Von untergebrachten wohnungslosen Menschen und einem Nationalen Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit

Zum Stichtag 31. Januar 2024 waren in Deutschland nach den Meldungen von Kommunen und Einrichtungen rund 439.500 Personen wegen Wohnungslosigkeit untergebracht. Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) mitteilt, hat sich damit die Zahl gegenüber den Vorjahren weiter erhöht.

Wie immer bei solchen Statistiken muss man genauer hinschauen, was die (nicht) aussagen (können). Das Statistische Bundesamt weist selbst darauf hin: »Der Anstieg der Zahl der untergebrachten wohnungslosen Menschen ist … vor allem auf Verbesserungen der Datenmeldungen im dritten Jahr seit der Einführung der Statistik zurückzuführen.«

Die Wohnungslosenberichterstattung

Bis 2019 gab es keine offizielle bundesweite Erhebung zur Wohnungslosigkeit, obwohl diese von der Fachwelt immer wieder gefordert worden war. Die von der BAG Wohnungslosenhilfe – der bundesweite Dachverband der Dienste und Einrichtungen der Wohnungsnotfallhilfen in Deutschland – regelmäßig veröffentlichten Zahlen beruhen auf Schätzungen. Vgl. dazu beispielsweise die Meldung Mindestens 607.000 Menschen in Deutschland wohnungslos vom 7. November 2023: »Im Verlauf des Jahres 2022 waren in Deutschland demnach 607.000 Menschen wohnungslos. Davon lebten ca. 50.000 ganz ohne Unterkunft auf der Straße. Zum Stichtag 30.06.2022 waren laut Hochrechnung der BAG W 447.000 Menschen wohnungslos.« Gegenüber dem Vorjahr weisen die Zahlen der BAG W auf einen massiven Anstieg hin: »Zum Stichtag 30.06.2021 hat die BAG W die Zahl von 268.000 wohnungslosen Menschen ermittelt. Die Jahresgesamtzahl für 2021 liegt laut BAG W-Hochrechnung bei 383.000 wohnungslosen Personen.« Aus den Zahlen ergibt sich ein Anstieg der Stichtagszahl von 2021 zu 2022 um 67 Prozent und der Jahresgesamtzahl um 58 Prozent. Für die Einordnung dieses erheblichen Anstiegs erläutert die BAG W: »Bei den deutschen Wohnungslosen ergibt sich ein Anstieg von 5 %, bei den nicht-deutschen um 118 %. Letzteres ist insbesondere auf die enorme Zunahme der Zahl wohnungsloser Geflüchteter, ganz besonders aus der Ukraine, zurückzuführen.«

Die gesetzliche Grundlage für eine seit langem geforderte bundesweite Berichterstattung über Wohnungslose wurde 2020 geschaffen mit dem Wohnungslosenberichterstattungsgesetz (WoBerichtsG). Dazu der Bericht des Deutschen Bundestages: Bundestag stimmt für eine Woh­nungslosen­bericht­erstattung: »Ziel des … Gesetzes ist eine erste bundesweite Datenerhebung über Ausmaß und Struktur der Wohnungslosigkeit in Deutschland. Mit den darüber gewonnenen Erkenntnissen sollen laut Regierung sozialpolitische Maßnahmen „zielgenauer gestaltet“ und Länder und Kommunen dabei unterstützt werden, Wohnungslosigkeit zu bekämpfen. Die Daten sollen außerdem dazu beitragen, die Armuts- und Reichtumsberichterstattung der Bundesregierung zu verbessern. Außerdem ist ab 2022 eine zentrale Statistik geplant, die Auskunft über in Gemeinschafts- oder Notunterkünften untergebrachte Wohnungslose gibt. Die Daten dafür soll das Statistische Bundesamt jährlich zum 31. Januar erheben.«

Die Statistik der untergebrachten wohnungslosen Personen ist die eine Säule der Wohnungslosenberichterstattung, sie erfasst aber einen bestimmten Teil der Wohnungslosen nicht: »Eine zweite Gruppe Wohnungsloser sei statistisch jedoch kaum zu erfassen, so die Bundesregierung. Menschen zum Beispiel, die als Selbstzahler in Billigpensionen leben, vorübergehend bei Verwandten oder Freunden unterkommen oder auf der Straße leben. Für diese Formen der Wohnungslosigkeit solle daher eine ergänzende Wohnungslosenberichterstattung eingeführt werden. Der Wohnungslosenbericht solle künftig mindestens alle zwei Jahre veröffentlicht werden.«

