In diesen Tagen wird die Welt auf Hamburg schauen, denn dort wird der G20-Gipfel der Staats- und Regierungschefs stattfinden und mit ihm zahlreiche Proteste dagegen. Wenn man so ein Hochsicherheitsereignis in einer Metropole wie Hamburg meint stattfinden lassen zu müssen, dann wird einiges unter die Räder kommen. Darunter leiden wie immer die Schwächsten der Schwachen unserer Gesellschaft. Nur so kann man solche Überschriften verstehen und einordnen: G20: Wohlfahrtsverbände gegen Vertreibung von Obdachlosen. Ein Bündnis von Hamburger Wohlfahrtsverbänden hat an die Hansestadt appelliert, zum G20-Gipfel Obdachlose nicht aus dem öffentlichen Raum zu vertreiben. Neben der Diakonie hatten rund 30 weitere Organisationen wie Caritas und Heilsarmee den Protestbrief unterschrieben. Darin fordern die Verbände unter anderem akzeptable Unterkünfte für alle wohnungslosen Menschen. »Der Vertreibungsdruck war im größeren Innenstadtbereich auch vor dem G20-Treffen schon stark, nun hat er sich nochmal verschärft.« Der kurze Moment des internationalen Großereignisses macht auch Randbereiche, die normalerweise im Dunkeln liegen, erkennbar – wenn man denn hinsehen will: »Obdachlose Menschen machten sichtbar, dass es auch in einer reichen Stadt wie Hamburg Not und Elend gebe, heißt es in dem gemeinsamen Papier. Die G20-Regierungen seien zudem mitverantwortlich für weltweite Migrations- und Fluchtbewegungen aufgrund von Kriegen, Hunger und Verarmung. In Hamburg gibt (es) … rund 2.000 Menschen, die auf der Straße leben müssen.«
Wenn denn mal über Obdachlose und Wohnungslosigkeit berichtet wird, dann beziehen sich die Medien, die etwas recherchieren, in aller Regel auf Zahlen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe. Unter dem Stichwort Zahl der Wohnungslosen findet man gleich am Anfang diesen „Warnhinweis“, der den Finger auf eine große Wunde legt: „Keine Wohnungslosenstatistik in Deutschland – nur Schätzung möglich“. Deshalb können aufgrund der schlechten Datenlage nur Schätzungen der Zahl der wohnungslosen und der von Wohnungslosigkeit bedrohten Menschen vorgelegt werden. Mit diesen Einschränkungen angesichts der Datenlage wird von folgenden Zahlen berichtet:
»Die BAG Wohnungslosenhilfe (BAG W) ermittelt einen drastischen Anstieg der Wohnungslosigkeit in Deutschland: 2014 waren ca. 335.000 Menschen in Deutschland ohne Wohnung – seit 2012 ist dies ein Anstieg um ca. 18 %.
Die Zahl der Menschen, die „Platte machen“, die also ohne jede Unterkunft auf der Straße leben, stieg seit 2012 um 50 % auf ca. 39.000 in 2014 (ca. 26.000 in 2012).
Ca. 239.000 (71 %) der wohnungslosen Menschen sind alleinstehend, 96.000 (29 %) leben mit Partnern und/oder Kindern zusammen. Bezogen auf die Gesamtgruppe der im Jahr 2014 Wohnungslosen schätzt die BAG W die Zahl der Kinder und minderjährigen Jugendlichen auf 9 % (29.000), die der Erwachsenen auf 91 % (306.000). Der Anteil der erwachsenen Männer liegt bei 72 % (220.000); der Frauenanteil liegt bei 28 % (86.000) und ist seit 2012 um 3 % gestiegen. Der Anteil wohnungsloser Menschen mit Migrationshintergrund liegt mit 31 % bei knapp einem Drittel. 2012 waren es noch 27% … In 2014 waren ca. 172.000 Haushalte (2012: 144.000) vom Verlust ihrer Wohnung unmittelbar bedroht. In ca. 50 % der Fälle konnte die Wohnung durch präventive Maßnahmen erhalten werden. Doch insgesamt gab es 86.000 neue Wohnungsverluste in 2014: davon ca. 33.000 (38 %) durch Zwangsräumungen und ca. 53.000 (62 %) sog. „kalte“ Wohnungsverluste. Beim „kalten“ Wohnungsverlust kommt es nicht zur Zwangsräumung, sondern die Mieter und Mieterinnen, vor allem alleinstehende, „verlassen“ die Wohnung ohne Räumungsverfahren oder vor dem Zwangsräumungstermin. Ein ausschließlicher Blick auf die Zwangsräumungszahlen verkennt das Ausmaß neu entstehender Wohnungslosigkeit.«
Man muss allerdings anmerken, dass es einige Bundesländer gibt, die bereits genauer bei diesem Thema hinschauen: Hamburg, Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und Bayern erfassen bereits seit einigen Jahren gezielt Daten zu Obdachlosigkeit. Allerdings gibt es noch keine bundesweiten Standards für eine solche Erhebung.
