Blanke Not oder „gestiegene Konsumlust“? Vermutungen über eine Tatsache: Die Anzahl der Zweitjobs wächst weiter. Das Problem sind die Minijobs an sich

So viele Deutsche wie nie haben Zweitjob, meldet Spiegel Online unter Berufung auf Daten der Bundesagentur für Arbeit, die von der Linken-Bundestagsabgeordneten Sabine Zimmermann abgefragt worden sind. Ende vergangenen Jahres besserten 2,66 Millionen Menschen ihr Einkommen aus einer regulären Hauptbeschäftigung mit einem Minijob auf. Das waren 59.000 beziehungsweise 2,3 Prozent mehr als Ende 2011. 9,1% aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten haben damit einen Zweitjob auf Basis einer geringfügigen Beschäftigung. Der Anstieg ist offensichtlich: Ende 2003 hatten lediglich 4,3% der Arbeitnehmer mit regulären Jobs noch eine zusätzliche geringfügige Beschäftigung.

Reflexhaft setzt – wieder einmal – der Versuch einer Einordnung dieser Daten ein: Die »Linken-Politikerin Zimmermann sieht in der deutlichen Zunahme einen Beleg dafür, dass „für immer mehr Beschäftigte das Einkommen aus einem Job nicht mehr ausreicht“. Der überwiegende Teil der Zweitjobber mache dies „aus purer finanzieller Not und nicht freiwillig“.« Das bleibt nicht unwidersprochen: »Eine Sprecherin des Bundesarbeitsministeriums sagte hingegen, es gebe keine Erhebung zu dem Thema. Deshalb seien außer finanziellen Engpässen auch andere Gründe vorstellbar, etwa eine „gestiegene Konsumlust“.«

Das kommt einem sehr bekannt vor, gleichsam wie das Recycling einer kurzen Debatte, die wir bereits Anfang Oktober des vergangenen Jahres beobachten konnten: „Immer mehr Deutsche brauchen einen Zweitjob“ meldete Spiegel Online am 05.10.2012 mit Bezug auf den in der Saarbrücker Zeitung veröffentlichten Bericht „Zahl der Beschäftigten mit zusätzlichem Minijob hat sich seit 2003 mehr als verdoppelt“, der sich damals ebenfalls auf Daten bezogen hatte, die von Sabine Zimmermann bei der BA abgefragt wurden. Und auch damals gab es eine Art „Zweifrontenkrieg“ bei der Einordnung dieser Entwicklung, denn die Abgeordnete Zimmermann wurde damals zitiert mit den Worten, »die Entwicklung sei „ein deutlicher Hinweis darauf, dass Arbeit nicht mehr existenzsichernd ist und das Geld aus einem Job nicht mehr ausreicht“.«

»Gegen diese These spricht jedoch, dass vor allem Beschäftigte in reichen Teilen Deutschlands nebenbei jobben. In Baden-Württemberg lag ihr Anteil Ende 2011 bei 11,4 Prozent, im strukturschwachen Mecklenburg-Vorpommern dagegen nur bei 4,7 Prozent. „Der größere Teil der Beschäftigten mit Zweitjobs sind durchaus qualifizierte Leute mit gutem Einkommen, die sich noch etwas dazu verdienen“, sagte die Arbeitsmarktexpertin der Grünen, Brigitte Pothmer, der „Saarbrücker Zeitung“. Sie betonte jedoch ein anderes Problem der Entwicklung: Menschen, die in ihrem Betrieb Überstunden machten, müssten dafür alle Lohnnebenkosten einschließlich Steuern zahlen. Wer dagegen noch einen Minijob habe, brauche das nicht, so Pothmer. Das sei „extrem unfair gegenüber der Versichertengemeinschaft“. Ihre Forderung: Minijobs müssten unattraktiver gemacht werden. Etwa durch eine Sozialversicherungspflicht ab dem ersten Euro, sagte Pothmer der Zeitung. Die Bundesregierung plant aber genau das Gegenteil. Sie will die Minijobs noch ausbauen und die beitrags- und steuerfreie Verdienstgrenze auf 450 Euro anheben.«

Die von Sabine Zimmermann vertretene „Not-These“ als treibende Kraft der Expansion der Zweitjobs ist auch ein wichtiger Baustein in der nur wenige Seiten umfassende „Expertise“ des Eduard Pestel Instituts in Hannover für die beiden Gewerkschaften ver.di und NGG, die im April 2013 unter der Überschrift „Veränderungen der Arbeitswelt“ veröffentlicht wurde. Auch dort hat man sich die Entwicklung der Minijobs – differenziert nach ausschließlich geringfügig Beschäftigte und im Nebenjob geringfügig Beschäftigte – für den Zeitraum 2003 bis 2013 angeschaut und kommt zu der folgenden Bewertung:

»Während sich die Zahl der ausschließlich im Minijob Beschäftigten bundesweit um knapp 11% erhöhte, „explodierte“ die Zahl derer mit einem Minijob als Nebenjob um durchschnittlich gut 120%. Insgesamt erhöhte sich die Zahl der Minijobarbeitsverhältnisse um gut ein Drittel.« Das Fazit des Instituts: »Der seit mindestens 15 Jahren unzureichende Inflationsausgleich führte zusammen mit der stetigen Ausweitung von Teilzeit- und Minijobverhältnissen und der damit verbundenen Arbeitszeitverkürzung (ohne Lohnausgleich) zu einer wachsenden Notwendigkeit der Aufnahme von Zweitjobs. Das geringere Niveau in Ostdeutschland dürfte eher den Mangel an Jobangeboten widerspiegeln als eine geringere Nachfrage seitens der potenziellen Zweitjobber.«

