Man kennt das – zum einen verstricken wir uns gerne in Zahlenwerke, über deren Sinnhaftigkeit man mit guten Gründen streiten kann und manche verlieren eher den Durchblick als dass die Statistiken weiterhelfen auf dem Weg der Erkenntnis. Aber dann stößt man immer wieder auf Situationen, in denen man eine an sich einfache Frage stellt – beispielsweise die nach der Zahl der obdachlosen Menschen – und damit überrascht wird, dass die Antwort lautet: Wissen wir nicht. Dazu liegen keine Daten vor.
Diese für den einen oder anderen erstaunliche Erfahrung angesichts der Tatsache, dass es sich doch bei den Obdachlosen um Menschen in einer nun wirklich für alle wahrnehmbaren Notlage handelt, wurde auch in diesem Blog immer wieder thematisiert: »Nicht selten trifft man in Deutschland auf die verfestigte Meinung, wir seien ein Land der Statistik-Junkies. Alles wird gezählt. Die Zahl der (noch) lebenden Schafe, die der verkauften und versteuerten Zigaretten. Selbst die Umsätze im horizontalen Gewerbe werden mittels Näherungsverfahren geschätzt, was nicht ohne Aufwand abgeht. Das letzte Beispiel verdeutlicht aber auch, dass die Produktion von Zahlen in der Regel – von durchaus immer auch vorhandenen skurrilen Ausnahmen abgesehen – interessengeleitet ist, denn die Abschätzung der Einnahmen der Prostituierten dient als Ausgangsbasis für die Heranziehung dieser Personen zur Entrichtung von Steuern«, so beginnt beispielsweise der Beitrag Die Zahl der Rindviecher geht, die der Übergewichtigen geht auch. Aber Obdachlose sollen nicht gehen. In der Statistik vom 29. Juli 2015.
Immer wieder wird dann die Kritik vorgetragen, dass es keinen offiziellen statistischen Blick auf die Wohnungslosen und die Obdachlosen gibt – wobei man korrekterweise anmerken muss, dass es einige Bundesländer gibt, die bereits genauer bei diesem Thema hinschauen: Hamburg, Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und Bayern erfassen bereits seit einigen Jahren gezielt Daten zu Obdachlosigkeit. Allerdings gibt es noch keine bundesweiten Standards für eine solche Erhebung.
Und am 2. Juli 2017 wurde hier unter der Überschrift Die unter die Räder kommen. Unsichtbare etwas sichtbarer machen. Obdachlose und die Medien darüber berichtet, dass Nachwuchsjournalisten ein Datenprojekt für Berlin gestartet haben, ein wenig mehr Licht in diese Dunkelkammer zu bringen. Ein Ergebnis ihrer Arbeit war die Website obdachlosinberlin.de.
Ansonsten greift man dann immer wieder auf die Statistiken der BAG Wohnungslosenhilfe zurück. Und wenn man auf deren Website vorbeischaut, dann findet man solche Meldungen: BAG Wohnungslosenhilfe: 860.000 Menschen in 2016 ohne Wohnung. Prognose: 1,2 Millionen Wohnungslose bis 2018. Nur muss man hier anmerken, dass die Zahlen, die dann gerne zitiert werden, weitaus genauer daherkommen als sie in Wirklichkeit sind bzw. sein können, denn auch hier wird notwendigerweise mit Schätzungen und Pi-mal-Daumen-Werten gearbeitet.
Um es gleich voran zu stellen: An diesem Grundproblem hat sich nichts geändert und wird sich absehbar angesichts des Widerstands der Politik gegen eine bundesweit einheitliche und vergleichbare Zählung dieser Menschen auch nichts ändern. Aber die Versuche, ein wenig mehr statistisches Licht auf diesen dunklen Fleck zu richten und dabei nicht nur quantitative, sondern auch qualitative Erkenntnisse zu Tage zu fördern, lassen dankenswerterweise nicht nach.