Vor diesem Hintergrund ist so etwas von Interesse: Dieses Projekt deckt Zahlen zu Berliner Obdachlosigkeit auf. Ein hoher Anspruch: »Gibt es immer mehr Obdachlose in Berlin? Schaut man auf die Straßen oder in U- und S-Bahn, könnte man diesen Eindruck gewinnen. Aber diesen „gefühlten Wahrheiten“ lässt sich etwas entgegensetzen – nämlich Daten, Fakten und Zahlen.« 16 Volontärinnen und Volontäre der Evangelischen Journalistenschule Berlin haben genau dies getan.
»Für ihr Datenjournalismus-Projekt auf der Webseite www.obdachlosinberlin.de fragten sie Ämter, Hilfseinrichtungen und Verwaltungen an. Die verfügbaren Daten flossen in sechs Teilprojekte ein, die Themen wie Frauen in der Obdachlosigkeit und Finanzierung von Hilfsangeboten umfassen. Grafiken, Fotos, Texte, Videos und Interviews setzen die Daten in Zusammenhang und zeichnen ein Bild über Obdachlosigkeit in Berlin.«
Aber auch die angehenden Journalisten haben sich an manchen Stellen die statistischen Zähne ausgebissen:
Niemand weiß, »wie viele Obdachlose es tatsächlich in Berlin gibt – auch die Volontäre konnten dies nicht abschließend herausfinden. Schätzungen reichen von 3.000 (Deutsche Presseagentur) bis hin zu 10.000 Menschen (Bahnhofsmission Zoologischer Garten). Hinzu kommen laut Berliner Senatsverwaltung für Soziales etwa 16.000 Wohnungslose. Als wohnungslos gilt, wer auf Zeit in einer staatlichen Unterkunft lebt.«
Natürlich kann man die Frage stellen, warum es denn so wichtig sein soll, die Zahlen zu erheben. Auch wenn einem das nicht gefällt – ohne Zahlen, wie viele Menschen von Wohnungslosigkeit betroffen sind oder gar „auf der Straße“ leben, gibt es in vielen Bereichen der Politik und der Medien dieses Problem schlichtweg nicht. Handlungsdruck für die Politik setzt immer auch eine Quantifizierung des Problems voraus und darüber hinaus kann der Umfang an Hilfsangeboten nicht angemessen berechnet werden.
Aber das Projekt „Obdachlos in Berlin“ der Volontäre geht über die Frage, wie viele es denn sind, weit hinaus, greift es doch auch immer wieder vorgetragene Vor-Urteile über obdachlose Menschen auf und geht ihnen am Berliner Beispiel nach. Beispiele:
„Nur Männer werden obdachlos“: »Schätzungen zufolge leben etwa 2.500 obdachlose Frauen in Berlin. Bundesweit gibt es momentan laut Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. knapp 86.000 Frauen, die ohne Bleibe sind. Dies sind gegenwärtig 28 Prozent aller Obdachlosen in Deutschland, in den 1990er Jahren betrug ihr Anteil nur 15 Prozent. Viele von ihnen haben Gewalt erlebt, zeigen psychische Auffälligkeiten und haben Schwierigkeiten, einen geregelten Alltag zu führen. Oft bleiben obdachlose Frauen auch unbemerkt, weil sie Wert darauf legen, im Stadtbild „normal“ auszusehen und nicht anzuecken. Ein Teil der Frauen geht auch Zweckbeziehungen mit Männern ein, bei denen sie Sex und Hausarbeit gegen einen Schlafplatz tauschen. Denn das Berliner Angebot allein kann den Bedarf an frauengerechten Unterkünften nicht decken: Insgesamt gibt es in den Wintermonaten nur 77 Betten in sieben Frauenunterkünften. Von April bis Oktober reduziert sich die Bettenzahl auf 31. Zudem meiden viele obdachlose Frauen Quartiere, wo sie nicht von Männern getrennt übernachten können.« Zu diesem Thema vgl. auch den Beitrag Unauffällig, nicht sichtbar, verdeckt. Und es werden mehr. Frauen und Obdachlosigkeit vom 9. Februar 2015.
„In Deutschland muss niemand obdachlos sein“: »Obdachlosigkeit ist komplex. So bestätigt die SEEWOLF-Studie aus München seit 2011, dass Obdachlose viel stärker als die Restbevölkerung von psychischen Erkrankungen wie Depressionen, Schizophrenie und sozialen Störungen betroffen sind. Zum Teil sind diese Erkrankungen sowie ein schwaches soziales Umfeld auch der Grund, warum die Menschen überhaupt aus den existierenden Hilfesystemen herausfallen.«
Nun wird der eine oder andere einwenden, es wird doch staatlicherseits einiges versucht, um Obdachlosigkeit zu verhindern oder deren Folgen zu vermindern. Schauen wir auch hier auf Berlin:
Die Ausgaben des Senats für die Obdachlosenhilfe sind seit 2010 von 4,2 Millionen auf 5,6 Millionen Euro gestiegen.
Ist das jetzt viel oder nicht? In dem Artikel von Sylvia Lundschien wird dieser Vergleich gezogen:
»Die Betriebskosten der Flughafenbaustelle BER betragen innerhalb einer Woche von Montagmorgen bis Donnerstagnachmittag allein 5,8 Millionen Euro.«
Zuweilen können auch nackte Zahlen zum Nachdenken anregen.
Foto: © Stefan Sell