der Pflegebedürftigkeit, da wird der Vorwurf in den Raum gestellt, dass der MDK gar nicht unabhängig sei, sondern nach der Pfeife der Kassen zu tanzen habe.

Auf der anderen Seite machen die MDK-Mitarbeiter jeden Tag unzählige Gutachten und Einstufungen, die für sehr viele Menschen eine zentrale Bedeutung haben. Und darunter sind sicher sehr viele, denen die tatsächliche Hilfsbedürftigkeit der Menschen wirklich ein Anliegen ist. Ohne Frage muss man davon ausgehen, dass eine solche Prüfinstanz schlichtweg notwendig ist, um den Zugang zu den Leistungen der Kranken- und Pflegekassen zu sortieren und zu steuern – was sie ebenfalls ohne Zweifel nach dem Bedarf der Menschen machen sollen.

Die MDK sind auf Landes-Ebene organisiert und mit knapp 9.000 Mitarbeitern der Begutachtungs-Dienstleister für die Kranken- und Pflegeversicherung. Und wir reden hier über eine Institution, dessen enorme sozialpolitische Bedeutung an einigen wenigen Zahlen erkennbar wird (hinter denen dann immer Einzelschicksale stehen):

Im Jahr 2016 wurden für die Krankenversicherung 5,8 Mio. Empfehlungen abgegeben, darunter 1,36 Mio. zur Arbeitsunfähigkeit, 651.000 zur Rehabilitation oder 268.000 zu Häusliche Krankenpflege, Haushaltshilfen und spezialisierte ambulante Palliativversorgung. 1,9 Mio. Begutachtungen zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit wurden 2016 gezählt. Hinzu kamen 2,522 Mio. geprüfte Krankenhausabrechnungen (bei 17 Mio. Krankenhausfällen insgesamt). Neben den vielen Einstufungen der Pflegebedürftigkeit ist der MDK auch für die Qualitäts-Prüfung der Pflegeheime und -dienste zuständig. Für 2016 wurden 25.300 Prüfungen von Pflegeeinrichtungen insgesamt ausgewiesen, darunter 12.100 Prüfungen ambulanter und 13.200 Prüfungen stationärer Einrichtungen. (Quelle: Medizinischer Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDS): Die Arbeit der Medizinischen Dienste. Zahlen, Daten, Fakten 2016, Essen, August 2017). Die Zahl der Beschäftigten bei den MDK belief sich Ende 2016 auf fast genau 9.000, darunter 2.248 Ärzte und 2.928 Pflegekräfte als pflegefachliche Gutachter. Auf etwa 750 Mio. Euro belaufen sich die Ausgaben der Medizinischen Dienste der Krankenkassen.

Beeindruckende Zahlen und Größenordnungen. Und das hört sich nicht nur nach einer Menge (wichtiger) Arbeit an, das ist auch so.

Und dann wird man mit solchen Schlagzeilen konfrontiert: Medizinische Dienste der Krankenversicherung leiden unter Geld- und Personalmangel: Die Kritik des Bundesrechnungshofes an der mangelnden finanziellen Ausstattung „ist aus Sicht der Bundesregierung nachvollziehbar und wird grundsätzlich geteilt“, heißt es in einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Bundestagsfraktion „Die Linke“.

»Der Bundesrechnungshof war 2012 bei einer Prüfung aller 15 MDK zu dem Ergebnis gekommen, dass die meisten dieser Einrichtungen in den Jahren 2009 bis 2011 nicht über ausreichende personelle Kapazitäten verfügten. Grund sei vor allem „der Zuwachs an Aufgaben“. Festgestellt und beschlossen würden die Haushaltspläne von den Verwaltungsräten. Die dort vertretenen Krankenkassen seien aber bestrebt, „die zu entrichtenden Umlagen aus kassenindividuellem Interesse möglichst niedrig zu halten. Mehrbedarfe wurden deshalb zurückgewiesen“, heißt es in der kleinen Anfrage.«

Der Artikel bezieht sich auf die Bundestags-Drucksache 18/13595 vom 19.09.2017: „Prüfung der Medizinischen Dienste der Krankenversicherung durch den Bundesrechnungshof und möglicher Handlungsbedarf“, so ist die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Linken überschrieben.

In der Anfrage selbst wird aus einem Bericht des Bundesrechnungshofes an den Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestags zitiert ( Bericht an den Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages nach § 88 Absatz 2 BHO über den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung, Ausschussdrucksache 18(14)265). Normalerweise ist es so, dass der Bundesrechnungshof prüft und zu dem Ergebnis kommt, dass zu viel Geld ausgegeben und zu viel Personal beschäftigt wurde. In diesem Fall stellt sich das aber anders dar:

»Der Bundesrechnungshof kam 2012 durch eine Prüfung aller 15 Medizinischen Dienste der Krankenversicherung (MDK) hinsichtlich ihrer Aufgabenwahrnehmung in den Jahren von 2009 bis 2011 zu dem Ergebnis, dass deren „Mehrzahl“ über „keine ausreichenden personellen Kapazitäten“ verfügte … Wichtiger Grund hierfür sei vor allem der Zuwachs an Aufgaben …, aus dem ein steigender Personal- und Finanzbedarf folgt. Dieser solle in den Entwürfen der jeweiligen Haushaltspläne dargestellt werden … Festgestellt und beschlossen werden die Haushaltspläne von den Verwaltungsräten. Die dort vertretenen Krankenkassen sind aber bestrebt, die „zu entrichtenden Umlagen aus kassenindividuellem Interesse möglichst niedrig zu halten“ … „Mehrbedarfe […] wurden deshalb zurückgewiesen“ … Die MDK waren daher „in vielen Fällen für die von ihnen zu bewältigenden Aufgaben nicht hinreichend finanziert“ … Es komme zu einer „angespannten Personalsituation“.«

Das hat Folge, die vom Rechnungshof auch offen angesprochen wurden, u.a. aufgrund der fehlenden personellen Kapazitäten der Einsatz „externer Gutachterinnen und Gutachter“. Das hört sich unproblematischer an als es in Wirklichkeit ist:

Bei externen Begutachtungen komme es zur „Nutzung privat organisierter Begutachtungsunternehmen“ sowie zur „Einschaltung von ‚Sub-Gutachtern‘“, wodurch „nicht mehr nachvollziehbar ist, welche Person das Gutachten erstellt hat.“ Der Bundesrechnungshof sieht daher „die gesetzlich garantierte Unabhängigkeit des Medizinischen Dienstes gefährdet, wenn externe Gutachterinnen und Gutachter neben der Tätigkeit für den Medizinischen Dienst zugleich bei Leistungserbringern, etwa in Krankenhäusern oder Pflegeeinrichtungen, tätig sind“.