Um es an dieser Stelle deutlich zu sagen: Das ist alles Spekulation, insofern gilt grundsätzlich die Aussage aus dem Bundesarbeitsministerium, dass es neben finanziellen Engpässen auch andere Gründe sein könnten, die zu diesem Anstieg beigetragen haben, wir wissen das aufgrund der defizitären Forschungslage derzeit nicht genau zu bestimmen. Aber der Ansatz des Ministeriums, das mit einer „gestiegenen Konsumlust“ abweichend von der „Not-These“ zu begründen, hat schon ein putziges Moment.

Man möge nur ein wenig nachdenken, dann wird man erkennen, dass es hier durchaus eine Vermischung der beiden Thesen geben könnte in der Realität: So wird von den „Konsumlust“-Theoretikern darauf hingewiesen, dass es gerade in den „reichen“ süddeutschen Bundesländern überdurchschnittlich viele Zweitjobs geben würde. Aber nur weil diese Bundesländer tatsächlich wohlhabend sind im Schnitt, bedeutet das bekanntlich nicht, dass deshalb jeder, der dort lebt, ebenfalls wohlhabend ist. Möglicher- und plausiblerweise werden gerade dort, wo natürlich auch das lokale und regionale Preisniveau recht hoch ist, viele Menschen auch aus der unteren und mittleren Mittelschicht dann gezwungen sein, einen Zweitjob zu machen, wenn sie ein an sich „ganz normales“ Konsumniveau aufrechtzuerhalten, zu dem beispielsweise gehören kann, einmal im Jahr in Urlaub zu fahren und dafür macht man dann den Zweitjob. Bei anderen wird der Zweitjob gerade in den hochpreisigen Regionen wiederum die einzige Möglichkeit sein, die Lebenshaltungskosten auf Dauer abdecken zu können – und wir hierbei nicht von einem Urlaub sprechen, sondern von Miete, Strom usw. Aber – auch das wissen wir nicht, empirische Daten fehlen (noch).
Was wir aber wissen und was gerade angesichts der neuen Meldungen nicht untergehen sollte in einem nicht zu entscheidenden, zugleich unterkomplexen Disput über Not versus Konsumlust ist die Tatsache, dass die Expansion der geringfügigen Beschäftigung auch und vor allem aus der Mechanik der geringfügigen Beschäftigung – also der „Minijobs“ – heraus vorangetrieben wird. Mit durchaus hochproblematischen Folgen für den deutschen Arbeitsmarkt.
Immer wieder wird die Frage gestellt, ob die deregulierte geringfügige Beschäftigung dazu beigetragen hat, dass „gute“, weil „normale“ sozialversicherungspflichtige Beschäftigung umgewandelt wurde und wird in „schlechte“ Minijobs. Zu dieser wichtigen Frage hat das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit im vergangenen Jahr eine eigene Untersuchung veröffentlicht mit differenzierten, interessanten Befunden:

»Hinweise auf die Verdrängung sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung durch Minijobs finden sich vor allem im Einzelhandel, im Gastgewerbe sowie im Gesundheits- und Sozialwesen … Minijobs kommen besonders häufig in Dienstleistungsbranchen zum Einsatz. Die IAB-Arbeitsmarktforscher Christian Hohendanner und Jens Stegmaier erklären dies damit, dass in diesen Branchen lange Öffnungszeiten, Kundenorientierung und teilweise stark schwankende Nachfrage eine große Rolle spielen: „Hier lässt sich der Faktor Arbeit optimal nutzen, wenn er in Minijobs gestückelt zum Einsatz kommt.“ So könnten Betriebe flexibel auf Kundenwünsche und -ströme reagieren. „Wenn beispielsweise längere Öffnungszeiten im Einzelhandel oder ein hohes Gästeaufkommen in der Gastronomie zu bewältigen sind, lässt sich dies mit Hilfe vieler kleiner Beschäftigungsverhältnisse passgenauer bewältigen“, schreiben die Arbeitsmarktforscher. Das Problem dabei ist: Wenn Minijobs der Sozialversicherung Beitragszahler entziehen, erhöht sich der Druck auf das Sozialversicherungssystem … Indizien für die Verdrängung von sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung durch Minijobs gibt es vor allem für kleine Betriebe mit unter zehn Beschäftigten. In diesem kleinbetrieblichen Segment gehen also der Aufbau von Minijobs und die Reduktion der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung Hand in Hand.« (Quelle: „Minijobs: Hinweise auf Verdrängung vor allem im Einzelhandel und Gastgewerbe„)

Die Studie im Original: Christian Hohendanner und Jens Stegmaier: Umstrittene Minijobs. Geringfügige Beschäftigung in deutschen Betrieben (= IAB-Kurzbericht Nr. 24/2012), Nürnberg 2012.
Und immer wieder – nicht überraschend – wird darauf hingewiesen, welche desaströsen Auswirkungen die Minijobs auf die Arbeitsmarktpositionierung wie auch auf die soziale Sicherung der Frauen haben. Eine umfangreiche Bestandsaufnahme von Carsten Wippermann hierzu wurde im Frühjahr 2013 seitens des Auftraggebers, des Bundesfamilienministerium, veröffentlicht, allerdings ohne die ansonsten üblichen Verlautbarungen und Werbeaktionen, was darauf hindeutet, dass man sich nicht besonders identifizieren möchte mit den Befunden der Studie, die hier aber besonders empfohlen sei:

Carsten Wippermann: Frauen im Minijob – Motive und (Fehl-)Anreize für die Aufnahme geringfügiger Beschäftigung im Lebenslauf, Berlin 2013

Man kann es drehen und wenden, wie man will, viele Frauen bleiben in der „Geringfügigkeitsfalle“ hängen, da sie nichts anderes finden als Minijobs (man schaue sich nur die Stellengesuche des Einzelhandels an) und weil auch das deutsche Steuerrecht mit dem Institut des Ehegattensplitting und der unterschiedlichen Steuerklassen dies leider befördert.

Gerade auf diesen Zusammenhang hat eine Studie der Bertelsmann-Stiftung im vergangenen Jahr abgestellt und konkrete Reformperspektiven vorgetragen:

»Ursache des Problems sei zum einen der abrupte Anstieg der Abgaben- und Steuerbelastung an der oberen Verdienstgrenze der begünstigen Minijobs. Zusätzlich werde dieser „Fehlanreiz“ oft gerade für gut ausgebildete Ehefrauen noch durch die Effekte des Ehegattensplittings bei der Einkommensteuer verschärft, so die Studie: Jeder Mehrverdienst der Partnerin führe dann über den sinkenden Splittingvorteil zu einem überproportionalen Anstieg der Steuerlast. Nach den Daten der Studie leben allein zwei Millionen der rund sieben Millionen Minijob-Beschäftigten mit einem vollzeitbeschäftigten Ehepartner zusammen. Gleichzeitig haben mehr als drei Viertel der Minijobberinnen mindestens eine abgeschlossene Berufsausbildung, ermittelten die Forscher« (Quelle: „Minijobs verschärfen Fachkräftemangel“).
Die Studie im Original:
Werner Eichhorst, Tina Hinz, Paul Marx, Andreas Peichl, Nico Pestel, Sebastian Siegloch, Eric Thode, Verena Tobsch: Geringfügige Beschäftigung: Situation und Gestaltungsoptionen, Gütersloh: Bertelsmann-Stiftung, 2012
»Erst die Verbindung aus Reformen bei Minijobs und Ehegattensplitting … führt zu nennenswerten Beschäftigungseffekten, die sich sowohl in höherem Arbeitsvolumen als auch in mehr Stellen niederschlagen. Die bestmögliche Variante sieht vor, das gegenwärtige Ehegattensplitting durch ein Realsplitting zu ersetzen. Die Minijobs sollten ab dem ersten Euro der Einkommensteuerpflicht unterliegen und steigende Beitragssätze zur Sozialversicherung aufweisen. Damit würde die heute bestehende Regelung für Einkommen zwischen 400 und 800 Euro auf den Bereich bis 400 Euro ausgedehnt. Das zusätzlich entstehende Steueraufkommen würde zur Absenkung des Einkommensteuertarifes verwendet. Durch diese Maßnahmen ließen sich 60.000 neue Vollzeitstellen schaffen …« („Reformen bei Minijobs und Ehegattensplitting könnten 60.000 neue Vollzeitstellen schaffen“). 
Man könnte zahlreiche weitere Belege für die Fragwürdigkeit der Minijobs, die es in dieser Form wirklich nur in Deutschland gibt, anführen. Angesichts der beobachtbaren Verzerrungseffekte auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, besonders aber in bestimmten Branchen, vor dem Hintergrund der desaströsen frauenpolitischen Dimension dieser Beschäftigungsform und auch der hier noch gar nicht beschriebenen spezifischen „Geringfügigkeitsfalle“ im „Aufstocker-Bereich“ des Grundsicherungssystems – es ist Zeit, sich zu verabschieden von den Minijobs und diese zu integrieren in eine intelligentere Entlastung der unteren Einkommen von den Sozialabgaben.

Übrigens – wer es lieber visuell mag, dem sei an dieser Stelle die sehenswerte ZDF-Dokumentation „Die Minijob-Masche. Maximale Ausbeutung – minimaler Lohn“ empfohlen:

»Die ZDFzoom-Reporter Kirsten Moser und Christian Bock zeigen, wie ein Arbeitsmodell, das ursprünglich Hausfrauen und Studenten einen unkomplizierten Nebenjob ermöglichen sollte, außer Kontrolle gerät. Wie es Vollzeitstellen vernichtet, den Sozialstaat aushöhlt, Arbeitnehmer zweiter Klasse erschafft. Beide Reporter waren als Minijobber unterwegs, putzten Büros und schufteten im Supermarkt. Ihr Fazit: Minijobs, das ist oft minimales Geld bei maximaler Ausbeutung.
Einer der „Erfinder“ der Hartz-Reformen, Professor Jobst Fiedler, damals Berater bei Roland Berger, äußert sich im ZDFzoom-Interview kritisch: „Wir wollten eigentlich nur Putzfrauen legalisieren. Aus heutiger Sicht sind die Minijobs insgesamt ein Fehler gewesen.“«

Dem ist nichts hinzuzufügen. 