➔ Im Dezember 2022 hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales* den ersten Wohnungslosenbericht vorgelegt:

BMAS (2022): Ausmaß und Struktur von Wohnungslosigkeit. Der Wohnungslosenbericht 2022 des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, Berlin: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS), Dezember 2022

Dort findet man auf den S. 23 ff. Ausführungen mit der Überschrift „Berichterstattung zu wohnungslosen Personen ohne Unterkunft und verdeckt wohnungslosen Personen“. Man bezieht sich auf eine Studie von GISS/Kantar, mit der erstmals belastbare Daten erhoben wurden, wie viele Menschen in Deutschland ohne Unterkunft auf der Straße oder in behelfsmäßigen Provisorien übernachten (wohnungslose Menschen ohne Unterkunft) und wie viele Menschen in verdeckter Wohnungslosigkeit z.B. bei Bekannten oder Angehörigen unterkommen. »Im Ergebnis wird die Zahl der so wohnungslosen Menschen im Untersuchungszeitraum vom 1. bis 7. Februar 2022 auf rund 86.700 Personen geschätzt. Die Summe setzt sich zusammen aus rund 37.400 wohnungslosen Personen ohne Unterkunft und 49.300 verdeckt wohnungslosen Personen. In dieser Zahl nicht enthalten sind rund 6.600 Kinder und minderjährige Jugendliche, die gemeinsam mit Eltern(-teilen) auf der Straße (rund 1.100) oder in verdeckter Wohnungslosigkeit (rund 5.500) leben.« Der nächste Wohnungslosenbericht der Bundesregierung soll gegen Ende des Jahres 2024 veröffentlicht werden.

*) Um das Politikfeld „Wohnungslosigkeit“ aus einer Hand bearbeiten zu können, ist die grundsätzliche Zuständigkeit ab dem 1. Januar 2023 vom BMAS auf das Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen (BMWSB) übertragen worden.

Die Statistik der untergebrachten wohnungslosen Menschen

»Die Statistik erfasst wohnungslose Personen, die in der Nacht vom 31. Januar zum 1. Februar 2024 beispielsweise in überlassenem Wohnraum, Sammelunterkünften oder Einrichtungen für Wohnungslose untergebracht waren. Obdachlose Personen, die ohne jede Unterkunft auf der Straße leben, sowie Formen von verdeckter Wohnungslosigkeit (zum Beispiel bei Bekannten oder Angehörigen untergekommene Personen) werden nicht in der Statistik berücksichtigt.«

Methodische Hinweise: »Die Statistik erfasst Personen, denen zum Stichtag 31. Januar Räume oder Wohnungen überlassen oder Übernachtungsgelegenheiten zur Verfügung gestellt worden sind, ohne dass dies durch einen eigenen Mietvertrag, einen Pachtvertrag oder durch ein dingliches Recht abgesichert war. Zu den erfassten Personen zählen Wohnungslose, die in Not- und Gemeinschaftsunterkünften oder gegebenenfalls auch gewerblichen Unterkünften (Pensionen, Hotels, gewerbliche Gemeinschaftsunterkünfte etc.) und Normalwohnraum (in der Regel Privatwohnungen) untergebracht sind, sofern er ihnen vorübergehend überlassen wird, ohne dass dadurch die Wohnungslosigkeit beendet wird. Dies betrifft auch Personen, die in (teil-)stationären Einrichtungen beziehungsweise im betreuten Wohnen der Wohnungslosenhilfe freier Träger untergebracht sind. Geflüchtete werden in der Statistik berücksichtigt, wenn ihr Asylverfahren positiv abgeschlossen wurde (z. B. Asylberechtigung, Flüchtlingseigenschaft, subsidiärer Schutz) und sie weiterhin untergebracht werden, etwa weil sie keinen Mietvertrag haben. Personen, die eine Aufenthaltserlaubnis über das Chancen-Aufenthaltsrecht erhalten haben, und Geflüchtete aus der Ukraine, die im Schnellverfahren anhand einer humanitären Aufenthaltserlaubnis nach Aufenthaltsgesetz (AufenthG) oder einer Aufenthaltsgewährung zum vorübergehenden Schutz nach § 24 AufenthG aufgenommen wurden, sind ebenfalls in der Statistik zu berücksichtigen, wenn sie untergebracht sind und nicht über einen Mietvertrag oder Ähnliches verfügen. Personen aus der Ukraine, die bei Privatpersonen unterkommen, werden nicht in der Statistik berücksichtigt, da den beteiligten Stellen hierüber in der Regel keine Nachweise vorliegen.«