So kann Florian Diekmann unter der viel versprechenden Überschrift So leben Menschen ohne Wohnung berichten: »Sie führen ein Dasein im Schatten der Gesellschaft. Nun zeigt die erste systematische Untersuchung: Unter Wohnungslosen gibt es Nöte und Sorgen, aber auch viel Optimismus. Und in einem Punkt versagt die Politik.« Auch er weist auf das Fehlen von Zahlen zur Größenordnung der Personengruppe hin und darüber hinaus: »Erst recht gab es bislang keine belastbaren Daten über die Lebenssituation von Wohnungslosen, ihre Bedürfnisse und ihren Mangel. Dabei sind derartige Daten Voraussetzung dafür, dass die Politik Probleme erkennen und angehen kann.«
Der Evangelische Bundesfachverband der Wohnungsnotfall- und Straffälligenhilfe (EBET) wollte das ändern und hat eine Studie in Auftrag gegeben, die nun veröffentlicht wurde (vgl. dazu auch: Erste systematische Untersuchung der Lebenslagen wohnungsloser Menschen):
➔ Susanne Gerull (2018): 1. systematische Lebenslagenuntersuchung wohnungsloser Menschen. Eine Studie der ASH Berlin in Kooperation mit EBET e. V., Berlin, September 2018
Florian Diekmann liefert eine Zusammenfassung einiger wichtiges Aspekte aus dieser Studie. Zum methodischen Vorgehen erfahren wir:
»1.135 Wohnungslose wurden dafür im Frühjahr 2018 befragt. Sie sind repräsentativ – zwar nicht für alle Wohnungslosen in Deutschland, aber doch für die, die Hilfe in den Einrichtungen der Diakonie erhalten. In insgesamt 70 Einrichtungen über alle Bundesländer hinweg füllten Wohnungslose den Fragebogen aus, in Städten ebenso wie auf dem Land. Künftig will die Diakonie die Befragung regelmäßig durchführen, sodass nicht nur wie diesmal eine Bestandsaufnahme möglich ist, sondern auch Entwicklungen im Zeitverlauf beobachtet werden können.«
Und Diekmann macht etwas, was nicht nur aus semantischen Gründen wichtig ist – er weist darauf hin, dass wohnungslos nicht gleich obdachlos ist, die meisten Menschen aber an Obdachlose denken, die auf der Straße leben, wo man ihnen hin und wieder begegnet, was sich als Bild dann eingebrannt hat:
»Wohnungslos zu sein bedeutet, keinen vertraglich abgesicherten Wohnraum zu haben – aber nicht automatisch, auf der Straße zu leben. Lediglich 14 Prozent der Befragten leben dort, in Zelten oder Abrisshäusern. Weitere zwölf Prozent übernachten in Notunterkünften, die tagsüber verlassen werden müssen – auch sie gehören im weiteren Sinne zu jenen, die auf der Straße leben. Rund drei von vier Wohnungslosen haben hingegen durchaus ein Obdach. Entweder kommen sie bei Freunden oder Bekannten unter. Oder sie leben in einer Pension oder in einem Wohnheim, ein großer Teil auch mit Betreuung durch Sozialarbeiter.«
Und einige Ergebnisse der neuen Studie werden überraschen: »So sehen Wohnungslose mehrheitlich durchaus optimistisch in die Zukunft. Sechs von zehn glauben, dass sich ihre Situation binnen eines Jahres verbessert haben wird. Nur einer von zehn befürchtet, sie werde sich verschlimmern.«
Aber die Studie betritt darüber hinaus in methodischer Hinsicht mit Blick auf wohnungslose Menschen tatsächlich Neuland: »Die Forscher entwickelten – gemeinsam mit Mitarbeitern der Diakonie und den Wohnungslosen selbst – ein Messinstrument für die Lebenslage der Wohnungslosen, den Lebenslagenindex.« Ähnlich wie in der modernen Armutsforschung wird dazu die Situation der Wohnungslosen in verschiedenen Lebensbereichen betrachtet: Wohnen, Gesundheit, Sicherheit, Materielle Situation, Erwerbsarbeit, Soziale Netzwerke/Teilhabe. Zu jedem Bereich gehören zwei Fragen – eine nach objektiven Lebensumständen, eine weitere nach der subjektiven Einschätzung.