Jetzt sollen wirklich alle eine Fallpauschale werden, aber einige wollen nicht (mehr). Der (notwendige) Streit um die Krankenhausfinanzierung

Die Fallpauschalen als zentrale Komponente der Krankenhausfinanzierung in Deutschland sind zehn Jahre geworden: „Ein Geburtstag, der Fragen aufwirft„, so der Publizist Uwe K. Preusker in einem Beitrag für die „Ärzte Zeitung“. »Das gerade zehn Jahre alt gewordene deutsche Fallpauschalensystem als Basis für die Vergütung stationärer Leistungen gerät immer häufiger in die Kritik. Es betone zu stark die Ökonomie und fördere die Leistungsmenge – so lauten zentrale Kritikpunkte«, so Preusker. Dafür gibt es ja auch zahlreiche Belege, beispielsweise bei den vielen Knie- und Rücken-OPs in Deutschland. Oder die in die Kritik geratenen Chefarztverträge, in denen Zulagen für die Realisierung bestimmter Mengenvorgaben fixiert wurden. Man könnte die Liste beliebig fortsetzen.

Man muss an dieser Stelle kurz erinnern: Bis zur Einführung der Fallpauschalen gab es in den deutschen Krankenhäusern tagesgleiche Pflegesätze, die nach den einzelnen Abteilungen und Kliniken differenziert waren und im Prinzip dem Selbstkostendeckungsprinzip folgen sollten. Dies wurde – nicht unplausibel – als tendenziell unwirtschaftlich problematisiert, denn diese Vergütungsform beinhaltete den Anreiz, die Patienten länger als notwendig in den Kliniken zu halten. Und viele ältere Semester werden sich erinnern, dass es damals schlichtweg nicht vorgekommen ist, dass man an einem Freitag entlassen wurde, sondern frühestens am Montag, denn für die Tage dazwischen bekam das Krankenhaus den gleichen Pflegesatz wie unmittelbar am Tag nach einer OP, was natürlich angesichts der Tatsache, dass die Patienten im Wesentlichen nur noch Hotellerieleistungen in Anspruch nahmen, ein gutes Geschäft war.

Diese Zeiten sind nun schon seit längerem vorbei. Aber die Deutschen haben vor zehn Jahren – bei dem Systemwechsel hin zu einem „vollständig fallpauschalierenden System“ der Krankenhausvergütung – wieder einmal so agiert wie so oft: Wenn sie etwas machen, dann aber „richtig“, will heißen, möglichst kompromisslos. Preusker dazu:

»Bei der Einführung des DRG-Systems hat Deutschland einen Weg eingeschlagen, den bis dahin kein anderes der rund 50 Länder eingeschlagen hatte, die international DRGs nutzen: In Deutschland sollte das DRG-System die bis dahin geltende Finanzierung der stationären Versorgung zu 100 Prozent ersetzen.
Schaut man in andere Länder, so hat man dort fast überall auf Systeme gesetzt, die eine Mischfinanzierung vorsehen, so zum Beispiel in Norwegen und Dänemark … Hinzu treten in vielen Ländern, die Fallpauschalen zur Honorierung stationärer Leistungen einsetzen, ergänzende Zuweisungen für besondere Leistungen: etwa für Vorhaltekosten. Auch die hochspezialisierte Versorgung oder die universitäre Medizin werden durch besondere Mechanismen außerhalb des Fallpauschalensystems finanziert.«

Womit wir schon mittendrin sind in den aktuellen Problemen, die sich herausgebildet haben aufgrund der Mechanik, die dem deutschen Fallpauschalensystem inhärent sind. Wenn die Krankenhäuser beispielsweise für eine bestimmte OP in einem Bundesland (tendenziell mal in ganz Deutschland) die gleiche Fallpauschale bekommen, mit der sie alle Kosten decken müssen, dann ist natürlich klar, dass die Kliniken, die sich auf diese OP spezialisiert haben und diese in großer Fallzahl durchführen (können), einen klaren Startvorteil haben gegenüber den Krankenhäusern, bei denen diese OP vielleicht nur 5 oder 10 mal im Jahr anfällt. Insofern hat das neue Finanzierungssystem zu einer massiven Spezialisierung der Kliniken beigetragen, was aber auch gewollt war. Nur gibt es eben Krankenhäuser, beispielsweise der Grundversorgung in den ländlichen Räumen, die auch wenn sie wollten niemals die Spezialisierungsvorteile von Kliniken mit einem partikularen Leistungsspektrum erreichen können. Die rauschen dann schnell in die Verlustzone, während die anderen mit den Pauschalen durchaus gewinn machen können.

Und noch für eine weitere Gruppe an Kliniken gibt es teilweise existenzbedrohende Risiken, die sich aus dem neuen System ableiten lassen: Die Fallpauschalen, das muss man an dieser Stelle wissen, sind durchschnittskostenkalkulierte Beträge, die sich hinsichtlich einer bestimmten Diagnose und/oder Preozedur auf Durchschnittsdauern beziehen. Daraus und aus der Tatsache, dass man die Zahl der DRGs (das sind die Diagnosen bzw. Prozeduren, die mit einer Pauschale belegt sind) überschaubar halten möchte, folgt als Kollateralschaden angesichts der Heterogenität der Fälle und Fallkonstellationen, dass es für besonders schwierige und damit natürlich auch aufwandsseitig teure Fälle zu wenig Geld gibt aus der Fallpauschale, die sich immer auf einen Standardfall beziehen muss. Genau in dieses Dilemma sind viele Kliniken der Maximalversorgung hineingelaufen, was man derzeit wieder einmal in der Berichterstattung am Beispiel der Kindermedizin beobachten kann.

