Eine harte Packung: Ungleichheit und soziale Polarisierung im Spiegel neuer Zahlen

Es gibt sie, diese Tage, an denen man förmlich bombardiert wird mit Zahlen und Aussagen, die auf fundamentale gesellschaftliche Entwicklungslinien verweisen. So ein Tag fängt beispielsweise an mit einer solchen Botschaft: Das Statistische Bundesamt bringt es in der für die Bundesstatistiker so typisch trockenen Art und Weise, aber zugleich absolut zutreffend schon in der Überschrift der Pressemitteilung über den neuen „Datenreport 2013“ auf den Punkt: „Mehr Jobs, aber auch mehr Armut„. Die Süddeutsche Zeitung titelt dazu: ”Reiches Deutschland, armes Deutschland“ und Spiegel Online gar: „Arme Deutsche sterben früher„. Eine Zusammenfassung einiger ausgewählter Aspekte aus dem neuen „Datenreport 2013“ kann man auf der Facebook-Seite von „Aktuelle Sozialpolitik“ nachlesen.

Aber damit noch nicht genug: „Deutschland vernachlässigt arme Rentner„, so berichtet Spiegel Online über eine neue OECD-Studie, die Online-Ausgabe der Welt überschreibt einen Artikel dazu mit: „Geringverdiener bekommen ein Rentenproblem„. Was ist hier los?

Die OECD hat eine neue Studie vorgestellt, aus der wir für Deutschland die folgende Perspektive entnehmen können: Nach derzeitigem Stand würden „die Rentenbezüge für Menschen mit verhältnismäßig kleinem Gehalt gegen Mitte dieses Jahrhunderts so niedrig sein wie in kaum einem anderen OECD-Land“, sagte die Leiterin der Abteilung für Sozialpolitik, Monika Queisser. Die Ökonomen der OECD analysieren die Lebensstandardänderung beim Eintritt in den Ruhestand. Die wird gemessen an den so genannten „Ersatzraten“:

»Sie zeigen an, wie hoch die Bezüge von Rentnern im Verhältnis zu ihrem früheren Einkommen in Zukunft liegen werden. Im Schnitt aller 34 Länder liegt die Rate bei 54 Prozent des Bruttoeinkommens. Wer in Deutschland 2012 zu arbeiten beginnt und sein Leben lang Rentenbeiträge zahlt, kann laut OECD später 42 Prozent seines durchschnittlichen Bruttoeinkommens erwarten. Das ist nicht einmal halb so viel wie beim Spitzenreiter Niederlande, der auf eine Ersatzrate von stolzen 89 Prozent kommt.«

Immerhin bekommt man in Deutschland mehr als in Großbritannien, wo Durchschnittverdiener nur knapp ein Drittel ihres früheren Einkommens erhalten.

Allerdings: Das sind die Durchschnittswerte. Und die Daten für die Geringverdiener zeigen für Deutschland ein weitaus schlechteres Bild:

»Deutlich schlechter sieht der Vergleich jedoch bei Geringverdienern aus, die nur über die Hälfte des durchschnittlichen Einkommens verfügen. Sie erhalten laut Studie in den meisten OECD-Ländern deutlich höhere Ersatzraten als Durchschnittsverdiener und werden somit vor Altersarmut geschützt. In Dänemark bekommen Niedrigverdiener 121 Prozent ihres früheren Einkommens, in Israel sind es 104 Prozent. Ganz anders in Deutschland: Hier erhalten Geringverdiener genauso wie der Durchschnitt nur 42 Prozent ihres Einkommens. Damit landet Deutschland noch hinter Polen (49 Prozent) auf dem letzten Platz.«

Nun wird an dieser Stelle immer wieder kritisch angemerkt, dass der Lebensstandard nicht nur von der Rente abhängig sei, sondern beispielsweise auch von Vermögenstatbeständen wie dem Besitz eines Hauses oder einer Eigentumswohnung. Doch auch da sieht es im internationalen Vergleich für einen Teil der in Deutschland lebenden Menschen nicht gut aus:

»So profitiert nur jeder zweite Deutsche im Ruhestand vom eigenen Haus oder der eigenen Wohnung. Im OECD-Schnitt sind es dagegen 76 Prozent.«

Und auf die immer wieder beschworenen Umverteilungseffekte staatlicher Leistungen kommen nicht berauschend daher:

»Staatliche Leistungen erhöhen das Einkommen der deutschen Rentnergeneration um durchschnittlich 30 Prozent, zehn Prozentpunkte unter dem OECD-Schnitt.«

Derzeit – gleichsam als Folgewirkung der „alten“ Erfolgsstory Rentenversicherung steht Deutschland nicht gut da beim Thema Altersarmut. Allerdings:

»Der (neue) Datenreport 2013 zeigt aber, dass die Armutsgefährdung gerade bei älteren Deutschen in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen hat.«

Die OECD weist darauf hin, dass viele Länder anders als Deutschland die Geringverdiener bei ihren Sparbeschlüssen verschont haben.