Wohlgemerkt, das sind keine neuen Erkenntnisse, sondern Ergebnis von Prüfungen im Jahr 2012. Die Ergebnisse des Prüfungsberichts von 2012 habe der Bundesrechnungshof „bereits in den Jahren 2013 und 2014 gegenüber den Medizinischen Diensten und dem Bundesministerium für Gesundheit (BMG) beanstandet“ – und das BMG hatte zugesagt, hier tätig zu werden. Dem ist aber nicht so passiert.

„In den Jahren 2015 und 2016 hat der Bundesrechnungshof die Umsetzung der vom BMG zugesagten Maßnahmen überprüft. […] Mit Blick auf die Tragweite seiner Feststellungen und einer nicht erkennbaren Verbesserung gegenüber der vorherigen Prüfung im Jahr 2012 hat der Bundesrechnungshof entschieden, den Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages […] zu unterrichten“, so der Bericht des Rechnungshof.

In dem Rechnungshof-Bericht findet man den Hinweis, „dass die sämtlich unter Länderaufsichten stehenden Medizinischen Dienste in einem nicht ihrer Bedeutung für das Gesundheitswesen in Deutschland entsprechendem Maße verwaltet und finanziert wurden. Er fordert das BMG auf, seine nunmehr vorgeschlagenen Maßnahmen tatsächlich umzusetzen.“ Eine klare Ansage.

Und was antwortet nun die Bundesregierung auf die Vorwürfe?

»Die Kritik des Bundesrechnungshofs (BRH), dass die Medizinischen Dienste der Krankenversicherung (MDK) für ihre Aufgabenwahrnehmung nicht hinreichend finanziert sind und deshalb auf Mehrarbeit ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie auch zunehmend regelhaft auf externe Gutachter zurückgreifen müssen, ist aus Sicht der Bundesregierung nachvollziehbar und wird grundsätzlich geteilt.«

Und man schiebt dann das hier nach: »Trotz der grundsätzlich berechtigten Kritik des BRH bleibt festzuhalten, der MDK ist arbeitsfähig.« Wie beruhigend.

Das ist es natürlich nicht. Die wirkliche Wirklichkeit wird dann wohl auch eher durch solche Schlagzeilen beschrieben: Die MDK-Gutachter werden knapp: »Die Medizinischen Dienste der Krankenkassen arbeiten am Anschlag.« Das auch, weil wir seit Anfang des Jahres bei der Feststellung der Pflegebedürftigkeit durch das Pflegestärkungsgesetz II einen Systemwechsel bekommen haben. Um feiner justieren zu können, wurden aus drei Pflegestufen fünf Pflegegrade. Und die Kriterien sind geändert worden, hin zu einer Erhebung der noch vorhandenen Selbständigkeit. Mit Beginn des laufenden Jahres schnellte die Zahl der Pflegebegutachtungen nach oben, weil mehrere hunderttausend Menschen mit eingeschränkter Alltagskompetenz, also zum Beispiel an einer Demenz erkrankte Menschen, seither Anspruch auf Leistungen aus der Sozialen Pflegeversicherung haben. Hinzu kommen anstehende gravierende Veränderungen bei den Qualitätssicherung-Prüfungen der Pflegeeinrichtungen, das Stich- oder Reizwort „Pflegenoten“ mag hie genügen.

Aber es scheint sich etwas zu tun: »Die Personalknappheit der Medizinischen Dienste wird ab November das Bundesgesundheitsministerium, die Länder und den Gesetzgeber beschäftigen. Zudem steht das Thema auf der Tagesordnung einer Arbeitssitzung der Aufsichtsbehörden der Sozialversicherungsträger ebenfalls im November.« Und aus dem BMG kommen weiterführende Signale:

»Im Gesundheitsministerium wird bereits an einem Gesetz gefeilt, das künftig den Einsatz externer Gutachter regeln soll … Zum einen wolle man „grundsätzlich erwägen“, eine Richtlinie zur Ermittlung des Personalbedarfs der Medizinischen Dienste zu erarbeiten. Gesetzlich geregelt werden sollen auch die Aufträge an externe Gutachter. Um die Unabhängigkeit der Medizinischen Dienste zu gewährleisten, wird der Ausschluss privatrechtlich organisierter Begutachtungsunternehmen aktuell zumindest nicht ausgeschlossen.«

Das muss auch in dem Kontext gesehen werden, dass den Medizinischen Diensten im dritten Pflegestärkungsgesetz weitreichende Kontrollrechte in der häuslichen Krankenpflege eingeräumt worden sind. Auslöser waren Betrugsfälle, die die Kassen möglicherweise bis zu eine Milliarde Euro gekostet haben könnten. Wobei sich das auf die häusliche Krankenpflege bezieht – aber auch aus der ambulanten Altenpflege wird immer wieder über hoch professionellen Abrechnungsbetrug berichtet. Dazu diese Hintergrund-Sendung des Deutschlandfunks vom 30.09.2017: Warum Abrechnungsbetrug in der Pflege so einfach ist. Wobei es in diesem Beitrag vor allem um die Altenpflege geht. Auch hier bestätigt der MDK, dass ihm Personal und Mittel für umfassende Kontrollen fehlen.