Kind gerettet, Krankenhaus in den Miesen„, unter dieser Überschrift thematisiert Nina von Hardenberg in der Süddeutschen Zeitung, dass seltene Krankheiten für Kliniken oft ein Verlustgeschäft darstellen, da sie nur einen Teil der Behandlungskosten erstattet bekommen. Das spüren vor allem universitäre Einrichtungen, die viele Patienten mit solchen Leiden aufnehmen. In Tübingen protestieren nun Eltern gegen das Abrechnungssystem. Und das hat es in sich: »Die Universitätsklinik für Kinder- und Jugendmedizin hat im vergangenen Jahr 489 Kinder aufgenommen, die die Klink 50 Prozent mehr gekostet haben, als die Krankenkassen erstatteten. Diese Kostenausreißer machten zwar weniger als fünf Prozent aller Patienten aus, doch mit ihnen machte die ohnehin defizitäre Klinik immerhin 2,17 Millionen Euro Minus.«

»In Tübingen haben sich nun Eltern- und Fördervereine zusammengeschlossen, um für eine bessere Finanzierung der Klinik zu werben. Unter dem Motto „Ich bin keine Fallpauschale“ stellen sie im Internet Kinder vor, die im derzeitigen Abrechnungssystem den Kliniken, die ihnen helfen, eine ungedeckte Rechnung hinterlassen.«

Eltern und Klinikpersonal haben eine Petition erarbeitet, mit der sie für die Schwerst- und Spezialfälle an den Universitäts-Kinderkliniken umgehend eine faire und kostendeckende Vergütung, die sich am tatsächlichen Behandlungs- und Pflegeaufwand orientiert, fordern. Hierfür haben Sie eine eigene Webseite eingerichtet: „Ich bin keine Fallpauschale„.

Hardenberg weist zu recht darauf hin, dass es sich hierbei um ein generelles Systemproblem handelt: »Tatsächlich sind Kostenausreißer kein Problem der Kindermedizin allein. Derzeit zahlen alle Krankenhäuser drauf, wenn ein Patient eine besonders komplizierte oder langwierige Behandlung benötigt. Im System der Fallpauschalen erhalten Klinken schließlich für jeden Patienten eine fixe Summe, die sich an den durchschnittlichen Kosten für die Behandlung bemisst. Dafür verdienen sie aber umgekehrt auch zusätzlich, wenn Patienten schneller als der Schnitt genesen. So sollen sich schwere und leichtere Fälle ausgleichen.«

Sie deutet an, dass es Hoffnung gibt für die betroffenen Krankenhäuser – die allerdings noch auf sich warten lassen wird: »Die Bundesregierung hat in einem der letzten Gesetze vor der Sommerpause beschlossen, das Problem der Kostenausreißer im Jahr 2014 wissenschaftlich untersuchen zu lassen. 2015 könnte mit den Ergebnissen der Studie dann eine Extravergütung für diese Patienten entwickelt werden.« Das muss man natürlich – sollte es überhaupt so kommen – erst einmal überbrücken.

Nun gab es einen Bereich, den man damals bewusst ausgeschlossen hatte von der Einführung eines durchgängig fallpauschalierenden Systems: die Psychiatrien. Hier wird weiterhin mit tagesgleichen Pflegesätzen vergütet. Aber auch dieser Teil der deutschen Krankenhauslandschaft soll nun eingegliedert werden in die schöne neuen Vergütungswelt, doch dagegen hat sich Widerstand entwickelt: Es geht um das „Pauschalierende Entgeltsystem in Psychiatrie und Psychosomatik“ (PEPP).

Der aktuelle PEPP-Katalog für das Jahr 2013 enthält insgesamt 135 tagesbezogene Entgelte für voll- und teilstationäre Leistungen und 75 Zusatzentgelte, die für hochaufwendige Leistungen bezahlt werden. Psychiatrische und psychosomatische Krankenhäuser werden zukünftig ihre Leistungen auf Basis des PEPP-Katalogs abrechnen; ab Januar 2013 freiwillig, ab 2015 verpflichtend. Den neuen Entgeltkatalog hat das Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus (InEK) kalkuliert (Quelle: AOK zum PEPP)

Barbara Dribbusch beschreibt in ihrem Artikel „Tagessätze je nach Diagnose“ an einem Beispiel das mit dem neuen Entgeltsystem verbundene Problem: »16 Tage. So lange darf ein an Schizophrenie Erkrankter nach dem Entwurf eines neuen Entgeltsystem künftig in der Psychiatrie bleiben, während die Klinik den höchsten Tagessatz kassiert. Dauert der Aufenthalt länger, wird beim Tagessatz gekürzt.« Das neue Entgeltsystem werde „hoch individuellen Verläufen“ bei psychischen Erkrankungen nicht gerecht, so wird Rolf Rosenbrock, Vorsitzender des Paritätischen Gesamtverbands, in dem Artikel zitiert. Rosenbrock, der sich in den Untiefen des deutschen Gesundheitssystems gut auskennt, weist auf eine Dilemma hin, das mit dem neuen System verbunden ist: »Mit den degressiven Tagessätzen in PEPP würden einerseits schwerer erkrankte Patienten möglicherweise zu früh entlassen, andererseits aber gebe es einen Anreiz, leichter Erkrankte so lange dazubehalten, bis die maximale Dauer für die höchste Vergütungsstufe ausgereizt sei«.
Die Befürworter des Systems weisen allerdings darauf hin, dass mit dem neuen System je nach Diagnose unterschiedliche Tagessätze gezahlt werden, was heute nicht der Fall ist, da die gegenwärtigen klinikindividuellen Pflegesätze unabhängig von der Erkrankung des Patienten stets gleich sind.