Was zu tun wäre? Ein relativ naheliegendes Konzept wäre die Besserstellung der Geringverdiener in der Rentenversicherung. Also eine stärkere Umverteilung innerhalb der Rentenversicherung. Wir hatten in der Vergangenheit solche Umverteilungselemente, die mittlerweile abgeschafft worden sind, beispielsweise die Rente nach Mindesteinkommen. Eine Mindestrente wäre die logische Antwort auf diese Entwicklungen. Beispielsweise.

Selbstverständlichkeiten, die erodieren: Die häusliche Pflege

Immer noch werden weit mehr als eine Million pflegebedürftige Menschen alleine zu Hause gepflegt –  von den Angehörigen und hierbei ganz überwiegend von den Frauen. Von den Ehefrauen, Lebenspartnerinnen, Töchtern, Schwiegertöchtern. Würden diese Frauen oder nur ein erklecklicher Teil von ihnen ihre Pflege- und Sorgearbeit einstellen, binnen Stunden würde das deutsche Pflegesystem kollabieren. Nun gibt es seit langem Hinweise darauf, dass das, was Soziologen etwas verquast „gesellschaftlichen Werte- und Strukturwandel“ nennen, auch Auswirkungen hat und haben wird auf die Pflegebereitschaft der Angehörigen.

Zum einen fordert die zunehmende Mobilität und die damit oftmals verbundene räumliche Entfremdung ihren Tribut, dann kann man gar nicht pflegen, auch wenn man wollte. Zum anderen sinkt aus unterschiedlichen Gründen auch die Bereitschaft, beispielsweise die eigene Berufstätigkeit zu unterbrechen oder gar ganz aufzugeben.

Der Beitrag „Ist häusliche Pflege noch zu retten?“ liefert einige Zahlen zu diesem sensiblen Thema. Die Daten kommen von der Deutschen Rentenversicherung, den der Staat unterstützt unter bestimmten Bedingungen die Pflege der Angehörigen durch eine Berücksichtigung bei der Rente der Pflegepersonen. Wieder einmal liegt die notwendige Betonung auf „unter bestimmten Bedingungen“, wobei das im vorliegenden Fall überschaubar daherkommt: Für die psychisch und körperlich sehr belastende Tätigkeit bekommen die „Pflegepersonen“ Pluspunkte in der Rentenversicherung gutgeschrieben. Einzige Voraussetzungen: Die Pflege nimmt mindestens 14 Stunden pro Woche in Anspruch, und die Pflegeperson übt neben der Pflege höchstens noch 30 Stunden wöchentlich eine andere Erwerbstätigkeit aus. Sie darf selbst noch keine Altersrente beziehen.

Die Daten der Rentenversicherung sollten uns nachdenklich stimmen:

»Aktuellen Angaben der Rentenversicherer zufolge sank die Zahl der Pflegenden, die sich mindestens 14 Stunden wöchentlich um pflegebedürftige Angehörige, Freunde oder Nachbarn kümmern, zwischen 1999 und 2011 von knapp 512.000 auf nur noch 385.000 – ein Rückgang um fast 25 Prozent. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass vor allem gut gebildete Beschäftigte besonders häufig einen Bogen um die psychisch und physisch sehr belastende Arbeit als Pflegeperson machen.«

Die Zahl der häuslich Pflegenden, deren spätere Rente sich aufgrund ihrer Pflege erhöht, sinkt seit Ende der 90er-Jahre kontinuierlich. Ein wesentlicher Grund dafür dürften nach Einschätzung von Experten neben der zunehmend geforderten beruflichen Mobilität der potenziell Pflegenden die relativ geringen Rentenansprüche sein, die aus der Pflege erwachsen.
Den letzten Punkt muss man einmal besonders herausstellen:

»So steigert ein Jahr Pflege eines Angehörigen, der vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen in Pflegestufe II eingruppiert wurde und mindestens 21 Stunden Pflege pro Woche benötigt, die Rente derzeit um monatlich gerade einmal 14,25 Euro in den alten und 12,94 Euro in den neuen Ländern.
In der Praxis steigert die aufopferungsvolle Arbeit für die Angehörigen die Rente sogar nur um die Hälfte. Denn mehr als 62 Prozent der häuslich Gepflegten in der sozialen Pflegeversicherung sind in Pflegestufe I eingruppiert und werden höchstens 20 Stunden wöchentlich gepflegt.«

Wie nennt man so etwas? Almosen.