Und da wären wir wieder bei denen, die das finanzieren (müssen) – also die Kranken- und Pflegekassen. Von denen der MDK dann zugleich aber auch unabhängig sein muss bzw. sein soll. Da erinnert man sich dann an den Juni 2017, als die Online-Ausgabe der „Ärzte-Zeitung“ diesen Artikel veröffentlichte: Laumann will einen von den Kassen unabhängigen MDK. Gemeint ist der (damalige) Staatssekretär Karl-Josef Laumann, der Pflege- und Patientenbeauftragte der Bundesregierung. Mittlerweile ist er nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen zum Arbeits- und Gesundheitsminister des Landes berufen worden.

Der MDK gehört in eine unabhängige Trägerschaft, so die damalige Vorgabe des Herrn Laumann. Er hatte darauf hingewiesen, dass der Dienst sein Budget statt von den Kassen direkt aus dem Gesundheitsfonds erhält. „Dann hängt der MDK nicht länger am Tropf der Kassen“.

Laumann steht mit dieser Forderung nicht allein: Auch Grüne wollen unabhängige Pflege-Gutachter, so bereits im Mai 2017 ein entsprechender Artikel. Allerdings weisen die Grünen auch darauf hin, dass es neben der Forderung in der nunmehr abgelaufenen Legislaturperiode keine substanziellen Schritte in diese Richtung gegeben habe. Die Krankenkassen und der Medizinische Dienst (MDK) selbst dagegen wehren sich gegen eine Neuorganisation ihres Gutachterwesens. Das muss auch vor diesem Hintergrund gesehen werden: »Bisher können laut Gesetz bis zu 25 Prozent der MDK-Verwaltungsratsmitglieder hauptamtlich bei den Kranken- und Pflegekassen angestellt sein. Zudem erlässt der GKV-Spitzenverband Richtlinien für den MDK.«

Handlungsbedarf wird von ganz unterschiedlichen Seiten erkannt – es bleibt abzuwarten, ob und wann sich etwas tun wird. Aber über eines sollte man sich keinen Illusionen hingeben – wenn der MDK vor dem Hintergrund der zahlreichen – und alle für sich dringenden – Aufgaben weiter so knapp gehalten wird, dann muss das Auswirkungen haben auf die, die über den MDK den Zugang zu bestimmten Leistungen bekommen (wollen bzw. müssen).

Die Krankenkassen auf dem wahren Schlachtfeld. Wo es um das ganz große Geld geht. Der „Morbi-RSA“ als höchst umstrittene Verteilungsformel im Gesundheitswesen

An solchen Meldungen aus einem Ministerium kurz vor einer Bundestagswahl merkt man die Absicht, frohe Kunde über die Bürger auszuschütten: »Krankenkassen haben nach Ansicht von Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) ausreichend Spielräume, um ihren Versicherten „hochwertige Leistungen bei attraktiven Beiträgen“ zu gewähren. Die Kassen haben im ersten Halbjahr einen Überschuss von 1,41 Milliarden Euro erzielt – im gleichen Vorjahreszeitraum sind es nur knapp 600 Millionen Euro gewesen«, so das Bundesgesundheitsministerium laut dem Artikel Kassen „surfen“ im Geld. Das die gute Beschäftigungslage den Kassen viel Geld ins Portemonnaie spült, mag für den einen oder anderen dann auch ein Erklärungsansatz sein für solche irritierende Meldungen: »6,8 Milliarden Euro: Diesen Schuldenberg schieben die gesetzlichen Krankenkassen vor sich her. Und die Politik schaut zu. 6,8 Milliarden Euro, für die alle Versicherten am Ende geradestehen.« So das Wirtschaftsmagazin Plusminus (ARD) in dem Beitrag Milliarden Schulden: Wer bei der Krankenkasse in der Kreide steht vom 6. September 2017. Wobei diese Beitragsschulden offensichtlich eine überaus bewegliche Größe sind, denn Timot Szent-Ivanyi berichtet in seinem Artikel Deutsche schulden den Krankenkassen mehr als sieben Milliarden Euro: »Im Sommer  haben sie erstmals die Marke von sieben Milliarden Euro überschritten. Ende Juli verzeichneten die 113 Kassen Rückstände von exakt 7,045 Milliarden Euro. Das ist fast eine Milliarde Euro mehr als noch am Jahresanfang.  In der abgelaufenen Wahlperiode hat sich der Schuldenstand damit  in etwa  verdreifacht.«

Nun sollte man meinen, die Kassen und ihre Verbände schlagen angesichts der horrenden Summe an ausstehenden Beitragseinnahmen Alarm und fordern von der Politik Abhilfe. Aber weit gefehlt. In dem Plusminus-Beitrag wird die Sprecherin des Spitzenverbandes der Krankenkassen, Ann Marini, dahingehend befragt, wer für diese Beitragsausfälle verantwortlich ist. Die erstaunliche Erkenntnis – man wisse es nicht wirklich: »Sie vermutet, es seien hauptsächlich die Selbstständigen.« Aber der enorme Anstieg? »Wir haben leider keine belastbaren Daten. Insofern müssen wir immer sagen: Wir vermuten.«

Sollte es vielleicht neben den mit der Beitragslast überforderten Selbständigen (vgl. dazu bereits den Beitrag Explodierende Beitragsschulden in der Krankenversicherung, Solo-Selbständige, die unterhalb des Mindesteinkommens jonglieren und warum Bismarck wirklich tot ist vom 11. Februar 2017) noch andere Ursachen geben für das Beitragsloch?

