Vermesssungsversuche der Menschen ohne Wohnung. Ein Lichtblick in der Dunkelkammer der Statistik

Man kennt das – zum einen verstricken wir uns gerne in Zahlenwerke, über deren Sinnhaftigkeit man mit guten Gründen streiten kann und manche verlieren eher den Durchblick als dass die Statistiken weiterhelfen auf dem Weg der Erkenntnis. Aber dann stößt man immer wieder auf Situationen, in denen man eine an sich einfache Frage stellt – beispielsweise die nach der Zahl der obdachlosen Menschen – und damit überrascht wird, dass die Antwort lautet: Wissen wir nicht. Dazu liegen keine Daten vor.

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Die unter die Räder kommen. Unsichtbare etwas sichtbarer machen. Obdachlose und die Medien

In diesen Tagen wird die Welt auf Hamburg schauen, denn dort wird der G20-Gipfel der Staats- und Regierungschefs stattfinden und mit ihm zahlreiche Proteste dagegen. Wenn man so ein Hochsicherheitsereignis in einer Metropole wie Hamburg meint stattfinden lassen zu müssen, dann wird einiges unter die Räder kommen. Darunter leiden wie immer die Schwächsten der Schwachen unserer Gesellschaft. Nur so kann man solche Überschriften verstehen und einordnen: G20: Wohlfahrtsverbände gegen Vertreibung von Obdachlosen. Ein Bündnis von Hamburger Wohlfahrtsverbänden hat an die Hansestadt appelliert, zum G20-Gipfel Obdachlose nicht aus dem öffentlichen Raum zu vertreiben. Neben der Diakonie hatten rund 30 weitere Organisationen wie Caritas und Heilsarmee den Protestbrief unterschrieben. Darin fordern die Verbände unter anderem akzeptable Unterkünfte für alle wohnungslosen Menschen. »Der Vertreibungsdruck war im größeren Innenstadtbereich auch vor dem G20-Treffen schon stark, nun hat er sich nochmal verschärft.« Der kurze Moment des internationalen Großereignisses macht auch Randbereiche, die normalerweise im Dunkeln liegen, erkennbar – wenn man denn hinsehen will: »Obdachlose Menschen machten sichtbar, dass es auch in einer reichen Stadt wie Hamburg Not und Elend gebe, heißt es in dem gemeinsamen Papier. Die G20-Regierungen seien zudem mitverantwortlich für weltweite Migrations- und Fluchtbewegungen aufgrund von Kriegen, Hunger und Verarmung. In Hamburg gibt (es) … rund 2.000 Menschen, die auf der Straße leben müssen.«

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Wohnungslosigkeit: Kein wirkliches Dach über dem Kopf. Inmitten der statistischen Dunkelheit ein Lichtblick aus Nordrhein-Westfalen mit zugleich trauriger Botschaft

Vor einem Jahr, am 29. Juli 2015, wurde hier der Beitrag Die Zahl der Rindviecher geht, die der Übergewichtigen geht auch. Aber Obdachlose sollen nicht gehen. In der Statistik veröffentlicht. Darin wurde problematisiert, dass es in Deutschland keine bundeseinheitliche Wohnungsnotfall-Berichterstattung auf gesetzlicher Grundlage gibt. Seit Jahren fordert das beispielsweise die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW), die auch regelmäßig Zahlen zu den wohnungslosen Menschen veröffentlicht, die aber aufgrund der statistischen Leerstelle immer auf Schätzungen basieren müssen (vgl. hierzu Keine Wohnungslosenstatistik in Deutschland – nur Schätzung möglich). Die Schätzergebnisse: »2014 waren ca. 335.000 Menschen in Deutschland ohne Wohnung – seit 2012 ist dies ein Anstieg um ca. 18 %. Die Zahl der Menschen, die „Platte machen“, die also ohne jede Unterkunft auf der Straße leben, stieg seit 2012 um 50 % auf ca. 39.000 in 2014 (ca. 26.000 in 2012).« So die BAGW.