Wer zu der gesamten Thematik mehr und genauere Informationen haben möchte, der sei hier auf die folgende Studie verwiesen, die im Forschungsnetzwerk Alterssicherung entstanden ist:

Rainer Unger / Heinz Rothgang: Auswirkungen einer informellen Pflegetätigkeit auf das Alterssicherungsniveau von Frauen (FNA-Journal Heft 4/2013).

Von „Work hard. Have fun. Make history“ bei Amazon zur Proletarisierung der Büroarbeit in geistigen Legebatterien. Streifzüge durch die „moderne“ Arbeitswelt

Eines ist ganz sicher – die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di nervt Amazon mit ihrer impertinenten Forderung nach einem Tarifvertrag für die Beschäftigten in den deutschen Warenverteilzentren des Weltkonzerns. Deshalb lässt Amazon ja auch schon mal sicherheitshalber neue Logistik-Zentren in der Tschechei und Polen errichten – „natürlich“ auf gar keinen Fall mit der Absicht, die Arbeit dann aus dem für Arbeitgeber „anstrengenden“ Deutschland in die angenehmer daherkommenden Ostländer zu verlagern und die Standorte in Deutschland auszudünnen oder gar aufzugeben. Was natürlich nicht für die Belieferung des deutschen Marktes gilt, denn der ist richtig wichtig für Amazon, hier wird Marge gemacht und dass soll auch so bleiben –  bereits 2012 hat Amazon in Deutschland 6,4 Milliarden Euro umgesetzt und damit seit 2010 um 60 Prozent zugelegt. Und geliefert werden kann auch aus Polen und der Tschechei. Derartige  Überlegungen in der Konzernzentrale werden durch Meldungen wie diese sicher befördert: »Mit Streiks im Weihnachtsgeschäft will Verdi die Unternehmensführung des Versandhändlers Amazon an den Verhandlungstisch zwingen«, berichtet Stefan Sauer in seinem Artikel „Verdi erhöht Druck auf Amazon„.

»Für den weltweit größten Versandhändler Amazon kommen die Arbeitsniederlegungen, zu denen die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi am Montag in den Logistik-Zentren Bad Hersfeld und Leipzig aufrief, zur Unzeit.  Das Vorweihnachtsgeschäft ist längst angelaufen, die Zahl der Bestellungen erreicht Jahreshöchststände,  man ist auf reibungslosen Betrieb angewiesen.« Immerhin schwelt der Konflikt mit Amazon schon seit April dieses Jahres – und es gibt keine erkennbare Bewegung auf Seiten von Amazon. Bereits an 14 einzelnen Tagen hat ein Teil der Belegschaften in den beiden Verteilzentren Bad Hersfeld und Leipzig die Arbeit niedergelegt. Die Gewerkschaft kämpft um die Übernahme des hessischen Tarifvertrags für den Versandeinzelhandel, was das Unternehmen rundheraus ablehnt, weil man sich als Logistikdienstleister versteht und Tarifverträge sowieso nicht mag.