Und wer ist nicht drin? »Generell nicht in die Erhebung einbezogen sind Personen, die im Freundeskreis, bei Familien oder Bekannten unterkommen, sowie Obdachlose, die ohne jede Unterkunft auf der Straße leben. Personen, die zwar in einer Einrichtung untergebracht sind, deren Ziel aber nicht die Abwendung von Wohnungs- oder Obdachlosigkeit ist (beispielsweise Bewohnerinnen und Bewohner von Pflegeeinrichtungen, von Heimen für Menschen mit Behinderung, von Frauenhäusern, Suchtkliniken oder betreuten Wohnungen der Jugendhilfe), sind ebenfalls nicht in der Statistik erfasst. Darüber hinaus werden auch solche Personen nicht einbezogen, die Beratungsangebote zum Thema Wohnungslosigkeit in Anspruch nehmen, aber am Stichtag nicht untergebracht sind, und Personen, die beispielsweise aufgrund einer angedrohten Zwangsräumung von Wohnungslosigkeit bedroht, aber (noch) nicht betroffen sind.« Vor diesem Hintergrund schreibt die BAG Wohnungslosenhilfe, dass eine Hochrechnung der BAG W trotz der Bundesstatistik weiter erforderlich sei, da das Statistische Bundesamt zum jeweiligen Stichtag nicht die Menschen zählt, die bei Freunden oder Bekannten unterkommen sind oder auf der Straße leben. »Dies führt zu einer unvollständigen Darstellung des Ausmaßes der Wohnungslosigkeit in Deutschland und zu einer Verzerrung der soziostrukturellen Merkmale der von Wohnungslosigkeit betroffenen Menschen. Darüber hinaus beschränkt sich das Statistische Bundesamt auf die Stichtagszahlen. Die BAG W ermittelt hingegen auch Jahresgesamtzahlen, die das gesamte Ausmaß der Wohnungslosigkeit besser abbilden.«

Zurück zu den aktuellen Zahlen, die im Lichte der Erläuterungen als Untergrenze zu verstehen sind: »Zum Stichtag 31. Januar 2024 waren in Deutschland nach den Meldungen von Kommunen und Einrichtungen rund 439.500 Personen wegen Wohnungslosigkeit untergebracht.« Die Zahl der Menschen mit einer ausländischen Staatsangehörigkeit, die hier gezählt wurden, wird mit knapp 378.000 angegeben – ein Anteil von 86 Prozent. Eine Gruppe spielt dabei eine große Rolle:

»Zum Stichtag 31. Januar 2024 wurden 136.900 geflüchtete Ukrainerinnen und Ukrainer in der Statistik erfasst (2023: 130.000). Mit knapp einem Drittel (31 %) aller untergebrachten Wohnungslosen bildeten sie – unterschieden nach der Staatsangehörigkeit – wie bereits im Vorjahr die größte Gruppe in der Statistik (2023: 35 %).«

40 Prozent der gemeldeten Personen waren jünger als 25 Jahre. 55 Prozent der untergebrachten wohnungslosen Personen waren Männer. Personen in Paarhaushalten mit Kindern bildeten mit 34 Prozent (150.100 Personen) die größte Gruppe. 17 Prozent (73.300) waren Alleinerziehenden-Haushalte. 32 Prozent (139.000) der gemeldeten Personen waren alleinstehend.

Zahlen, auch wenn sie notwendigerweise nur die Umrisse des Problems abbilden können, sind das eine. Natürlich bleibt die Frage: Was tun? Eine Frage, die umso schwerer zu beantworten ist, wie das Problem des Wohnraummangels seit geraumer Zeit in weite Schichten der Gesellschaft vorgedrungen ist und nunmehr auch Haushalte erreicht hat, die über eine Zahlungsfähigkeit verfügen, von der die allermeisten wohnungslosen Personen weit entfernt sind. Bei diesem generellen Angebots-Nachfrage-Ungleichgewicht wandern die einkommensschwächsten Glieder der Kette immer weiter nach hinten.

Aber es gibt einen Plan, sogar einen nationalen Plan.