»Insgesamt stellt sich die Lebenssituation von Wohnungslosen sehr differenziert dar: Gut die Hälfte befindet sich in einer mittleren Lebenslage, rund jeder fünfte Wohnungslose sogar in einer guten oder sehr guten, 28 Prozent in einer schlechten oder sehr schlechten. Allerdings ist die subjektive Lebenslage im Schnitt deutlich schlechter als die objektive. Wertet man nur die Fragen nach dem Empfinden aus, sehen sich mehr als 40 Prozent in einer schlechten Lebenslage.«
»Mit Abstand die größte Bedeutung hat die existenzielle Sicherheit – konkret die Wohnsituation, der Zugang zu medizinischer Versorgung und das Sicherheitsgefühl. Diese Faktoren sind entscheidend für die gesamte Lebenslage von Wohnungslosen.« Ein nachvollziehbarer Befund: „Menschen können sich erst dann Gedanken darüber machen, was sonst in ihrem Leben schiefläuft, wenn sie eine sichere Wohnung haben“, wird Susanne Gerull zitiert, die selbst jahrelange Erfahrung in der Sozialen Arbeit mit Wohnungslosen gesammelt hat.
Die Bedeutung einer eigenen Wohnung wird sich durch diese ganz erheblichen Unterscheide belegt: »… alarmierend ist die Situation der Wohnungslosen, die auf der Straße leben müssen: Fast 20 Prozent sind in einer sehr schlechten Lebenslage, weitere 55 Prozent in einer schlechten. Kaum besser geht es Wohnungslosen, die Notunterkünfte nutzen – also Einrichtungen, in denen übernachtet werden kann, die tagsüber aber verlassen werden müssen. Hier befinden sich insgesamt 59 Prozent in einer sehr schlechten oder schlechten Lebenslage. Zum Vergleich: Unter den Bewohnern von Wohnheimen sind es 15 Prozent, bei Menschen in betreuten Wohngemeinschaften nur 6 Prozent.«
Politisch stützen solche Befunde den konzeptionellen Ansatz des „Housing first“. Die Idee selbst stammt aus den USA und läuft inzwischen auch erfolgreich in Amsterdam, Glasgow, Kopenhagen und Lissabon. Mittlerweile gibt es auch in Deutschland Versuche, in diese Richtung zu gehen. Vgl. dazu Modellprojekt „Housing first“: Eine eigene Bleibe für Obdachlose – ohne Vorbedingungen für Berlin. Teilweise wird darüber diskutiert: Erst mal wohnen, so die taz über Hamburg: »Straßenkinder und Experten fordern ein „Housing First“-Modell für obdachlose Jugendliche. Die Hamburger Sozialbehörde zeigt sich zu Gesprächen bereit.«
Aber die Studie verweist auch wieder einmal auf die grundsätzliche Bedeutung von Prävention, vor allem in solchen existenziellen Angelegenheiten: »Allerdings müsste schon viel früher geholfen werden: noch bevor Menschen ihre Wohnung verlieren. Die Studie belegt, wie schnell und deutlich sich die Lebenslage bereits nach einem Monat in der Wohnungslosigkeit verschlechtert. Selbst wenn es also binnen Monaten gelingt, Betroffene wieder in eine eigene Wohnung zu bringen, können bleibende Schäden entstehen«, bilanziert Diekmann. Von entscheidender Bedeutung ist mithin, dass man den Eintritt der Wohnungslosigkeit wo immer möglich verhindert. Einfacher geschrieben als getan.
Auf ein weiteres Defizit weist die Studienleiterin Susanne Gerull hin. In der Untersuchung wiesen Bürger aus anderen EU-Staaten im Schnitt schlechtere Lebenslagen auf als wohnungslose Deutsche oder Menschen aus Nicht-EU-Staaten. Kein Wunder: Fast ein Drittel der wohnungslosen EU-Bürger leben auf der Straße. Sie haben in der Regel keinen Anspruch auf Sozialleistungen, weil Deutschland so den Zuzug in die Sozialsysteme verhindern wolle. Aber Gerull sieht hier einen massiven Verstoß des Staates gegen seine eigenen Verpflichtungen. Sie wird mit diesen Worten zitiert: „In Deutschland gibt es eine Unterbringungsverpflichtung – auch für Bürgerinnen und Bürger aus der EU. Aber diese wird in vielen Kommunen nicht umgesetzt.“
Das nun wurde in diesem Blog bereits am 12. Dezember 2015 in diesem Beitrag dargestellt und mit einem damals neuen Gutachten hinterlegt: Menschen ohne Bleibe haben ein Recht auf Unterbringung. Das scheint normal, ist es aber in der Wirklichkeit offensichtlich nicht. Deshalb gibt es dazu jetzt ein Rechtsgutachten. Wenn die Nächte jetzt wieder bitter kalt werden, zahlreiche Menschen auf der Straße unser Herz rühren und viele osteuropäische Obdachlose sogar abgewiesen werden von den Notunterkünften, dann sollte man sich gerne an diesen Artikel erinnern.