Aber warum gibt es keine genauen Zahlen? „Es gibt keinen technischen Grund. Die Bundesregierung befasst sich nicht mit dem Thema, weil öffentlich verfügbare Daten das Problem jedes Jahr wieder auf den Tisch legen würden“, so Thomas Specht, Geschäftsführer der BAGW. Und im vergangenen Jahr wurde berichtet, dass die Grünen im Bundestag über eine Anfrage  an die Bundesregierung (Einführung einer bundesweiten Wohnungs- und Obdachlosenstatistik, BT-Drs. 18/5345) wissen wollten, was es denn mit der fehlenden Statistik auf sich habe. Sie bekamen auch eine Antwort (BT-Drs. 18/5654). Und der konnte man entnehmen: »Eine Wohnungslosenstatistik sei nicht realisierbar, weil der „finanzielle und bürokratische Aufwand für die Einführung einer neuen Statistik auf Bundesebene mit sehr begrenzter Aussagekraft nicht zu rechtfertigen“ sei.«

Aber bereits im vergangenen Jahr wurde auch darauf hingewiesen, dass es Lichtblicke in dieser Welt des statistischen Nicht-Wissen-Wollens gibt: Innerhalb der Bundesrepublik Deutschland gibt es sehr wohl eine offizielle Statistik zur Wohnungslosigkeit – im Bundesland Nordrhein-Westfalen. Seit Jahrzehnten werden dort Daten von den Kommunen abgefragt, um „ordnungsrechtlich Untergebrachte“ zu erfassen, Menschen, die beispielsweise in Notunterkünften wohnen. Seit 2011 werden diese Zahlen ergänzt, indem das Land die freien Träger fragt, wie viele Wohnungslose bei ihnen „sozialhilferechtlich“ untergebracht sind.

Und das Bundesland Nordrhein-Westfalen hat nun die Wohnungslosenstatistik 2015 veröffentlicht, eine Stichtagserhebung zum 30. Juni 2015. Berücksichtigt wurden Personen, die in Obdachlosenunterkünften, in anderen Einrichtungen oder bei Bekannten untergekommen waren:

Ministerium für Arbeit, Integration und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen: Integrierte Wohnungsnotfall-Berichterstattung 2015 in Nordrhein-Westfalen. Struktur und Umfang von Wohnungsnotfällen, Düsseldorf 2016

Matthias Korfmann hat seinen Artikel zu den neuen Zahlen so überschrieben: Mehr Menschen in NRW sind ohne feste Wohnung. »Rund 21.000 Menschen hatten im vergangenen Jahr in NRW keine Wohnung. Das sind etwa 5.000 Wohnungslose mehr als im Jahr 2011 und 500 mehr als im Vorjahr.«
Etwa jeder zwölfte Wohnungslose ist jünger als 18 Jahre. Drei Viertel der Betroffenen sind Männer. Etwa jeder Dritte hat einen Migrationshintergrund. Interessant vor dem Hintergrund der allgemeinen Armutsdiskussion, in der immer wieder darauf hingewiesen wird, dass im Ruhrgebiet die Armutsquoten steigen und sich die Probleme hier immer weiter verstärken:

»Obdachlosigkeit ist demnach vor allem in den großen rheinischen Städten ein Thema, nicht so sehr im Ruhrgebiet. Mitte 2015 wurden in Düsseldorf 29 Wohnungslose je 10.000 Einwohner gezählt. Insgesamt waren dort 1750 Menschen betroffen. In Köln lebten 4683 Wohnungslose (45 je 10.000 Einwohner), in Bonn 683 (22 je 10.000 Einwohner). Zum Vergleich: In Duisburg hatten drei von 10.000 Einwohnern keine feste Wohnung, in Gelsenkirchen vier und in Essen 15. Relativ viele Wohnungslose gibt es in Münster und Bielefeld.«

Der Flüchtlingszuzug spielt in dieser Statistik fast keine Rolle, weil die Kommunen bis zu diesem Zeitpunkt nur wenige Flüchtlinge aufgenommen hatten.