In dem Plusminus-Beitrag bekommen wir zumindest einen Hinweis, der zugleich anschlussfähig ist an das hier interessierende Thema mit dem Risikostrukturausgleich, denn auch der ist Teil der großen Geldverteilungsmaschinerie namens „Gesundheitsfonds“. Und um den geht es auch bei den Mitverursachern der Beitragsschulden:

»Die Betriebskrankenkassen „vermuten“ es seien die „obligatorisch Anschlussversicherten“. Der AOK Bundesverband nennt beispielhaft „Saisonarbeiter“ oder „ins Ausland unbekannt verzogene Personen“ … Die Erntehelfer, zumeist aus Osteuropa, arbeiten im Sommer und Herbst für wenige Wochen in Deutschland. Leiharbeiter helfen bei Amazon im Weihnachtsgeschäft aus. Für alle gilt: Sie bleiben obligatorisch in der gesetzlichen Krankenversicherung, auch wenn sie Deutschland längst wieder verlassen haben. Die Saisonarbeiter werden sogar mit dem Höchstbeitrag eingestuft. Zurück in ihrer Heimat zahlen sie selbstverständlich keine Beiträge in die Krankenversicherung. 2014 wurde die Gruppe der obligatorisch Anschlussversicherten per Gesetz eingeführt. Just seitdem explodieren die Schulden der Kassen.«

Dann wären die Schulden ja eine Art Luftbuchung, handelt es sich doch bei den Beitragsschuldnern um Karteileichen. Aber warum werden die nicht schnellstens bereinigt? Ganz einfach, weil sie nicht nur Auswirkungen haben auf die – nicht gezahlten – Beitragseinnahmen, sondern auch für die Zuwendungen aus dem Gesundheitsfonds. Offensichtlich haben wir es hier mit einem System zu tun. Man kann das so formulieren:

»Die Versicherten zahlen Beiträge an die gesetzlichen Krankenkassen. Diese leiten die Beiträge sofort weiter an den Gesundheitsfonds. Ein riesiges Konto, das jedes Jahr über 200 Milliarden Euro Versichertenbeiträge verwaltet. Aus diesem Topf wird den Kassen das Geld zugeteilt. Und da gilt: Je mehr Mitglieder eine Kasse hat, umso mehr bekommt sie aus dem Topf. Das bedeutet: Jede Karteileiche bringt der Kasse zusätzliches Geld.«

Und die Sprecherin des Krankenkassenverbandes wird mit diesen Worten zitiert – falls jemand auf die Frage kommen sollte, warum denn Kassen solche Karteileichen in Kauf nehmen: „Solange die Krankenkasse keine Information hat, dass derjenige, der bei ihr gemeldet ist, nicht mehr in Deutschland ist, also quasi nicht mehr existiert, ist sie verpflichtet diesen Menschen weiterzuführen“. Und das tun sie, weil sie es müssen: 2014 wurde die Gruppe der obligatorisch Anschlussversicherten per Gesetz eingeführt.

Das Fazit im Plusminus-Beirag: »Das Milliardenloch von 6,8 Milliarden Euro sind ausstehende Zahlungen von Selbständigen, die mit Höchstbeiträgen geschröpft werden und Schulden von Zwangsversicherten, die nur als Karteileichen existieren. Ein Irrsinn.«

Und wir können jetzt nahtlos weitermachen. Denn mit dem Gesundheitsfonds verknüpft ist der „morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich“, auch „Morbi-RSA“ genannt. Dieser wurde – ursprünglich als Weiterentwicklung des alten, seit 1995 geltenden Ausgleichssystems seit 2001 für 2007 geplant – im Jahr 2009 mit dem Gesundheitsfonds tatsächlich auch eingeführt.

»Die Mittel des Gesundheitsfonds sollen so an die Krankenkassen verteilt werden, dass sie da ankommen, wo sie zur Versorgung der Versicherten am dringendsten benötigt werden. Zunächst erhält jede Krankenkasse für jeden Versicherten eine Grundpauschale in Höhe der durchschnittlichen Pro-Kopf-Ausgaben in der GKV. Für eine Krankenkasse mit vielen alten und kranken Versicherten reicht dieser Betrag naturgemäß nicht aus, während eine Krankenkasse mit vielen jungen und gesunden Versicherten zuviel Geld erhielte. Daher wird diese Grundpauschale durch ein System von Zu- und Abschlägen angepasst. Neben den bisherigen Merkmalen des Risikostrukturausgleichs – Alter, Geschlecht und Bezug einer Erwerbsminderungsrente – soll dabei auch die anhand von 80 ausgewählten Krankheiten gemessene Krankheitslast der Krankenkassen berücksichtigt werden«, so das Bundesversicherungsamt in einer Darstellung des Risikostrukturausgleichs. Zu dem Mechanismus vgl. auch die Abbildung am Anfang dieses Beitrags.

Nun hört sich das mit dem Ausgleich der besonders hohen Ausgaben, die mit bestimmten Krankheiten verbunden sind, einfacher an als es dann in der Praxis ist. Am Anfang steht wie meistens eine gute Idee: Stellen wir uns eine vielleicht sogar kleine Krankenkasse vor, die zwei oder drei Versicherte hat, die wegen einer bestimmten Erkrankung monatlich Behandlungskosten verursachen, die im sechsstelligen Bereich liegen (können). Wenn die vereinfacht gesagt die gleiche Kopfpauschale für jeden Versicherten bekommen, wie andere Kassen auch, die aber nicht eine derart extremen Belastung auf der Kostenseite haben, dann ist das ein Problem. Das nun kann man tatsächlich ausgleichen durch eine Berücksichtigung dieser Fälle in einem Finanzausgleich zwischen den Kassen.

Man ahnt schon, wo das methodische Grundproblem liegt: Wenn man (lediglich) klar abgrenzbare Hochkosten-Fälle berücksichtigt, ist das nachvollziehbar und auch kaum manipulationsanfällig – denn eine relativ seltene, aber extrem kostenintensive Autoimmunerkrankung lässt sich gut abgrenzen.
Problematisch wird es dann, wenn man das Spektrum der berücksichtigungsfähigen Krankheiten seht weit aufmacht und die Frage der (Nicht-)Diagnose einem gewissen „Gestaltungsspielraum“ unterliegt. Dann werden Anreize in die Welt gesetzt, die man nutzen kann. Was offensichtlich, so die Kritiker, auch passiert (ist).