Der geforderte Einzelhandelstarif hätte deutliche Auswirkungen auf das Lohngefüge: »Immerhin liege der Tarif in der niedrigsten Lohngruppe für Ungelernte mit 11,69 um 10 Prozent über denen bei Amazon gezahlten Normallöhnen.  Das tarifliche Weihnachtsgeld von mindestens 1.250 Euro übersteige die von Amazon gewährten 400 Euro um mehr als das Dreifache.« Allerdings muss auch der Gewerkschaftssprecher einräumen, dass sich Amazon in den beiden letzten Jahren bewegt hat: »So stiegen die Löhne seit 2011 um 17 Prozent, zuletzt am 1. September  auf immerhin 10,01 Euro, Weihnachtsgeld werde überhaupt zum ersten Mal gezahlt.« Sicher auch ein Teil der Motivation auf Seiten von Amazon war und ist es dabei, der Gewerkschaftskampagne Wind aus den Segeln zu nehmen und das strukturelle Problem der Gewerkschaft gerade bei Amazon, genügend kampfbereite Mitglieder in den Belegschaften zu finden, zu verstärken bzw. wenigstens zu stabilisieren. Das hängt auch damit zusammen, dass dort viele einen Job gefunden haben, die entweder aus der Langzeitarbeitslosigkeit kommen und/oder die um ihre Ersetzbarkeit in der Amazon-Maschinerie wissen. Bei Amazon in Bad Hersfeld ist nur ein Fünftel der Beschäftigen gewerkschaftlich organisiert. Hinzu kommt, dass Amazon stets in der Vorweihnachtszeit mehrere tausend Hilfskräfte zusätzlich einstellt, die an Arbeitskampfmaßnahmen kein Interesse haben, so Stefan Sauer in seinem Beitrag. Um den Ausflug in die aktuelle Frontberichterstattung abzurunden: Sauer weist in seinem Artikel drauf hin, dass es durchaus Alternativen gibt zu der Vergütung bei Amazon, »wenn etwa das Gehaltsniveau des weltweit zweitgrößter Versandhändlers, der Otto Group, erreicht würde.  Amazons größter Konkurrent mit weltweit 53.000 Mitarbeitern unterwirft sich nämlich seit Jahren dem Einzelhandelstarifvertrag – und bezahlt mittlerweile sogar mehr. Das Credo der Hamburger lautet: Gut bezahlte Mitarbeiter sind motivierte Mitarbeiter und die nützen dem Unternehmen.«

Das Thema Arbeitsbedingungen umfasst aber nicht nur die Lohnfrage. Dazu sei hier auf ein interessantes Interview mit dem französischen Journalisten Jean-Baptiste Malet hingewiesen, das unter dem Titel „Die Roboter von Amazonien“ veröffentlicht worden ist. Der 26-Jährige hat sich für mehrere Wochen als Arbeiter ins Amazon-Versandlager von Montélimar geschleust. „Work hard. Have fun. Make history“, so lautet der Slogan, der in allen Amazon-Lagerhallen der Welt plakatiert ist, wobei lediglich der erste Teil zutreffend sei. Malet sieht ein totalitäres Arbeitssystem, das wir allerdings auch aus anderen US-amerikanischen Unternehmen kennen mit dieser eigenartigen künstlich hergestellten bzw. erzwungenen Laune:

»Vor Arbeitsbeginn feuern die Manager die Arbeiter in euphorischen Reden an, „sich selbst zu übertreffen“. Sie sollen „Top Performer“ werden, denen dann alle applaudieren müssen. Und all das, obwohl es sich um eine anstrengende, unangenehme, unqualifizierte Arbeit handelt, die man nur sehr schwer länger als fünf Jahre durchhält.«

Die »Produktivität (der Arbeitnehmer) wird gespeichert. Und sie erhalten schriftliche Mahnungen, wenn sie sich nicht mehr steigern. Sie werden vorgeladen und müssen über ihre vermeintliche Langsamkeit Rechenschaft ablegen – oder gleich ihre Sachen packen … Die Arbeiter werden ständig überwacht – durch einen kleinen Scancomputer, mit dem sie die Waren einlesen und die Standorte der Artikel abfragen. Die Maschine hängt an einem WLAN-Netzwerk und teilt dem Chef die exakte Position jedes Arbeiters mit. Auch der Arbeitsrhythmus und die Produktivität werden sekundengenau aufgezeichnet.«

Malet beschreibt seinen befristeten Arbeitsalltag bei Amazon so:

»Es gibt dort zwei Arten von Jobs: Die „Picker“ sammeln die verschiedenen Produkte ein, die die „Packer“ dann einpacken. Ich habe als Picker in der Nachtschicht gearbeitet, von 21.30 Uhr bis 4.50 Uhr bin ich oft mehr als zwanzig Kilometer gelaufen. Mein Stundenlohn lag bei 9,72 Euro brutto. Vor jeder Schicht kündigten die Manager die Produktivitätsziele an, im Schnitt sollte ich zwischen 120 und 130 Artikel pro Stunde erreichen.«

Die folgenden Ausführungen von Malet geben einen tieferen Einblick in diese „neue Arbeitswelt“, die irgendwie uralt daherkommt:

»Man begegnet nicht mehr wirklich Kollegen, sondern abgestumpften Robotern, die aussehen wie Menschen. Amazon verwendet das sogenannte 5S-Management in seinen Lagern. Dieses System stammt aus Japan und lässt sich auf Deutsch mit 5A übersetzen: Aufräumen, Aussortieren, Anordnungen befolgen, Arbeitsplatz sauber halten – und „Anomalien signalisieren“. Das kann ein Karton sein, der einen Eingang verstopft – aber auch zwei Kollegen, die die Regeln missachten. Denunziation wird bei Amazon gefördert und belohnt. Sie ist ein Mittel, um in der Hierarchie aufzusteigen. Das vergiftet das Klima unter den Arbeitern total …«

Malet wird in dem Interview natürlich auch konfrontiert mit dem berühmten Arbeitsplatz-Argument, Amazon schaffe doch Beschäftigung und dann nicht selten auch für Menschen, die vorher arbeitslos waren.

»Jedes Mal, wenn Amazon bei einer Lagereröffnung lokal Stellen „schafft“, zerstört das Unternehmen gleichzeitig unzählige Arbeitsplätze im traditionellen Handel der Umgebung. Meine Studien zeigen, dass Amazon für dieselbe Anzahl an verkauften Büchern 18-mal weniger Arbeiter braucht als ein unabhängiges Buchgeschäft.«

Nun könnte man an dieser Stelle einwenden, ja, schlimme Entwicklungen da in den unteren Etagen des Arbeitsmarktes, aber wir haben doch so viele schöne Jobs für die mit den weißen Kragen, die in klimatisierten Büros arbeiten dürfen, auf deren Work-Life-Balance Rücksicht genommen wird, denen man PE-Maßnahmen und sogar zunehmend Gesundheitsmanagement zukommen lässt. Also die schöne Seite der modernen Arbeitswelt. Wer sich hier etwas irritieren lassen will, der möge sich den lesenswerten Artikel „Willkommen in der Bürofabrik“ von Dieter Schnaas anschauen: »Der Fortschritt ist keine Schnecke, sondern ein Huhn – meinen Forscher, die unter “Office Innovation” die Unterbringung ihrer Mitarbeiter in “Bürolandschaften mit Raumgliederungselementen” verstehen.« Schnaas spricht zutreffend von einer „Proletarisierung der Büroarbeit“ und sinniert über die Zukunft geistiger Legebatterien. Mit einem semantischen Zynismus macht der Verfasser eine tour d’horizon durch die angeblich schöne neue Büro-Arbeitswelt. Aber vorweg zu den Grundlagen:

»Heute …, nach dem Fall der Mauer und dem Vergehen der Sowjetunion, hält sich der zivilisierte Teil der Menschheit im ideologischen Abklingbecken auf, frisch geimpft mit dem kosmopolitischen Geist von Good Governance, Globalization und Green Sustainability – und vertraut auf andere, auf strahlend weiße Fortschrittskonzepte, wie sie etwa liberale Ökonomen, Amazon-Apple-Designer, Genetiker und Reproduktionsmediziner propagieren. In diesen Konzepten ist viel von der Entfesselung kreativer Kräfte die Rede und von der Bildung, Pflege und Vermehrung des  Humankapitals, von den wunderbaren Möglichkeiten des präimplantationstechnischen Feintunings und den Segnungen algorithmischer Assistenzsysteme, die uns kognitiv entlasten, indem sie uns die schöne, neue Konsumwelt unseren Vorlieben gemäß, wie auf dem Tablett servieren. Diese Konzepte erzählen uns von digital-individuellen, selbstbestimmten, unternehmerischen Café-Latte-Personen, die viel auf ihre Flexibilität halten – und von jungen Arbeitsathleten, für die “die Vereinbarkeit von Familie und Beruf” ein Kinderspiel ist, weil ein Laptop überall da und jederzeit plug-and-play-bereit ist, wo sich der ursprünglich petrischal aufgezüchtete Nachwuchs gerade effektiv frühbildet.«