Kritiker hingegen weisen beispielsweise darauf hin, dass im PEPP-Katalog Leistungen etwa der Sozialarbeiter oder der Ergotherapeuten nicht erfasst werden. Diese würden als „Hintergrundrauschen“ nicht abgebildet.

Wir sprechen hier keineswegs über eine Orchideendisziplin, wenn wir auf die Psychiatrien schauen: Jährlich gibt es fast eine Million stationäre Aufnahmen, Tendenz steigend. Das ganze betrifft also viele Menschen.

Kommen wir abschließend und ausblickend zurück zu dem Beitrag „Ein Geburtstag, der Fragen aufwirft“ von Uwe K. Preusker, einem versierten Beobachter der Entwicklungen in der deutschen Krankenhauslandschaft: »Angezeigt wäre … eine Ergänzung des G-DRG-Systems durch Qualitätskriterien, die dann schrittweise einen größeren Einfluss auf die Vergütung bekommen könnten. Außerdem müssen nachgewiesene Fehlanreize, die das gegenwärtige System aufweist, durch sinnvolle Neuregelungen ersetzt werden. Und die Wege, die viele andere Länder eingeschlagen haben, weisen auch darauf hin, dass man individuelle Finanzierungsinstrumente benötigt, wenn man politisch priorisierte Ziele erreichen will, etwa eine flächendeckende Versorgung.«

Der entscheidende Aspekt mit Blick auf die Zukunft und die von vielen kritisierte fortbestehende Trennung zwischen stationärer und ambulanter Versorgung ist aber der folgende Gedanke von Preusker:

»Vor allem aber sollte man bei jeder Weiterentwicklung der existierenden Vergütungssysteme berücksichtigen, dass ambulante und stationäre Versorgung tendenziell immer stärker zusammenwachsen – irgendwann bedeutet dies unweigerlich, dass beide Sektoren auch unter ein gemeinsames Dach einheitlicher Vergütungsregularien kommen.«

Das wird noch eine Menge Arbeit und ein langer Weg.

Wenn Eltern Geld brauchen von ihren Kindern … Neue Entscheidung des BGH zum Elternunterhalt im Rahmen der Pflegekosten

Alle Fragen rund um die Pflege werden immer mehr zum gesellschaftspolitischen Megathema der vor uns liegenden Jahre. Und der Pflegebedarf wird nicht nur aufgrund der demografischen Entwicklung deutlich ansteigen, mit allen daran gekoppelten Herausforderungen an die Sicherstellung einer menschenwürdigen Versorgung der Pflegebedürftigen. Das alles ist nicht umsonst, sondern es ist in vielen Fällen richtig teuer. Zuerst einmal für die Betroffenen, die neben ihrer Rente und den Leistungen aus der Pflegeversicherung auch ihr gesamtes Vermögen einsetzen müssen – wenn sie denn welches haben. Und wo es Vermögende gibt, sind die Vermögenslosen nicht weit und nicht wenige. Und das sind natürlich oft auch die Menschen, die aufgrund ihrer Erwerbsbiografie nur durchschnittliche oder gar unterdurchschnittliche Erwerbseinkommen und damit Rentenansprüche erzielt haben. Die sind dann ab einer bestimmten Pflegephase, häufig im Zusammenhang mit einer stationären Versorgung, auf Leistungen der „Hilfe zur Pflege“ nach dem SGB XII, also seitens des kommunalen Sozialamtes, angewiesen, weil die knappe Rente und die Teilkaskobeträge aus der Pflegeversicherung nicht ausreichen, um die Heimkosten zu decken. Die Sozialämter zahlen auch, aber sie versuchen dann, das Geld wenigstens teilweise wieder reinzuholen von den Kindern der Betroffenen, wenn es welche gibt. Rechtsgrundlage für diese Heranziehung der Kinder ist das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB).

Dort finden wir die folgende, hier maßgebende Norm:

§ 1601 BGB Unterhaltsverpflichtete
Verwandte in gerader Linie sind verpflichtet, einander Unterhalt zu gewähren

§ 1603 BGB Leistungsfähigkeit
(1) Unterhaltspflichtig ist nicht, wer bei Berücksichtigung seiner sonstigen Verpflichtungen außerstande ist, ohne Gefährdung seines angemessenen Unterhalts den Unterhalt zu gewähren.