An dieser Stelle wird sich der eine oder andere daran erinnern, dass bereits im vergangenen Jahr aus den Reihen der Krankenkassen selbst der Finger auf die „Manipulationsvorwurfwunde“ gelegt wurde (vgl. zu der damaligen Berichterstattung den Beitrag Wenn der „mordbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich“ Anreize setzt, Patienten morbider zu machen als sie sind und denen das dann schmerzhaft auf die Füße fallen kann vom 7. November 2016):
Je kränker ein Patient auf dem Papier, desto mehr Geld erhält die Krankenkasse. Die gesetzlichen Kassen sollen deshalb Diagnosen manipuliert haben. Und das schlug im vergangenen Jahr so richtig große Wellen, vgl. dazu die Artikel Wettbewerb mit falschen Kranken oder Wie krank ist unser Gesundheitssystem? Für den Vorwurf gab es einen gewichtigen Zeugen der Anklage, berichtete die FAZ in dem Artikel „Krankenkassen verpulvern Geld für Drückerkolonnen“. Es geht um Jens Baas, dem Chef der Techniker Krankenkasse:

»Im Gespräch mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung bezichtigte er seine eigene und andere gesetzliche Krankenkassen, aus diesem Grund sogar Diagnosen von Patienten zu manipulieren. Die Kassen versuchten die Ärzte dazu zu bringen, für die Patienten möglichst viele Diagnosen zu dokumentieren, sagte Baas. „Aus einem leichten Bluthochdruck wird ein schwerer. Aus einer depressiven Stimmung eine echte Depression, das bringt 1000 Euro mehr im Jahr pro Fall.“«

Die Krankenkassen haben im bestehenden System des Risikostrukturausgleichs einen Anreiz, dass möglichst viele Patienten als lukrative Chroniker eingestuft werden, schließlich bekommen sie dann besonders viel Geld aus dem Risikostrukturausgleich. Daher halten sie die Ärzte an, eine möglichst vollständige und präzise Diagnose zu stellen, entweder über Briefe oder indem sie ihnen Berater in die Praxis schicken. Und der Kassen-Chef hat sich ziemlich deutlich geäußert:

»Der Vorwurf des Techniker-Chefs Baas lautet …, dass die Kassen die Ärzte sogar dazu drängen, entweder einen Code für eine schwerwiegendere Krankheit zu vergeben oder für einen anderen Schweregrad – dass sie also bei der Leistungsabrechnung betrügen. Für die Ärzte macht das finanziell oft keinen Unterschied, für die Kassen aber schon. Die bezahlten „Prämien von zehn Euro je Fall für Ärzte, wenn sie den Patienten auf dem Papier kränker machen“, sagte Baas. „Sie bitten dabei um ,Optimierung‘ der Codierung. Manche Kassen besuchen die Ärzte dazu persönlich, manche rufen an.“ Besonders häufig sei das der Fall bei den Volkskrankheiten, also Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und auch psychischen Krankheiten.«

Auch das Bundesversicherungsamt, das für die Aufsicht aller bundesweit aktiven Kassen zuständig ist, hatte immer wieder auf Unregelmäßigkeiten hingewiesen. Mittlerweile ist auch der Gesetzgeber aktiv geworden. Inzwischen hat der Gesetzgeber mit Wirkung ab 11. April jede Form der Einflussnahme der Krankenkassen auf die Diagnosestellung gesetzlich verboten.

Auch die Forschung hat zwischenzeitlich Hinweise geliefert, dass das nicht aus der Luft gegriffen ist, wie Florian Staeck in seinem Artikel Forscher vermuten Manipulation aus dem Juni 2017 berichtet. Er bezieht sich auf diese Studie :

Sebastian Bauhoff, Lisa Fischer, Dirk Göpffarth and Amelie C. Wuppermann (2017): Plan Responses to Diagnosis-Based Payment: Evidence from Germany’s Morbidity-Based Risk Adjustment. CESifo Working Papers 65017, Munich, May 2017

Die Wissenschaftler konnten Daten von rund 1,2 Milliarden Diagnosen aus den Jahren 2008 bis 2013 untersuchen, die fast 44 Millionen Personen betrafen. »Den Daten zufolge ist der Anteil der validierten und damit ausgleichsfähigen Diagnosen im Zeitraum von 78 Prozent (2008) auf 83,7 Prozent (2013) gestiegen. Den Trend belegen die Wissenschaftler an den Beispielen akuter Myokardinfarkt und Schlaganfall. In den sechs Jahren sank die Prävalenz der Verdachtsdiagnosen, die der gesicherten Diagnosen nahm zu. „Unser Studiendesign lässt den Schluss zu, dass dies eine Folge der vermehrten Aufzeichnung dieser Diagnosen durch Ärzte ist und dass nicht etwa die Verbreitung dieser Krankheiten gestiegen ist“, kommentiert Wuppermann, die in München Ökonometrie lehrt.«

Und dann kommt dieser wichtige Passus:

»Augenfällig ist, dass dieser Effekt ab 2010 sichtbar wird: Ende 2008 ist die Liste mit den 80 finanziell besonders „wertvollen“ Erkrankungen im neuen Morbi-RSA bekannt geworden, anschließend schickten Kassen Heerscharen von „Beratern“ in die Praxen der Vertragsärzte. Brisant in der Studie ist, dass die Autoren bei den AOKen besonders starke Veränderungen im Kodierverhalten festgestellt haben.«

An dieser Stelle können wir zur aktuellen Berichterstattung überleiten, die zugleich verdeutlicht, mit welchen harten Bandagen hier gekämpft wird. Unter der Überschrift Vermögen der AOK wächst weiter hat Peter Thelen einen längeren Beitrag im Handelsblatt veröffentlicht. Er fährt schweres Geschütz auf: »Das Vermögen der AOK wächst, obwohl ihre Versicherten absolut weniger Beiträge als bei der Konkurrenz zahlen. Gründe liegen im Finanzausgleich der Krankenkassen – und an Befangenheit im Gesundheitssystem.«

Auch sein Ausgangspunkt sind die schwarzen Zahlen der Krankenkassen, von den am Anfang dieses Beitrags schon berichtet wurde – allerdings schaut er genauer hin:

»Vom bisherigen Gesamtüberschuss in Höhe von 1,4 Milliarden Euro verbuchten die Ortskrankenkassen allein 650 Millionen Euro – das sind 47 Prozent. Der Überschuss der Ortskrankenkassen je Mitglied lag mit 32 Euro deutlich über dem der Betriebskrankenkassen (13,80 Euro) und knapp ein Drittel über dem Überschuss der Ersatz- und Innungskrankenkassen (21 und 23 Euro). Dabei sind nur 37 Prozent der 55,8 Millionen Beitragszahler bei einer AOK versichert und zahlen absolut bei den Ortskrankenkassen deutlich geringere Zusatzbeiträge. Die Mitglieder der Ortskrankenkassen zahlten einen Zusatzbeitrag von durchschnittlich nur 118 Euro. Bei Betriebskrankenkassen mussten die Mitglieder im ersten Halbjahr durchschnittlich 137 Euro von ihrem Nettoeinkommen zusätzlich zum allgemeinen Beitragssatz überweisen, die Mitglieder der Ersatzkassen wie Barmer und DAK zahlten 139 Euro zusätzlich und die der Innungskrankenkassen sogar 150 Euro.«

Das hat Folgen: »Mit über acht Milliarden Euro entfällt fast die Hälfte der 17,2 Milliarden Euro Rücklagen im gesetzlichen Krankenversicherungssystem auf die Ortskrankenkassen.«

Der AOK-Verband »führt die überdurchschnittlich gute Finanzlage darauf zurück, dass die Kassen in jüngster Zeit vor allem viele junge Mitglieder neu gewonnen hätten. Auch die Leistungsausgaben entwickelten sich günstiger als bei anderen Krankenkassen.«

Daran zweifeln allerdings viele Kritiker. Sie argumentieren, dass es der „Morbi-RSA“ in seiner gegenwärtigen Ausgestaltung sei, der das Ungleichgewicht verursacht – und dabei vor allem die 80 Krankheiten, deren Kosten ausgeglichen werden (vgl. die Übersicht des Bundesversicherungsamtes, welche Krankheiten im Morbi-RSA berücksichtigt werden).

Die Musik für Krankenkassen wie der AOK spielt bei den Zuweisungen vor allem im krankheitsorientierten Teil des Finanzausgleichs – denn Alter, Geschlecht oder der Bezug von Erwerbsminderungsrenten, was auch berücksichtigt wird im RSA, lassen sich nun kaum bis gar nicht „gestalten“.

Peter Thelen zitiert in seinem Artikel den Bremer Gesundheitsökonomen Gerd Glaeske, der nach 2001 Vorsitzender des Beirats war, der seinerzeit die Entwicklung des neuen Finanzausgleichs wissenschaftlich begleitet hat.

„Die Gretchenfrage lautete damals: Welche 80 Krankheiten nehmen wir, um einen neuen stärkeren Finanzausgleich zu erreichen, der für die Kassen möglichst faire Wettbewerbsbedingungen schafft und nicht manipulationsanfällig ist?“

»Der Beirat war dafür, vor allem besonders teure Krankheiten auszugleichen. Der entsprechende Gesetzentwurf sah vor, dass diese Krankheiten „eng abgrenzbar, schwerwiegend und chronisch“ sein und eine „besonders Bedeutung für das Versorgungsgeschehen“ haben müssten. Vor allem aber sollten die durchschnittlichen Behandlungskosten je Patient die durchschnittlichen Leistungsausgaben für alle Versicherten um mindestens 50 Prozent übersteigen … Der Beirat hatte bewusst Erkrankungen wie Rheuma, einfache Diabetes, Asthma oder Depressionen ohne schweres Krankheitsbild nicht in die Liste aufgenommen, weil sie zwar häufig vorkommen, aber keine hohen Behandlungskosten auslösen und oft auch schwer abgrenzbar und zu diagnostizieren sind.«

Aber es kam anders. Das Bundesgesundheitsministerium folgte dem Vorschlag des Beirats hinsichtlich einer engen Abgrenzung der Krankheiten nicht. Warum nicht, lässt sich, so die These von Thelen, nur politisch verstehen:

»Es stellte sich schnell heraus, dass die strenge Krankheitsauswahl den damals eindeutig benachteiligten Ortskrankenkassen nicht die Zusatzeinnahmen bringen würde, die politisch erwünscht waren. Das unausgesprochene Hauptziel der Reform war, den chronisch notleidenden Ortskrankenkassen durch den verstärkten Finanzausgleich finanziell wieder auf die Beine zu helfen.«

Glaeske warnte damals vor der Manipulationsanfälligkeit einer zu weiten Berücksichtigung und sah sogar die Gefahr einer Morbidisierung der Gesellschaft am Horizont. Der Beirat, vor vollendete Tatsachen gestellt, trat geschlossen zurück.

Im weiteren Verlauf des Artikels von Thelen wird es sehr persönlich – hinsichtlich einer zentralen Figur der gesundheitspolitischen Beratung in Deutschland: Prof. Dr. Jürgen Wasem, denn der  Inhaber des Lehrstuhls für Medizinmanagement an der Universität Duisburg Essen wurde Glaeskes Nachfolger im neuen Beirat.

Wasem »hatte sich für die neue Position in besonderer Weise empfohlen: Er hatte die sogenannte „Essener Liste“ verfasst.* Eine Zusammenstellung, auf der die meisten Krankheiten schon vermerkt waren, die die AOK sich wünschte.«

Aber hat der Gesetzgeber nicht zwischenzeitlich reagiert, was die mögliche Gestaltung der Diagnosen im Sinne der Anreize aus dem Morbi-RSA angeht? Und haben nicht auch die Kassen selbst erklärt, von einer direkten Beeinflussung der Ärzte abzulesen? Inzwischen haben sich beispielsweise die Ortskrankenkassen in einer gemeinsamen Erklärung verpflichtet, Ärzten nur noch besondere Leistungen, nicht aber das Stellen bestimmter Diagnosen zu vergüten. Aber auch hier muss man wieder genauer hinschauen:

»Betreuungsstrukturverträge und Hausarztverträge gibt es immer noch – und sie sind völlig legal. Formal versprechen sie den Ärzten nämlich nur Zusatzentgelte, wenn sie bestimmte Patientengruppen intensiver betreuen. Aber auch heute fließt das Geld nur für Patienten mit einer „gesicherten Diagnose“. Und dabei gilt häufig nach wie vor: Je kränker der Patient, umso höher das Zusatzhonorar.«

Und das bereits angesprochene Grunddilemma hinsichtlich der Breite des Spektrums an Finanzströme generierenden Krankheiten bleibt ja weiterhin bestehen.