Der „Nationale Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit“ – mit einem ambitionierten Ziel. Auf dem Papier

Die Bundesregierung verfolgt das EU-weite Ziel, die Obdach- und Wohnungslosigkeit in Deutschland bis 2030 zu überwinden. Das hat das Bundeskabinett am 24. April 2024 der Öffentlichkeit mitgeteilt: Bundeskabinett beschließt Nationalen Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit, so ist die entsprechende Meldung überschrieben. Das Original findet man hier:

➔ BMWSB (2024): Gemeinsam für ein Zuhause. Nationaler Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit 2024, Berlin: Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen (BMWSB), Mai 2024

„Die Überwindung der Wohnungs- und Obdachlosigkeit ist eine Mammutaufgabe“, so die zuständige Bundesministerin Klara Geywitz (SPD). Der Plan war noch gar nicht veröffentlicht, da gab es schon eine ganze Salve an skeptischen Stimmen: „Augenwischerei“: Schon im Vorfeld viel Kritik an Ampelplan gegen Obdachlosigkeit, so einer der Artikel dazu. Dem Deutschen Mieterbund gehen die darin enthaltenen Schritte nicht weit genug. „Grundsätzlich ist ein Nationaler Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit zu begrüßen“, wird der Mieterbund-Präsident Lukas Siebenkotten zitiert. „Die vorgeschlagenen Maßnahmen des Aktionsplans reichen jedoch nicht aus, um die Obdach- und Wohnungslosigkeit zu überwinden.“ Aus der Sicht der Mieterschützer nicht überraschend: »Gerade im Mietrecht müssten … jetzt die Weichen gestellt werden, um Wohnungslosigkeit zu vermeiden. Siebenkotten fordert eine scharfe Mietpreisbremse, die Ahndung von Wuchermieten, einen Mietenstopp im Bestand sowie einen stärkeren Kündigungsschutz.«

Man ahnt schon, dass das von anderer Seite ganz anders gesehen wird: Schärfere Mietrechtseingriffe seien Investitionsbremsen, helfen würden den Wohnungssuchenden nur bezahlbare Wohnungen, deren Bau wieder ermöglicht werden müsse, so die Stimmen aus der Wohnungswirtschaft (vgl. dazu: Nationaler Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit – Reaktionen der Wohnungs- und Immobilienwirtschaft). So beispielsweise Axel Gedaschko, Präsident des Spitzenverbandes der Wohnungswirtschaft GdW, der mit diesen Worten zitiert wird: »„Die sozial orientierte Wohnungswirtschaft engagiert sich seit jeher intensiv auch auf sozialer Ebene gegen Wohnungslosigkeit. In den Kommunen bestehen dazu bundesweit zahlreiche Kooperationen mit sozialen Trägern, um den betroffenen Menschen langfristig günstigen Wohnraum sowie soziale Betreuungsangebote bereit zu stellen und durch geeignete Präventionsmaßnahmen Mieter vor Wohnungslosigkeit zu schützen. Es ist daher unverständlich, dass diejenigen, die für mehr Wohnungen in Deutschland sorgen und sich für Mieter in finanziellen Notlagen verantwortlich einsetzen, durch mietrechtliche Änderungen in ihrer Handlungsfähigkeit immer weiter eingeschränkt werden und damit das ohnehin sehr ambitionierte Ziel des NAP W, die Wohnungs- und Obdachlosigkeit bis 2030 zu beseitigen, unnötig erschwert wird.”«

Aber auch von anderer Seite wird eine grundsätzliche Kritik in den Raum gestellt: »Die Ampel will Wohnungslosigkeit bis 2030 abschaffen. Mit dem Plan, den sie dafür beschlossen hat, wird das nichts: Auf die entscheidende Frage hat sie keine Antwort«, so Simone Gaul unter der Überschrift Wo bleibt die radikale Idee? Sie spricht das fundamentale Mangel-Problem an: »Denn was hilft ein runder Tisch gegen Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt, was helfen Empfehlungen für Standards in den Notunterkünften, was hilft eine Förderung von Housing First – wenn es einfach zu wenige bezahlbare freie Wohnungen gibt, um die viel zu viele Menschen konkurrieren? Studierende, Familien mit niedrigem Einkommen, Geflüchtete. Dass 600.000 wohnungslose Menschen in diesem Wettbewerb eine Wohnung finden, ist nahezu unmöglich.«