Nach dieser semantischen Aufwärmphase wird der Verfasser konkreter: Das Fraunhofer Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) in Stuttgart beherbergt ein “multidisziplinäres Forscherteam” im “Competence Center Workspace Innovation” an Konzepten zur Optimierung unserer Arbeitswelten. Und was sagen die zum „Büro der Zukunft“? »Das Büro der Zukunft zeichne sich durch “kollaborative Arbeit in Teambüros”, “räumliche  Flexibilität bei der Arbeitsplatzauswahl”, durch “Bereiche, die zur Kreativität anregen und Inspiration ermöglichen” und durch “Zonen” aus, in denen “Recreation bereitgestellt” wird.« Hört sich doch toll an.
Schnaas hat eine andere Lesart parat:

»Ins Normaldeutsche übersetzt heißt das: Großraumbüros ohne festen Arbeitsplatz,  aber mit geteilter Chaise-Lounge für den gezielten Geistesblitz und mit Ruhebezirken für den effektiven Fünf-Minuten-Schlaf sind so ziemlich genau das, was sich deutsche Spitzenforscher unter dem “Büro der Zukunft” vorstellen.«

Schnaas arbeitet sich ab an einem knapp vierminütigen Werbefilm für die Bürowelt der Zukunft aus dem „Office Innovation Center“ – und er weiß erst einmal nicht wohin mit seiner Fassungslosigkeit:
»Die gleichzeitige Verheiligung des kreativ arbeitenden Individuums und seine totale Degradierung zu einem Kosten- und Produktionsfaktor, zu einer zahlenhaften, vermessbaren, buchhalterischen Größe, machen einen schier sprachlos.«

Seine Fassungslosigkeit bezieht sich vor allem darauf, dass auf die Entproletarisierung der Arbeiterschaft nun die Proletarisierung der Büroarbeit folgen soll. Denn darum gehe es doch ei der »Implementierung von Kollektivarbeitsflächen: um die Standardisierung von Denkprozessen zur Erzielung von Skaleneffekten, um das Heben von Produktivitätsreserven durch das Ausmerzen von Störfaktoren. Anders gesagt: Früher, im Industriekapitalismus, ging die körperliche Gesundheit der Arbeiter vor die Hunde. Heute, im Wissenskapitalismus, dem linierte Fachkompetenz heilig und Bildung ein Gräuel ist, geht der Geist zugrunde.«

Nun will er den Stuttgarter Forschern kein Unrecht tun und weist darauf hin, dass das eine oder andere Einzelbüro, in dem “konzentriertes selbständiges Arbeiten” möglich ist, durchaus vorgesehen sei. Aber auch hier schnell wieder Wasser in den Wein, wir ahnen es schon: Diese Einzelbüros sind exklusiv für besonders funktionelle Mitarbeiter reserviert. Auch hier wieder eine gelungene Kommentierung:

»Es sind Spitzenkräfte, die Subordinierten den  Aufbau gutnachbarschaftlicher Verhältnisse empfehlen und sie beim Herausgehen bitten, doch freundlichst die Türe zu schließen. Es sind Chefs, die viel von den Vorzügen “flacher Hierarchien” halten, solange sie die Funktionstüchtigkeit des Großraumheeres erhöhen – und solange ihre eigene Befehlsgewalt  einen büroräumlich-stattlichen Ausdruck findet.«

Der Liberale Dieter Schnaas regt sich auf – und zwar über die

»… Unverschämtheit, mit der die “liberale Elite” wochentags das Gegenteil von dem exekutiert, von dem sie sonntags unredlich spricht. Sie redet gern in höchsten Tönen von der “Freiheit des Individuums” – und richtet es im Arbeitsalltag zu einem möglichst monoton schnurrenden Wegarbeiter ab. Nachdenken, Zögern, Zaudern, das alles sind für einen ausgezeichneten Büroproletarier keine Qualitäten, sondern Funktionsstörungen. Es ist gewiss kein Zufall, dass die “cubicle offices” als “trading rooms” besonders von Finanzdienstleistern geschätzt werden: Die Börsen sind heute ja geradezu sprichwörtlich als exklusive Bezirke definiert, in denen die Mitarbeiter auf alles Menschliche (Gefühle) verzichten, um die Optimierung abstrakter Zwecke auf die Profitspitze zu treiben.«

Ein ätzender, aber zutreffender Text. Wer das, was Schnaas hier angesprochen hat, auf einer visuellen Ebene braucht, dem sei an dieser Stelle ganz besonders der Film „Work Hard – Play Hard“ von Carmen Losmann (2011) empfohlen, der in eindringlichen Bildern den Terror, weil Menschenfeindlichkeit „moderner“ Arbeitswelten anzuleuchten versucht.