Bundesgesundheitsminister Hermann Größe (CDU) hat bereits Ende 2016 reagiert – und ein Gutachten in Auftrag gegeben. Unter anderem soll auch evaluiert werden, wie eine Manipulationsanfälligkeit des Finanzausgleichs in Zukunft verhindert werden kann. Braucht man dazu wirklich ein Gutachten? Gerd Glaeske, so Thelen in seinem Artikel, hätte da natürlich einen Vorschlag: »Die Krankheitsauswahl müsste von den Volkskrankheiten wie Diabetes und Bluthochdruck wieder in Richtung teurer und schwerer, und daher auch diagnostisch viel leichter abgrenzbarer Krankheiten verändert werden. Manipulationen würden so schwerer und der Finanzausgleich fairer werden.«

Aber der Gutachtenauftrag war und ist in der Welt. Und wer macht das? »Der wissenschaftliche Beirat unter Führung von Jürgen Wasem wurde mit der Bewertung des Ausgleichs und seiner Manipulationsanfälligkeit beauftragt. Für die Evaluation wurden ihm zwei Wissenschaftler an die Seite gestellt: Der mit Wasem aus früherer Zusammenarbeit eng verbundene niederländische Finanzausgleichsexperte Wynand van de Ven und der Wettbewerbsökonom und Chef der Monopolkommission Achim Wambach.«

Man kann es schon kritisch sehen – wie das Glaeske tut -, »dass der Erfinder des Finanzausgleichs, der auch für seine Weiterentwicklung seit 2009 die Verantwortung trägt, nun quasi federführend die eigene Arbeit evaluiert.«

Hinzu kommt: »Eigentlich sollten Wasem, van de Ven und Wambach ihre Evaluation bis Ende dieses Monats abgeschlossen haben. Doch daraus wird nichts werden, heißt es in Krankenkassenkreisen. Vor dem Jahresende seien keine Ergebnisse zu erwarten.«

Was das nun vor dem Hintergrund der Bundestagswahl am 24. September 2017 und der anschließenden Koalitionsverhandlungen bedeutet? Na klar: »Das könnte bedeuten, dass das Streitthema Finanzausgleich bei den Koalitionsverhandlungen einfach ausgespart werden wird.«

Die einen bekommen mehr, die anderen weniger: Besserstellung der tarifgebundenen Pflegedienste in der häuslichen Krankenpflege

Zuweilen sind es die kurzen Meldungen, hinter denen gewichtige Aspekte stehen, die man wahrnehmen sollte, gerade auch deshalb, weil sie neue und notwendige Wege aufzeigen. Ein Beispiel dafür wäre die Situation in der Pflege und die Vergütung der Pflegekräfte. Darüber wird seit langem geklagt. Und immer wieder hat man in der Vergangenheit seitens der Träger der ambulanten Pflegedienste und der Pflegeheime das Argument hören müssen, man würde ja gerne das Personal besser, beispielsweise nach Tarif bezahlen – aber man stehe in einem harten Wettbewerb mit anderen Anbietern und wenn sich die daran nicht halten, dann zieht man eine ganz schlechte Karte. Kurzum, man würde ja gerne, aber die Rahmenbedingungen der Finanzierung erlauben das leider nicht.
Nun hatte dass Bundessozialgericht mit Blick auf die Pflegesätze in der stationären Altenpflege schon vor Jahren entschieden, dass die Einhaltung einer Tarifbindung nicht dazu führen darf, einen solchen Anbieter wegen „Unwirtschaftlichkeit“ gleichsam zu bestrafen.

Zum Hintergrund sei an dieser Stelle nur auf die Ausführungen zum „externen Vergleich“ und dem richtungweisenden Urteil des Bundessozialgerichts aus dem Januar 2009 hingewiesen, die man in dieser Veröffentlichung nachlesen kann:

Stefan Sell (2009): Das Kreuz mit der Pflege. Konfessionelle Träger von Pflegeheimen als Getriebene und Treiber in Zeiten einer fortschreitenden Ökonomisierung des Pflegesektors. Remagener Beiträge zur Sozialpolitik 06-2009, Remagen, 2009

Von besonderer Rolle ist dabei der „externe Vergleich“ und die Orientierung der zugestandenen Pflegesätze an den in Rahmen dieses Vergleichs gewonnenen durchschnittlichen Beträgen bzw. Steigerungsraten. Als Hintergrund für die Anwendung dieses speziellen und mit Blick auf Träger, die eine z.B. tarifinduzierte höhere Personalkostenstruktur haben, nicht unproblematischen Verfahrens, muss die (alte) Rechtsprechung des BSG aus dem Jahr 2000 gesehen werden.

In zwei Urteilen hatte das BSG richtungweisend dargelegt, wie die Vergütung der vollstationären Pflegeheime zu ermitteln ist. Die Höhe der leistungsgerechten Vergütung ist nach den Vorschriften des Gesetzgebers auf der Grundlage einer marktorientierten Pflegeversorgung in erster Linie durch Marktpreise zu bestimmen. In der Entscheidung vom 14. Dezember 2000 (BSGE 87, 199 = SozR 3 3300 § 85 Nr 1) hatte der erkennende Senat ausgeführt, dass sich die leistungsgerechte Vergütung von Pflegeleistungen der Pflegeheime in erster Linie am jeweiligen Marktpreis orientiere; um diesen zu ermitteln, seien Angebot und Vergütung der Leistungen anderer Pflegeheime ähnlicher Art und Größe zum Vergleich heranzuziehen (externer Vergleich).