Die Antwort der Bundesregierung ist einerseits richtig, zum anderen aber sieht die Wirklichkeit anders aus: »Die Antwort der Bundesregierung: bauen, bauen, bauen. Und zwar Sozialwohnungen. Nur mit denen ist es so eine Sache. Der Bestand ist in den letzten Jahren dramatisch zurückgegangen. Einerseits bauten die Länder viel weniger als gehofft, andererseits fallen jedes Jahr so viele Wohnungen aus der Preisbindung, dass es in der Summe an Ende jedes Jahr weniger werden. 2007 gab es etwa zwei Millionen Sozialwohnungen in Deutschland, 2022 nur noch die Hälfte. Der Bund stellt zwar seit Beginn der Legislatur mehr Geld für den Bau von Sozialwohnungen zur Verfügung als in den Vorjahren. Aber gleichzeitig sind wichtige andere Förderprogramme weggefallen, die Bauträger haben also am Ende doch wieder höhere Kosten und werden eher nicht anfangen, Sozialwohnungen in den benötigten Massen zu bauen.«

Was nun aber könnte die radikale Idee sein? Bei Gaul findet man dazu dann wieder so etwas: »Was es braucht, sind große Ideen, wo Wohnraum entstehen kann … „einschließlich geeigneter Eingriffe in den Wohnungsmarkt“. Das könnten sein: Mieten stärker regulieren. Privatisierung von Wohnraum verhindern. Vielleicht sogar enteignen. Der Leiter des Pestel-Instituts, Matthias Günther, sagt …, die Lösung könnte auch sein, den Platz, den wir haben, anders zu nutzen. Flächen umwidmen. Häuser aufstocken. Und: Für Menschen, die in kleinere Wohnungen ziehen wollen, Angebote schaffen.« Gaul meint: »Das wären mal große wohnungspolitische Ideen.« Bei dem einen oder anderen Leser werden hier doch einige Zweifel bleiben, was die Größe der Ideen angeht.

Eine sozialpolitische Einordnung

Im Blog des Deutschen Instituts für Interdisziplinäre Sozialpolitikforschung (DIFIS) hat sich Timo Weishaupt zu Wort gemeldet. Weishaupt ist seit 2015 Professor für Soziologie mit dem Schwerpunkt Sozialpolitik an der Georg-August-Universität Göttingen.

➔ Timo Weishaupt (2024): Der Nationale Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit: Ein Kommentar, in: sozialpolitikblog, 29.04.2024

»Der Nationale Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit beinhaltet wichtige Instrumente. Allein dabei kann es nicht bleiben.«

Zuerst die lobenden Worte für den Nationalen Aktionsplan (NAP):

»Mit dem Auflegen eines NAP folgt Deutschland dem Beispiel vieler europäischer Nachbarländer, zu denen auch Dänemark und Finnland gehören – die einzigen beiden EU-Länder, in denen Wohnungslosigkeit rückläufig ist. Die breite Konsultation in der Ausformulierung des NAP für die Bundesrepublik Deutschland und die Willensbekundung, Wohnungs- und Obdachlosigkeit gesamtstaatlich anzugehen, soll hier ausdrücklich gewürdigt werden. Denn durch den NAP wird das Augenmerk auf ein äußerst komplexes, ressortübergreifendes, Bundes-, Landes und kommunalpolitisch anzugehendes Thema gelenkt. Mit der Ausformulierung konkreter Leitlinien steigt nicht nur der politische Handlungsdruck.
Im Vergleich zum letzten Armuts- und Reichtumsbericht (in dem Reichtum mit dem nebulös anmutenden Begriff der „Wohlhabenheit“ ersetzt bzw. verschleiert wurde) ist der NAP auch erfrischend direkt in der Benennung von Problemen: Wohnungslosigkeit ist ein Massenphänomen, das massiv – auch in Anbetracht der Zahlen – an Bedeutung zunimmt und mit gesellschaftlicher Ausgrenzung, extremer Armut und körperlicher Verelendung der betroffenen Menschen einhergeht. Auch die Gefahr für Wohnungslose, ausgebeutet zu werden, Gewalt zu erfahren und Opfer von Missbrauch bis hin zu Totschlag zu werden, wird nicht verschwiegen. Der NAP ist daher sicherlich als ein Meilenstein zu verstehen.«

Dann schauet er kritischer auf den Plan: Die Bundesregierung versteht Wohnungslosigkeit vor allem als ein strukturelles Problem. Der NAP stellt darauf ab, das »dass Bevölkerungswachstum und seit Jahren steigende Mieten (relativ zu Löhnen) dazu führen, dass es zunehmend zu einer Konkurrenzsituation um „bezahlbaren“ Wohnraum kommt, in der Menschen in schwierigen Lebenslagen aufgrund von Vorurteilen und Diskriminierung kaum mehr Chancen haben.« Dazu Weishaupt: »Diese Einschätzung trifft zwar den Kern des Problems. Gleichzeitig vermeidet der NAP es zu erwähnen, dass auch der Staat zu großen Teilen für diese Entwicklung verantwortlich ist, unter anderem da der Bestand an Sozialwohnungen seit Jahrzehnten stark rückläufig ist.«