Das Ministerium selbst hat sich natürlich auch zu Wort gemeldet: NRW setzt verstärkt auf die Prävention von Wohnungslosigkeit. Sozialminister stellt Wohnungslosenstatistik 2015 vor: »Das Sozialministerium habe sein Aktionsprogramm „Hilfen in Wohnungsnotfällen“ neu justiert und werde künftig präventive Ansätze verstärkt fördern.«

Und wie soll das geschehen?

»In diesem Jahr sind zwei vom Land geförderte Modellprojekte zur Prävention neu angelaufen. Im Rhein-Sieg-Kreis betreibt der SKM (Katholischer Verein für Soziale Dienste im Rhein-Sieg-Kreis e.V.) eine zentrale Fachstelle zur präventiven Wohnungsnotfallhilfe. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter helfen bei Mietschulden, Kündigungen, Räumungsklagen und Zwangsräumungen durch Beratung und Begleitung der Betroffenen. Die jeweiligen Kommunen und Gemeinden reichen eingehende Räumungsklagen an die Fachstelle weiter, die dann umgehend den Kontakt zu den Betroffenen sucht, um einen Wohnungsverlust nach Möglichkeit noch zu vermeiden.

Und im Oberbergischen Kreis entwickelt die Diakonie Michaelshoven gemeinsam mit allen verantwortlichen kommunalen Akteuren und Jobcentern ein Konzept zur Prävention von Wohnungslosigkeit. Menschen, denen ein Verlust ihrer Wohnung droht, sollen ein auf ihre individuelle Situation zugeschnittenes Hilfeangebot erhalten. Dies beispielsweise durch frühzeitige Kontaktaufnahme sowie Beratung und Unterstützung bei der Beantragung von Mietschuldenübernahmen etc.

Mit seinem Aktionsprogramm gegen Wohnungslosigkeit unterstützt das Sozialministerium die für die Unterbringung wohnungsloser Menschen zuständigen Kommunen sowie freie Träger der Wohnungslosenhilfe unter anderem durch die Förderung von Modellprojekten. Hierfür stehen jährlich 1,12 Millionen Euro zur Verfügung.«

Und was sagt das Ministerium zu dem Anstieg der Zahl der wohnungslosen Menschen in Nordrhein-Westfalen?

»Die seit dem Jahr 2011 völlig neu gestaltete Statistik liefert sehr viel konkretere Aussagen über Art und Umfang der Wohnungslosigkeit als je zuvor. Außerdem erfasst sie erstmals neben den von den Kommunen ordnungsrechtlich untergebrachten Wohnungslosen auch Personen, die von den freien Trägern betreut werden … In der ersten Wohnungslosenstatistik für NRW im Jahr 2011 wurden insgesamt 15.826 wohnungslose Menschen gezählt. Die höheren Zahlen für die Folgejahre sind ganz wesentlich auf eine methodisch verbesserte Erfassung von Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe und zusätzliche Maßnahmen zur Qualitätskontrolle zurückzuführen. Eine Vergleichbarkeit der Zahlen für die einzelnen Jahre wird erst nach einer Konsolidierung der statistischen Erfassung möglich sein.«

Angesichts der Tatsache, dass es sich beim Thema Wohnen um eine existenzielle Angelegenheit handelt, sind diese Zahlen beunruhigend und eine Aufforderung zum Handeln. Wobei das einfacher daherkommt, als es in der Praxis dann ist. Zugleich werden wir mit der realistischen Gefahr konfrontiert, dass die Zahlen weiter und stärker ansteigen werden, wenn man sich anschaut, welche Verwerfungen wir derzeit schon haben auf vielen lokalen Wohnungsmärkten im Segment des billigen Wohnraums. Das wird ohne massives Gegensteuern in der vor uns liegenden Zeit weiter stark zunehmen.

Aber: Erneut zeigt sich, dass solche notwendigen Debatten nicht stattfinden oder es sehr schwer haben, wenn es gar kein Datenmaterial gibt. Insofern muss man sagen, wenigstens hat Nordrhein-Westfalen eine Wohnungslosenstatistik und andere Bundesländer sowie der Bund sollten sich daran ein Beispiel nehmen.

Foto: © Reinhold Fahlbusch