In der Bilanz hat die praktische Anwendung des externen Vergleichs eine (nach unten) nivellierende Wirkung auf die Preise ausgeübt. Der externe Vergleich wirkte tendenziell wie ein Treiber zugunsten der billigen Anbieter und als permanentes Kostenunterdeckungs-Damoklesschwert für die „teuren“ Anbieter.

In dieser Gemengelage war die im Januar 2009 vom BSG vorgenommene Neuausrichtung der bisherigen Vorgaben zur Berechnung der leistungsgerechten Vergütung von Pflegeeinrichtungen in den Schiedsstellenverfahren besonders hervorzuheben – und für alle Vertreter einer Aufrechterhaltung der Tarifbindung und einer ordentlichen Bezahlung war dieser Kurswechsel der Bundessozialrichter von zentraler Bedeutung.

Der 3. Senat des Bundessozialgerichts hatte entschieden, dass die Pflegevergütungen für Pflegeheime auf einer neuen Basis zu berechnen sind, um einerseits den Pflegeheimen eine leistungsgerechte, ein wirtschaftliches Handeln ermöglichende Vergütung zu gewähren (§ 84 Abs. 1 und 2 SGB XI), ohne dabei zu dem vom Gesetzgeber abgeschafften „Selbstkostendeckungsprinzip“ hinsichtlich der Gestehungskosten zurückzukehren. Nach den Vorgaben des BSG sind die Pflegesätze in einem zweistufigen Verfahren zu berechnen:

In einer 1. Stufe erfolgt eine Plausibilitätsprüfung der vom Heimträger für den bevorstehenden Pflegesatzzeitraum prognostisch geltend gemachten einzelnen Kostenansätze. Dabei hat der Heimträger die Abweichung der Kostenansätze zu den Vorjahreskosten (interner Vergleich) plausibel zu erklären (z. B. „normale“ Lohnsteigerungen, verbesserter Pflegepersonalschlüssel). Die Pflegekassen haben die Plausibilität zu überprüfen.

Sind die Kostenansätze plausibel, erfolgt in einer 2. Stufe ein externer Vergleich der geforderten Pflegesätze mit den Pflegesätzen vergleichbarer Pflegeheime aus der Region, um die Wirtschaftlichkeit zu überprüfen. Dabei ist nicht nach tarifgebundenen und nicht-tarifgebundenen Pflegeheimen zu unterscheiden. Liegt der geforderte Pflegesatz im unteren Drittel der zum Vergleich herangezogenen Pflegesätze, ist regelmäßig ohne weitere Prüfung von der Wirtschaftlichkeit auszugehen. Liegt er darüber, sind die vom Heimträger dafür geltend gemachten Gründe auf ihre wirtschaftliche Angemessenheit zu prüfen. Die Einhaltung der Tarifbindung und die Zahlung ortsüblicher Gehälter ist dabei immer als wirtschaftlich angemessen zu werten.

Der letzte Satz ist hier natürlich von entscheidender Bedeutung: „Die Einhaltung der Tarifbindung und die Zahlung ortsüblicher Gehälter ist dabei immer als wirtschaftlich angemessen zu werten.“ Das ist der Schlüsselsatz für alle Vertreter einer Tariforientierung bei der Ausgestaltung der Pflegesätze.

Nun gibt es eine ganz neue Bewegung im Bereich der ambulanten Pflegedienste, bei der es explizit auch um die Frage der Tarifbindung (und der daraus resultierenden Kosten) geht. Es geht hier – das sei deutlich hervorgehoben – um den Bereich der häuslichen Krankenpflege, also um den SGB V-Bereich, nicht um die ambulanten Altenpflegedienste nach dem SGB XI, also der Pflegeversicherung. Kassen belohnen faire Pflegedienste, so die eindeutige Überschrift einer der Meldungen dazu. Oder dieser Artikel hier: Pflegedienste mit Tarifbindung erhalten in Hamburg mehr Geld. Was ist passiert?
In Hamburg bieten rund 360 Pflegedienste häusliche Krankenpflege als vorübergehende Unterstützung nach Krankheit oder einem Unfall an. Die Arbeitsgemein­schaft der freien Wohlfahrtspflege Hamburg (AGFW), in der überwiegend tarifgebundene Dienste organisiert sind, hat mit dem Verband der Ersatzkassen (vdek) Hamburg einen neuen Vertrag zur häuslichen Krankenpflege vereinbart, nach der Pflegedienste von den Ersatzkassen dann mehr Geld bekommen, wenn sie ihren Beschäftigten Tariflohn zahlen. 
Konkret hat man ein interessantes 3-Stufen-Modell vereinbart, das so aussieht:

1. Pflegedienste mit Tarifbindung erhalten ab dem 1. Juli 2017 eine um 2,5 Prozent erhöhte Vergütung.
Für Anbieter, die keinen Tariflohn bezahlen, verein­barten die Vertragspartner ein abgestuftes Verfahren.
2. Dienste ohne Tarifbindung erhalten ein Vergütungsplus von 2,2 Prozent, wenn sie belegen, dass sie die Löhne ihrer Beschäftigten durchschnittlich im gleichen Umfang erhöhen.
3. Unternehmen, die weder Tariflohn bezahlen noch die Weitergabe des Vergütungsplus an ihre Mitarbeiter nachweisen, erhalten eine Steigerung von lediglich 1,2 Prozent.

„Der Vertrag soll ein Signal an die Pflegedienste sein, noch stärker als bisher auf eine vernünftige Bezahlung ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu achten.“ Mit diesen Worten zitiert der Verband der Ersatzkassen Claudia Straub, Referatsleiterin Pflege, in der Pressemitteilung Pflegekräfte sollen besser bezahlt werden. Ersatzkassen steigern Vergütung in der häuslichen Krankenpflege
Hier wird über eine abgestufte finanzielle Anreizregelung tatsächlich ein Signal in Richtung auf mehr Tarifbindung gesetzt. Man kann nur hoffen, dass diese Regelung viele Nachahmer findet und das Segment der häuslichen Krankenpflege überschreiten kann.