Zudem bleiben Lösungsvorschläge zur Schaffung von dauerhaft günstigem Wohnraum unerwähnt. Selbst solche, auf die sich die regierende Ampel-Koalition am Anfang verständigt hat. So findet man auf der Seite 69 des Koalitionsvertrages zwischen SPD, Grünen und FDP vom 7. Dezember 2021 diese konkret daherkommende Zielbestimmung: »Wir werden zeitnah eine neue Wohngemeinnützigkeit mit steuerlicher Förderung und Investitionszulagen auf den Weg bringen und so eine neue Dynamik in den Bau und die dauerhafte Sozialbindung bezahlbaren Wohnraums erzeugen. Sie soll … die Struktur der etablierten Wohnungswirtschaft ergänzen.« Im Nationalen Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit wird die angestrebte neue Wohngemeinnützigkeit überhaupt nicht erwähnt.

Weishaupt plädiert an anderer Stelle für einen Paradigmenwechsel hin zu gemeinnützigem, genossenschaftlichem und sozialem Wohnungsbau in dauerhaft kommunaler Hand, begleitet von Maßnahmen wie „Schutzzonen gegen Spekulation“ und einer differenzierten Regulierung von Mietpreisen. Ein solcher Wandel ist seiner Meinung nach notwendig, da Wohnraum keine gewöhnliche Ware ist. Ausführlicher dazu:
➔ Timo Weishaupt (2023): Wohnen, die neue soziale Frage: von aktuellen Herausforderungen und der Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels, Duisburg/Bremen: DIFIS – Deutsches Institut für Interdisziplinäre Sozialpolitikforschung, 2023

Man kann im Bestand sicher die Daumenschrauben weiter anziehen – auch Weishaupt hat offensichtlich Sympathien für Restriktionen auf der Vermieterseite, wenn er z.B. bei der Behandlung des Themas Mietschulden mit Bezug auf den NAP darauf hinweist, dass in 47 Prozent der Fälle Mietschulden direkt oder indirekt zum Wohnungsverlust beigetragen haben, dass der NAP die Einrichtung Zentraler Fachstellen (ZF) vorschlägt (in Anlehnung an das Modell in Nordrhein-Westfalen), um den Wohnungsverlust zu vermeiden, aber unangetastet bleibt die Möglichkeit, dass Wohnraumeigentümer weiterhin zeitgleich eine außerordentliche (fristlose Kündigung wegen Mietschulden) und ordentliche Kündigung aussprechen dürfen. Das müsse gestoppt werden – aber man kann an dieser Stelle wie bei den vielen anderen Vorschlägen zum „Mieterschutz“ auch darauf hinweisen, dass es nicht große und funktionalistisch aufgestellte Wohnungskonzerne gibt, sondern auch zahlreiche kleine Wohnungsvermieter (darunter sehr viele auch mit einer „sozialen Ader“), die schon weiterhin das Recht haben sollten, eine Miete erwarten zu dürfen. Man muss gerade hier aufpassen, dass man diese Gruppe nicht vollends vergrault als Anbieter auf einem höchst angespannten Markt im Ungleichgewicht.

Insofern legt der Hinweis auf die Schaffung von ermöglichenden Strukturen einer „echten“ neuen Gemeinnützigkeit im Wohnungsbau und der Siedlungsentwicklung den Finger auf die entscheidende Wunde der Wohnungspolitik: Ein deutlich größeres, für die vielen Nachfrager halbwegs bezahlbares Angebot an Wohnraum schaffen. Das wird man sicher nicht erreichen, wenn man für die Vermieterseite die Daumenschrauben der Regulierung immer weiter anzieht (eine der sicher nicht gewollten -?- Folgen wird erwartbar eine nochmalige Erhöhung der Zugangsbarrieren für bestimmte Mietergruppen sein, um den Auflagen ausweichen zu können), sondern man wird eine massive Investitionsoffensive in dem Teilbereich des Wohnungsmarktes machen müssen, wo die größten Ungleichgewichte zuungunsten der einkommensschwächeren Haushaltsgruppen zu finden sind. Und ganz am Ende der langen Warteschlange stehen dann viele der Menschen, die Gegenstand des Nationalen Aktionsplans sind bzw. sein sollen.