Nachtrag am 25.10.2018:
»Die Zahl der Obdachlosen in Hamburg steigt offenbar stark an und hat sich seit dem Jahr 2009 nahezu verdoppelt. Bei einer Befragung der Gesellschaft für Organisation und Entscheidung Bielefeld wurden demnach im März in der Hansestadt 1910 Obdachlose gezählt – bei einer ähnlichen Untersuchung im Jahr 2009 waren es noch 1029 Menschen ohne festen Wohnsitz gewesen«, kann man diesem Artikel von Christoph Heinemann entnehmen: Zahl der Obdachlosen hat sich seit 2009 verdoppelt. »Es handelt sich dabei wie vor neun Jahren nicht um eine systematische Erfassung aller Obdachlosen, sondern um eine Befragung der unmittelbar angetroffenen Obdachlosen in der letzten Märzwoche dieses Jahres – das Ergebnis ist deshalb als Mindestzahl der auf der Straße lebenden Menschen zu verstehen. Sie liegt aber im Bereich von Schätzungen, die zuletzt von etwa 2000 Obdachlosen in der Hansestadt ausgingen.« Ein auffälliger Befund: »Obwohl die Zahl der Obdachlosen insgesamt stieg, hatten nur 491 Menschen der jetzt befragten Obdachlosen (36 Prozent) einen deutschen Pass – ihre Zahl ist im Vergleich zur Befragung vor neun Jahren um fast ein Drittel gesunken. Ausländer machten dagegen nun den Großteil der befragten Personen aus. Hierbei machten Obdachlose aus Osteuropa sowie Ländern des Baltikums und des Balkans wiederum mit knapp 70 Prozent die deutlich größte Gruppe aus (606 von 869 Befragten).«
Und auch in anderen Ländern geht es um die Zahlen bzw. um Versuche, ein wenig mehr Klarheit darüber zu bekommen: Paris: 3.035 Personen übernachten im Winter „auf der Straße“, so ist ein Artikel über die Situation in der französischen Hauptstadt überschrieben. Hier findet man interessante Hinweise zu Vorgehen und Aufwand, um die Zahlen zu ermitteln:
»In einer Winternacht, vom 15. auf den 16. Februar brachen „353 Teams von Freiwilligen, beruflich im sozialen Bereich Tätigen sowie 1.700 Bewohner von Paris“, in die Straßen der Stadt auf, um zu zählen, wer sich zwischen 22 Uhr und 1 Uhr morgens dort aufhielt, weil sie oder er kein anderes Schlaflager hat. Untersucht wurden 344 zuvor ausgewählte Sektoren. Die Untersuchung sei eine Premiere, stellt die gemeinnützige Vereinigung Apur (Atelier parisien d’urbanisme) in seinem Bericht, der dieser Tage veröffentlicht wurde, fest. Es habe Vorläufer ähnlicher Operationen in Brüssel, New York, Athen und Washington gegeben, aber in der französischen Hauptstadt sei dergleichen noch nicht durchgeführt worden.«
Trotz des Aufwandes – auch die Spur-Zahlen sind Schätzungen: »Sie sind es aus dem einfachen Grund, weil die Untersuchungsgebiete nicht ganz Paris abdecken, und es zum Leben auf der Straße gehört, dass sich die SDF (auf Deutsch: „ohne festen Wohnsitz“) nicht unbedingt so präsentieren, dass sie leicht zu entdecken wäre. Es gibt eine Dunkelziffer.«
Foto: © Reinhold Fahlbusch