Mit der vor allem aus § 1603 BGB abgeleiteten Problematik, in welchem Umfang die Kinder herangezogen werden dürfen, hat sich erneut der Bundesgerichtshof in einer aktuellen Entscheidung beschäftigt, die gleich genauer beschrieben wird.
Vorweg aber eine kurze Darstellung  des Elternunterhalts, gefunden in dem instruktiven Beitrag „Pflege: Zuzahlung für Angehörige„, vor allem mit Blick auf die Frage der (möglichen) Höhe der Zuzahlung der Kinder zu den Pflegekosten:

»Maßgeblich für eine mögliche Unterhaltspflicht ist zunächst das Nettoeinkommen.
Hiervon dürfen noch die Versicherungsbeiträge, Kreditverpflichtungen, sowie berufsbedingte Aufwendungen (Werbungskosten) abgezogen werden. Die Zwischensumme daraus ergibt das sogenannte „bereinigte Nettoeinkommen”.
Vom diesem bereinigten Nettoeinkommen können zusätzlich etwaige Unterhaltskosten für geschiedene Ehepartner einschließlich der gemeinsamen Kinder abgezogen werden (für die Kinder nur aber dann, wenn diese polizeilich nicht in Ihrem Haushalt gemeldet sind).
Die Summe daraus ergibt den so genannten Selbstbehalt, welcher zurzeit 1.400 € pro Monat beträgt. Das bedeutet: wenn Ihnen nach Abzug der o. g. Kosten weniger als etwa 1.400 € monatlich zum Leben bleiben, muss dem Sozialamt nichts für die Pflege–Kosten dazu gezahlt werden.
Bleibt jedoch mehr übrig, müssen Familienangehörige zum Pflegeunterhalt etwas dabei steuern – und zwar die Hälfte aus der Differenz zwischen dem bereinigtem Nettoeinkommen und dem Selbstbehalt.« (Nur eine aktualisierende Anmerkung, die man auch später der Besprechung der neuen BGH-Entscheidung entnehmen kann: Seit dem 1. Januar 2013 liegt der Selbstbehaltsbetrag bei 1.600 Euro).

Der Berechnung des dann heranzuziehenden „bereinigten Nettoeinkommens“ der Kinder liegt folgende Logik zugrunde: Wenn man Kredite laufen hat, dann mindern die die Bemessungsgrundlage für den Elternunterhalt: »Als vermindernd gelten alle privaten Verbraucherkredite, Bauspardarlehen und Bank- oder Versicherungshypotheken zum Kauf, zur Modernisierung oder Renovierung einer Immobilie. Als relevante Ausgaben können nicht nur die Zinsbelastungen, sondern auch die Tilgungszahlungen angesetzt werden. Alle Kosten werden zu 100% angerechnet.«
Anders sieht es aus, wenn die Kinder Vermögen gebildet haben, denn grundsätzlich gilt, dass dieses ebenfalls einzusetzen ist für die Unterhaltsverpflichtung gegenüber den eigenen Eltern. Grundsätzlich bedeutet wie immer: Es gibt Ausnahmen von dieser Regel:

»Die Sozialämter erlauben in aller Regel ein bestimmtes Mindestvermögen, welches je nach Kommune aber sehr unterschiedlich sein kann. Meistens liegt der erlaubte Betrag zwischen 20.000 und 30.000 Euro. Wer mehr Sparvermögen hat, muss es zum Pflege–Unterhalt solange einsetzen, bis es an das erlaubte Mindestvermögen grenzt. Die Behörde darf ein Sparvermögen für die Pflege jedoch generell nicht anrechnen, wenn es zur eigenen Altersvorsorge über Lebens- oder Rentenversicherungen dient. Sie darf es auch dann nicht anrechnen, wenn die Auflösung eines Sparvertrages/einer Kapitalanlage mit finanziellen Verlusten verbunden wäre – oder aus anderen Gründen unwirtschaftlich ist.«

Ein für viele Menschen sicher sehr wichtige Frage: Wie sieht es aus mit dem Wohneigentum des Kindes bzw. der Kinder? Grundsätzlich gilt hier Entwarnung, wenn der Angehörige selbst darin wohnt und dies der Hauptwohnsitz ist, denn dann ist das Wohneigentum nach der Rechtsprechung des BGH vor einer Verwertung geschützt – und wieder muss man ein „aber“ einschieben: Das Sozialamt kann für das Wohnen im eigenen Haus einen geldwerten Vorteil ansetzen, der wie ein zusätzliches Einkommen hinzu gerechnet wird bei der Bestimmung des „bereinigten Nettoeinkommens“.

Und wie ist es eigentlich mit den Schwiegereltern? Muss man für die auch zahlen? Auch hier wieder grundsätzlich eigentlich nicht. Und dann das „aber“:

»Bei Ehepartnern mit nur einem Verdiener steht das bereinigte Nettoeinkommen jedoch zur Hälfte dem anderen Partner zu. Beträgt das Einkommen des Allein-verdieners also mehr als 2.800 €, muss er eine Zuzahlung auch für die Pflege-Kosten der Schwiegereltern leisten.«

Alles klar? Der eine oder die andere könnte jetzt durchaus auf die Idee kommen, dass es bei dieser Gemengelage „vernünftig“ wäre, vor dem Eintreten eines kostenträchtigen Pflegefalls sowohl bei den Betroffenen wie auch bei den Kindern alles auf den Kopf zu hauen, Schulden zu machen (die man ja, wie wir erfahren haben, unter bestimmten Bedingungen abziehen kann), also bloß kein Vermögen aufzubauen. Das ist durchaus richtig, wenn man es denn nur auf diese Gemengelage beziehen würde.

Jetzt aber zu der neuen Entscheidung des Bundesgerichtshofs (BGH), die sich auseinandersetzt mit der oftmals strittigen Frage nach der „Leistungsfähigkeit zur Zahlung von Elternunterhalt„, die sich natürlich in dem grundsätzlichen Spannungsfeld bewegt, dass die einen möglichst eingeschränkt leistungsfähig daherkommen möchten, während die Kommunen einen möglichst hohen Zuzahlungsbetrag realisieren möchten.

Zuerst einmal der Sachverhalt, mit dem der XII. Zivilsenat des BGH konfrontiert wurde:

»Die 1926 geborene Mutter des Antragsgegners lebt in einem Altenpflegeheim. Weil sie die Heimkosten nicht vollständig aus ihrer Rente und den Leistungen der Pflegeversicherung aufbringen kann, gewährt der Antragsteller ihr Leistungen der Sozialhilfe. Im vorliegenden Verfahren verlangt der Antragsteller Erstattung der in der Zeit von Juli 2008 bis Februar 2011 geleisteten Beträge. Die Beteiligten streiten allein darüber, ob der Antragsgegner aus seinem Einkommen oder aus seinem Vermögen leistungsfähig ist.«

In der weiteren Beschreibung des Sachverhalts bekommen wir eine Konkretisierung der allgemeinen Beschreibung des Elternunterhalts und seiner Berechnung, mit der dieser Beitrag begonnen hat:

»Der Antragsgegner erzielte im Jahr 2008 ein Jahresbruttoeinkommen in Höhe von 27.497,92 €, woraus das Oberlandesgericht ein bereinigtes Nettoeinkommen von monatlich 1.121 € errechnet hat. Er ist Eigentümer einer aus drei Zimmern bestehenden Eigentumswohnung, deren Wohnvorteil das Oberlandesgericht mit 339,02 € ermittelt hat. Außerdem ist der Antragsgegner hälftiger Miteigentümer eines Hauses in Italien, dessen anteiliger Wert vom Antragsteller mit 60.000 € angegeben ist, und verfügt über zwei Lebensversicherungen mit Werten von 27.128,13 € und 5.559,03 € sowie über ein Sparguthaben von 6.412,39 €. Eine weitere Lebensversicherung hatte der Antragsgegner gekündigt und deren Wert zur Rückführung von Verbindlichkeiten verwendet, die auf dem Haus in Italien lasteten.«

Vor dem Amtsgericht ist der Sohn der pflegebedürftigen Mutter verurteilt worden, rückständigen Unterhalt in Höhe von insgesamt 5.497,78 € an das Sozialamt zu zahlen. Das Amt wollte aber noch mehr, was das Oberlandesgericht zurückgewiesen hat, wie den ganzen Antrag gleich mit. Das Oberlandesgericht hat auf der Grundlage der Einkünfte und Nutzungsvorteile von insgesamt rund 1.460 € die Leistungsfähigkeit des Sohnes verneint, weil der für den Elternunterhalt geltende, ihm zu belassende Selbstbehalt von 1.500 € nicht überschritten sei. Das nun wiederum lehnt der BGH ab, weil das nicht rechtsfehlerfrei zustande gekommen sei (weil das Nettoeinkommen nicht richtig bestimmt worden sei und weil damals noch die Grenze des Selbstbehalts bei 1.400 Euro lag, erst zum 1. Januar 2011 wurde der Selbstbehalt auf 1.500 € und zum 1. Januar 2013 auf 1.600 € erhöht.

Aber bei der neuen Entscheidung geht es nicht um Fragen der Berücksichtigung des laufenden Einkommens: Von besonderer Bedeutung sind die weiteren Ausführungen des Bundesgerichtshofs zum Einsatz des Vermögens im Rahmen des Elternunterhalts:

»Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs muss das unterhaltspflichtige Kind grundsätzlich auch den Stamm seines Vermögens zur Bestreitung des Unterhalts einsetzen. Einschränkungen ergeben sich aber daraus, dass nach dem Gesetz auch die sonstigen Verpflichtungen des Unterhaltsschuldners zu berücksichtigen sind und er seinen eigenen angemessenen Unterhalt nicht zu gefährden braucht. Dem dient auch die eigene Altersvorsorge, die der Unterhaltsschuldner neben der gesetzlichen Rentenversicherung mit weiteren 5 % von seinem Bruttoeinkommen betreiben darf. Entsprechend bleibt dann auch das so gebildete Altersvorsorgevermögen im Rahmen des Elternunterhalts unangreifbar … Der Bundesgerichtshof hat jetzt entschieden, dass der Wert einer angemessenen selbst genutzten Immobilie bei der Bemessung des Altersvermögens eines auf Elternunterhalt in Anspruch genommenen Unterhaltspflichtigen grundsätzlich unberücksichtigt bleibt, weil ihm eine Verwertung nicht zumutbar ist. Übersteigt das sonstige vorhandene Vermögen ein über die Dauer des Berufslebens mit 5 % vom Bruttoeinkommen geschütztes Altersvorsorgevermögen nicht, kommt eine Unterhaltspflicht aus dem Vermögensstamm nicht in Betracht.«

Fazit: Gewisse Schutzplanken für das selbst genutzte Wohneigentum sowie ein überschaubarer Vermögensanteil für die eigene Altersversorgung werden durch diese Entscheidung eingezogen, aber grundsätzlich gilt: Auch der Vermögensstamm der Kinder muss eingesetzt werden, wenn es um die Frage der Zuzahlungen zu den Pflegekosten der Eltern geht. Wir können davon ausgehen, dass die Fragen des Elternunterhalts in den kommenden Jahren an Bedeutung gewinnen werden – vor allem, wenn die vielen Alten mit sehr niedrigen Renten in die Pflegebedürftigkeit rutschen.